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Der Tag graute bereits, als ich an diesem Morgen endlich Schlaf fand. Und als ich wieder erwachte, sah ich zu meiner Bestürzung, daß es beinahe schon halb zehn Uhr war. Ich kleidete mich so rasch wie möglich an und betrat zwanzig Minuten später meine Bank.
Ist jemand dagewesen? fragte ich ganz atemlos, worauf der Kassier antwortete:
Jawohl, Herr Doktor, Ihr Diener. Er wartete bereits, als wir um neun Uhr den Schalter aufmachten. Er wies eine Quittung über gewisse Dokumente vor, die Sie bei uns niedergelegt haben, und sagte, Sie möchten sie sofort haben.
Und haben Sie sie ihm ausgeliefert? fragte ich, wobei mir der kalte Schweiß aus der Stirne brach.
Bewahre, ich war nahe daran, es zu tun, da fiel mir etwas in dem Benehmen des Jungen auf, das mir verdächtig vorkam. Daher sagte ich ihm, er müsse warten, bis der Direktor selber ins Geschäft komme, da ich ohne seine Einwilligung nicht über verwahrte Sachen verfügen dürfe.
Und dann? fragte ich, immer noch schwitzend vor Aufregung und Spannung.
Dann kam der Direktor gerade herein – er ist eben für einen Augenblick ausgegangen. Ich trug ihm den Fall vor. Sofort ließ er den Jungen in sein Privatkontor kommen, nahm die Quittung in Empfang und sagte, er wolle einen Boten zu Ihnen schicken mit der Bitte, sich selber herzubemühen und den Fall zu bestätigen. Daraufhin aber schoß der Junge wie ein Pfeil hinaus und ließ die Quittung im Stich. Da ist 'was faul, nicht?
Gewiß, sagte ich, mächtig erleichtert aufatmend. Gestern abend wurde bei mir eingebrochen, während man mich weggelockt hatte.
Der Kassier war ganz erstaunt.
Weggelockt? erwiderte er.
Jawohl, ich wurde um zwei Uhr zu einem Patienten nach Balham gerufen, der indes kerngesund war. Während meiner Abwesenheit ließ zweifellos mein unbezahlbarer Junge die Diebe herein, und sie arbeiteten wohl eine Stunde lang in meiner Wohnung.
Mein Beileid, Herr Doktor. Ist viel weggekommen?
Soviel ich bis jetzt weiß, nur die Quittung, die Sie glücklicherweise zurückbehalten haben.
Da hat man also darnach gesucht?
Nein, nach dem Paket, das Ihre Stahlkammer beherbergt und das Papiere von großem Werte enthält. Sie sind mir anvertraut worden. Wenn sie verloren wären, wäre ich ruiniert.
So wirklich? Das will ich doch dem Direktor mitteilen. Wenn Sie wollen, wird er sie – das Paket – sicherlich in unser Hauptgeschäft schicken, größerer Sicherheit halber.
Das wäre mir recht, sagte ich.
Gewiß, Herr Doktor; der Direktor ist mein Bruder. Sie können sich darauf verlassen, daß es noch heute geschehen wird.
Ich bedankte mich und verließ die Bank mit der festen Ueberzeugung, daß ich für den Augenblick wenigstens gegen die Feinde der Gräfin einen entscheidenden Schlag geführt hatte. Aber gleichzeitig wurde ich mir auch der wichtigen Tatsache bewußt, daß ihre Widersacher nunmehr auch die meinigen geworden waren. Sie wußten jetzt ganz genau, daß das für mich nunmehr doppelt geheimnisvolle Paket in meinem Besitze war. Ein sehr gewandter Streich hatte daneben getroffen, aber es hatte wenig gefehlt, daß er gelungen wäre. Die Bestechung meines kleinen Dieners war den durchtriebenen Gaunern glatt gelungen. Der Kassier hatte zugegeben, daß die ganze Geschichte sich in wenigen Augenblicken abgespielt hatte. Ich mußte unwillkürlich an den kürzlich vorgefallenen Diamantendiebstahl bei einer bekannten Schönheit denken, der ebenso ausgeführt worden war, und dankte meinem gütigen Schicksal, daß die Sache bei mir so gut abgelaufen war. Vielleicht würde ich nun für einige Zeit Ruhe haben und meinem Berufe wieder ungestört nachgehen können.
Als ich nach Hause zurückkehrte, fand ich meinen kleinen Haushalt in großer Aufregung vor. Das Zimmermädchen hatte meine Bude in derselben Unordnung vorgefunden, wie ich sie bei meiner Rückkehr am frühen Morgen entdeckt hatte. Sie und die Haushälterin, die zugleich Köchin war, warteten bereits auf dem Vorplatze auf mich und machten ihrem erregten Herzen Luft. Bill, der gar nicht zu Bett gegangen, war verschwunden, und daß dieser unaussprechlich schlechte Junge mich beraubt hatte, erschien den beiden Frauen als selbstverständlich.
