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2. Des menschlichen Körpers Bau und Leben

Welcher Anblick wäre wohl an Erhabenheit dem vergleichbar, den bei klarer Luft der gestirnte Himmel über uns bietet! Aus unendlichen Fernen funkeln die zahllosen Weltkörper auf uns herab: hier als kleine Sonnen gesondert auf tiefem dunklen Himmelsgrund strahlend, dort in dichtem Gewimmel zusammengerückt zu dem mild schimmernden Band der Milchstraße. Immer wieder von neuem überwältigt uns dies Bild und zwingt uns zu ehrfürchtigem Staunen über das hoheitsvolle Wunder des Weltalls.

Und doch können wir diesem Bilde ein anderes, allerdings winzig kleines zur Seite stellen, welches nicht weniger jenseits der Grenze unseres menschlichen Begreifens liegt und uns bewundernde Ehrfurcht abnötigt: das ist die Eizelle, aus der der Mensch wird. Ein winziges Klümpchen Eiweiß stellt sie dar, noch nicht ? Millimeter im Durchmesser haltend, mit einer zarten Hülle umgeben; mittendrin ein rundes Körperchen, das Keimbläschen, und in diesem wieder ein ganz kleines rundliches Gebilde, der Keimfleck. In die Eizelle dringt nun im Falle der Befruchtung ein männliches Samenkörperchen, ein Gebilde von solcher Kleinheit, daß es nur unter dem Mikroskop erkennbar ist. In dem Augenblick, wo diese Samenzelle auf die reife Eizelle trifft und mit ihr verschmilzt, beginnt sich hier eine Reihe eigenartiger Vorgänge von typischem Verlauf abzuspielen. Die befruchtete Eizelle teilt sich in mehrere Zellen, und diese Teilung setzt sich immer weiter fort, während zugleich das Ganze wächst und sich, eingebettet im Mutterschoß und gespeist vom mütterlichen Blute, zu einem Körperchen formt, der werdenden Frucht. Immer bestimmter gestalten sich deren Organe, bis dann das in neun Monaten genügend herangereifte junge Menschenkind als Säugling dem Mutterschoß sich entwindet.

So entsteht ein Wesen, auf welches nicht nur die Menschengestalt der Eltern, nicht nur deren besondere Stammesart übergegangen sind. Nein, es erscheinen in seiner späteren Fortentwicklung auch die mannigfachsten und feinsten individuellen Züge der Eltern wieder, sowohl im äußeren Ansehen wie selbst in bestimmten geistigen Anlagen und Neigungen. Und ebenso vererben sich Eigenschaften vorteilhafter Art wie solche, welche in das Gebiet krankhafter Anlagen fallen. Diese ganze ungeheuere Summe also von bestimmenden Eigenschaften und persönlichen Eigentümlichkeiten war schon in der ersten Anlage vorhanden, vorhanden in jenen beiden winzig kleinen Körperchen, die in der befruchteten Eizelle zu einer Einheit verschmolzen. Wahrlich, soviele Wunder die Natur auch bietet in ihrer Größe und Unermeßlichkeit – dies scheint fast der Wunder größtes!

Als ein hilfloses Wesen löst sich der Säugling los vom Körper der Mutter, um ferner sein Eigendasein zu führen. Nur unbestimmte Gefühle von Behagen und Unbehagen bringt er als allererste Anfänge eines selbständigen Seelenlebens mit zur Welt, denn die zum Lebensunterhalt notwendige Saugtätigkeit können wir nur als eine angeborene Instinkthandlung auffassen. Anzeichen beginnender Geruchs- und Geschmackserkenntnis folgen bald. Dann erwachen in den ersten Lebenswochen allmählich auch die feineren Sinne; zuerst Gesichts-, dann auch Gehörseindrücke gelangen zur Wahrnehmung und erfahren ihre Deutung in fortschreitendem Maße. Weiterhin wird der Bewegungstrieb rege, die Anfänge zweckmäßig ausgeführter Bewegungen folgen: nach allen möglichen Gegenständen greift das Kind, erst noch ganz unsicher und danebentastend; allmählich aber nach zahllosen Versuchen werden diese und ähnliche Bewegungen bestimmter und erzielen sicherer die gewollte Richtung.

Als Vorstufe sprachlicher Entwicklung gelten die sog. »Urlaute«: Wimmern, Klagen und Schreien bei Schmerz oder Hunger, während Behagen und Freude sich in eigentümlich quiekenden und singenden Tönen äußern. Mit dem Ende der Säuglingszeit beginnen die ersten Anfänge wirklichen Sprechens: gewisse Laute, ja Worte leichterer Art werden infolge des Nachahmungstriebes nachgelallt, vorab noch ohne Verknüpfung solcher Worte mit dem Begriff bestimmter Dinge oder Personen.

Weitaus aber treten demgegenüber die vegetativen Tätigkeiten beim Säugling in den Vordergrund: die Nahrungsaufnahme, die Verdauung und dementsprechend das Wachstum. Auf keiner späteren Altersstufe mehr zeigt der kindliche Körper eine solche Energie des Wachstums: das Gewicht des etwa 3300 Gramm schweren Neugeborenen hat sich schon nach 24 Lebenswochen verdoppelt, nach einem Jahre auf das 2¾fache gesteigert! Dementsprechend tritt auch an dem ohnehin unverhältnismäßig großen Rumpf des Säuglings die Brustpartie stark zurück gegenüber der mächtigen Ausdehnung der vorgewölbten Bauchgegend. Die Gliedmaßen bilden dagegen nur erst wenig entwickelte Anhängsel des Rumpfes. Auffallend groß ist auch der Kopf, dessen Höhe nur viermal in der Körperlänge enthalten ist, wogegen diese beim Erwachsenen das 7½-8fache der Kopfhöhe mißt. Mit dem Ende der Säuglingszeit beginnen bereits die Milchzähne in bestimmter Reihenfolge hervorzubrechen: bis zum Abschluß des 2. Lebensjahres wird dann das erste Gebiß vollständig. Damit geht einher eine Veränderung der Gesichtsform: der Gesichtsteil entwickelt sich stärker gegenüber dem Schädelteil, welcher beim Säugling noch stark überwog; das Gesicht erhält ferner ein individuelleres Gepräge. Ausgezeichnet ist des Kindes Antlitz durch das große, glänzende und ausdrucksvolle Auge; denn dies Organ – es hat wohl von allen Organen das geringste Wachstum – hat bereits mit Ende des 7. Lebensjahres seine endgültige Größe erreicht.

Was die Verhältnisse des gesamten Körperbaues betrifft, so behält der Rumpf seine verhältnismäßig große Länge bis zum 3. Lebensjahre. Von da ab zeigen die Gliedmaßen ein ganz überwiegendes Wachstum, indem Arme und Beine zwischen dem 3.-6. Lebensjahre die Rumpflänge erreichen. Weiterhin aber überwiegt das Wachstum der Beine, so daß schließlich beim wohlproportionierten Erwachsenen die Beinlänge (vom Spalt bis zur Sohle) um 24 % die Länge des Arms mit der Hand, um 40% die Rumpflänge übertrifft. Diese Wachstumsfolge ist zwar in der Körperanlage gewissermaßen vorgesehen, verdankt aber ihre typische Ausgestaltung zum Teil auch bestimmten Wachstumsanregungen. Solche sind für Arme und Hände in den mannigfachen Hantierungen der Kinder, der unablässigen Beschäftigung mit allem möglichen Spielzeug gegeben. Auf das Wachstum der Beine wirkt die Gewöhnung an das aufrechte Gehen ein, wozu später, wenn das Kind sich sicher auf seinen Beinchen fühlt, der namentlich nach dem 4. und 5. Lebensjahr immer mehr hervortretende Trieb zu lebhafter Bewegung, zum Laufen, Hüpfen und Springen kommt. Zweifellos sind darum für die volle Entwicklung des kindlichen Körpers das Tummeln und Spielen gleich notwendig wie die Ernährung. Noch ein anderes hat die Gewöhnung an aufrechtes Stehen, Gehen und Laufen zur Folge: das ist die Ausgestaltung der Wirbelsäule in ihren natürlichen Krümmungen. Beim Neugeborenen ist der Rücken noch platt, die Wirbelsäule so gut wie gerade. Sowie das Kind gelernt hat, aufrecht zu sitzen, biegt sich die Wirbelsäule im Brustteil zur Rückenkrümmung. Steht es zum erstenmal frei, so erfordert die Unterstützung des Schwerpunktes des Körpers, daß das Becken sich neigt und in der Lendenwirbelsäule jene tiefe Einsattelung mit Biegung nach vorn eintritt, welche dem Menschen allein eigen ist.

