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Die Betrachtung des menschlichen Körpers hat gezeigt, wie alle Reize, die aus der Außenwelt zu unserem Bewußtsein dringen, nur zustande kommen, wenn sie durch die Nerven dem Zentralorgan zugeführt werden, und wie umgekehrt auch die kleinste willkürliche oder unwillkürliche Bewegung unmöglich ist, sofern das sie ausführende Glied der motorischen Nervenzentren in seiner Funktion gehemmt ist. Und wir haben uns ferner davon überzeugt, daß auch für die höheren geistigen Tätigkeiten das ungestörte Zusammenspiel der nervösen Vorgänge unerläßliche Bedingung ist. So sehen wir in den Gehirnfunktionen, wie es scheint, die eigentlichen, das Bewußtsein hervorbringenden Lebensvorgänge vor uns.
Wie kommen wir dann eigentlich dazu, außer diesen Vorgängen noch ein anderes völlig verschiedenes geistiges Geschehen anzunehmen, neben dem Körper eine Seele zu denken? Vermögen wir den Gedanken eines von allem Körperlichen wesensverschiedenen Seins und Geschehens überhaupt zu fassen?
Ursprünglich hat es die Menschheit jedenfalls nicht gekannt; das zeigen die ältesten uns überlieferten Anschauungen und Bezeichnungen des Lebensprinzips, der »Seele«. Das griechische Wort ψύχη und πνεύμα, das lateinische anima, spiritus gehen auf die Vorstellung des Atmens, des Hauchens oder Wehens zurück. Ebenso wird in dem altisraelitischen Schöpfungsbericht der Genesis (l. Mos. 2) erzählt: »Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenklotz und blies ihm den lebendigen Odem in seine Nase.« Alle diese Vorstellungen fassen also den Urgrund dessen, was den lebenden Menschen von dem Toten scheidet, als etwas greifbar Materielles auf. Homer stellt die abgeschiedenen Seelen als schattenhafte, aber doch körperliche Wesen dar, die im Hades ein traumhaftes Dasein führen. So vermag die Menschheit zunächst den Gedanken einer völligen Wesensverschiedenheit von Leib und Seele nicht zu fassen, wenn sie auch von einer weitgehenden Verschiedenheit beider überzeugt ist. Die Wissenschaft aber hat in vielen Epochen körperliche und geistige Vorgänge geradezu für vollkommen gleichartig erklärt, indem sie auch die geistigen als Ausdruck körperlicher Funktionen, als materielles Geschehen deutete.
Vergegenwärtigen wir uns die Tatsachen der Abhängigkeit aller Bewußtseinsvorgänge von den Gehirnprozessen, mit denen der vorige Aufsatz uns bekannt gemacht hat! Legen sie uns nicht den weiteren Schluß nahe, daß das Bewußtsein tatsächlich nur eine durch die Gehirnvorgänge bewirkte Erscheinung ist? Vielleicht ihre »Funktion«, ähnlich wie der Blutkreislauf eine Funktion des Herzens darstellt? Und ist somit, was wir als seelisch zu deuten geneigt sind, nicht im letzten Grunde gleichfalls materieller Natur? Wir wollen uns die Konsequenzen dieser naheliegenden materialistischen Deutung des Seelischen einmal vergegenwärtigen. Die Gehirnvorgänge bestehen wie alles materielle Geschehen in letzter Linie in Bewegungen kleinster Teilchen; die Bewußtseinsinhalte aber, aus denen das Bild der Außenwelt sich uns aufbaut, stellen sich dar in der Fülle der Farben, die wir sehen, der Töne, die an unser Ohr dringen, und aller der andern Sinneswahrnehmungen, die wir beständig empfangen. Eine Gleichsetzung beider also würde besagen, daß die Welt, die unsere Sinne, unser Bewußtsein uns erschließt, nichts anderes sei als die Gehirnbewegungen, an die ihr Zustandekommen durchweg geknüpft ist, – eine Behauptung, deren Sinnlosigkeit sofort einleuchtet. Die Unvergleichbarkeit der physiologischen Vorgänge unseres Körpers mit den Inhalten unseres Bewußtseins legt uns vielmehr die Verpflichtung auf, für die Erklärung des Seelenlebens eine andere Grundlage zu suchen. Wir dürfen hoffen, diese Aufgabe zu lösen, wenn wir uns die eigenartige Bedeutung klar machen, die dem Bewußtsein in der Welt des Wirklichen zukommt. Zu diesem Zwecke aber haben wir zunächst zu untersuchen, wie wir denn eigentlich zur Kenntnis der Körperwelt gelangen.
Wir haben zunächst eine Wahrnehmung (z. B. die Gesichtswahrnehmung eines Gegenstandes) nur, wenn von dem Gegenstande ausgehende Lichtwellen (Ätherbewegungen) unser Auge so treffen, daß auf der Netzhaut ein Bild des Gegenstandes entsteht, und wenn dieser Reiz sodann weiter bis zum Sehzentrum im Gehirn geleitet wird.
Was kommt uns nun von diesen physiologischen Vorgängen zum Bewußtsein? Das Netzhautbild? Nimmermehr! Denn es befindet sich innerhalb unseres Körpers, es ist flächenhaft, es stellt ferner den Gegenstand umgekehrt und (da auf jedem Auge eines vorhanden ist) doppelt dar. Unsere Wahrnehmung aber gibt ihn uns einfach, aufrecht, dreidimensional und außerhalb unseres Körpers lokalisiert. Noch weniger aber dürfen wir behaupten, von dem Gehirnvorgang unmittelbare Kenntnis zu bekommen; denn im Gehirn kann auch von irgendeiner Abbildung der Gestalt nicht mehr die Rede sein. Fortgeschrittene wissenschaftliche Forschung aber hat uns überhaupt erst Kenntnis von dem Bestehen der physiologischen Prozesse gegeben, ja sehr vielen Menschen bleibt ihr Vorhandensein und ihre Mitwirkung dauernd unbekannt. Schon daraus geht hervor, daß jede Gleichsetzung der Wahrnehmungserlebnisse mit den Gehirnvorgängen sinnlos ist. Wir müssen vielmehr anerkennen, daß das Rätsel der Wahrnehmung an dem Punkte, wo das letzte physiologische Glied und der Bewußtseinsakt sich scheinbar berühren, am größten ist. Denn der der Empfindung unmittelbar vorhergehende Gehirnprozeß muß als verschieden von dem äußeren Objekt sowohl wie von dem Wahrnehmungsbilde angenommen werden. Darum ist es auch völlig ausgeschlossen, daß der äußere Gegenstand etwa irgendwie mechanisch-optisch wie bei der Photographie in uns abgebildet würde und so zu unserer Kenntnis gelangte. Es ist, wir müssen es zugeben, menschlicher Wissenschaft tatsächlich unmöglich nachzuweisen: »daß es von selbst in der Natur irgendeiner (nervösen) Bewegung liege, als Bewegung aufzuhören, und als leuchtender Glanz, als Ton, als Süßigkeit des Geschmackes wieder geboren zu werden« ( Lotze).
Andererseits aber müssen wir uns klar machen, daß wir die Außenwelt nicht anders kennen lernen als durch die Vermittlung unseres Wahrnehmens, – vermittelt also auch durch die nervösen Prozesse, in denen der äußere Gegenstand jedenfalls eine völlige Umdeutung erfährt. Was aber bürgt uns dann dafür, daß am Ende dieses komplizierten Weges wieder ungefähr das dargeboten wird, was den ersten Anstoß gegeben hat, – daß die Inhalte der Sinneswahrnehmung wirklich ein Abbild der Außenwelt seien?
So hat sich der Standpunkt, von dem unsere Untersuchung ausging, geradezu gewendet: nicht die körperlichen Vorgänge sind das für uns erste und die Bewußtseinsdaten nur deren sekundäre Erscheinung; vielmehr ist das einzige, was wir unmittelbar erleben, unser Bewußtsein. Von der Körperwelt aber wissen wir nur, sofern sie uns Wahrnehmungen, also Bewußtseinswirkungen auslöst; sie ist uns im Grunde also nur in seelischer Wirklichkeit gegeben.
Wir dürfen nun aber diese unbestreitbare erkenntnistheoretische Tatsache nicht im Sinne des Idealismus deuten, den etwa der englische Philosoph Berkeley († 1753) vertritt. Wir dürfen nicht schließen, daß die Außenwelt, weil sie uns niemals unmittelbar gegeben ist, vielleicht gar nicht existiere. Denn wir empfangen ja von ihr alle die Wirkungen, die wir als Sinneswahrnehmungen zusammenfassen. Die Tatsache aber, daß diese Wahrnehmungen gleichzeitig und übereinstimmend allen unter denselben Bedingungen stehenden Menschen gegeben sind, und daß sie, völlig unabhängig von unserm Willen, sich uns mit Notwendigkeit aufdrängen, bezeugen unverkennbar die von uns unabhängige Wirklichkeit der Ursachen, von denen sie bewirkt sind, also der äußeren Gegenstände, vor allem aber läßt die strenge, unverbrüchliche Gesetzmäßigkeit, die wir in der Wahrnehmungswelt beobachten, uns keinen Zweifel, daß sich in ihr eine Wirklichkeit darstellt, die unabhängig von unserer Einbildung und unserem Willen nach eigener innerer Notwendigkeit existiert. So dürfen wir also den erkannten Tatbestand niemals im Sinne des »Idealismus« deuten, für den die Welt lediglich das Produkt unseres Vorstellens und Denkens ist. Nur darauf kam es an, zu zeigen, daß alles Wirkliche uns nur durch die Vermittlung des Bewußtseins gegeben werden kann, und daß es darum sinnlos ist, zu behaupten, unser Bewußtsein sei eine bloße Erscheinungsform des im Grunde allein wirklichen körperlichen Geschehens. Eine eigene, von den materiellen Vorgängen total verschiedene Wirklichkeit haben wir vielmehr in dem seelischen Erleben anzuerkennen. Wir wollen nun an der Hand der Bewußtseinsdaten, die wir in uns finden, versuchen, in das Leben und Weben unserer Seele näher einzudringen.
Wir haben im Verlaufe unserer Überlegungen bereits eine ganze Klasse von Bewußtseinsinhalten kennen gelernt: die Sinnesempfindungen. Der älteren Psychologie waren »fünf Sinne« bekannt. Sie wußte, daß das Ohr uns die mannigfachen, nach Höhe, Stärke und Klangfarbe stark verschiedenen Gehörsempfindungen, die Töne und Geräusche, vermittelt, daß das Auge uns von der unbegrenzten Fülle der Farben sowie von Hell und Dunkel und der Tastsinn von der Oberflächenbeschaffenheit des getasteten Körpers unterrichtet. Sie war ferner zumeist auch davon überzeugt, daß durch Auge und Tastsinn uns zugleich die Elemente der Raumanschauung unmittelbar geboten werden; ebenso waren das Geruchs- und Geschmacksorgan und die dadurch vermittelten Sinneseindrücke ihr bekannt. Aber wir haben – nach Maßgabe der neueren Forschungen – die Zahl dieser fünf Sinne bedeutend zu erweitern. Zunächst haben wir in dem als »Tastsinn« zusammengefaßten, in der Haut lokalisierten Sinnesorgan drei voneinander geschiedene Sinne anzuerkennen: die Druckpunkte, die uns die Härte des getasteten Gegenstandes vermitteln, und die Kälte- und Wärmepunkte, durch die wir die Empfindung der Temperatur des umgebenden Mediums oder des berührten Gegenstandes empfangen. Außer diesen beiden Arten in der äußeren Haut und den inneren Schleimhäuten eingebetteter Sinnesorgane aber haben wir darin noch besondere Schmerzpunkte anzunehmen; durch sie gelangt jede Art des sinnlichen Schmerzes zu unserem Bewußtsein. Aber auch die Bewegungen unserer Glieder werden – selbst wenn sie, ohne daß wir es wollen oder auch nur wissen, rein passiv an uns vorgenommen werden – unmittelbar von uns empfunden. Ebenso kommen uns Anspannung, Erschlaffung und Ermüdung der Muskeln direkt zum Bewußtsein. Wir haben daher in den Muskeln, Sehnen und vor allem in den Gelenken das Vorhandensein von Sinnesorganen anzunehmen, die diese verschiedenen Arten der » Bewegungsempfindungen« vermitteln.