Ohne mich zu einer Erklärung herbeizulassen, sagte ich ihnen, daß ich alles wisse, daß ich die guten Absichten Bills zuschanden gemacht habe und daß ich jetzt vor allem zu frühstücken wünsche, je rascher, desto besser.
Während mein Frühstück zubereitet wurde, hob ich die in meinem Zimmer zerstreuten Papiere auf und ordnete sie so gut ich konnte, um meinem Zimmer wieder ein anständiges Aussehen zu geben. Als diese Arbeit erledigt war, klopfte das Zimmermädchen an, auf deren Zügen ich lesen konnte, daß sie sich immer noch nicht von dem ausgestandenen Entsetzen erholt hatte, und meldete mir, daß das Frühstück im Eßzimmer aufgetragen sei.
Eben hatte ich zu frühstücken begonnen, da läutete der Briefträger. Das Zimmermädchen brachte mir einen Brief herein. Die Handschrift auf dem Umschlag kam mir bekannt vor. Ich brach ihn auf und fand, daß der Brief von Davenport kam. Er lautete:
Lieber Perigord!
In Deinem gewöhnlichen Ungestüm hast Du mich heute abend einen Esel genannt. Das war nun zwar keine hübsche oder schmeichelhafte Bezeichnung, aber ich bin Dir darob nicht gram. Du hast noch schlimmere Ausdrücke gebraucht, wenn Dir in Edinburgh etwas wider den Strich ging. Es ist sogar Deine übliche Art, Dich auszudrücken, wenn Du einem Phantom nachjagst. Hättest Du nun, statt wie ein ungezähmter Wüstenesel (na, wie gefällt Dir dieser Ausdruck?) aus dem Klub zu stürmen, noch zehn Minuten gewartet, so würdest Du den Mann getroffen haben, von dem ich Dir erzählte. Wenn Du Dich wirklich für jenes liebliche Geschöpf (ich will keine Namen nennen) interessierst, würde er Dich schon ein wenig aufgeklärt haben. Und auch über die ganze Familie. Wenn ich kein zu großer Esel bin, um auch fürderhin mich Deiner Bekanntschaft erfreuen zu dürfen, so komm' um zehn Uhr in den Klub!
Dein
Allerweltsesel.
Das war die schlimmste Seite an Davenport, daß man nie wußte, wo man ihn fassen sollte. Sein unverwüstlicher Humor konnte auf die Dauer niemanden etwas nachtragen. Augenscheinlich hatte ich mich auch in meinen übereilten Annahmen geirrt. Hatte ich nicht bereits in meinem Brief an Dick Molyneux zugestanden, daß ich überzeugt davon sei, daß die Gräfin der Formosa Mansions in keiner Weise in die Intrigue gegen den Frieden der alten Dame vom Pontifex Square verwickelt sei? Es war sonnenklar, daß dieses Mal Davenport mich übertrumpft hatte und daß ich anständigerweise gezwungen war, ihm um zehn Uhr diesen Abend durch einen Besuch Abbitte zu leisten. Die Aussicht indes, etwas über die verehrungswürdige Gräfin zu erfahren, ließ mir diesen Schritt der Reue als keineswegs unangenehm erscheinen.
Jetzt, wo ich mir darüber im klaren war, wandelten meine Gedanken zu den seltsamen Ereignissen der verflossenen Nacht zurück. Obwohl ich mir sagen mußte, daß ich Mimms meinen sonst unverständlichen Besuch in Balham erklären sollte, wollte ich doch vermeiden, daß dieser würdige Mann sich allzusehr von seiner Wichtigkeit aufblähen ließ. Daher beschloß ich, ihn nicht in diese Geschichte einzuweihen.
Der Rest des Tages verlief in seiner gewöhnlichen Weise ohne bemerkenswertes Ereignis. Um zehn Uhr sprach ich pünktlich im Klub vor, wo ich Davenport mit einer auffallend großen Zigarre beschäftigt fand. Er markierte die Demut eines Hiob, als ich mich ihm näherte und gab seiner tiefgefühlten Dankbarkeit Ausdruck, daß ich geruht habe, ihm »trotz allem« doch wieder die Hand der Freundschaft darzubieten.
Genug des Unsinns! sagte ich. Ich bin dir eine Abbitte schuldig, alter Junge, und leiste sie dir in aller Aufrichtigkeit. Ich bin zeitweilig ein etwas übereiliger, temperamentvoller Bursche, weißt du, und beobachte nicht immer die nötige Vorsicht bei der Wahl der Ausdrücke, über die wir in unserer Muttersprache verfügen. Darf ich den Zwischenfall als erledigt betrachten?
Gewiß, du alte Schwärmerbombe, erwiderte er. Setz' dich und genehmige einen Whisky mit Sodawasser! Dann will ich dir erzählen, was dich von der Frangipanigesellschaft interessieren kann.
Gut. Ich verspreche, ein dankbarer und aufmerksamer Zuhörer zu sein, erwiderte ich.