Der Übergang zur Knaben- oder Mädchenzeit ist gekennzeichnet durch den Zahnwechsel, d. h. den Ersatz der 20 Milchzähne durch das bleibende Gebiß. Vom 6.-7. Lebensjahre ab bis zum 12.-14. Lebensjahre verdrängen allmählich die in den Kiefern vorgebildeten Zähne die Milchzähne und treten an deren Stelle. Acht neue große Backzähne kommen dabei zu den früheren hinzu. Später, zwischen dem 20.-30., ja selbst 40. Lebensjahre, bilden sich dann noch vier weitere Backzähne, die sog. »Weisheitszähne«. Ihr verspätetes Erscheinen und ihre oft unvollkommene Entwicklung deuten darauf hin, daß sie vielleicht einen in langsamer Verkümmerung begriffenen Teil des menschlichen Körpers darstellen. Das Stärkerwerden des Knochengerüsts wird begleitet von einer erheblichen Zunahme des Muskelfleisches, namentlich in der Zeit vom 11.-14. Lebensjahre. Damit geht dann auch eine stärkere Breitenentwicklung der Schultern wie der Hüften einher. Dementsprechend nimmt in dieser Altersstufe nicht nur die Lust, sondern auch die Befähigung zu kräftigen und umfänglicheren Muskelbewegungen zu.

Das Knaben- und Mädchenalter leitet über zur Entwicklungs- oder Reifungszeit: der Knabe wird zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau. Mit dem Ablauf der Entwicklungszeit gehen zugleich Veränderungen in bestimmten Organen vor. Davon sei zunächst das starke Wachstum des Kehlkopfs beim Jüngling hervorgehoben. Die Stimme erhält eine vollständig veränderte Klangfarbe (Brechen der Stimme); sie wird zur Stimme des Mannes, welche sich vom Klang der weiblichen Stimme unverkennbar unterscheidet. Bezeichnend ist ferner auch die bei beiden Geschlechtern sich nun vollziehende Größenveränderung des Herzens, welches in kurzer Zeit mehr als den doppelten Umfang gewinnt. Dagegen nimmt die Weite der vom Herzen abgehenden Schlagader nicht in entsprechendem Umfang zu. Von der Geburt bis zur vollendeten Entwicklung wächst das Volum des Herzens um das 12fache, die Weite der Hauptschlagader nur um das 3fache. Daher vollzieht sich beim Kinde der Kreislauf ungemein leicht, entsprechend den Anforderungen des steten Wachstums in allen Körperteilen. Unter geringem Druck wirft hier das verhältnismäßig kleine Herz die nötige Blutmenge in das weite Schlagadersystem. Beim Erwachsenen muß umgekehrt das verhältnismäßig große Herz unter starkem Druck das Blut in die engeren Schlagadern pressen. Diese Verhältnisse geben bedeutsame Fingerzeige für die richtige Art der körperlichen Erziehung und Übung bei der heranwachsenden Jugend. Denn sie erträgt darum weit leichter als der Erwachsene die Anstrengungen, welche dem Herzmuskel durch heftige Schnelligkeitsbewegungen, so besonders durch schnellen Lauf, auferlegt werden.

Für die Größenverhältnisse der einzelnen Körperteile zueinander wie auch zum Gesamtkörper beim wohlausgebildeten Menschen feste Maße zu finden und eine Art Idealfigur in bezug auf Körperformen und Gliedmaßen zu konstruieren, war man schon im Altertum bemüht. In einer von dem Bildhauer Polyklet geschaffenen Statue erblickte man besonders den vollendeten Maßstab, den Kanon der menschlichen Gestalt. Ebenso hinterließen die großen Künstler der Renaissance Studien zur Proportionslehre. Auch unser Albrecht Dürer hat sich immer wieder bemüht, bestimmte Regeln für die Körperverhältnisse zu finden; von neueren ähnlichen Bestrebungen seien die des Bildhauers Gottfried Schadow (»Polyklet«) genannt. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Entwicklung des Menschen im Gegensatz zur Gestaltung des Säuglings sich als Ziel nimmt: verhältnismäßig kurzen Rumpf, verhältnismäßig lange Gliedmaßen. Als Mittelmaß für die Körperlänge eines Europäers gelten 165-175 cm; die Frau ist durchschnittlich etwa um 10 cm kleiner. Die Kopfhöhe ist beim Erwachsenen 7-7½, bei schlanken Figuren auch sogar 8mal in der Gesamthöhe enthalten; die Länge der Wirbelsäule 2½mal. Die Armlänge vom Schultergelenk bis zur Spitze des Mittelfingers ist gleich der Höhe der Wirbelsäule. Die Spannweite der Arme, d. h. die Entfernung zwischen der linken und der rechten Mittelfingerspitze bei seitlich wagerecht ausgestreckten Armen, ist ungefähr gleich der ganzen Körperhöhe. Die Fußlänge endlich ist etwa 6½-7mal in der Körperhöhe enthalten.

Die Abweichungen von dem so gekennzeichneten Typus des wohlentwickelten Menschen können ererbt sein oder erworben, sie können Rasse- oder Geschlechtseigentümlichkeiten darstellen oder besonderen Daseinsbedingungen, Lebensgewohnheiten, ja krankhaften Einwirkungen ihren Ursprung verdanken und sich oft derart vom Grundtypus entfernen, daß sie geradezu Verbildungen des Körpers bedeuten.

Schon in der Körperlänge sind die Unterschiede recht bedeutend. Menschen unter 165 cm nennen wir klein-, solche über 175 cm hochgewachsen. Die äußersten Grade des Kleinwuchses, d. h. eine Körperhöhe, die beim ausgewachsenen Menschen unter 140 cm beträgt und bis nahe an 70 cm herabreichen kann, heißt Zwergwuchs. Dabei handelt es sich um nichts anderes als eine krankhafte Bildungs- und Wachstumshemmung. Anders liegt die Sache bei Völkerschaften, welche wie die Akkas in Zentralafrika durchweg nur eine Körperhöhe von 120-150 cm erreichen, also eine richtige Zwergrasse darstellen. Das Gegenteil des Zwergwuchses ist der bei 2 m Körperhöhe beginnende Riesenwuchs. Das größte beobachtete Maß sind 252 bis 255 cm. Bekannte geschichtliche Beispiele sind der römische Kaiser Maximin, der 250 cm, sowie der längste Riesengardist Friedrich Wilhelms I., der 252 cm gemessen haben soll. Meist zeigen solche Riesen unverhältnismäßig lange Beine, kleinen Kopf, plumpen und schwerfälligen Gliederbau, träges, wenig gewecktes Wesen. Ohne Zweifel sind solche Riesenformen das Ergebnis eines krankhaft gesteigerten Wachstums. Schon zu Urzeiten beschäftigten die großen Unterschiede in der Körperlänge die Phantasie der Völker. Die Mär von Riesen- und Zwerggeschlechtern spielt in allen Volkssagen eine Rolle. In der Breitenentwicklung unterscheiden wir kurze und gedrungene Gestalten einerseits, schlanke und schmächtige andererseits. Verbindet sich geringe Körperhöhe mit den Merkmalen und Verhältnissen des schlanken Wuchses, so nennen wir solche Gestalten »zierlich«. Ist dagegen große Körperhöhe verbunden mit starker, fast gedrungener Breitenentwicklung, so bezeichnen wir solche Urbilder mächtigen Körperbaus und bezwingender Leibeskraft als »Hünengestalten«, welche die Erinnerung wachrufen an die Helden der Sage. Ganz ungemein wird endlich die Gestalt beeinflußt in ihrer Gesamtform durch den größeren oder geringeren Fettgehalt der Haut sowie auch der Eingeweide, von dem klapperdürren Menschen, der, wie der Volksmund sagt, nur aus Haut und Knochen besteht, bis hin zu dem schwerfälligen kugelrunden »Fettwanst« gibt es die mannigfachsten Abstufungen.