Ein eigenartiges Sinnesorgan hat man ferner im inneren Ohr entdeckt. Die darin befindlichen Bogengänge und Gehörknöchelchen dienen nicht, wie man vordem annahm, den Gehörsempfindungen; sie vermitteln uns vielmehr das Bewußtsein der jeweiligen Haltung und Bewegung des Kopfes und des ganzen Körpers und sind somit wesentlich für die unwillkürlich erfolgende Regulierung des Gleichgewichtes. Das Bewußtsein von Zuständen wie Durst, Hunger, Übelkeit, ferner die von den inneren Organen beständig ausgehenden, nur zumeist nicht beachteten Empfindungen, die gemeinsam das körperliche Gesamtbefinden ausmachen, wird man gleichfalls als eine Summe von einzelnen Sinnesempfindungen auffassen müssen. So sehen wir die früher angenommene Fünfzahl der menschlichen Sinne erheblich gesteigert.
Alle Sinnesorgane also vermitteln die Reize, die aus der Außenwelt und aus unserem eigenen Körper an unser Bewußtsein dringen, und zwar in Form von Empfindungen, die für jedes Sinnesorgan spezifisch-eigenartige sind. Ist auch, vor allem für Auge und Ohr, die Intensitätsskala, die wir von der schwächsten bis zur stärksten Empfindung zu erleben imstande sind, sehr groß, so hat unsere Empfindlichkeit dennoch bestimmte, für jedes Sinnesorgan feststellbare Grenzen. So vermögen wir jenseits einer unteren Grenze der Reizstärke nichts mehr wahrzunehmen, und wir können ebenso unter einem bestimmten Grad der Reizdifferenz keinen Unterschied der entsprechenden Empfindungen mehr bemerken. Ebenso gibt es für jedes Organ eine obere Grenze möglicher Empfindungsstärke, jenseits deren auch eine Verstärkung des Reizes kein Anwachsen der Empfindung mehr auszulösen vermag. Schon diese Tatsachen lassen erkennen, daß die Intensität der Empfindung nicht einfach der Reizstärke proportional zu- oder abnimmt. Der Physiologe Weber hat in der Mitte des vorigen Jahrhunderts auf Grund experimenteller Versuche das Verhältnis von Reiz und Empfindung in folgendem Gesetz bestimmt: um einen eben merklichen Empfindungsunterschied herbeizuführen, bedarf es überall eines Reizzuwachses, der zur bisherigen Reizintensität in bestimmter stets konstanter Proportion steht. Wenn also z. B. eine Lichtquelle von 10 Kerzen Stärke, um 1 vermehrt, einen eben merklichen Empfindungsunterschied bewirkt, so muß eine Lichtquelle von 20 Kerzen Intensität um zwei vermehrt werden, damit wiederum ein eben merklicher Empfindungsunterschied eintritt usw. Der geniale Begründer der Experimentalpsychologie, Gustav Theodor Fechner, hat diesem Lehrsatz eine allgemeine Fassung gegeben, dabei allerdings die Voraussetzung gemacht, daß die eben merklichen Empfindungsunterschiede überall als gleich angenommen werden dürfen. Nur so ergibt sich die Möglichkeit, die Reihe der Empfindungszuwachse als arithmetische zu bezeichnen und ihr die Skala der Reizzuwachse als geometrische zuzuordnen. Durch logarithmische Umwandlung dieser Verhältnisse ergibt sich daraus wiederum die Weber-Fechnersche Maßformel.
Wir haben in dem bisher untersuchten Bestande des seelischen Erlebens eine ganze Kategorie von Bewußtseinsinhalten gefunden: die Sinnesempfindungen. Fast niemals aber sind uns im entwickelten Bewußtsein nur einzelne Sinnesempfindungen gegeben, sondern, wenn wir z. B. etwas sehen, so nehmen wir fast immer einen unmittelbar von uns erkannten Gegenstand wahr. Die nächste psychologische Frage, die sich uns aufdrängt, ist somit: was geht in unserem Bewußtsein vor, welche seelische Daten sind in uns wirksam, wenn wir einen Gegenstand erkennen?
Wir beobachten z. B. den Lauf eines Stromes. Es ist uns zunächst eine Mannigfaltigkeit von Sinnesempfindungen gegeben: wir sehen die leuchtenden Farben und die wechselnde Gestalt und Bewegung der Wellen; wir hören das Rauschen, und wir empfinden die erfrischende Kühle, die aus dem Wasser aufsteigt; vielleicht riechen wir auch den eigentümlichen Duft des fließenden Wassers. Aber hätten wir nur alle diese Empfindungen, so würden wir doch den Strom noch nicht als solchen erkennen. In unserer Seele ist vielmehr unmittelbar das Bewußtsein, daß alle diese Empfindungen durch Qualitäten bewirkt werden, die zu dem einheitlichen Ganzen des Stromes gehören; wir denken also unmittelbar den Strom als Ursache hinzu zu der Fülle der Empfindungen, die wir erleben. Wir fassen somit das Rauschen, Glänzen und Fließen als Eigenschaften des Stromes auf. Und wir scheiden auf Grund dieser unserer Kenntnis ebenso selbstverständlich auch beim flüchtigen Erkennen den dahinfließenden Strom von den ihn begrenzenden Bergen und Wiesen.
Das kleine Kind aber, das erst anfängt Sinnesempfindungen zu erhalten, nimmt eine solche einheitliche Auffassung zusammen auftretender Qualitäten noch nicht vor; es erkennt darum die Gegenstände nicht ohne weiteres, und es kann sie mit seinen geringen Erfahrungen auch gar nicht erkennen. Wir können aber beobachten, wie es mit der Zeit, auf Grund häufiger Wahrnehmung z. B. der vereinigt auftretenden Empfindungen des Glatten, Weißen und Warmen und der gleich darauf folgenden durch das Trinken ausgelösten lustvollen Sinnesempfindungen seine Flasche erkennt.
Es ergibt sich also, daß im entwickelten Bewußtsein jeder Akt eines unmittelbaren Erkennens, jede durch die Sinne vermittelte Wahrnehmung eines Gegenstandes außer den Sinnesempfindungen noch Momente enthalten muß, die über das augenblicklich den Sinnen Dargebotene hinausgehen: es sind Spuren von früheren Wahrnehmungen, die durch die gegenwärtigen Reize neubelebt werden. Die dadurch zustande kommenden erkennenden Wahrnehmungen nennen wir: »Wahrnehmungs vorstellungen« – im Gegensatz zu einfachen Sinnesempfindungen oder zu einzelnen Wahrnehmungen, in denen kein Erkennen des die Wahrnehmung bewirkenden Gegenstandes enthalten ist. Die Wahrnehmungsvorstellungen sind sowohl das Produkt der Erfahrung, an der unser Vorstellen sich bildet, als auch der die Erfahrung aufnehmenden Eigenart unseres Geistes. Die Außenwelt bietet uns ja gesetzmäßig zusammenhängende, stets wiederkehrende Empfindungsgruppen dar; diese schließen sich in unserem Geiste zu einheitlichen Ganzen zusammen und lösen sich von den wechselnden Umgebungen, in denen wir sie wahrnehmen. Unser Denken aber faßt die regelmäßig verbundenen Komplexe von Qualitäten als beharrende Dinge mit Eigenschaften auf. Die wissenschaftliche Terminologie nennt dieses unmittelbare Wahrnehmungserkennen, diese Bildung von Wahrnehmungsvorstellungen, Apperzeption. Es ist wesentlich für die Apperzeption, daß die augenblicklichen Reize und die aus früheren Erfahrungen stammenden Bewußtseinsinhalte in ihr eine so enge Verschmelzung eingehen, daß nur abstrakte Analyse beide trennen kann. Darum erleben wir bei uns geläufigen Wahrnehmungsgegenständen das Erkennen auch nicht so, daß wir erst die Eigenschaften wahrnehmen und dann den Gegenstand erkennen; beides geht vielmehr unmittelbar gleichzeitig vor sich.
Jedes wahrnehmende Erkennen hat aber zur Voraussetzung eine allgemeinste Tatsache unseres Seelenlebens, die die erste Bedingung aller geistigen Entwicklung ist: die Tatsache, daß einmal in unserem Geist Vorhandenes nicht restlos in die Nacht des Nichtseienden zurücksinkt, daß es vielmehr Spuren hinterläßt und unter geeigneten Bedingungen wieder bewußt wird; es ist die Eigenart unseres Geisteslebens, die wir als Gedächtnis bezeichnen. Einem Geist, dem jedes Gedächtnis fehlte, würden die Eindrücke, auch wenn sie noch so oft sich wiederholten, stets unbekannt und neu erscheinen; für ihn gäbe es kein Erkennen, keine Erfahrung; denn diese sind ja an die Voraussetzung geknüpft, daß das einmal Erlebte irgendwelche Spuren im Bewußtsein zurückgelassen hat. Deutlicher noch als in dieser Beteiligung am erkennenden Wahrnehmen zeigt sich die Wirksamkeit des Gedächtnisses in anderen Bewußtseinstatsachen.
Wir liegen vielleicht mit geschlossenen Augen, und die Bilder des Zimmers, die wir soeben betrachtet, stehen noch vor unserem geistigen Auge, oder ein Gespräch, das wir kürzlich geführt, ein Ereignis, das wir vor langer Zeit erlebt, wird wieder in uns lebendig. Wir haben in allen diesen Fällen Vorstellungen, die nicht durch augenblickliche Reize, sondern auf Grund früherer Erlebnisse in uns wieder belebt werden: Erinnerungsvorstellungen. Sie können sich auf jede Art Sinneswahrnehmungen, ebenso wie auf jeden Inhalt unseres Vorstellens oder unseres Denkens, Fühlens und Wollens beziehen; denn wir können – prinzipiell – von allen unseren Bewußtseinsinhalten Erinnerungsvorstellungen haben.
Niemals aber werden wir unter normalen Bedingungen auf irgendeinem Gebiet die Erinnerungsvorstellungen mit dem ursprünglichen Erleben verwechseln; denn sie sind stets blasser, ungreifbarer, flüchtiger und, wenn es sich um kompliziertere Inhalte handelt, lückenhafter und unbestimmter als die ursprünglichen Eindrücke. Man hat gerade in letzter Zeit durch besondere Untersuchungen der Erinnerungstreue erwiesen, daß die Erinnerungsbilder dem Wahrgenommenen und Erlebten fast niemals völlig entsprechen – eine psychologische Erkenntnis, die vor allem für die Beurteilung von Zeugenaussagen wesentlich ist. Dennoch sind innerhalb der Erinnerungsbilder wieder die verschiedensten Stufen der Deutlichkeit zu unterscheiden; sie sind bedingt ebenso durch die Individualität des Erinnernden wie durch die Natur des erinnerten Stoffes und durch die Umstände der Einprägung.
Der Akt der Wiederbelebung einmal bewußt gewesener seelischer Inhalte, von der das erkennende Wahrnehmen ebenso wie die eigentliche selbständige Erinnerung zeugen, heißt in der Psychologie Reproduktion. Sie ist die erste Bedingung für alle kompliziertere geistige Entwicklung. Die Tatsache der Reproduktion zeugt also davon, daß von den Eindrücken, die wir empfangen, unbewußte Spuren in unserer Seele zurückbleiben; diesen unbewußt-seelischen »Dispositionen« entsprechen physiologische, auf die Nervenerregung des Eindruckes zurückgehende Spuren im Großhirn.