Als der Kellner die bestellten Getränke gebracht hatte, begann er:
Du hast zweifellos gestern abend deine guten Gründe für deine Ausflüchte gehabt. Aber ich weiß aus sicherer Quelle, daß du mehr oder weniger in die Angelegenheiten der merkwürdigen alten Gräfin in Lambeth verwickelt bist. Leugne es nicht ab! Ein gewisser Doktor Perigord ist in die Geschichte verwickelt, und ich kann in dem Aerzteverzeichnis nur einen einzigen Perigord ausfindig machen, und das bist du selber.
Gut also, sagte ich. Nehmen wir an, daß du mit deiner Behauptung recht hast.
Gut, bemerkte er. Wir wollen es annehmen. Um nun mit der alten Dame zu beginnen. Sie ist die Witwe des Grafen Giovanni, des ältesten der drei Brüder; er hat ihr gewisse unveräußerliche Güter vermacht, aus denen sie ein sehr hübsches Einkommen bezieht. Aber anstatt ihr Leben in einer ihrer zahlreichen, prächtigen Villen zu genießen, ist sie seit Jahren von der Manie besessen, in dunkeln Vororten nahezu aller Hauptstädte Europas der Reihe nach zu wohnen. Der Grund, den sie für dieses exzentrische Benehmen anführt, ist dir wahrscheinlich bekannt.
Ich nickte, worauf er fortfuhr:
Nach dem Tode des Grafen Giovanni – in den neunziger Jahren – wurde Enrico, der zweite Bruder, Erbgraf. Er vermählte sich mit der lieblichen Amerikanerin, die du gestern abend besucht hast und die sehr bald nach ihrer Heirat Witwe wurde. Er war so freundlich, ihr all das Geld, das sie ihm selber zugebracht hatte, wieder zu vermachen. Dann erbte Vittorio – der gegenwärtige Erbgraf und Bösewicht in dem Drama – den Titel, aber sonst sehr wenig: einen düsteren alten Palast in der Via Giulia in Rom, gewisse vernachlässigte Güter in den Abruzzen und in Wirklichkeit – für einen Mann von seinen Ansprüchen wenigstens – eine leere Börse. Er hat entdeckt – oder glaubt wenigstens entdeckt zu haben –, daß seine Schwägerin, die alte Gräfin in Lambeth, den Schlüssel zu irgendwelchen geheimnisvollen Reichtümern im Besitz hat, von denen ein Teil eigentlich ihm zukommt.
Wenn sie gegen die Gesetze handelt, bemerkte ich, warum zieht er sie nicht vor Gericht?
Das ist eines der zahlreichen Geheimnisse des Falles. Sie fordert ihn auf, es zu tun, und doch flieht sie vor ihm und verbirgt sich an versteckten Orten, anstatt polizeilichen Schutz in Anspruch zu nehmen und ein behäbiges und komfortables Leben unter ihren Weinlauben und Feigenbäumen zu führen.
Ich gestehe, sagte ich, daß ich das für die unverständlichste Seite an der ganzen geheimnisvollen Geschichte halte.
Für meinen Teil, meinte Davenport, ohne mein stillschweigend Eingeständnis zu beachten, daß mir die Tatsachen bereits bekannt waren, für meinen Teil halte ich das eben für eine für sie charakteristische Form des Verfolgungswahns. Im Oberstübchen der alten Dame muß wirklich etwas nicht ganz in Ordnung sein.
Vielleicht, erwiderte ich, aber inwiefern ist bei dieser Geschichte die andere Gräfin, die Amerikanerin, beteiligt?
Ach so, sie? Wenn ich meinen Gewährsmann richtig verstanden habe, so hat auch sie eine Ahnung von den Dingen, die die alte Dame so eifersüchtig versteckt hält, und möchte gerne auf eigene Faust ihre Schwägerin bearbeiten. Deshalb hat sie dich kommen lassen, ohne Zweifel. Sicherlich dachte sie, du möchtest in der Lage sein, sie mit der Erbwitwe – wie man sie nennen könnte – in Verbindung zu setzen. Und sie hoffte, daß es ihr mit Schmeicheleien und Sympathiebezeigungen gelingen würde, ihr das Geheimnis abzulocken, das der gegenwärtige Erbgraf durch Gewalt und Drohungen ihr nicht entwinden konnte. Auf jeden Fall ist es eine tolle Geschichte, und ich kann mir fürs Leben nicht denken, was die alte Dame so ängstlich versteckt hält.
Ich auch nicht, sagte ich, aber ich bin dir für diese nützliche Auskunft zu großem Dank verpflichtet. Ich verstehe nunmehr ein paar Kleinigkeiten, die ich vorher nicht unterzubringen wußte. Komm, wir wollen noch einen Whisky trinken!
Kurz darauf trieb unsere Unterhaltung einer anderen Richtung zu. Um elf Uhr war ich schon wieder auf dem Heimweg.