Gehen wir noch kurz den Ursachen nach, welche die Entwicklung der Menschengestalt selbst bis zur Verbildung des Körpers hin beeinflussen, so kommt hier zunächst in Betracht die Einwirkung der äußeren Daseinsbedingungen. Ganze Völkerstämme, die im Kampfe ums Dasein von kräftigeren Mitbewerbern zurückgedrängt, nur in den armseligsten Verhältnissen, mit Not und Entbehrung kämpfend, ihren Fortbestand weiter fristen können, erleiden dann auch in ihrer körperlichen Entwicklung tiefgreifende Hemmung, ja Entartung. Durchweg zurückgeblieben im Wachstum, daher von kleinem, fast zwergenhaftem Wuchs, schlecht genährt und kraftlos, von greisenhaftem Aussehen stellen solche Völker Kümmerformen des Menschengeschlechts dar. Dahin rechnet man die Weddahs auf Ceylon, die Buschmänner in Südafrika, die Lappländer Skandinaviens.

Indes auch beim Kulturmenschen wirken für ganze Volksschichten soziale Mißverhältnisse wie Armut und ungenügende Ernährung, schlechte, licht- und luftlose Wohnungen, hemmend ein auf die Entwicklung des nachwachsenden Geschlechts. So stehen die Kinder der ärmeren Volksklassen der von besser gestellten Eltern abstammenden Jugend fast durchgehends nach an Körperlänge wie an Gewicht. Insbesondere ist hier vielfach mangelhafte Knochenbildung (Rachitis) verbreitet, die Verkrümmungen der Gliedmaßen, des Rückgrats, Verbildung des Brustkorbes oder gar des Hirnschädels, im letzteren Falle oft mit nachfolgender geistiger Beschränktheit, hinterläßt.

Ebenso wirkt verbildend auf den Körper bei wenig widerstandsfähigen, schwächlichen Kindern das anhaltende Sitzen in der Schule. Fehlerhafte Gewohnheiten in der Sitzhaltung führen leicht zu Verbiegungen des Rückgrats oder zu der als »runder Rücken« bezeichneten Entstellung des Körpers. Auch kann Berufsarbeit, die zu steter einseitiger Haltung zwingt, verbildend einwirken und schwächliche Entwicklung des Brustkorbes, runden Rücken oder Plattfuß nach sich ziehen.

Endlich ist noch zu gedenken der Entstellung gewisser Körperteile durch unzweckmäßige, naturwidrige Art der Bekleidung. Der Trichterstrumpf sowie unrichtig gebaute Schuhe haben einen nicht verbildeten Fuß beim Kulturmenschen geradezu zu einer Seltenheit gemacht. So ist der Kleinzeh fast stets verkrüppelt. Ein gleiches ist der Fall mit der Abweichung des Großzehs, da wo er an den Mittelfuß sich ansetzt, nach der Fußmitte hin. Noch schlimmere Schäden freilich fügt das Tragen der Schnürbrust oder auch des fest in die Weichen einschneidenden Rockbundes dem Frauenkörper zu. Ernste Störungen der Gesundheit sind die Folge dieser Tracht, die geradezu ein Vergehen wider Menschenwürde und Menschenschönheit genannt werden muß.

Wenn wir uns nunmehr zur Betrachtung des inneren Aufbaus und der Lebenstätigkeiten der Organe unseres Körpers wenden, so gehen wir auch hier am besten aus von der ersten Keimanlage des werdenden Menschen. Die Befruchtung einer reifen Eizelle, so sahen wir, bildet den Ausgangspunkt einer Entwicklung, welche im Grunde zunächst nichts anderes ist als eine unablässige Vermehrung der Eizelle zu schließlich zahllosen Zellen auf dem Wege stetig sich wiederholender Zellteilung. Die Zellen, d. h. Gebilde, welche in der Hauptsache bestehen aus Eiweißsubstanz (Protoplasma) mit einem rundlich oder oval geformten Kern, auch umgeben sein können von einer Zellhülle, sie sind die lebendigen Bausteine, aus welchen wie der Leib der Pflanzen und Tiere so auch der des Menschen aufgebaut ist. Diese Erkenntnis, welche eine neue fruchtbare Periode in der Wissenschaft vom Leben einleitete, verdanken wir in erster Linie dem rheinischen Arzte Theodor Schwann aus Neuß (1839).

Wir kennen zahlreiche kleine selbständige Lebewesen (Urtiere; am bekanntesten davon die Infusorien des Süßwassers), welche nur aus einer einzigen Zelle bestehen. Diese vereint dann in sich alle Äußerungen des Lebens. Zunächst bedingen die Lebensvorgänge einen gewissen Stoffverbrauch, der durch Aufnahme neuer Stoffe in den Leib der Zelle gedeckt wird. Dabei erfahren diese Stoffe eine bestimmte Umwandlung, d. h. sie werden verdaut. Ferner können solche Lebewesen sich durch Ausdehnung oder Zusammenziehung ihrer Zellmasse bewegen. Das geschieht insbesondere, wenn von außen her Einwirkungen mechanischer oder chemischer Art erfolgen. Dies setzt eine gewisse Reizbarkeit der Zelle voraus: den Uranfang selbständiger Empfindung. Endlich kann sich ein solcher einzelliger Organismus vermehren, und zwar durch Teilung in mehrere Zellen, deren jede selbständig weiterlebt. Bei dieser Teilung spielt der Zellkern eine wesentliche Rolle.

Eine höhere Stufe der Entwicklung bilden solche Lebewesen, welche aus einer Vielheit von Zellen sich zusammensetzen. Dabei ist die einzelne Zelle nur ein Teilstück eines unzertrennlichen Ganzen. Als Glied eines solchen »Zellenstaates« vereint sie nicht mehr in sich die Summe aller jener Lebenstätigkeiten, vielmehr hat eine weitgehende Arbeitsteilung stattgefunden derart, daß bestimmte Zellen nur den Stoffersatz (oder die Verdauung) für den ganzen Zellstaat besorgen, während andere lediglich die Bewegungsvorgänge bewirken und noch andere sich zu einer schützenden Hülle für das Ganze zusammenfügen. Unter letzteren befinden sich besonders solche, die zur Wahrnehmung von Vorgängen in der Umwelt des Individuums eingerichtet sind. Es gibt endlich auch solche Zellen, die nur das Material zur Weiter- und Neuerzeugung gleichgearteter Lebewesen abgeben. Solche Anpassung an ganz bestimmte Lebenstätigkeiten bringt die weitestgehenden Unterschiede in bezug auf Aussehen, Größe und Form der Zellen mit sich. Sind gleichartige, d. h. derselben Tätigkeit dienende Zellen so aneinandergelagert, daß sie einen zusammenhängenden Teil oder eine Schicht des Gesamtkörpers bilden, so sprechen wir von Geweben. Gewebe wieder bauen die Organe des Körpers auf.