Wir sehen nun aber die Erinnerungen nicht regellos, sondern in bestimmter Gesetzlichkeit in unserem Geiste auftauchen. Wir erblicken z. B. von ferne eine Gebirgskette und denken an die Wälder oder Ortschaften an ihren Abhängen, die unseren Blicken verborgen sind; oder wir erinnern uns eines Spazierganges, den wir kürzlich dahin unternommen haben, oder denken an irgend etwas, was damit im Zusammenhang steht. Dieser durch unzählige andere Beispiele zu belegende Tatbestand besagt, daß ein neuer Eindruck eine Reihe anderer Erlebnisse, die früher mit demselben Eindruck verbunden waren, als Erinnerungen in unserem Geiste wiederbelebt. Wir haben daraus zu schließen, daß Eindrücke, die uns im Zusammenhang gegeben waren, in dieser Verbindung beharren, auch wenn sie ins Unbewußte zurücksinken, und daß dementsprechend, wenn der eine durch einen neuen Reiz wiedererweckt wird, er auch die mit ihm verbundenen wieder ins Bewußtsein hebt. Man nennt diese Verknüpfung der seelischen Eindrücke »Assoziation«, und ihre Wiederbelebung »Reproduktion«, und wir haben in dem geschilderten Tatbestand das Grundgesetz der Assoziation und Reproduktion zu erblicken.
Man unterscheidet außer dieser Assoziation auf Grund gemeinsamen Erlebens oder, wie wir sagen können, außer der » Erfahrungs-Assoziation«, zumeist eine Assoziation durch Ähnlichkeit und durch Kontrast. Diese ist aber nicht so zu verstehen, als ob z. B. ein Ton oder eine Farbe alle anderen Töne oder Farben lebhafter in Erinnerung brächte als irgendwelche andere Vorstellungen, oder daß uns umgekehrt etwa ein sonniger, warmer Tag an Regen und Kälte erinnerte. Das bestätigt, wie jeder in sich beobachten kann, die Erfahrung nicht. Aber wir erleben dennoch unendlich oft, daß Züge einer Persönlichkeit, die wir ähnlich in einer anderen beobachtet haben, uns diese andere Persönlichkeit lebhaft in Erinnerung bringen, daß Landschaften, Kunstwerke oder jede Art von Gegenständen, die mit früher von uns beobachteten Ähnlichkeit haben, uns diese auch ins Gedächtnis zurückrufen. Wir dürfen jedoch diese Vorgänge nicht durch einfache Assoziationszusammenhänge in der Weise deuten, daß auch ähnliche seelische Inhalte sich untereinander assoziierten und sich dementsprechend neu belebten. Denn wir haben ja z. B. von der Persönlichkeit A, wenn wir sie eben erst kennen lernen, noch gar keinen Gedächtniseindruck gehabt, der mit dem ähnlichen Eindruck von B, an die uns A erinnert, assoziiert gewesen sein könnte. Stets muß als auslösendes Glied einer solchen Reproduktion die Tatsache hinzukommen, daß wir Gleiches oder Ähnliches wirklich erlebt haben; die einmal erlebten Bewußtseinsinhalte aber werden, auf diese Weise erweckt, um so lebhafter wieder zuströmen, je größer der innere Anteil war, den wir einst an ihnen genommen haben.
Wir müssen also anerkennen, daß einmal erlebte Eindrücke nicht nur dann wieder ins Bewußtsein treten, wenn wir neue Erlebnisse haben, die sich mit den früheren ganz oder teilweise decken, sondern auch schon, wenn das Neue, das uns geboten wird, früheren eindrucksvolleren Erlebnissen ähnlich ist. In diesem seelischen Verhalten liegt also eine Erweiterung der Erfahrungsassoziation vor – und zwar eine Erweiterung, die für das Menschengeschlecht von höchster Bedeutung gewesen ist. Denn sie hat es z. B. ermöglicht, daß sich der Mensch von Anfang an vor schädlichen Pflanzen oder Tieren schützte, und daß auch wir uns noch vor irgendwelchen bedrohenden Eindrücken gewarnt fühlen nicht nur, wenn wir genau dem, was uns schon einmal geschadet, wieder begegnen, sondern daß auch jeder ähnliche Eindruck schon die Erinnerung an die einstige Schädigung in uns erweckt.
Erst durch diese in Assoziation und Reproduktion sich zeigende Gesetzmäßigkeit unseres Gedächtnisses ist die außerordentlich hohe Bedeutung der Erinnerungsfähigkeit für unser gesamtes Leben gesichert. Denn auf der Tatsache, daß jetzige Erlebnisse uns gleiche oder ähnliche frühere ins Bewußtsein zurückrufen, beruht im Grunde alles Vorhersehen und alle darauf gegründeten Vorkehrungen und Anpassungen, alle Erfahrungsschlüsse und somit alle Fortschritte in Wissenschaft und Kultur. Beobachtungen an Tieren, vor allem die weitgehende Möglichkeit der Dressur, versichern uns, daß Gedächtnis, Erinnerung und Assoziation auch den Seelen der Tiere in weitem Umfange eigen sein müssen.
Keineswegs aber sind, wie wir schon angedeutet, nur Vorstellungen die eigentlich assoziierenden und reproduzierenden Elemente in unserem Geist; viel stärker wirken in dieser Beziehung oft Gefühle oder Stimmungen, aber auch einzelne Sinnesempfindungen. So versetzt uns z. B. der Geruch einer seltenen Blüte unmittelbar in die Gegend und die Zeit, wo wir sie früher wahrgenommen, und der maritime Geruch ruft uns ebenso unmittelbar unseren Aufenthalt an der See ins Gedächtnis zurück. Die Freude ferner, die wir z. B. über ein Wiedersehen mit einem Freunde empfinden, löst alle mit dem Freunde verknüpften Erinnerungen viel reicher und lebhafter aus als ein Wiedersehen, das uns gleichgültig ist – und die Stimmung, in die uns etwa ein Kunstwerk versetzt, erinnert uns ebenso lebhaft an Eindrücke, die sich uns in ähnlicher Stimmung eingeprägt haben.
Auch das Gegenstück zu der Tatsache der Reproduktion können wir aber in unserem Geiste oft beobachten. Wir erleben häufig, daß zwei einander entgegenstehende Reproduktionstendenzen einander hemmen, oder daß etwa in einem Unlustgefühl ein Anlaß zur Unterbrechung eines Vorstellungsverlaufes gegeben ist. Auch diese psychischen Hemmungen können für uns wesentlich sein, wenn z. B. von einer durch Anlage und Gewöhnung in uns wirksamen Neigung und Gefühlstendenz ohne weiteres ein ihr widersprechender Vorstellungsverlauf, ja ein aufsteigendes Begehren gehemmt und besiegt wird.
Die verwickeltsten Zusammenhänge von Assoziationen und Reproduktionen stellt die menschliche Sprache dar. In ihren Anfängen aus dem lautlichen Ausdruck der Gefühle erwachsen, entwickelte sie sich mit der Zeit zum Ausdruck der kompliziertesten Bewußtseinsinhalte, wo jedem Lautwort oder Schriftzeichen ein Bedeutungsinhalt entspricht. Die Verbindung beider im Geiste des sinnvoll Redenden, Rede oder Schrift verstehenden wird durch Assoziationen und Reproduktionen bewirkt, die sich in der Kindheit dadurch prägen, daß wir mit demselben Wahrnehmungsinhalt stets dasselbe Wort verbunden hören. Die psychologischen Daten des Sprachlebens erweisen zugleich, daß vieles uns bewußt und von uns verstanden sein kann, wenn auch nur Spuren davon in unserer Seele erklingen; denn wenn wir in unserer Muttersprache über Geläufiges reden, Gehörtes oder Gelesenes unmittelbar verstehen, so geht unser Gedankenverlauf viel zu schnell, als daß wir alle Bedeutungsvorstellungen der Worte tatsächlich vollziehen könnten. Und dennoch haben die in unserem Bewußtsein auftauchenden Bruchstücke der Vorstellungen ein sinnvolles Reden und völliges Verstehen erzeugt.
Aus unseren Ausführungen hat sich bereits ergeben, daß auch das eigentliche Lernen und Einüben auf der Herbeiführung von Assoziationen und Reproduktionen beruht. In dieser absichtlichen wie in der unabsichtlichen Assoziationsbildung sind formelle Verschiedenheiten der Schnelligkeit, Festigkeit und Genauigkeit vorhanden. Sie sind teilweise bedingt in individuellen Begabungsverschiedenheiten, teilweise in der Art und den Umständen ihres Auftretens: Erlebnisse, die einen starken Gefühlswert besitzen, sehr traurige oder sehr erfreuliche, vergessen wir nicht; ein Stoff, der unser Interesse erweckt, prägt sich uns leichter und fester ein, als ein langweiliger. Ferner sind aufmerksames, zielbewußtes Lernen, verständnisvolles Erfassen und vor allem häufiges Wiederholen und Einüben die wesentlichsten Bedingungen der Einprägung. Auch das Erlernen bestimmter Tätigkeiten und die technischen Grundlagen aller Künste beruhen auf der Einübung von Assoziationen zwischen der auf den Zweck gerichteten Absicht und den einzelnen Gliedern der ausführenden Bewegungen: Gehen, Tanzen, Schwimmen, jede Art Handarbeit erlernen wir auf diese Weise. Alles fest Erlernte und Eingeübte aber vermögen wir schließlich zu reproduzieren, ohne daß wir ein Besinnen oder eine auf das einzelne gerichtete Absicht vornehmen; dann erzeugt ein Glied »automatisch« das andere.
Überspannen wir die absichtliche Einprägung oder Übung, oder hat die Seele eine lange Zeit hindurch zu viele Reize in sich aufgenommen und beantwortet, dann tritt ebenso wie körperliche auch geistige Verbrauchtheit, Ermüdung, ein, die erst durch entsprechende Ruhe wieder ausgeglichen wird. Darum gehört ein zweckmäßiger Wechsel von Anspannung und Erholung gleichfalls zur Ökonomie der psychischen Betätigung, für die vor allem der geistig Arbeitende Sorge zu tragen hat.
Neben den eigentlichen Erinnerungsvorstellungen finden wir in unserem Bewußtseinsbestande eine Art von Vorstellungen, die – zwar durch Erinnerung an früher Bewußtes entstanden – über die bloße Wiedergabe des Erlebten hinausgehen: abstrakte Vorstellungen. Denken wir z. B. an eine Pflanze, ein Tier, eine Stadt schlechthin und nicht an eine individuell bestimmte Einzelausprägung der Gattung, dann enthält diese unsere Vorstellung vor allem die übereinstimmenden Züge, die wir in allen Einzelfällen immer wieder erlebt haben, während die individuell wechselnden Züge in unserem Bewußtsein zurücktreten. Wir können uns leicht davon überzeugen, daß solche »abstrakte Vorstellungen« in unserem Denken eine große Rolle spielen. Je nach der Eigenart, der Beobachtungsfähigkeit und der Interessenrichtung des Vorstellenden aber fallen die in einer abstrakten Vorstellung enthaltenen charakteristischen Züge verschieden aus. So hat ein Kind, das auf anderes achtet und andere Vergleichsmaßstäbe besitzt als der Erwachsene, auch andersgeartete abstrakte Vorstellungen; sie berühren uns, wenn sie durch kindliche Fragen oder Erzählungen zum Vorschein kommen, oft komisch.
Aber unser Vorstellungsleben weist noch andersgeartete Glieder auf. Wir machen uns z. B. von einer Reise, die wir vorhaben, in Gedanken ein Bild, oder wir malen uns lebhaft die Wunder der Märchenwelt aus, wie romantische Dichter sie schildern. Dann ist unser Vorstellen nicht mehr die Wiedergabe dessen, was uns bereits einmal gegenwärtig war, dann stellt es Neues dar. Wir nennen diese Art des Vorstellens » Phantasie«. Es ist bekannt, daß die künstlerische Produktion wesentlich ein Erzeugnis der Phantasie darstellt. Aber auch der Leser, der eine Dichtung innerlich miterlebt, der Beschauer, der sich in ein Kunstwerk versenkt, vermag es nur mit Hilfe (nachschaffender) Phantasie. Überall im Leben, wo es gilt, sich Ereignisse vorzustellen, die in dieser Form noch nicht erlebt waren, und sich vielleicht auf sie einzurichten, sind Phantasievorstellungen der eigentliche Weg. Aber auch in der wissenschaftlichen Arbeit ist die Rolle der Phantasie größer, als wir anzunehmen pflegen. Wenn der Naturforscher auf Grund einzelner Funde sich ein Bild von vorgeschichtlichen Entwicklungsstadien macht, oder wenn dem Geisteswissenschaftler beim Studium der Quellen Persönlichkeiten und Kulturbilder lebendig werden, so ist ihre Arbeit ein Produkt der durch die überlieferten Funde und Quellen und durch das gesamte Wissen gestützten Phantasie.
