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Fünftes Kapitel

Eine Viertelstunde später erreichte ich Pontifex Square 19. Als Anna die Haustür aufschloß, stürzten Mimms und seine Frau auf mich zu. Beide begannen zu gleicher Zeit auf mich einzureden. Aber Mimms wandte sich dann an seine Frau und sagte, indem er sie mit dem Ellbogen zurückschob: Schweig jetzt für einen Augenblick still, Mathilde! Laß mich zuerst reden, ich bitt' dich! Alles is drunter und drüber bei uns, Herr Doktor, ja, alles drüber und drunter. Mit einem Wort: die Gräfin is ausgeflogen, zum wenigsten is sie weg. Meine Alte ging heut' wie immer des Morgens hinauf, um ihr den Tee zu bringen –

Und die Gräfin, unterbrach ihn seine Frau, war verschwunden. O Gott! Es hat mir einen solchen Schlag versetzt, als ich das Bett leer fand und die Zimmer in einem solchen Zustand, wie Sie nie was gesehen haben – alle Schachteln und Koffer aufgerissen und die Sachen über den ganzen Fußboden zerstreut und, meiner Seel', ich glaub', sie hat noch nich mal 'ne Nadel mitgenommen.

Wie merkwürdig! entgegnete ich. Sie haben ihr, wie ich annehme, das Schlafmittel gebracht, das ich Ihrem Mann mitgab, nicht?

Jawohl, Herr Doktor. Ich hab's sofort selber hinaufgetragen und mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie's einnahm. Sie lag bereits im Bett und war offenbar fürchterlich aufgeregt. Ich sagte zu ihr: »Regen Sie sich nicht so auf, gnädige Frau,« sag' ich. »Da is die Arznei, die Ihnen der Herr Doktor verschrieben und eben geschickt hat,« und damit schüttete ich die Medizin in ihr Glas. »Das wird Ihnen einen prächtigen Schlaf bringen, und morgen früh werden Sie wieder ganz gesund und so frisch wie der junge Tag sein.« Da saß sie denn in ihrem Bette auf und seufzte, aber sie nahm die Medizin folgsam wie ein Lämmchen ein, und sagte ›Gut' Nacht‹, und ich ließ sie allein. Und wie ich heut morgen mit einer Tasse Tee hinaufgehe und mir schon denke, sie in voller Gesundheit anzutreffen, und sehe, daß das Bett leer ist, und nirgends auch nur 'ne Spur von ihr finde, da hab' ich gezittert wie Espenlaub. Das können Sie mir glauben, Herr Doktor! Sie hätten mich umblasen können, so schwach war ich!

Und was ich nich verstehen kann, mischte sich Mimms wieder ins Gespräch, das ist das: die Haustür war verschlossen und verriegelt, ganz genau so wie ich sie verschlossen hatte, als ich gestern abend nach Haus kam. Und das gleiche war mit der Hintertür der Fall. Auch kann sie nich durch die Fenster gestiegen sein, da sie beide auf der Innenseite festgemacht sind, und von den Kaminen zu reden, wäre dummes Zeug. Wie nun in aller Welt, Herr Doktor, hat sie das Haus verlassen können? Das is mir unverständlich und bringt mich noch ganz aus dem Häuschen, Herr Doktor, das dürfen Sie mir glauben!

Das glaub' ich auch, erwiderte ich. Es ist ganz seltsam. Haben Sie während der Nacht gar nichts gehört?

Nein. Ich schlafe immer wie ein Stück Holz. Meine Alte aber glaubt, sie habe was gehört.

Ich denk' mir's nur, bemerkte Frau Mimms, und kann vielleicht auch nur geträumt haben, aber es kam mir so vor, als ob jemand aus dem Haus ausziehe. Aber ich glaube eher, daß ich geträumt habe, denn mit dem Schlafen geht mir's wie meinem Wilhelm: ich schlafe fest und gesund bis sechs Uhr; mit dem Glockenschlag erwache ich und springe dann frisch wie ein junges Mädchen aus dem Bett.

Ganz merkwürdig, sagte ich. Wollen wir nicht hinaufgehen und uns die Bescherung ansehen?

Gewiß, Herr Doktor. Frau Mimms eilte voran, dann folgten wir zwei Männer, während Anna mit vor Aufregung weit aufgerissenen Augen das Züglein beschloß.