Nach alledem wäre die einfachste Form eines vielzelligen Organismus die folgende: eine Gewebsschicht umgibt das Ganze als Außenhaut. Ein Hohlraum im Innern, mit einer Mündung nach außen, bildet einen Schlauch für die Verdauung. Seine Wand ist von einer Schicht verdauender Zellen als Innenhaut ausgekleidet. Zwischen Außen- und Innenhaut befindet sich noch eine Mittelschicht, welche vor allem die der Bewegung dienenden Zellgruppen enthält. So haben wir eine Art Schema gewonnen, von Ernst Haeckel zuerst als »Gastrula-Form« bezeichnet. Es gibt nicht nur viele tierische Wesen, deren Körperanlage dieses Schema erkennen läßt, sondern es durchlaufen alle Wirbeltiere und so auch der Mensch in ihrer ersten Entwicklung diese Form. Wir nennen hier diese drei Schichten: also die Außenhaut, die den sog. Urdarm mit dem Urmund umkleidende Innenhaut und die zwischen diese beiden Schichten hineinwachsende Mittelschicht, die »Keimblätter«. Aus den Zellen des äußeren Keimblatts entwickeln sich: die Haut mit ihren Gebilden, die Sinnesorgane, das Zentralnervensystem. Das innere Keimblatt liefert die Auskleidung des Darmrohrs und durch Ausstülpungen die in die Verdauungswege einmündenden Drüsen. Das mittlere Keimblatt gibt das Bildungsmaterial her insbesondere für die willkürlichen Muskeln sowie für die Geschlechtsdrüsen. Letztere bewahren damit Bildungsmaterial, das unmittelbar den Teilprodukten der Eizelle entstammt, d. h. der von den Eltern gelieferten Keimsubstanz. Denn es geht nicht wie die anderen Gewebselemente eine weitere Differenzierung ein. Vielmehr bleibt dies jugendliche Bildungsmaterial als solches bestehen und wird dereinst wieder enthalten sein in den der Fortpflanzung der Art dienenden Elementen (»Kontinuität des Keimplasmas«). Damit erhalten wir einen ahnungsvollen Einblick in die stetig sich wiederholende Fortpflanzung der Charaktere der Art durch zahllose Generationen hindurch.

So baut sich also der menschliche Körper auf aus Zellen, und es vereinen sich diese Zellen zu Geweben, welche schon in frühester Entwicklung sich sondern und immer mehr sich differenzieren je nach der Tätigkeit, welche sie später im Dienste des Gesamtorganismus zu spielen haben. Und doch fügen sie sich auch wieder wunderbar ein in den Grundriß des Körpers mit all seinen Organen, wie er bei fortschreitender Entwicklung immer klarer zutage tritt. So wird schließlich ein bei aller Mannigfaltigkeit seiner Bestandteile einheitlich beseeltes Ganze: der lebende Körper. Ein großer Teil seiner Lebenstätigkeiten vollzieht sich so gut wie vollkommen selbsttätig; zahlreiche Gewebsteile und Einzelzellen führen in unserem Körper scheinbar ein besonderes Einzelleben, das auch unserem Bewußtsein vollständig entlegen ist. Anderseits löst unser Geist gewaltige Lebensäußerungen aus, und unser Wille und unsere Instinkte treffen alle Maßnahmen, die dem geregelten Gang der Tätigkeiten des Körpers Maß und Ziel setzen.

So mannigfach aber auch all diese Lebensäußerungen in unserem Körper sind, so außerordentlich verschieden wir glauben sie bewerten zu dürfen, und so sehr wir insbesondere auch mit Recht geneigt sind, die seelischen Tätigkeiten den materiellen Vorgängen im Körper gegenüberzustellen: alle ohne Ausnahme sind begleitet von stofflichen Umsetzungen in den Zellen unseres Körpers, und unausgesetzt müssen hier chemische Spannkräfte umgewandelt werden in Arbeit und Wärme, soll anders das Leben Bestand haben, und sollen Äußerungen des Lebens irgendwelcher Art überhaupt möglich sein.

Suchen wir aber nach dem Urquell aller dieser Kräfte, welche sich in den Lebewesen auf der Erde äußern, so finden wir diese in der lebendigen Kraft der Sonnenwärme. Darum sind auch wir Menschen rechte Sonnenkinder. Es ist wie ein tiefes Ahnen dieses Zusammenhanges, wenn der zur Persönlichkeit erhobene Träger des Himmelslichtes, wenn die Sonne in so gut wie allen Naturreligionen die erste Stelle einnimmt. Unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen baut die Pflanze aus einfachen Stoffen, baut sie aus Kohlensäure, Wasser, Ammoniak und Stickstoff Stoffe auf von verwickelterer chemischer Zusammensetzung, während sie dabei Sauerstoffgas ausscheidet. Diese Stoffe sind, soweit nicht einzelne vom Menschen künstlich hergestellt werden können, sonst nirgends in der leblosen Natur zu finden. Dabei wird die lebendige Kraft der Sonnenwärme umgesetzt in chemische Spannkraft, und es entstehen in den Pflanzen Verbindungen, die reich sind an aufgespeicherter Spannkraft. Teils sind diese Verbindungen stickstoffhaltig, wie die Eiweißstoffe, teils stickstofflos. Zu letzteren zählen die Kohlehydrate, d. h. zucker- oder stärkemehlhaltige Stoffe, sowie die Fette oder Öle. »Das Licht, die beweglichste aller Kräfte, von der Erde im Fluge erhascht, wird von den Pflanzen in starre Form umgewandelt; denn die Pflanzen auf ihr erzeugen eine fortlaufende Summe chemischer Differenz, bilden ein Reservoir, in welchem die flüchtigen Sonnenstrahlen fixiert und zur Nutznießung geschickt niedergelegt werden.« (Jul. Rob. Mayer, Entdecker des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft, 1845.)

Jene von den Pflanzen gebildeten Stoffe unterliegen, wenn sie in den menschlichen Körper – unmittelbar als Pflanzenkost, mittelbar in der Form von Fleisch, Milch oder Eiern pflanzenfressender Tiere – aufgenommen werden, dem umgekehrten Prozeß, wie er bei ihrer Bildung durch die Pflanze stattgefunden hat. Sie werden nämlich unter Zutritt von Sauerstoff zerlegt oder verbrannt zu Kohlensäure, Wasser und (bei den stickstoffhaltigen Körpern) zu Harnstoff. Dieser zerfällt, wenn er aus dem Körper ausgeschieden ist, noch weiter in Kohlensäure und Ammoniak. Während die Pflanze beim Aufbau komplizierterer Stoffe aus einfachen die lebendige Wärme in Form chemischer Spannkraft aufspeichert, werden im Tierkörper diese Spannkräfte, bei dem Abbau jener komplizierten Verbindungen, d. h. bei ihrer Rückführung in einfache durch den Vorgang der Verbrennung, wieder frei und können hier übergeführt werden in Wärme und Arbeit.

Die Stoffe, welche unseren Körper aufbauen, sind also: Eiweißstoffe, Fette und Kohlehydrate, ferner Wasser und unverbrennliche, aus Salzen oder Erden bestehende Organbestandteile. In den lebenden Zellen unterliegen namentlich die erstgenannten Stoffe fortwährend der Umsetzung. Es muß daher stetig Ersatz zugeführt, das Verbrauchte aber ausgeschieden werden. Das allüberall den Körper durchkreisende Blut besorgt diese Zufuhr, indem es die verdauten Nahrungsstoffe als Nahrungs- oder Milchsaft in sich aufnimmt.