Abstrakte Vorstellungen, getreue Erinnerungen, Phantasievorstellungen – sie fließen in unserem Geiste beständig durcheinander, regellos, wie es scheint, aber in gesetzmäßig bedingtem Wechsel für den Blick dessen, der in die Bedingungen des geistigen Lebens tiefer eindringt.
Die Auffindung der Assoziationsgesetze durch den englischen Philosophen David Hume († 1776) und seine Schule hat es bewirkt, daß man eine Zeitlang glaubte, auch die verwickeltsten geistigen Vorgänge durch Assoziationen, die die seelischen Inhalte untereinander eingehen, erklären zu können. Diese Auffassung schließt die Überzeugung ein, daß unser gesamtes Bewußtseinsleben sich in gegebene Inhalte oder Erscheinungen auflösen lasse. Auch wir haben, wie es scheint, bisher nur von Bewußtseins inhalten gesprochen; aber es wäre dennoch eine recht mißverständliche Deutung, wollte man in ihnen die Beschreibung unseres gesamten Bewußtseinslebens erblicken. Schon einfache Wahrnehmungsvorstellungen können uns unter Umständen den Gegenbeweis liefern. Wir hören z. B. mehrfach nacheinander denselben Ton: das eine Mal unaufmerksam, das andere Mal aufmerksam. Das erste Mal haben wir nur das Bewußtsein, daß irgendein Ton erklingt; das andere Mal erkennen wir denselben Ton unmittelbar in Höhe, Stärke und Lokalisation. Jedesmal also liegt derselbe Wahrnehmungs inhalt vor; aber völlig anders ist in beiden Fällen unser Wahrnehmen, also unser Verhalten zu dem Inhalt. Oder, um an ein anderes Beispiel zu erinnern: Wir blicken, mit anderm beschäftigt, aus dem Fenster und empfangen einen allgemeinen Eindruck von etwas Grünem und Weißem. Nach einiger Zeit sehen wir von demselben Standort, ebenso lange Zeit, aber aufmerksam, wieder hin und erkennen nun unmittelbar eine mit weißen Blüten besäte Wiese. Ohne Zweifel waren unsere Gesichtseindrücke in beiden Fällen dieselben, ja wir können unter Umständen in nachträglicher Erinnerung die Gleichheit sogar konstatieren. Ein deutlicher Unterschied aber besteht wiederum in unserer Aufnahme der Eindrücke. Bei dem ersten Wahrnehmen fehlten die Momente, die das wahrnehmende Erkennen bedingen: nicht nur drangen, weil wir mit anderem beschäftigt waren, die von jedem Reiz ausgelösten Gedächtnisspuren früherer gleicher Reize nicht an unser Bewußtsein; es fehlte auch die einheitliche Auffassung der komplexen Wahrnehmungsinhalte und ihre Trennung von nicht dazu gehörigen, benachbarten. Darum war ein Erkennen derselben unmöglich.
Auch hier ist deutlich, daß die Seele auf den von außen kommenden Reiz, die Empfindung, mit einer ihrer Natur eigenen anderen Reaktion, der Auffassung der Empfindung, antwortet. Nur ist diese Auffassung eines Eindruckes für gewöhnlich schon mit dem leisesten Anklingen des Eindruckes im Bewußtsein so unmittelbar verbunden, daß es nicht nur nicht gelingt beide zu trennen, daß vielmehr die Trennung beider eine Fälschung des seelischen Erlebnisses wäre. Dennoch muß man prinzipiell den Unterschied zwischen Bewußtseins inhalten und psychischen Funktionen festhalten. Psychische Inhalte oder Erscheinungen sind: die Inhalte der Sinnesempfindungen und deren Gedächtnisbilder; psychische »Funktionen« (Akte, Zustände, Erlebnisse) aber haben wir zu erblicken in dem Bemerken von Erscheinungen und ihren Verhältnissen in dem Zusammenfassen von Erscheinungen zu Komplexen, in der Begriffsbildung, dem Auffassen und Urteilen, den Gemütsbewegungen, dem Begehren und Wollen.
Wir sahen die bei gleichen Bewußtseins inhalten zuweilen stattfindende Verschiedenheit der psychischen Funktionen wesentlich davon abhängig, ob wir jene Inhalte beachten, oder ob sie, weil wir mit anderem beschäftigt sind, relativ unbeachtet bleiben. In diesen verschiedenen Graden des Aufmerkens prägt sich eine grundlegende Eigentümlichkeit unseres Bewußtseins aus. Nehmen wir an, wir seien mit einer geistigen Arbeit intensiv beschäftigt. Dann stehen die von der Arbeit ausgelösten Gedankengänge im Mittelpunkt unseres inneren Erlebens, so daß alles Interesse und alles Denken sich um sie bewegt, während von draußen hereindringende Geräusche oder zufällige Gesichtseindrücke uns nur dunkel zum Bewußtsein kommen und sofort wieder vergessen werden. Ebenso können, während wir in ein lebhaftes Gespräch verwickelt sind, die wechselnden Vorgänge in unserer Umgebung uns nur schwach, ja unter Umständen gar nicht zum Bewußtsein kommen, weil das Gespräch uns vollkommen gefangen nimmt. Wir müssen also im Kreise des unserem Bewußtsein Gegenwärtigen beständig verschiedene Grade der Bewußtheit unterscheiden. Von dem breiten Untergrund des halb und undeutlich Bewußten hebt sich ein enger Kreis von Inhalten ab, die, im Mittelpunkt unseres Seelenlebens stehend, uns viel lebhafter als jene beschäftigen.
Die Tatsache, daß immer nur ein kleiner Ausschnitt des im Bewußtsein Anklingenden sich zu voller Deutlichkeit durchsetzt, nennt man psychologisch die » Enge des Bewußtseins«. Der Ausschnitt unseres Bewußtseins aber, der durch Deutlichkeit, Lebhaftigkeit und Eindringlichkeit des Erfassens und Festhaltens charakterisiert ist, ist das Feld unserer augenblicklichen Aufmerksamkeit. Wir müssen in der Aufmerksamkeit eine für das geistige Leben grundlegende Funktion erblicken. Die Richtung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Inhalt heißt Konzentration, ihr Gegenteil ist »Zerstreutheit«. –
Wir finden das Verhältnis der den Gegenstand der Aufmerksamkeit bildenden Oberströmung unseres Bewußtseins zu der breiten, weniger beachteten Unterströmung von grundlegenden psychologischen Gesetzen beherrscht. Je lebhafter die Aufmerksamkeit ihrem augenblicklichen Gegenstand zugespannt ist, um so weniger kommen die übrigen beständig auf uns einströmenden Reize uns zum Bewußtsein; ja wir können so stark an den Gegenstand hingegeben, so »versunken« sein, daß die gesamte Umwelt für unser Bewußtsein verschwindet. Das andere Gesetz besagt: je lebhafter die Aufmerksamkeit konzentriert ist, je höher also der Bewußtheitsgrad ist, desto kleiner ist der Kreis der Gegenstände, dem wir unsere Aufmerksamkeit gleichzeitig zuwenden können, und umgekehrt. Auch diese Tatsache können wir täglich in unserem seelischen Verhalten beobachten. So zerlegen wir z. B. kompliziertere intellektuelle Aufgaben möglichst in Teilaufgaben, um jedem einzelnen Gedankengang unsere gesamte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber die Grenzen zwischen dem Oberbewußtsein und dem Untergrunde unseres Seelenlebens sind, wie wir uns leicht überzeugen können, beständig fließende. So kann das eben noch lebhaft Bewußte gleich darauf hinabsinken, und umgekehrt kann ein kaum beachteter Inhalt durch irgendeinen Anlaß jederzeit Gegenstand unserer Aufmerksamkeit werden.
Stets aber ist das augenblickliche Objekt unserer Aufmerksamkeit ausgezeichnet nicht nur durch die Lebhaftigkeit, mit der es selbst uns bewußt wird; auch die mit ihm zusammenhängenden Assoziationen und Reproduktionen strömen besonders leicht und intensiv und enthalten dadurch wiederum einen neuen Anlaß, unsere Beachtung zu erzwingen. So kommen z. B., wenn wir eine uns fesselnde Landschaft aufmerksam betrachten, auch die Erinnerungen an ähnliche früher erlebte Eindrücke, oder Gedanken und Gefühle, die von dem augenblicklichen Erleben ausgelöst werden, uns lebhafter zum Bewußtsein, als wenn sie durch Eindrücke reproduziert würden, denen wir selbst keine Aufmerksamkeit schenken.
Gegenstand der Aufmerksamkeit können alle überhaupt möglichen Bewußtseinsinhalte werden; alle bisher behandelten psychischen Inhalte und Funktionen sind in ihrem Zustandekommen von unserem Aufmerksamsein wesentlich abhängig. Aber es gibt auch eine Form der Konzentration, bei der der Gegenstand, dem sie zugespannt ist, sich für gewöhnlich nicht in unserem Bewußtsein befindet: die Erwartungsspannung. Wir können, wenn wir z. B. bei der Ankunft eines Zuges mit gespannter Erwartung einen Bekannten suchen, sehr oft konstatieren, daß ein Vorstellungsbild des Erwarteten während unseres gespannten Wartens nicht in unserem Bewußtsein ist. Dennoch erleben wir auch in diesen Fällen alle Symptome des Aufmerksamseins; auch die physiologisch bedingten Begleiterscheinungen der Konzentration, die Spannungsempfindungen, können wir dabei konstatieren.
Können auch alle äußeren Reize und alle Glieder unseres Gedankenverlaufes unsere Aufmerksamkeit unter bestimmten Bedingungen erregen, so haftet sie doch vornehmlich an den Inhalten, die uns interessieren.
Das sind nicht nur diejenigen, mit denen in unserem Bewußtsein irgendein lustvolles Gefühlsmoment verbunden ist, sondern auch die, denen in unserem Gedankenverlauf besonders viele Assoziationen entgegenkommen, oder die für uns, für unser Leben und Denken irgendwie bedeutsam sind. In dieser psychologischen Tatsache ist es z. B. bedingt, daß auch gleichbegabte Schüler den verschiedenen Unterrichtsfächern doch nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken, und daß auch im Leben die gewohnheitsmäßige Aufmerksamkeitsrichtung individuell verschieden ist (Berufsblick usw.).
Aber wir kennen noch einen anderen unsere Konzentration erregenden Faktor, ja wir rechnen vornehmlich mit ihm. Vergleichen wir den wachen Träumer, der in das lebhafte Spiel seiner auftauchenden Erinnerungen versunken ist, mit dem geistig Arbeitenden, der sich rastlos um die Lösung einer bestimmten Aufgabe müht! Lebhafte Konzentration hier wie dort – aber in dem einen Falle steigen ihre Gegenstände auf aus dem zufälligen Spiel der Assoziationen, im anderen Falle wird der Gegenstand durch die zielbewußte Absicht erregt und festgehalten. Dort haben wir unwillkürlich, hier willkürlich erregte Aufmerksamkeit.