Wir begaben uns geradenwegs in das Schlafzimmer der Gräfin, wo eine ungewöhnlich unordentliche Szene sich meinen erstaunten Augen darbot. Das Bettzeug war ganz durchwühlt. Die Schubladen am kleinen Wandschrank standen heraus. Zwei Koffer gähnten uns mit aufgeschlagenen Deckeln leer an. Und auf dem Fußboden wateten wir buchstäblich knöcheltief in weiblichen Kleidungsstücken. Augenscheinlich war nichts einer peinlichen Untersuchung entgangen. Und doch war, wie mir sofort klar wurde, nichts Wertvolles entwendet worden. Das Brokatkleid, das die Gräfin während unserer Unterredung am vorhergehenden Abend getragen, hing an einem eisernen Haken hinter der Türe. Darunter bemerkte ich ein wertvolles Pelzjacket. Auf dem tannenen Ankleidetisch stand ein Juwelenkästchen, dessen Inhalt nicht berührt worden war. Daneben lag eine goldene Uhr mit Kette und ein Ledertäschchen, das, wie ich rasch feststellte, achtzig Sovereigns enthielt. Am Fuße des Bettes bemerkte ich ein paar niedliche Schuhe, die mit altertümlichen Silberschnallen geschmückt waren. Diese Schuhe hatte die Gräfin, wie mir plötzlich wieder einfiel, ebenfalls bei unserer Zusammenkunft getragen.

All diese Umstände waren ebenso beunruhigend als unverständlich. Die Sachlage war mit einem Worte völlig unverständlich, und nur zwei Dinge schienen halbwegs klar zu sein: daß das Zimmer zu irgendeinem Zwecke durchsucht worden war, der ganz außerhalb jeder Absicht gewöhnlichen Diebstahls lag, und daß die Gräfin selber in ihrem Nachtgewande auf irgendeine zauberhafte Weise weggeschafft worden war, die eher an die Erzählungen aus »Tausend und eine Nacht« als an irgend sonst etwas erinnerte.

Einer dieser zwei Umstände war mir unerklärlich. Die Annahme, daß der Gegenstand, dem diese rücksichtslose Haussuchung gegolten, der mit dem gelben Lack versiegelte Umschlag gewesen, der nunmehr bei meinem Bankier und in Sicherheit war – diese Annahme war die nächstliegende. Aber das merkwürdige Verschwinden der Gräfin selber war ein Rätsel, dessen Lösung, wie es schien, zu schwierig für den menschlichen Verstand war. Ich schüttelte schließlich den Kopf in vollständiger Ratlosigkeit.

Ein toller Spuk, nich wahr, Herr Doktor? sagte Mimms.

Allerdings – wirft mich völlig aus dem Geleise. Habe nie was Derartiges gehört. Sehen wir uns doch einmal das Wohnzimmer an.

Ganz recht, Herr Doktor. Ich bin bereits drin gewesen, meine Alte und ich; aber wir konnten nichts Ungewöhnliches entdecken, nich wahr, Mathilde?

Jawohl, erwiderte seine Frau, aber sehen Sie doch lieber mal selber nach, Herr Doktor!

Wie ich bereits mitgeteilt habe, war es ein ganz kleines Zimmerchen. Ein Blick umfaßte es und genügte. Die kalte Asche des Feuers vom vorhergehenden Abend lag noch im Kamin. Die roten Vorhänge waren, wie gestern, sorgfältig herabgelassen. Der Tisch mit der erloschenen Lampe stand wie gewöhnlich mitten im Zimmer. Auch der Lehnsessel und die drei einfachen Stühle waren nicht von ihrem Platze weggerückt worden. Ein kleiner Vertikow stand an der Kaminwand, ein Ziertisch, mit wächsernen Früchten unter einer Glasglocke, auf der anderen Seite des Kamins, Hier war nirgends ein Anzeichen von Unordnung, keine Andeutung zur Aufklärung des Geheimnisses zu bemerken.

Nun, was meinen Sie, Herr Doktor? fragte Mimms, mit gierigen Augen, die immer noch nach einer Erklärung suchten.

Offen gestanden, sagte ich, ich weiß nichts! Ich bin paff – ratlos – mit meinem Witz zu Ende. Jemand muß hier gewesen sein, hat mit dem Eigentum der Gräfin sein Spiel getrieben und ist dann mit der Gräfin selber durch die Tapete hindurch weggeflogen. Das hätte nicht einmal die Katze fertiggebracht. Apropos, wo ist denn die Katze? Sie lag gestern abend, als ich das Zimmer verließ, schnurrend auf dem Kaminteppich.

Ei ei! bemerkte Frau Mimms. wo is sie denn? Hast du sie gesehen, Wilhelm, oder du, Anna?

Beide schüttelten als Antwort kräftig den Kopf, und Frau Mimms fuhr fort:

Na, und ich auch nich. Ich war heut morgen so aufgeregt, daß ich es gar nicht bemerkte, aber die gute Popsie – so heißt sie, Herr Doktor – hat die Gräfin so schrecklich gern und schläft immer hier, wenn ich jedoch morgens mit dem Tee hereinkomme, folgt sie mir alle Tage die Stiege hinunter, um ihr Tröpflein Milch zu kriegen, Heute morgen hat sie's nich getan. Ich weiß ganz bestimmt, daß sie nich kam. was sagst du dazu, Wilhelm?