Die Aufgabe, die aufgenommenen Nahrungsmittel mechanisch zu zerkleinern und zu zerreiben und weiter in die für den Stoffwechsel in den Zellen verwendbare lösliche Form zu bringen, fällt den Verdauungsorganen zu. Dazu gehören somit auch die Zähne. Ihr Anteil an der Verdauungsarbeit ist kein geringer, so daß schon darum eine sorgfältige Zahnpflege von früher Jugend an notwendig ist. Es ist eine traurige Tatsache, daß der weitaus größte Teil unserer Jugend schon auf der Schule kein vollkommen gesundes Gebiß mehr zeigt. Zur Zahnpflege gehört indes nicht nur sorgfältige Reinigung von Zähnen und Mund, sondern auch tüchtiger Gebrauch der Zähne, d. h. langsames, gründliches Durchkauen aller Speisen. Das Zerbeißen und Zermalmen grober Brotkrusten u. dgl. ist zweifellos eine förderliche Übung der Zähne. Viele Magenstörungen schon in jungen Jahren sind lediglich dem hastigen Schlingen schlecht durchgekauter Bissen zu verdanken. Die eigentlichen Verdauungsorgane bilden einen vom Mund bis zum After reichenden langen (der Dünndarm ist allein gegen 6 m lang) Schlauch, dessen Wände ausgekleidet sind mit Schleimhaut. Zahllose kleine und einige große Drüsen (Speicheldrüsen, Bauchspeicheldrüsen, Leber) mischen ihre massenhaften flüssigen Absonderungen, Mundschleim, Magensaft, Saft der Bauchspeicheldrüse, Galle usw., dem Inhalt der Verdauungswege bei. Im Dünndarm werden die verdauten löslichen Stoffe aufgesaugt, während die unverdauten oder verbrauchten Abfallstoffe im Dickdarm zum Kot geformt und durch den Mastdarm ausgeschieden werden.

Die Blutflüssigkeit nimmt aber nicht nur den Nahrungssaft in sich auf, um ihn allüberall zu den Geweben hinzutragen, sie führt auch den Zellen den nötigen, der Einatmungsluft entnommenen, Sauerstoff zu, der die Verbrennungsvorgänge unterhält; sie nimmt endlich die den Stoffzersetzungen entstammenden Abfallstoffe, soweit diese völlig löslich sind, in sich auf und befördert sie zu den Organen, welchen deren Ausscheidung obliegt, den Nieren und der Haut. Kurz: das Blut nährt nicht nur alle Organe, sondern es reinigt sie auch und wäscht sie aus. Etwa 4,5-5 Kilo beträgt beim Erwachsenen durchschnittlich die Blutmenge.

Das Mikroskop belehrt uns, daß die Blutflüssigkeit farblos ist, in ihr aber zahllose runde Scheibchen (jedes von 8/1000 mm etwa im Durchmesser) herumschwimmen, die roten Blutkörperchen. Sie wurden zuerst 1673 gesehen von dem holländischen Anatomen Lieuwenhoek, nachdem schon 1658 Swammerdam die, allerdings beträchtlich größeren, Blutkörperchen im Froschblut entdeckt hatte. Die farblose Blutflüssigkeit oder das »Blutplasma« enthält außer den gelösten Nährstoffen (darunter an 8 % Eiweiß) einen eigenartigen Stoff: das Fibrin. Dieser Faserstoff hat die Eigentümlichkeit, nur innerhalb der unverletzten und gesunden Blutgefäßwände gelöst zu bleiben. Bei Berührung mit einem Fremdkörper oder insbesondere auch mit Luft bildet das Fibrin feste Gerinnsel, wodurch z. B. bei Verletzungen die durchtrennten Blutgefäße sich von außen her verstopfen, wodurch Verblutung verhütet wird. Entfernt man das Fibrin aus dem Blute, so bleibt eine klare, nicht weiter gerinnende Flüssigkeit übrig: das Blutserum. Das Serum hat bei dem Kampfe gegen Erkrankungen neuerdings eine besondere Bedeutsamkeit gewonnen. Es bilden sich nämlich im lebenden Körper, in welchen krankmachende kleinste Organismen eingedrungen sind, bestimmte Gegengifte (Antitoxine) im Blute als Schutzwehr des Körpers. So bildet sich z. B. im Blute von Tieren, die an Diphtherie erkrankten, ein Stoff, welcher die Pilze der Diphtheritis – oder die von diesen Pilzen erzeugten Giftstoffe (Toxine) angreift und zerstört. Spritzt man das Serum solcher Tiere in die Gewebe eines an Diphtheritis erkrankten Kindes ein, so führt man damit auch dies Gegengift in seinen Körper ein. Behring gab so (1890) der Menschheit ein Mittel zur Bekämpfung dieser mörderischen Krankheit in die Hand. Auch zur Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten hat man diesen verheißungsvollen Weg beschritten.

Die geformten Elemente des Blutes scheiden sich in rote und weiße Blutkörperchen. Jene, welche dem Blute seinen roten Farbstoff geben, sind die zahlreicheren: auf 500-700 rote kommt meist erst ein weißes Blutkörperchen. Die roten Blutscheibchen enthalten einen eisenhaltigen Farbstoff, das Hämoglobin, welches eine chemische Verwandtschaft zum Sauerstoff besitzt. In den Lungenbläschen, die ringsum von feinsten Blutgefäßen (Haargefäßen) umsponnen sind, treten die roten Blutkörperchen in fast unmittelbare Berührung mit dem Sauerstoff der eingeatmeten Luft, bemächtigen sich dessen und bringen ihn, durch die Pumptätigkeit des Herzens umgetrieben, allüberall hin in den Körper, wo Verbrennungsvorgänge in den Zellen durch den Zutritt von Sauerstoff zu unterhalten sind. Die Gesamtmenge des so dem Körper zugeführten Sauerstoffs beträgt in 24 Stunden beim Erwachsenen 744 Gramm oder 516,5 Liter. Bei Muskelarbeit ist diese Menge noch weit größer. Ausgeschieden werden hingegen mit der Ausatmung aus dem Blute 900 Gramm Kohlensäure oder 455 Liter.

Um zu erklären, wie dieser außerordentlich große Gaswechsel des Blutes möglich sei, glaubte man früher eine besondere geheimnisvolle Kraft, die sog. »Lebenskraft«, zu Hilfe nehmen zu müssen. In der Tat werden aber nur die gewöhnlichen physikalischen und chemischen Kräfte in Anspruch genommen. Der Körper besitzt nämlich Einrichtungen für diese und ähnliche Vorgänge (so z. B. auch in den Verdauungsorganen), welche die Umsetzungen stofflicher Art auf überraschend große Flächen verteilen. Die Zahl der Lungenbläschen beträgt 1700-1800 Millionen. Ihre Fläche, nebeneinander ausgebreitet, würde 200 Quadratmeter bedecken, wovon drei Viertel, also 150 Quadratmeter, auf die umspinnenden Blutgefäße entfallen. Nun befinden sich in einem Kubikmillimeter Blut 500 Millionen roter Blutkörperchen, deren Gesamtoberfläche 640 Quadratmillimeter ausmacht, also 640 Quadratmeter auf ein Liter Blut. Rechnen wir für den Erwachsenen eine Blutmenge von nur 4,4 Liter, so beträgt die Gesamtoberfläche aller roten Blutkörperchen 2816 Quadratmeter, d. h. sie würde mehr als 28 Ar bedecken! Da von der Gesamtblutmenge etwa 8 % sich in den Lungen befinden, so treten also bei jedem Atemzug 225 Quadratmeter hämoglobinhaltiger Substanz in Berührung mit der Einatmungsluft. Das macht den großen Umfang der Sauerstoffaufnahme durch die zahllosen roten Blutscheibchen leicht erklärlich. Immer geschäftig, werden sie vom rechten Herzen in den Lungenblutkreislauf getrieben, wo sie sich mit dem zur Verbrennung nötigen Sauerstoffgas beladen; weiterhin fördert sie die Pumparbeit des linken Herzens zu allen Geweben, damit sie sich dort ihrer kostbaren Bürde nach Bedarf entledigen, um allenthalben das glimmende Herdfeuer des Lebens zu unterhalten.