Wir haben also zielbewußte, absichtliche Einstellung gleichfalls als ein erregendes Moment unseres Aufmerkens festzustellen. Diese willkürliche Konzentration auf ein Ziel wird für unser Leben vor allem bedeutsam; kommt es doch bei der Lösung jeder geistigen Arbeit, bei der Erfüllung jeder Pflicht, ja bei jeder Leistung – solange sie nicht ganz automatisch erfüllt wird – immer wieder darauf an, die hinweggleitende Aufmerksamkeit auf das zu Vollbringende zu richten, Schwierigkeiten, die sich ergeben, durch immer neue Konzentration zu überwinden. Darum besteht auch ein wesentlicher Teil der geistigen Selbsterziehung darin, daß wir uns daran gewöhnen, die wanderlustige Aufmerksamkeit unter ein zielbewußtes Wollen zu stellen; ja die Fähigkeit zu zielbewußter Konzentration ist tatsächlich die wahre Wurzel der »Klugheit, des Charakters und des Willens« ( James). Darum ist die Tatsache, daß wir willkürlich unsere Aufmerksamkeit zuspannen und konzentrieren können, eine für unser gesamtes Geistesleben grundlegende Eigentümlichkeit, die wir in Erziehung und Selbsterziehung wesentlich zu berücksichtigen und zu pflegen haben.
Die Aufmerksamkeit kommt nun vor allem zum Ausdruck in einer Funktion unseres Geistes, zu der sie die grundlegende Bedingung bildet: im Denken. Wir haben das Denken psychologisch als ein aufmerksames Innewerden, Schaffen und Verarbeiten gegebener Beziehungen zu fassen. Gegenstand unseres Denkens können alle überhaupt möglichen Bewußtseinsinhalte werden, sofern wir uns die in ihnen selbst oder in ihrem Verhältnis zu anderen Inhalten liegenden Beziehungen aufmerksam bewußt machen. In den Betätigungen des zur Erfahrung führenden erkennenden Wahrnehmens, der Erinnerung, der Abstraktion und der Phantasie, auf die wir hinwiesen, haben wir ein Denken bereits als enthalten vorausgesetzt. Ein Produkt unseres Denkens ist es, wenn wir auf Grund eines vorliegenden Wahrnehmungsbestandes das Gegebene als Ding mit Eigenschaften auffassen, wenn wir uns auf Grund von Phantasievorstellungen ein Bild dessen machen, was wir selbst niemals geschaut haben, oder wenn wir aus dem jetzt Gegebenen auf früher Vorhandenes oder auf Künftiges schließen und so die Beziehungen von Ursache und Wirkung oder in anderen Fällen von Grund und Folge bilden. Es ist Aufgabe der Logik, die Gesetze, an die unser Denken gebunden ist, darzustellen.
Das Denken, das uns zum Bewußtsein kommt, ist sehr häufig, und sobald es sich mitteilt, stets in sprachlicher Formulierung, und zwar in Urteilen, gegeben: die Rose blüht, der Regen entsteht aus der Wolke usw. Dieses (in Subjekt und Prädikat gegliederte) Urteilen kann, da es an die Sprache gebunden ist, nur den Menschen eigen sein. Aber das Denken überhaupt ist in seinem Zustandekommen keineswegs an die Sprache geknüpft, wenn wir auch fordern müssen, daß alles klar Gedachte sprachlicher Formulierung zugänglich sein muß. In unzähligen Fällen werden wir vielmehr eines verwickelten Tatbestandes, vielleicht eines verborgenen Ursachzusammenhanges inne, sind wir einem regen Phantasieverlauf aufmerksam denkend hingegeben, ohne daß die Worte für das, worüber wir denken, uns gegenwärtig sind. Bei dem Gelehrten, der sich in tiefer Versunkenheit einem wissenschaftlichen Problem hingibt, beim Dichter, der die Fülle der Gestalten in sich lebendig macht, ist die eigentliche Denkarbeit zumeist bereits geleistet, wenn die Worte für das, was sie innerlich geschaut haben, sich ihnen aufdrängen. Ja selbst unter der Schwelle des Bewußtseins kann ein Teil unserer Denkarbeit sich unter Umständen abspielen.
Von den modernen Psychologen hat vor allem Benno Erdmann auf die tiefe Bedeutung dieses »intuitiven Denkens« hingewiesen: »Weder der Scharfsinn, der die verborgensten Unterschiede der Gegenstände aufspürt, noch der Tiefsinn, der im Verschiedenartigsten das Gemeinsame erfaßt, ist an die Sprache gebunden. Je kräftiger vielmehr die Reproduktion aus irgendwelchen Gebieten des Vorstellens wirkt, je schärfer die abstrahierende Aufmerksamkeit einsetzt, je mehr ihre reproduzierende Kraft ... fruchtbar gemacht wird, desto weniger ist das Denken an die Symbolik ... der Sprache gebunden.« Das gilt von dem wissenschaftlichen und künstlerischen ebenso wie von dem praktisch gerichteten Denken. In der künstlerischen Produktion fließen Betätigungen der schaffenden Phantasie und des eigentlichen Denkens, das den Reichtum des Geschauten nach seinen Gesetzen und dem übergeordneten Ziel regelt und gestaltet, durcheinander.
Mußten wir auch anerkennen, daß die im Denken sich bekundende Aufmerksamkeit vielfach willkürlich erregt und festgehalten ist, so dürfen wir keineswegs allem Denken den Charakter willkürlicher Betätigung zuschreiben. Erleben wir doch in unzähligen Fällen, daß, wenn der Stoff uns fesselt, unser Denken völlig unwillkürlich, ja häufig gegen unseren Willen, unablässig weitergetragen wird. Ja auch das absichtlich einsetzende Denken über ein Problem wird fruchtbar nur, wenn ein Glied unserer Gedankenkette unablässig von selbst eine Fülle anderer erzeugt, wenn die übergeordneten Gesichtspunkte die einzelnen Assoziationen völlig unwillkürlich lebendig machen – wenn »Ein Tritt tausend Fäden regt – Die Schifflein herüber, hinüber schießen – Die Fäden ungesehen fließen – Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt!«. So verläuft auch das zielbewußte Denken, sobald wir in den Gegenstand versenkt sind, häufig so, daß wir gerade in den Augenblicken tiefster Konzentration das Bewußtsein haben können: nicht wir denken, sondern in uns entsteht etwas, dem wir als willenlose Zuschauer rezeptiv hingegeben sind. Diese Erfahrung haben Gelehrte oder Künstler, die über ihr Schaffen Rechenschaft geben, häufig bestätigt; man denke nur an Goethes Zeugnis in »Dichtung und Wahrheit«: »Die Ausübung meiner Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden. Viel öfter aber trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.«
In jedem Moment aber kann in unserem dahinfließenden Gedankenverlauf ein Anlaß gegeben sein, ein Moment willkürlich festzuhalten, ein als ungeeignet erkanntes Glied in absichtlichem Besinnen zu modifizieren oder eine auftretende Hemmung in willkürlicher Konzentration zu überwinden. Denn das Zielbewußtsein, das auch dieses Denken, solange es fruchtbar bleiben soll, beherrscht, ist uns in irgendeiner Form stets gegenwärtig und wirkt regulierend und ordnend auf den Strom unserer Vorstellungen. So sind, wie zwischen Oberbewußtsein und Unterbewußtsein, formuliertem und intuitivem Denken, auch zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Gedankenverlauf die Grenzen in unserem Geiste beständig fließend und an gesetzmäßig kontinuierliche Übergänge gebunden.
Wir haben uns davon überzeugt, wie die Seele sich der verschiedenen auf sie eindringenden Reize bewußt wird, die für sie wesentlichen im Gedächtnis behält und sie aufmerksam denkend verarbeitet. Aber wir hätten einen unvollständigen und einseitigen Begriff von unserem Seelenleben gewonnen, wollten wir in diesen rein intellektuellen Zügen sein ganzes Wesen erblicken. Nur in der unserem Bewußtsein, wie wir sahen, eignenden Enge ist es begründet, daß wir uns das komplizierte seelische Geschehen nicht sofort als Ganzes, sondern nur nacheinander in seinen einzelnen Zügen klar machen können. Die Wirklichkeit aber ist reicher als unser Denken und bietet, was unsere Theorie auseinanderlegt, in mannigfach ineinandergreifendem Wechselspiel dar. So erleben wir denn auch alle die intellektuellen Regungen unserer Seele niemals allein, sondern wir finden stets noch anders geartete Momente in uns rege. Jederzeit nämlich sind wir uns zugleich unseres eigenen Zustandes irgendwie bewußt, d. h. wir haben irgendwelche Gefühle des Wohl oder Wehe. Ja wir haben solche einfachste Gefühle in der Entwicklung jedes beseelten Einzelwesens ebenso wie in der der Gattung als das Urelement der Bewußtseinsvorgänge zu betrachten. Wir hatten des beständig in uns wirksamen körperlichen Gemeingefühls schon bei den Sinneswahrnehmungen zu gedenken (oben S. 79); denn die Bewußtseinszustände, in denen es sich darstellt, bilden einen Übergang zwischen den eigentlichen Sinneswahrnehmungen und den Gefühlen. Sie sind wie jene durch besondere Organe vermittelt; aber sie unterrichten uns nur von den Vorgängen im eigenen Körper. Die Art aber, in der sie uns bewußt werden, haben wir als eine charakteristische Art seelischen Erlebens anzuerkennen: als ein in Schmerz, Unbehagen oder Behagen, Spannung oder Lösung bestehendes Zustandsbewußtsein oder Gefühl.
Fast niemals aber sind solche organisch bedingte Gefühle allein in einem Menschen wirksam. Wir finden vielmehr schon im kleinen Kinde die Empfindungen des Behagens oder des körperlichen Schmerzes mit einem deutlichen Annähern oder Ablehnen, Suchen oder Fliehen verbunden. Diese Stellungnahme des Gemütes wird, sobald das Kind imstande ist, das Bewußtsein einer Gefahr und andererseits die Erwartung von nützlichen Ereignissen zu hegen, zu Furcht und Freude. Ebenso umfaßt es bald Menschen und Dinge mit deutlicher Neigung und Abneigung. Wir haben in diesen Bewußtseinsmomenten eigentliche Gemütsbewegungen oder Emotionen anzuerkennen; solche emotionale Momente bilden fast beständig eine Komponente unseres Bewußtseins. Sie unterscheiden sich von den sinnlichen Gefühlen dadurch, daß in sie alle irgendwelche Vorstellungs- oder Urteilsmomente als erregende oder integrierende Bestandteile eingehen. Zu ihnen gehören Begierden, Neigungen und Stimmungen ebenso wie die eigentlichen Affekte. Unter » Affekten« verstehen wir vorübergehende starke Gefühle der Lust oder Unlust, mit denen auch charakteristische körperliche Ausdrucksbewegungen verbunden sind: Furcht, Schreck, Zorn, Freude, Trauer und andere Gefühle und Gefühlsverwicklungen. Sie entstehen entweder durch Sinneseindrücke unter Vermittlung intellektueller Tätigkeit oder durch bloße Vorstellung vergangener, gegenwärtiger oder künftiger, für uns irgendwie bedeutsamer Tatsachen. So sehr aber auch die Entstehung der Affekte an diese Vorstellungen geknüpft ist – ihre eigentliche Natur besteht nicht in diesen, sondern in der Gefühlsseite: in der Freude, mit der ein erlebtes oder vorgestelltes Ereignis uns beseelt, in der Liebe oder dem Haß, den irgendeine Persönlichkeit in uns auslöst.
Wir können die Gemütsbewegungen nach ihrem Gegenstand einteilen in Gefühle, die durch unsere Beziehungen zu anderen Menschen ausgelöst werden, soziale Gefühle, – ferner in die verschiedenen Formen des Selbstgefühls, mit denen wir unser eigenes Wesen erfassen – in solche Gefühle, die irgendeine Betätigung in uns auslöst (Interesse, Wissensdurst, Neigung zu bestimmten Berufen usw.) –, ferner in die ästhetischen Gefühle, die durch die Betrachtung der Natur oder eines Kunstwerkes in uns erregt werden können – und endlich in die Gefühlswerte, die die empfundene Abhängigkeit vom Unendlichen, Überirdischen in uns auslöst: die religiösen Gefühle. Sie alle können uns wiederum zur Quelle verwickeltster lustvoller oder unlustvoller anderer Affekte werden; ja sie können unter Umständen unser Fühlen so stark und so nachhaltig beeinflussen und unser gesamtes Bewußtseinsleben so tief in ihren Bann zwingen, daß sie zu Leidenschaften werden. Lang andauernde schwächere Gefühle, die im Verein mit körperlichen Zuständen und uns oft unbewußten seelischen Momenten unser ganzes Wesen beeinflussen, stellen die uns beherrschende Stimmung dar.