Ich sage gar nichts dazu, erwiderte der Angeredete. wenn eine Gräfin durch den Fußboden oder die Decke hindurch entführt wird, warum sollte es nich mit einer Katze möglich sein? Aus der ganzen Geschichte kann kein vernünftiger Mensch klug werden, wenn ich allein im Haus wäre und stark getrunken hätte, würd' ich denken, ich selber hätte sie geholt, ich hätte sie beide geholt. Aber da stehen Sie, Herr Doktor, und da steht meine Alte und da Anna, und die Gräfin is verschwunden, und jetzt sagen Sie alle, die Ratze sei auch noch verduftet! Das muß ich schon eine verfluchte Zauberei nennen. Ich weiß beim Kuckuck nich, was der Hausherr dazu sagen wird oder was ich ihm über diesen Fall erzählen soll, wär's vielleicht nicht besser, Herr Doktor, wir holten die Polizei?

Ich besann mich einen Augenblick. Ich dachte an das verflixte Dokument mit den gelben Siegeln, das bei meinem Bankier lag, und wie leicht ich in eine öffentliche Untersuchung verwickelt werden könnte, die zu unliebsamen Ergebnissen – für meinen Beruf oder sonstwie – führen würde.

Nein, sagte ich. Zunächst wenigstens nicht. Sie haben mit dem Verschwinden der Gräfin nichts zu tun. An Ihrer Stelle würde ich ein Inventar von all ihren Sachen aufnehmen. Ich werde später, wenn's Ihnen recht ist, vorbeikommen und Ihnen behilflich sein und die Richtigkeit des Inventars bestätigen. Dann würde ich alles in Ihr eigenes Schlafzimmer tragen und die Sache ruhig ihrem weiteren Verlauf überlassen, wenn dann die Gräfin in angemessener Zeit zurückkehrt, wird sie alles in richtiger Ordnung vorfinden, wenn nicht, nun, dann ist es noch früh genug, die Behörden zu benachrichtigen. Was meinen Sie dazu, Herr Mimms?

Ganz einverstanden, Herr Doktor; wenn Sie glauben, daß es das beste is. Nur möchte ich nich, daß noch mehr Hexenwerk in meiner Wohnung geschieht, wissen's, es würd' schon eine Heidenarbeit brauchen, meine Alte durch eine Zimmerdecke durchzukriegen, aber ich besinne mich nich lange, nein, gewiß nich: wer sie anrührt, dem schlag ich ein Loch in den Schädel und zwar kein kleines, wenn auch, was den Schädel anlangt, mein eigener bereits zu surren und sausen anfängt – und – Anna, was is denn nun auch noch mit dir los?

Anna hatte sich urplötzlich der Länge nach auf den Boden geworfen und unter dem Vertikow mit den Fingerspitzen einen kleinen glitzernden Gegenstand hervorgeholt. Sie sprang wieder auf die Füße und hielt uns eine Busennadel hin, die aus einem von Diamanten umgebenen Saphir bestand.

Das is es, Vater, sagte sie. Ich hab's zufällig gesehen. Da!

Mimms war nahe daran, Anzeichen eines bevorstehenden Schlaganfalls zu verraten.

Wie! Das is ja 'ne Nadel, die einem Mann gehört! sagte er.

Natürlich ist's das, erwiderte ich. Bewahren Sie sie sorgfältig auf. Sie dürfte einen wertvollen Anhaltspunkt abgeben.

Wozu, Herr Doktor?

Zum Geheimnis natürlich.

Wegen der Gräfin?

Gewiß.

Und die Katze?

Vielleicht im Zusammenhangs auch, gewiß.

Dank schön, Herr Doktor, danke freundlichst. Ich sehe zwar noch keine Gespenster, aber entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich muß einen Schnaps trinken. Entschuldigen Sie – bleib da, Mathilde – laß mich und tu, was der Herr Doktor sagt!

Damit entfernte sich Mimms eilig, und die Stiege knarrte laut, als er hinuntereilte und die Haustür zuschlug.

Armer, lieber, alter Wilhelm! bemerkte Frau Mimms. Nehmen Sie's ihm nich übel, Heer Doktor! Die Geschichte hat ihn so erschüttert; Sie können sich's nich denken wie! Am besten, man sagt ihm nichts mehr davon. Er wird bald wieder von selber, wenn auch ein wenig bezecht zurückkehren – aber er is ja immer freundlich und lieb, Herr Doktor, so daß ich's ihm kein bißchen übel nehme – und wird mich fragen, was ich getan habe. Er hat ja immer volles Vertrauen zu mir, Herr Doktor, ja, das hat mein Wilhelm, und so könnten Sie mit mir alles durchsehen, wenn's Ihnen nichts ausmacht, Im Verlauf des Nachmittags wieder herzukommen. Dann könnten Sie auch Ihren Namen unter das Verzeichnis schreiben, das Sie vielleicht so freundlich wären, selber anzufertigen.

Gewiß, Frau Mimms, sagte ich, und dann erst fühlte ich, daß ich noch nicht gefrühstückt hatte. Daher beeilte ich mich, dieses wirklich geheimnisvolle Haus zu verlassen.


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