Solche rastlose Arbeit nutzt natürlich auch ab. Immerfort gehen rote Blutkörperchen nach einer Lebensdauer von nicht mehr als 3-4 Wochen unter. Immerfort wird aber auch Ersatz geschaffen. Namentlich im Knochenmark bilden sich unausgesetzt rote Blutkörperchen, um dann frisch der Blutbahn zugeführt zu werden. Am lebhaftesten gestaltet sich die Auffrischung des Blutes unter der Einwirkung des Sonnenlichts im Freien sowie in der verdünnten Höhenluft des Gebirges. Letzteres wies zuletzt noch Zuntz in dem Werke: »Höhenklima und Bergwanderungen in ihrer Wirkung auf den Menschen« (1906) nach.

Zwischen den massenhaften roten Blutscheibchen zeigt uns das Mikroskop nun noch einzelne farblose, mattglänzende Körperchen: die »weißen« Blutkörperchen. Sie besitzen, als wären es selbständige Organismen, die Zähigkeit sich zu bewegen und wandern bei Entzündungen aus den Blutgefäßröhrchen aus, um in den Geweben an der Bildung von Eiter, durch fortgesetzte Teilung sich stark vermehrend, teilzunehmen. Sie haben auch die wertvolle Eigenschaft, im Blute umherschwimmende kleine Körperchen und Körnchen in ihren Zellenleib aufzunehmen. So sind sie als »Freßzellen« imstande, krankmachende Eindringlinge, also Pilze, einfach unschädlich zu machen und eine Art Schutzwehr für den Körper zu bilden.

Unser Blut ist in ein System von Rohren und Röhrchen eingeschlossen und wird hier durch die Saug- und Pumptätigkeit des Herzens in anhaltender, stets in gleicher Richtung sich vollziehender Bewegung gehalten. Diese Blutgefäße durchziehen den ganzen Körper in allen seinen Geweben, so dicht, daß ein Einstich auch mit der feinsten Nadel überall auf die feinsten Verzweigungen, die Haargefäße, trifft und solche verletzt.

Schon im Mutterleibe hatte der Herzmuskel regelmäßig zu arbeiten begonnen; ohne Ruhe und Rast in rhythmischem Wechsel dehnt er sich aus, um sich mit Blut aus den zuleitenden Gefäßen, den Venen, zu füllen und das Blut sodann durch Zusammenziehung in die ableitenden Gefäße, die Schlagadern oder Arterien, auszustoßen. Häutige Ventile, die Herz- und Blutgefäßklappen, gestatten dem Blutstrom nur den einen vorbezeichneten Weg zu nehmen. Etwa faustgroß ist der Herzmuskel, nach oben und rechts (Herzbasis), wo die großen zu- und ableitenden Gefäße münden und ausgehen, breit gestaltet, während die nach unten links und vorn gerichtete Spitze sich bei jeder Herzzusammenziehung erhebt, und zwischen der 5. und 6., auch schon zwischen der 6. und 7. Rippe etwas einwärts von der linken Brustwarze an die Brustwand anschlägt (Spitzenstoß). Eine von oben nach unten gehende Scheidewand trennt den inneren Hohlraum des Herzmuskels in zwei Hälften: das rechte oder Lungenherz und das linke oder Arterienherz. Das rechte Herz preßt das aus den Venen des Körpers sich sammelnde dunkelgefärbte und kohlensäurehaltige Blut in die Lungenarterie, deren zahllose Endverzweigungen, wie wir sahen, die Lungenbläschen umspinnen. An die Lungenluft, die dann durch Ausatmung entfernt wird, gibt das Blut die Kohlensäure ab. Es entnimmt der frisch wieder eingeatmeten Luft Sauerstoff und wird dadurch hellrot gefärbt. Dies mit Sauerstoff neu bereicherte Blut sammelt sich in den Lungenvenen und wird dem linken Herzen zugeführt. Das linke Herz preßt dies Blut durch die Hauptschlagader und deren Verzweigungen allenthalben zu den Geweben des Körpers. In den feinsten Endverzweigungen, den Haargefäßen, findet der umgekehrte Vorgang statt wie in den Lungen (auch »innere« Atmung genannt im Gegensatz zur »äußeren«, der Lungenatmung). Der Sauerstoff wird wieder abgegeben, die Kohlensäure, als Endprodukt des Stoffwechsels, aufgenommen. Infolge dieses Gaswechsels erhält das Blut wieder dunkle Farbe. Die Haargefäße sammeln sich rückwärts zu den Venen und diese schließlich zu den beiden großen Hohlvenen, von denen die obere das Blut der oberen Körperhälfte, die untere das der unteren Körperhälfte wieder dem Herzen zuführt. Die Grenze zwischen den Gebieten der oberen und der unteren Hohlvene ist das die Brust- von der Bauchhöhle trennende Zwerchfell.

Der Weg, den das Blut vom rechten Herzen durch die Lungen zum linken nimmt, heißt der kleine Blutkreislauf; der Weg vom linken Herzen durch den ganzen Körper zum rechten der große Blutkreislauf. Es sind noch keine 300 Jahre verflossen, seitdem die Kenntnis des Weges, den das Blut durch den Körper nimmt, Gemeingut der Menschheit ist. Die alten griechischen Ärzte hielten bis auf Galenus (im 2. Jahrhundert n. Chr.) die Schlag- oder Pulsadern, weil sie nach dem Tode, d. h. nach dem letzten Herzschlag leer sind, für luftführende Röhren: daher auch der heute noch gebräuchliche Name »Arterien«. Das Mittelalter brachte auch auf diesem Gebiete keinerlei bessere Erkenntnis. Erst Michel Servet, jener Dominikanerzögling, welcher als Märtyrer freigeistiger Überzeugung 1553 von den Kalvinisten in Genf verbrannt wurde, entdeckte 1543 den Blutkreislauf in den Lungen. Spätere Ärzte verfolgten die Bahn des großen Kreislaufs im Körper. Endlich gab dann der Engländer William Harvey als erster im Jahre 1628 das zusammenfassende Bild des gesamten Kreislaufs des Blutes – eine der größten wissenschaftlichen Taten aller Zeiten!

Die rhythmische Arbeit des Herzens in stetem Wechsel von Erschlaffung und Zusammenziehung teilt der Blutflüssigkeit eine solche Stromgeschwindigkeit in den Adern mit, daß die Zeit, während deren eine vom Herzen in die Schlagader geworfene Blutmenge die ganze Kreislaufbahn durchläuft, noch nicht eine Minute beträgt. Die Zusammenziehung des Herzens nennen wir Pulsschlag. Beim Kinde im ersten Lebensjahre zählen wir 120-130, im dritten Lebensjahr 100 Pulsschläge in der Minute; beim erwachsenen Mann ist die Zahl der Pulse 65-72, beim Weibe 70-80. Im hohen Lebensalter, über das 70. Lebensjahr hinaus, nimmt die Häufigkeit der Pulse wieder zu.

Die Schnelligkeit des Herzschlags wird vielfach beeinflußt. Sie steigt beim Fieber, d. h. wenn die Körperwärme 38° C übersteigt. Sie wächst ferner zugleich mit dem Umfang der Herzarbeit bei allen heftigen Leibesbewegungen. So kann z. B. bei einem schnellsten Lauf über 200 m, eine Strecke, die ein guter Läufer in 24-25 Sekunden zurücklegt, die Pulsziffer von 65 vor dem Lauf in diesen wenigen Sekunden heftigster Laufbewegung wachsen auf 150-180. Auch heftigere Gemütserregungen steigern die Häufigkeit des Pulses stark und lassen sie als »Herzklopfen« hier besonders deutlich empfinden. Die mechanische Arbeit des Herzmuskels ist außerordentlich groß. Schon im Ruhezustand beträgt sie nach der Rechnung von Zuntz – wonach das linke Herz bei jeder Zusammenziehung 60 ccm Blut unter einem Drucke von 2,13 m in die Hauptschlagader wirft, während die Arbeit des rechten Herzens ein Drittel davon beträgt – etwa 815 Kilogramm-Meter in der Stunde, ist also gleich der Kraft, die erforderlich ist, um 815 kg einen Meter hoch zu heben. Das ergibt eine Tagesarbeit von etwa 20 000 kg-m.