Wodurch wird nun aber die Fülle der Gefühle, Affekte und Stimmungen für uns so bedeutsam, daß unser gesamtes Sein und Leben im ganzen mehr durch unser Fühlen als durch das Vorstellen und Denken bestimmt wird? Worin liegt die Bedeutung eines Affektes, wie z. B. irgendein Begehren ihn darstellt? Fühlte etwa der Hungernde oder der Dürstende nur ein Unbehagen, ein passives Leiden, dann würde er niemals dazu kommen, sein Begehren zu stillen. Die Natur hat aber mit diesen Empfindungen des Unbehagens bestimmte, durch Vererbung zweckmäßig gewordene Bewegungen verknüpft, Triebbewegungen, die z. B. bei dem aus dem Ei geschlüpften Huhn zum Aufpicken der Nahrung, beim Säugetier und beim menschlichen Kinde zu Saugbewegungen führen. Die kindliche Entwicklung führt aber ferner dazu, daß mit dem auftretenden Unbehagen die Gemütsbewegung des Verlangens nach der erfahrungsmäßig das Unbehagen stillenden Tätigkeit, also in diesem Falle ein Trieb zum Essen oder Trinken, verbunden ist, und daß ebenso irgendein angenehmer Sinnesreiz ein Begehren nach dem Besitz des Verlockenden auslöst. So zeigt das Beispiel des Begehrens oder Verlangens, wie aus Empfindungen und Gefühlen Antriebe für zunächst triebhaftes, bald aber mit Zweckbewußtsein erfaßtes Handeln erwachsen.
In dieser Tatsache nun liegt die ganz unermeßliche Bedeutung der Gefühle für unser Leben beschlossen; denn fast alle die Neigungen und Affekte, die Stimmungen und Leidenschaften, die unsere Seele bewegen, sie werden uns zu Anreizen für unser Tun und Lassen, zu Willensmotiven.
Ja für jedes von uns erfaßte Ziel unseres Wollens muß schließlich irgendein Gefühlsmoment in uns sprechen. Denn wir erwählen es nur, weil es uns irgendwie wertvoller dünkt als andere auch mögliche Ziele; ein Wert aber kann uns niemals in bloßem Vorstellen bewußt sein, er muß stets auch gefühlsmäßig von uns ergriffen werden.
Wie sehr in jedem Willensmotiv zu den mehr oder minder klaren Vorstellungen von dem Anlaß zum Handeln sich Gefühlsmomente ausschlaggebend hinzugesellen, das zeigt uns jeder Blick auf menschliches Leben und Handeln. Ebenso wie die physische Lebenserhaltung an die Emotionen des Begehrens geknüpft ist, sehen wir auch die Entwicklung des geistigen Lebens weitgehend von einem intellektuell bedingten Verlangen und Wünschen abhängig; es kommt ebenso in kindlicher Neugier wie im Wissenstrieb des Forschers und in jedem sachlichen Interesse oder in unserer Sehnsucht zum Ausdruck. Wie stark aber ferner alle Formen des Selbstgefühls oder die mannigfach differenzierten Affekte, in denen wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen empfinden, unser Wollen und Handeln bestimmen, in welchem Maße ferner alle von uns empfundenen Werte, alle angeborenen oder angewöhnten Neigungen oder Abneigungen, ja selbst augenblickliche Stimmungen für unsere Entschlüsse maßgebend sind, davon kann uns Beobachtung beständig überzeugen.
So ist unsere Aufmerksamkeit durch die Beobachtung des Gefühlslebens ganz unmittelbar auf eine andere seelische Funktion, auf das Wollen gelenkt: weil die eigentliche Bedeutung der Gefühle darin besteht, daß sie im Menschen zu Motiven für sein Wollen werden.
Die Frage nach der Natur des menschlichen Wollens gehört zu den am heißesten umstrittenen psychologischen Problemen; an ihrer Lösung sind Wissenschaft und Leben in gleichem Maße interessiert. Denn für unser Leben, für das Verhältnis der Menschen zueinander kommt von allen seelischen Funktionen vor allem das Wollen in Betracht, und es ist tatsächlich »nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille« ( Kant). Unsere Stellung zu den sittlichen Problemen aber und die grundlegende Frage nach der menschlichen Verantwortlichkeit wurzelt gleichfalls in der anderen Frage nach den Bedingungen und der Wirksamkeit unseres Wollens. Wir dürfen darum erst dann hoffen, einen klaren Einblick in das Seelenleben zu gewinnen, wenn wir uns das Willensproblem wenigstens in den Grundzügen klargemacht haben.
Wir sahen, daß die ersten Bewegungen des Kindes Triebbewegungen sind; aber auch der Erwachsene führt beständig eine Fülle zweckmäßiger Handlungen aus, die, ohne jede Absicht, unmittelbar auf den Reiz hin erfolgen: alle die Angriffs-, Abwehr- und Ausdrucksbewegungen, die »reflektorisch« durch einen Wahrnehmungsreiz oder durch unsere Gefühlslage in uns ausgelöst werden. Wie unterscheidet sich nun eine eigentliche Willenshandlung von jenen Triebbewegungen und Reflexen? Während die letzteren fast ohne unser Zutun sich vollziehen, haben wir das Bewußtsein, in den unserer Absicht entsprechenden, den von uns gewollten Handlungen selbsttätig zu sein. Entspricht das Zustandekommen des Wollens, so wie es sich der psychologischen Erkenntnis darstellt, dieser Überzeugung?
Nehmen wir z. B. an, es sei jemand aus Gesundheitsrücksichten zu dem Entschluß gekommen, nicht mehr zu rauchen oder keinen Alkohol mehr zu trinken; nun aber trete die Versuchung von neuem an ihn heran, unter Bedingungen, die den Genuß für diesmal immerhin plausibel machen. Während er früher seinem Verlangen ohne weiteres folgte, beginnt er nun zu überlegen. Er macht sich in sachlichem Schließen die Folgen, die der Genuß in diesem Falle haben könnte, klar, und er wägt vor allem gefühlsmäßig den zu erwartenden Unlustwert dieser Folgen ab gegen die Lust des Genusses und gegen die momentane Unlust des Verzichtes. Diese Erwägungen führen schließlich dazu, daß er die eine der möglichen Handlungen bewußt billigt und sich zum Ziele setzt, sie führen zu bewußter Entscheidung.
Für eine solche Handlung wird also nicht eine momentane Regung, irgendein zufällig aufsteigender Affekt oder ein Begehren allein ausschlaggebend; sie wird vielmehr bestimmt durch ein der momentanen Regung übergeordnetes charakteristisches Erwägen. Wir haben bei unseren so erwogenen Handlungen das Bewußtsein, daß wir sie ausführten, weil wir sie gewollt haben. Denn in den Momenten der Erwägung, der Billigung und Entscheidung liegen die Faktoren, die unser Willensbewußtsein charakterisieren.
Gewiß kommen diese Faktoren uns nicht in jedem Falle gesondert zum Bewußtsein, denn mehr noch als beim Vorstellen und Denken spielen in unserem Wollen intuitiv, ja fast unbewußt erfaßte seelische Momente eine Rolle. Vor allem aber nimmt ein sehr großer Teil der sogenannten Willenshandlungen, alle die Handlungen, die wir täglich in gleicher Weise vollziehen, den Charakter von automatisch sich abspielenden Gewohnheitshandlungen an, die ablaufen, fast ohne daß wir ein Willensbewußtsein auf sie zu richten brauchten.
Vergegenwärtigen wir uns aber im Gegensatz zu ihnen solche Willensentscheidungen, die für unser Leben tiefste Bedeutung haben. Denken wir z. B. an den inneren Konflikt des Max Piccolomini im »Wallenstein«. Tiefste Neigung zieht ihn auf die Seite des Fürsten, und er weiß andererseits, daß er scheidend seinem eigenen Untergang entgegengehen und auch Wallenstein seinem Verhängnis preisgeben würde. Aber sein unbeirrbares Gefühl für Wahrheit und Treue machen ihm den Verrat am Kaiser, an den sein Bleiben geknüpft wäre, unmöglich. Hier sehen wir also die Willenserwägung bedingt durch eine sittliche Überzeugung, die im schroffen Gegensatz zur persönlichen Neigung steht. In solchen sittlichen Konflikten bestehen die eigentlichen Komplikationen menschlichen Wollens; in ihnen aber kommt zugleich der Charakter des Wollens recht eigentlich zum Ausdruck. Denn wenn sittliche Überzeugungen für uns maßgebend werden, so bedeutet das, daß wir nicht nur von augenblicklichen Regungen, sondern von allen persönlichen Neigungen und Wünschen überhaupt und von allen rein praktischen Rücksichten auf die Folgen unseres Handelns absehen und unsere Entscheidung nach völlig anderen Momenten bestimmen: nach sittlichen Grundsätzen und Idealen. Wie aber kommen diese dazu, für uns maßgebend zu werden?
Gewiß haben wir unsere sittlichen Grundsätze vielfach unbesehen, auf Grund von Erziehung oder Beispiel, übernommen; aber diese bleiben für den denkenden Menschen nur so lange verbindlich, als sie ihm selbst geheiligt oder wertvoll dünken. Unsere selbständig erfaßten sittlichen Ideale aber sind die Frucht unserer Reflexion über das höchste, verbindliche Ziel alles menschlichen Handelns. In dieser Reflexion suchen wir uns frei zu machen von der Macht der Triebe und zufälliger Beweggründe und unser Wollen und Handeln zu bestimmen einzig nach den Gesetzen der Einsicht und Vernunft und den Forderungen des Gewissens.
Die Normen und Gesetze oder die intuitiv erfaßten Ausprägungen menschlicher Persönlichkeit, die uns dabei vor allen anderen, als wertvoll erscheinen, werden uns zu sittlichen Idealen und zum verpflichtenden Maßstab für unser Wollen und Handeln. So liegen also in unseren sittlichen Idealen und Grundsätzen bereits Willensentscheidungen vor, die wir im eigenen Billigen vollzogen und als dauernd für uns verbindlich anerkannt haben. Sie sind bestimmt von den Wertschätzungen, auf Grund deren wir menschliches Handeln als »gut« oder »böse«, »sittlich« oder »unsittlich« taxieren, und es ist ihre eigentliche Bestimmung, Motive für unser Tun und Lassen darzustellen.
Dennoch können sie auch in der Seele dessen, der sie ernstlich gefaßt, in Augenblicken des Affektes durch diesen völlig übertönt werden oder doch einen schweren Konflikt zu bestehen haben mit Neigungen und Leidenschaften, die ihnen entgegenstehen. Wir richten, wenn wir in solchen Konflikten unserem sittlichen Empfinden zum Siege verhelfen wollen, unsere ganze Aufmerksamkeit in zielbewußter energischer Konzentration auf den einmal gefaßten sittlichen Entschluß und alle von ihm ausgehenden Gedanken und Gefühle; wir suchen sie in bewußter innerer Arbeit zu beleben und zu verstärken und die entgegenstehenden Antriebe zum Schweigen zu bringen oder umzuwerten. Ebenso bewußt aber suchen wir den augenblicklichen Schmerz zu ertragen, den der Verzicht auf die Befriedigung unserer Neigung uns kostet.
Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist in erster Linie abhängig von der Tiefe und Echtheit unseres sittlichen Empfindens. Nur wenn wir die Ideale wirklich in tiefster Seele erstreben, wenn sie unser innerstes Eigentum geworden sind, werden sie in Augenblicken des Affektes uns überhaupt bewußt bleiben; nur dann werden sie den Entschluß in uns reifen lassen, sie in zielbewußtem Ringen durchzusetzen und ihnen vielleicht unsere liebsten Wünsche zu opfern. Aber noch ein anderes Moment wird für den Ausgang unseres sittlichen Ringens entscheidend sein. Überall im seelischen Leben sahen wir ja Gewöhnung und Übung als starke Faktoren wirksam; auch hier fällt darum das Maß, mit dem wir uns bisher gewöhnt haben, das einmal als recht Erkannte durchzusetzen, stark ins Gewicht. – Diese Tatsache, daß unser jetziges Tun und Lassen von dem früheren und unser künftiges Tun immer auch mit von dem jetzigen abhängig wird, ist vielleicht wie nichts anderes geeignet, das Verantwortungsbewußtsein in uns zu stärken.
Aber noch ein anderes verbürgt uns die Erkenntnis von der Natur des sittlichen Ringens. Besteht es psychologisch zu einem großen Teil in bewußter energischer Konzentration auf ein einmal gewähltes Ziel und in der Kraft, diesem Ziele zu Liebe Hemmungen und Schwierigkeiten zu überwinden und Opfer zu bringen, so bedeutet jede Gewöhnung an ein zielbewußtes Einstellen unserer Kräfte, an konsequentes Durchführen des einmal Gewählten und an ein gewisses Maß des Ertrages eine Stählung unserer Willenskraft. Wir sahen aber bereits, daß das Wesen der geistigen Arbeit ebenso wie das Vollbringen jeder komplizierteren Leistung zum großen Teil in solcher, von der Zielsetzung ausgehender energischer Konzentration besteht. So finden wir bestätigt, daß der Wert jeder Arbeit auch darin beruht, daß sie unsere Willensenergie übt und stählt und unseren Charakter bildet. Denn die Willensenergie ist ja der Ausdruck der Kraft, mit der wir unsere Ziele erstreben, der Konsequenz und Zähigkeit, mit der wir sie gegen andrängende Schwierigkeiten behaupten, und der Entschlossenheit, mit der wir um ihretwillen auch Opfer zu bringen imstande sind.
Eine Persönlichkeit, die in diesem Sinne Energie in ihrem Handeln betätigt, und die zugleich ihr ganzes Leben und Schaffen denkend durchdrungen und dadurch unter einheitliche Grundsätze und Ziele gestellt hat, nennen wir im eigentlichen Sinne einen » Charakter«. Ist es uns gelungen, im eigenen Wertschätzen und Denken ein unserem tiefsten Wesen entsprechendes Lebensideal zu finden, und haben wir die Kraft und den Mut es durchzusetzen, auch wenn die Konvention anderes fordert, oder wenn äußere Einflüsse und augenblickliche Regungen uns auf andere Wege zu drängen suchen, dann werden wir in innerster Erfahrung die Wahrheit des Dichterwortes verspüren:
»Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit.«
So ist das zielbewußte Wollen eines Menschen im letzten Grunde also der Ausdruck seines eigenen tiefsten Wesens. Erhebt sich aber auf diesem Boden nicht sofort wieder die eigentliche Kernfrage der Willenspsychologie, das Problem, um das die scharfsinnigsten und tiefsten Geister seit weit mehr als einem Jahrtausend gerungen haben, die Frage nämlich: ist dieses unser Wollen nun notwendig bedingt, so daß wir in jedem Augenblick uns so entscheiden mußten, wie wir uns tatsächlich entschieden? Oder konnten wir unter denselben Bedingungen ebensogut auch anders wollen, ist unser Wille also frei? Es wäre ein aussichtsloser Versuch, dieses alle Tiefen der Philosophie aufrührende Problem an diesem Orte ernstlich zu diskutieren. Ja es scheint fast, daß es jenseits der Grenzen menschlichen Erkennens liegt, eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu gewinnen. Denn wir vermögen weder auf Grund der tatsächlich geltenden physischen und psychischen Gesetzlichkeit, noch durch erkenntnistheoretische Erwägungen über den Begriff der Kausalität denknotwendig zu beweisen, daß ein unverursachtes geistiges Geschehen tatsächlich unmöglich wäre.
Aber wir können versuchen, uns klarzumachen, welche der beiden Überzeugungen am meisten mit den Bewußtseinstatsachen zusammenstimmt, die wir in uns erleben. Der Sinn des Freiheitsbewußtseins, das unser Wollen tatsächlich begleitet, besteht nun in der Gewißheit: ich kann, vor irgendeiner Entscheidung stehend, handeln, wie ich will. Niemals aber haben wir die Überzeugung: wir könnten, auch wenn unsere Wünsche oder unsere Einsicht unser Wollen in bestimmter Richtung lenken, ebensogut unter denselben Bedingungen auch anders wollen; wir könnten irgend etwas wollen, auch ohne daß unsere Neigungen oder unsere Einsicht uns dazu veranlaßte. Wir haben also die Überzeugung der Freiheit unseres Handelns, niemals aber haben wir das Bewußtsein der von den strengen Indeterministen behaupteten Unverursachtheit unseres Wollens.
Eine solche Indeterminiertheit würde, konsequent durchgedacht, ja besagen, daß auch alle die in unserer Einsicht und Wertschätzung und in unserer bisherigen Gewohnheit und sittlichen Selbsterziehung liegenden Bedingungen für ein sittliches Wollen unsere Entscheidung nicht notwendig bestimmen dürfen, weil diese Entscheidung (zu einem Teil wenigstens) unabhängig von allen Motiven, »frei« in uns geschieht. So könnten wir also für unser Handeln – prinzipiell – niemals gutsagen, weil es stets möglich bliebe, daß das Eingreifen unbedingter, »freier« Faktoren den Ausgang im Gegensatz zu allen von uns selbst gehegten Motiven und erworbenen Dispositionen bestimmte. Wie sollte aber mit einem solchen Zustandekommen unseres Wollens die Tatsache zu vereinen sein, die wir als grundlegende Überzeugung in unserem Bewußtsein finden, die Tatsache, daß wir Menschen für unser Tun und Lassen verantwortlich sind?! Verantwortlich sein, d. h. für die Folgen unseres Handelns einstehen, können wir nur, wenn unser Handeln auch tatsächlich von uns ausgeht.
Demgegenüber aber behauptet der Indeterminist: eben weil wir für unsere Handlungen verantwortlich sind, darf unser Wollen nicht das Resultat einer unabänderlichen Kausalkette sein. Denn diese wäre ja unserem Einfluß entzogen, und so würde das Wollen erst recht aufhören, unser eigenes zu sein. Dann erst würde die Tatsache unserer Verantwortlichkeit zu einem ungerechtfertigten blinden Fatum. Diese Argumentation aber enthält ein völliges Verkennen der psychologischen Tatsachen. Niemals dürfen wir ja die innere Bedingtheit unseres Wollens, die wir im Gegensatz zum Indeterminismus fordern müssen, im Sinne des Fatalismus deuten. Dieser nimmt alles Geschehen als unabänderlich hin, und das menschliche Wollen und Streben wird für ihn illusorisch, weil alles, was wir erreichen können, von einem Schicksal bestimmt ist, dem wir völlig machtlos gegenüberstehen. Wir haben uns aber im Gegenteil davon überzeugt, daß die Bedingungen für unser Wollen nicht über uns, sondern in uns liegen: in unserer Einsicht und unserer Billigung, in der Tiefe und Lauterkeit unseres sittlichen Wollens und in der durch unser bisheriges Tun und Lassen stark mitbedingten Willensenergie; in dem also, was wir recht eigentlich sind. Ein so entstandenes Wollen aber empfinden wir unmittelbar als unser eigenes, und es ist nicht einzusehen, wie es durch die Mitwirkung unbedingter, also auch von uns selbst unabhängiger Faktoren noch mehr zu unserem eigenen Wollen werden sollte. Das Freiheitsbewußtsein, das unser Wollen und Handeln tatsächlich begleitet, sehen wir ja auch einzig in der Gewißheit gegründet, daß unser Handeln aus unserem eigenen Wollen und Wesen entspringt. Diese Überzeugung aber ist der Boden, auf dem allein in einem Menschen das Gefühl seiner Verantwortung erwachsen kann. Denn wenn aus unserem Wollen und Wesen unser Tun unweigerlich folgt, dann haben wir allen Anlaß, mit den Mitteln der Selbsterziehung, die uns zu Gebote stehen, an unseren Grundsätzen und unserer Einsicht, an unserem Wesen und unserem Charakter zu arbeiten. Nur durch diese unsere innere Arbeit können wir die uns Menschen überhaupt erreichbare Unabhängigkeit von zufälligen Affekten und äußeren Bedingungen erringen. Sie stellt die »sittliche Freiheit« dar, die von Ethikern aller Zeiten als höchstes Gut gepriesen wird. Eine solche Freiheit ist also nicht ein von vornherein in uns liegender Faktor; sie ist sittliche Aufgabe und als solche das höchste Ziel und der tiefste Sinn alles menschlichen Wollens.
Können wir das Problem – Freiheit oder Determiniertheit – theoretisch nicht mit mathematischer Notwendigkeit entscheiden, so sind wir also gezwungen, mit einem »Postulat«, einer Art philosophischer Glaubensüberzeugung, dazu Stellung zu nehmen. Denn die für unser menschliches Wollen und Handeln grundlegendste Bewußtseinstatsache, die Überzeugung unserer sittlichen Verantwortlichkeit, würde sinnlos werden unter der Voraussetzung der »Unbedingtheit« unseres Wollens. So wirkt sich also in unserem Wollen und Handeln unser eigenes innerstes Wesen aus. Gewiß können wir dieses unser Wesen nach Maßgabe unserer Einsicht in weitem Maße selbst mitbestimmen; völlig ändern aber können wir die überkommene Naturanlage nicht. Ebenso wie unsere Anlage aber üben die zufälligen Bedingungen der Umgebung und der Lebensschicksale einen weitgehenden Einfluß auf Wesen und Wollen zumal der jüngeren Menschen aus.
Nicht jedem Glied der menschlichen Gesellschaft aber ermöglichen Naturanlage und Lebensverhältnisse die Bedingungen, die für die Läuterung des triebhaften zu sittlichem Wollen fruchtbar sind. Ja wir erkennen jetzt deutlicher, als es früheren Generationen möglich war, daß das Wesen und Wollen vieler schon der Anlage nach durch angeborene pathologische, ja verbrecherische Neigungen stark belastet ist, oder daß es durch Lebensbedingungen und Milieu unrettbar verdorben werden muß. Diese Erkenntnis legt der menschlichen Gesellschaft Verpflichtungen auf, wie sie in sozialer Fürsorge, vor allem im Schutz der gefährdeten Jugend und in dem Bestreben, der Macht des Bösen lieber an der Wurzel zu begegnen, als es in der geschehenen Tat zu rächen, zum Ausdruck kommen. So erwachsen dem Menschen auch an dieser Stelle aus seinem Wissen, aus seiner fortgeschrittenen Erkenntnis große lohnende Aufgaben, an denen mitzuarbeiten Pflicht und Recht für jeden wahrhaft Gebildeten ist.
Wir haben nun einen Überblick über die seelischen Funktionen, vom einfachen Wahrnehmen bis zum Denken, Fühlen und Wollen gewonnen; aus ihrer Eigenart, vor allem aus den Tatsachen des Gedächtnisses und der Natur des Denkens und des Wollens haben wir zu schließen, daß unser Seelenleben sich nicht in einer Aneinanderreihung von Vorgängen erschöpft, daß ihnen allen vielmehr ein in den wechselnden Phasen identisches Subjekt zugrunde liegt. Denn wir sahen, daß eine einmal erarbeitete Einsicht unser dauernder Besitz wird, und daß uns ein einheitliches, weite Ziele umspannendes Wollen und ein viele Einzelergebnisse gemeinsam verarbeitendes Denken möglich ist.