Kein Skelettmuskel besitzt eine im Verhältnis zu seinem Gewicht auch nur annähernd so große Leistungsfähigkeit. Das Herz ist eben der besttränierte, weil unaufhörlich, in rhythmischem Wechsel und unter den günstigsten Verhältnissen der Zu- und Abfuhr des Blutes, arbeitende Muskel des Körpers. Bei angestrengter Muskelarbeit kann übrigens während deren Dauer die Arbeitsgröße des Herzens sich auf das vier- bis sechsfache steigern. Diese Steigerung richtet sich einfach nach der Größe des Bedarfs. Das Herz arbeitet nämlich vollkommen automatisch: d. h. die Bewegungen, welche den Herzmuskel zur rhythmischen Zusammenziehung und Erschlaffung veranlassen, werden durch Nervenzellen und Nerven gegeben, deren Tätigkeit unabhängig ist von unserer Willensbeeinflussung. Diese Nervenelemente liegen im Herzmuskel selbst; sie stehen aber in Verbindung mit Nerven, welche, gleichfalls ohne Zutun unseres Willens, beschleunigend und verstärkend oder herabsetzend auf die Zahl und Kraft der Herzarbeit einwirken, also eine Art regulierender Tätigkeit ausüben; maßgebend hierfür ist namentlich der größere oder geringere Bedarf an Sauerstoff im Körper. Bei Muskelarbeit insbesondere wird um so mehr Sauerstoff benötigt, und das Herz muß um so mehr Sauerstoff zu den arbeitenden Muskeln hinführen, je stärker und umfänglicher diese Arbeit ist, d. h. also, je mehr Muskeln des Körpers tätig und je größer die von ihnen geforderten Kraftleistungen sind. Diesen Anforderungen genügt das Herz durch seine selbsttätig regulierenden Einrichtungen, indem erstens die Zahl seiner Zusammenziehungen in der Zeiteinheit sich vermehrt, und indem zweitens eine größere Blutmenge (Schlagvolumen) jedesmal in die Schlagader hineingepreßt wird. So ermöglicht sich also das Anwachsen der Herzarbeit um das 4-6fache. Rhythmische starke Muskeltätigkeiten wie das Marschieren, Bergsteigen, Rudern usw. unterstützen dabei wesentlich die Herzarbeit dadurch, daß sie das Blut in den Venen fortbewegen helfen, und daß die gleichzeitig stark vertiefte Einatmung das Venenblut, namentlich der unteren Körperhälfte, in wirksamer Weise zum Herzen ansaugt.

Wie jeder andere Muskel erliegt aber auch das Herz den Gesetzen der Ermüdung. Dies äußert sich z. B. bei einem überschnellen Lauf durch fahles, bleiches Aussehen; der Puls wird nicht nur häufig, sondern auch klein, ja wird unregelmäßig, d. h. ab und zu einmal kurz aussetzend – Erscheinungen, die nach Unterbrechung der veranlassenden Bewegungen bald wieder verschwinden. Ist dagegen bei erschöpfenden Dauerleistungen, überlangem Marschieren, Radfahren, Bergsteigen u. dgl., der Herzmuskel durch die im Blute stark angehäuften sog. »Ermüdungsstoffe« – wovon unten noch die Rede sein wird – geschwächt, so kann der Gegendruck, den das Herz stets durch die Blutflüssigkeit, welche es in die Schlagadern pressen muß, erfährt, auf die widerstandslos gewordenen Herzwände dehnend einwirken, so daß Herzerweiterung entsteht. Auch diese kann bei entsprechender Erholung sich wieder zurückbilden. Werden aber solche das Kräftemaß übersteigenden und erschöpfenden Leistungen häufiger unternommen, so wird schließlich eine derartige Erweiterung des Herzens und damit eine krankhafte Störung seiner Tätigkeit dauernd bestehen bleiben.

Ein gleiches ist der Fall, wenn gewohnheitsmäßige Aufnahme überreichlicher Flüssigkeitsmengen, die zudem durch ihren Gehalt an Alkohol die Widerstandskraft des Herzens herabsetzen, das Schlagvolumen und damit den Gegendruck in den Herzkammern stark vermehren. Reichlicher Fettansatz um den Herzmuskel kommt dann noch hinzu, um jene Entartung des Herzens zustande zu bringen, die insbesondere als »Bierherz« bekannt ist.

Die Möglichkeit, daß das Blut bei jeder Einatmung sich neu mit Sauerstoff bereichert, und daß mit der Ausatmung sich das Blut der in den Geweben durch den hier stattfindenden Verbrennungsprozeß gebildeten Kohlensäure entledigen kann, geben die Atmungsorgane. Die Atmungsorgane nehmen ihren Anfang im Kopfe mit der Nasen- und der Mundhöhle, welche beide in den gemeinsamen Raum der Rachenhöhle einmünden. Dadurch, daß die Einatmungsluft durch die engen, mit blutreicher Schleimhaut ausgekleideten Nasengänge streichen muß, wird sie auf etwa 30° C vorgewärmt, mit Flüssigkeit gesättigt und von Staubteilchen befreit: alles das bietet einen wirksamen Schutz für die tieferen Luftwege. Weiterhin folgen in der vorderen Halsgegend das Knorpelgerüst des Kehlkopfs, dessen Hohlraum durch den Kehldeckel gegen das Eindringen von Speiseteilchen oder Flüssigkeit beim Schlucken geschützt ist; ferner die Luftröhre, die sich dann kurz unter dem Eintritt in die Brusthöhle teilt in Luftröhrenäste für die rechte und linke Lunge. Die Luftröhren, Bronchien, verzweigen sich in den Lungen zu immer feineren Luftröhrchen. An deren letzten Enden sitzen dann die halbkugeligen Lungenbläschen auf, dichtgedrängt, wie die Beeren der Trauben an ihrem Stiel. Bei der Ausatmung muß die Lungenluft denselben Weg rückwärts passieren. Außer der Atemtätigkeit dienen die Atmungsorgane aber auch der Stimmbildung beim Sprechen und Singen, die mit Hilfe des Luftstroms der Ausatmung im Kehlkopf stattfindet. Im Innern des nach Art einer Zungenpfeife gebauten Kehlkopfs befindet sich eine spaltförmige, von den straffen Stimmbändern begrenzte Öffnung, die Stimmritze. Sie kann durch den Zug der Kehlkopfmuskeln bis zum völligen Verschluß verengert, aber auch erweitert werden. Völliger Verschluß wird z. B. herbeigeführt durch das Anhalten des Atems (Pressung) bei irgendeiner Höchstanstrengung der Muskeln. Andererseits ist die Stimmritze besonders weit geöffnet bei der ganz kurzen, aber tiefen Einatmung, wie sie sich notwendig macht bei anhaltendem Sprechen oder Singen. Um den Kehlkopf tönen zu machen, werden die Stimmbänder bis auf einen ganz feinen Spalt einander genähert und durch den kräftig ausgestoßenen Strom der Ausatmungsluft in Schwingungen versetzt. Der von der Rachen- und Mundhöhle gebildete Raum dient als Ansatzrohr. Je nachdem dieser Raum durch verschiedene Stellung der Zunge, des weichen Gaumens, des Mundes usw. verschieden gestaltet wird, bildet die tönende Stimme die verschiedenen Vokale. Ferner entstehen dadurch, daß an bestimmten Stellen des Ansatzrohrs, zwischen Lippen, Zähnen, Zunge und Gaumen Verengungen hergestellt werden, durch welche die tönende Stimme hindurchgepreßt wird, oder daß Verschlüsse sich bilden, die durch die Stimme gesprengt werden, Mitgeräusche oder Konsonanten. Zusammen mit den tönenden Vokalen vereinen sie sich zur artikulierten Sprache, dem stolzen Besitz der Menschheit. Das Zustandekommen deutlichen Sprechens bedingt demnach eine genaue Zusammenarbeit der Atembewegungen (die Sprechatmung erfordert langgedehnte Ausatmung nach ganz kurzer tiefster Einatmung, während beim gewöhnlichen Atmen Ein- und Ausatmung fast gleich lang sind), der Bewegungen der Kehlkopfmuskeln und endlich der der Muskeln des Gaumens, der Zunge und der Lippen. Diese verschiedenen Gruppen von Muskeln genau einheitlich zusammenwirken zu lassen, ist eine Kunst, welche das Kind in den ersten Lebensjahren durch stetig wiederholte Versuche erst mühsam erlernen muß. Störungen dieser Zusammenarbeit liegen dem als »Stottern« bekannten Sprachfehler zugrunde. Unvollkommenheiten in der Bildung der Konsonanten, d. h. teilweises Stehenbleiben auf einer niedrigen Stufe der Sprachentwicklung nennt man »Stammeln«.