Aus der Fülle der hier aufsteigenden Fragen wird eine vor allen sich uns aufdrängen. Überall finden wir die seelischen Funktionen in enger Verbindung und in starker Abhängigkeit von den körperlichen; nicht allein wird die erste Quelle alles Erkennens, die Sinneswahrnehmung, durch den Körper vermittelt; auch unser Denken, Fühlen und Wollen finden wir von unserem körperlichen Befinden und der dadurch geschaffenen Stimmung stark abhängig. Und selbst, wenn wir uns von diesem Einfluß befreit haben, so hören doch auch die höchsten intellektuellen Funktionen bei Hirnverletzungen auf normal zu sein; ja sie können schon durch den Genuß von Alkohol, Opium und anderen Giften oder durch Fieberzustände völlig verändert werden. Andererseits aber vermögen wir auch die tiefster Reflexion entspringenden Entschlüsse nur durchzuführen, wenn unser Körper sich unserem Wollen als Werkzeug bietet.
So sehen wir also allenthalben einen regen Verflechtungszusammenhang der organischen und der seelischen Vorgänge bestehen. Darum erschien es der naiven Anschauung von jeher ganz selbstverständlich, daß Leib und Seele als Ursache und Wirkung miteinander verbunden seien, daß in dieser kausalen wechselseitigen Abhängigkeit der Zusammenhang beider, den die Erfahrung beständig erweist, begründet sei.
Diese Voraussetzung aber ist durch die Ergebnisse des modernen naturwissenschaftlichen Denkens erschüttert worden. Denn das Gesetz von der Erhaltung der Energie, das zuerst 1842 durch Robert Mayer entdeckt ist, stellt fest, daß im Haushalt der Natur die Gesamtsumme der » Energie«, der Kraft zur Leistung physischer Arbeit, stets konstant bleibt. Alle geleistete Arbeit besteht nur in Umsetzungsprozessen der dauernd konstanten Energiesumme in andere Energieformen, nirgends innerhalb des Physischen kann eine Wirkung verlorengehen oder eine Leistung aus nichts entstehen. In neuester Zeit ist es sogar gelungen, die Geltung des Gesetzes für Organismen, für Menschen und Tiere, in gewissem Maße zu erweisen. Durch diese Einsicht nun wird die Deutung der Beziehung von Leib und Seele, die wir doch so stark abhängig voneinander sehen, tatsächlich zum Problem. Können, so müssen wir fragen, die beiden tatsächlich als Ursache und Wirkung einander beeinflussen? Wie kann, wenn auch innerhalb unseres Körpers und speziell unseres Gehirns, keine Wirkungskraft dem Physischen verlorengehen darf, eine Einwirkung des Körpers auf die Seele stattfinden? Würde sie nicht einem Verlust an körperlicher Energie gleichkommen? Umgekehrt aber wird dann offenbar auch jede Wirkung seelischer Vorgänge, also unserer Willensentschlüsse, auf die Gehirnfunktionen unmöglich; denn eine solche würde ja eine im körperlichen Leben nicht vollbedingte, sondern durch außerphysische Faktoren hervorgerufene körperliche Funktion darstellen. Beides aber würde gegen das Energiegesetz verstoßen.
Darum hat ein großer Teil der modernen Philosophen geschlossen, daß Leib und Seele tatsächlich niemals aufeinander wirken, daß vielmehr die Funktionen beider beständig gesetzmäßig einander parallel gehen, ohne je eine Berührung miteinander zu haben, ohne an irgendeinem Punkte als Ursache und Wirkung zueinander in Beziehung zu treten. Dann würde also das Gebiet des Physischen ebenso wie das des Psychischen je eine in sich geschlossene, gesetzmäßig geordnete Vorgangsreihe darstellen, und beide Reihen würden so ablaufen, daß einem Vorgang a der einen stets ein a1 der anderen entspricht, der jedesmal bei dem Auftreten von a wiederkehrt. Diese Übereinstimmung aber würde erfolgen, ohne daß die beiden Reihen irgendeine Wirkung aufeinander ausübten. Wollen wir diese Anschauung konsequent durchführen, so sind wir jedoch zunächst zur Annahme von verschiedenen anderen Hypothesen gezwungen, die den Boden der Erfahrung weit hinter sich lassen: wir müssen, weit über die Grenzen des uns bekannten Seelenlebens hinaus, innerhalb des gesamten Universums, ein (bewußtes oder unbewußtes) psychisches Leben voraussetzen, da doch allenthalben den physischen Funktionen seelische parallel gehen müssen. Und wir müssen, um das beständige Parallelbleiben zweier Gebiete, die sich doch nirgends berühren dürfen, zu erklären, eine dritte sie beide bedingende Seinsgrundlage als wirksam voraussetzen, – wiederum eine Annahme, von deren Gültigkeit uns keine Erfahrung überzeugen kann. Wir müßten ferner alle Abhängigkeitsbeziehungen unseres Geistes vom Körper, die wir erfahren, und ebenso jede Wirksamkeit der Seele auf den Körper, die wir zu erleben meinen, in immerhin recht komplizierter Weise umdeuten. Vor allem aber würden wir eine Tatsache, eine grundlegende Erfahrung, auf diesem Boden, wie es scheint, überhaupt nicht erklären können. Wir überzeugten uns, daß wir zur Kenntnis der Außenwelt, also des Physischen, nur gelangen, weil sie uns im Bewußtsein gegeben ist, weil sie also Wirkungen in unserer Seele erzeugt; wie wollen wir diese Tatsache erklären, wenn wir die Möglichkeit einer Einwirkung der physischen Welt auf unsere Seele grundsätzlich ausschließen?
Nun würden wir unter Umständen natürlich die Pflicht haben, auch diese einleuchtendsten Erfahrungstatsachen im andern Sinne zu deuten und alle uns geläufigen Anschauungen einer entgegenstehenden zwingenden wissenschaftlichen Erkenntnis zu opfern, ebenso wie die Menschheit einmal den ihr geläufigen geozentrischen Standpunkt verlassen und ihr Weltbild nach dem Kopernikanischen System umdenken mußte. Aber wir müßten es nur, wenn wir die naturwissenschaftliche Erkenntnis, speziell das Gesetz von der Erhaltung der Energie, mit der Wechselwirkung von Leib und Seele wirklich nicht in Einklang bringen könnten. Dazu aber haben uns einige Forscher dennoch einen Weg gewiesen: indem sie zeigen, daß unter Umständen ein außerphysisches System auf ein physisches wirken und ebenso von ihm beeinflußt werden kann, auch ohne daß ein Energieverlust dabei zu verzeichnen wäre.
Faßt man z. B. die Gehirnfunktionen – im Sinne der energetischen Naturauffassung – als eine Summe von Bewegungsenergien und Energien der Lage, so ist zur Umsetzung einer Energieform in die andere unter Umständen keine physische Kraft notwendig; da andererseits aber das Energiegesetz auch die Zeit der Umsetzungsprozesse völlig unbestimmt läßt, so ist das Naturgeschehen durch das Energiegesetz noch keineswegs eindeutig bestimmt; vielmehr läßt es die Möglichkeit offen, daß bei den Gehirnprozessen außerphysische, also z. B. psychische Funktionen als auslösende, keinen Energieverlust bedingende Faktoren in Betracht kommen.
Dann würden also unsere Willensimpulse die Ursache sein, daß bestimmte Umsetzungen von Lageenergien in Bewegung innerhalb der Gehirnfunktionen erfolgen, und diese Umsetzungen würden ohne Verbrauch von physischer Energie vor sich gehen. Der durch die Umsetzung ausgelöste, dem Willensimpuls entsprechende Gehirnreiz aber würde sodann durch die Nerven den zu bewegenden Gliedern zugeführt werden. Und umgekehrt würde an bestimmte durch Sinnesreize bedingte, in unserem Gehirn stattfindende Umsetzungen von Bewegung in Energie der Lage der dem äußeren Reiz entsprechende Bewußtseinsvorgang gesetzmäßig geknüpft sein. So würden Leib und Seele tatsächlich in Wechselwirkung treten, ohne daß das Energiegesetz dabei verletzt würde, ohne daß irgendwie im Physischen eine Wirkung verlorenginge oder aus nichts entstünde.
Faßt man aber die Gehirnfunktion im Sinne der mechanischen Naturauffassung als eine Summe von Bewegungen, so wäre eine Richtungsänderung oder auch eine Beschleunigung und Verzögerung dieser Vorgänge denkbar, ohne daß physische Energie dabei geopfert werden müßte, also eventuell auch auf Grund von psychischen Einflüssen.
So könnte es naturwissenschaftlich in der Tat Mittel und Wege geben, die seelischen Regungen als Wirkungen und Ursachen zu körperlichen Vorgängen zu denken, ohne daß auch nur vorübergehend eine Verminderung oder Vermehrung physischer Energie mit dieser Wechselwirkung verknüpft wäre. Eine denknotwendige Entscheidung werden wir bei dem heutigen Stande unseres Wissens freilich auch auf die Frage Wechselwirkung oder Parallelismus nicht zu geben vermögen; aber wir müssen uns bewußt sein, daß wir mit der Annahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele dem Boden der Erfahrung näher bleiben, als wenn wir beide als voneinander unabhängige Funktionen eines rätselhaften transzendenten Geschehens auffassen. Denn jene gestattet uns, die tatsächlichen Erfahrungen ungezwungener zu deuten und auf Hypothesen, die die Grenzen unseres Wissens weit überflügeln, zu verzichten. Andererseits freilich müssen wir uns klarmachen, daß wir die wechselseitige Abhängigkeit von Leib und Seele, die wir um der Erfahrung willen voraussetzen, doch in ihrem Zustandekommen nicht eigentlich begreifen können, daß vielmehr auch für uns noch der Ausspruch Kants gilt: »Ich weiß wohl, daß Denken und Wollen meinen Körper bewege; aber ich kann diese Erscheinung wohl erkennen, ... aber niemals einsehen. Daß mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn jemand sagte, daß derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte; der Unterschied ist nur, daß ich jenes erfahre, dieses aber niemals in meine Sinne gekommen ist.«
Niemals aber darf ja die Unbegreiflichkeit einer Wirkung für uns ein Grund sein, an ihrem Zustandekommen zu zweifeln. Können wir doch nirgends im Weltgeschehen die letzten Wirkungszusammenhänge begreifen, sondern müssen sie überall nur als etwas erfahrungsmäßig Gegebenes hinnehmen!
Wir haben nun einen gewissen Überblick über das seelische Leben und Weben gewonnen, in so kurzen Zügen freilich, daß wir nur hoffen können, eine Anregung zu eigenem tieferem Studium und vor allem eine Ahnung von der eigentlichen Bedeutung psychologischer Studien vermittelt zu haben. Bemühen wir uns, immer tiefer in das äußere Naturgeschehen einzudringen, so muß es uns doch mindestens ebenso am Herzen liegen, ein Verständnis für die Regungen unseres eigenen inneren Wesens, unserer Seele, zu gewinnen. Denn es ist ja auch auf diesem Gebiet zu erwarten, daß tiefere Erkenntnis einen freieren Gebrauch ermöglichen wird. So dürfen wir hoffen, durch die Vertiefung in psychologische Probleme nicht nur unsere eigenen seelischen Kräfte objektiver beurteilen, zweckvoller üben und gebrauchen, Fremdes und Zufälliges vom Wesentlichen unterscheiden und uns von ungewollten Einflüssen befreien zu lernen; wir dürfen auch annehmen, daß psychologische Einsicht uns befähigen wird, fremdes Seelenleben tiefer zu verstehen, gerechter zu beurteilen und zweckvoller zu beeinflussen. Darum ist für jeden, der in seinem Beruf auf Menschen zu wirken und mit ihnen zu rechnen hat, und ebenso für jeden, der Menschenwerk in Wissenschaft und Kunst zu beurteilen oder menschliches Leben zu schildern hat, ein gewisses Maß psychologischer Einsicht im Grunde unentbehrlich.