Die Lungen, von einem häutigen Sack, der als Rippenfell die innere Brustwand, als Brustfell die Lungenoberfläche überzieht, luftdicht umschlossen, ruhen, das Herz zwischen sich haltend, mit ihrer Basis dem kuppelförmig gewölbten Zwerchfell auf, während die Lungenspitzen seitlich am Halse um einige Zentimeter das Schlüsselbein überragen. Wenn durch Muskelzug die Kuppel des Zwerchfells gesenkt wird und ebenso die Rippen sowohl seitlich wie in der Richtung nach oben gehoben werden, so ist das Ergebnis eine Vergrößerung des Brustraums nach allen Dimensionen. Da die Lunge nach dem Brustraum luftdicht abgeschlossen ist, so muß sie infolge des äußeren Luftdrucks dieser Erweiterung des Brustraums einfach folgen: es dringt mehr Luft in die Luftröhren und Lungenbläschen, genau so, wie sie eindringt in das Innere eines Blasebalgs, der auseinandergezogen wird. So erfolgt der Akt der Einatmung durch einen aktiven Vorgang, den Muskelzug. Bei gewöhnlicher Atmung sind es das Zwerchfell und die die Wände des Brustkorbs ringsum umgebenden Zwischenrippenmuskeln, welche als »eigentliche« Atemmuskeln den Brustraum erweitern. Läßt dieser Muskelzug nach, so sinkt die aufgeblähte Lunge infolge der Schwere und Elastizität des Brustkorbs, der Erschlaffung des Zwerchfellmuskels und der Elastizität des Lungengewebes von selbst wieder zusammen. Die gleiche Luftmenge, welche infolge des den Brustraum erweiternden Zuges in die Lungen eingedrungen war, strömt nun wieder aus. Die gewöhnliche Ausatmung ist mithin ein rein passiver Vorgang. Soll die Atmung besonders tief und umfangreich sein, so treten zahlreiche Muskeln am Halse, an Brust und Schultern, die für gewöhnlich Kopf und Arm bewegen, nun aber umgekehrt die Rippen heben, als »Hilfsatemmuskeln« mit in Tätigkeit zur möglichst starken Erweiterung des Brustraums. Ebenso genügt dann zur tiefsten Ausatmung nicht der passive Zug der elastischen Rippen usw., sondern es treten zur Verengerung des Brustraums noch besondere Hilfsmuskeln in Tätigkeit, von denen in erster Linie die Bauchmuskeln zu nennen sind. Die Tätigkeit des bei der Einatmung sich stark abflachenden Zwerchfells, des Hauptatemmuskels, beteiligt zumeist die unteren Lungenabschnitte an der Einatmung. Da die hierdurch nach abwärts gedrängten Baucheingeweide bei jeder Einatmung die Bauchwand vorwölben, so nennt man das Zwerchfellatmen auch »Bauchatmen«. Werden beim Einatmen die Rippen stark seitlich auseinandergedrängt, so spricht man von »Flankenatmen«; werden die oberen Brustteile gehoben und besonders die oberen Lungenabschnitte sowie die Lungenspitzen an der Atmung beteiligt, so nennen wir das »Brustatmen« oder auch »Spitzenatmen«. Die Einschnürung des unteren Brustkorbes durch das Korsett oder den festen Rockbund beim weiblichen Geschlecht entspannt das Zwerchfell und legt diesen mächtigsten Atemmuskel brach. Als freilich nicht vollwertiger Ersatz dafür tritt bei Mädchen und Frauen verstärktes Brustatmen ein.

Die bei gewöhnlichem Atmen, d. h. bei Muskelruhe, ein- und ausgeatmete Luftmenge beträgt für den Erwachsenen 500 ccm = ½ Liter. In der Minute passieren also bei 16 Atemzügen 8 Liter, in der Stunde 480 Liter Luft, in 24 Stunden 11 250 Liter unsere Lungen. Diese Atemmenge wächst stark bei Muskelbewegungen. Man kann willkürlich durch stärkste Einatmung über die gewöhnliche Atemgröße von 500 ccm hinaus etwa noch 3000 ccm mehr ein- und wieder ausatmen. Demnach läßt sich so der ganze Atmungsumfang auf das 7fache vermehren (Fassungskraft der Lunge). Werden dazu noch 2-3 mal soviel Atemzüge in der Zeiteinheit gemacht, so ist nicht zu verwundern, daß man z. B. bei heftigen Leibesübungen wie Wettlauf und Wettrudern die Atemgröße bis auf das 15-20fache anwachsen sieht. Schon bei strammem Wanderschritt oder beim Bergsteigen ist der Atemumfang 5 mal so groß als bei Muskelruhe. So passieren bei einem Wandermarsch oder einer Bergbesteigung in einer Stunde 2400 Liter Luft unsere Lungen gegenüber 480 Liter bei ruhigem Verhalten. Wird eine solche Dauerleistung etwa 5 Stunden hindurch fortgeführt, so werden währenddessen 12 000 Liter Luft durch die Lungen ventiliert, also mehr als sonst während eines ganzen Tages, der müßig verbracht wurde. Auf dieser außerordentlichen Steigerung der Atemtätigkeit beruht zum großen Teil der gesundheitliche Wert von solchen Bewegungen in freier Luft, die wie Marschieren, Spielen, Bergsteigen, Rudern, Schwimmen u. dgl. jedenfalls die wirksamste Art der Lungenübung darstellen.

Die Atembewegungen gehen im steten regelmäßigen Wechsel von Ein- und Ausatmung für gewöhnlich ebenso rein automatisch vor sich wie der Herzschlag, nur mit dem Unterschiede, daß wenigstens der Atemgang sich zeitweise willkürlich beeinflussen läßt. Man kann den Atem willkürlich für einige Zeit beschleunigen, verlangsamen, vertiefen, stoßweise erfolgen lassen, ja ganz vorübergehend auch anhalten. Auf der Möglichkeit dieser willkürlichen Beeinflussung beruht die Atemgymnastik, welche namentlich zur Verbesserung der Mechanik der Atmung, also zur Erzielung stets gleichmäßigen, anhaltenden, ruhigen Atemganges, ihren besonderen Wert besitzt.

Rein selbsttätig erfolgt dagegen die Steigerung der Atemgröße bei Muskelarbeit. Der Umfang dieser Steigerung richtet sich nach dem Mehrbedarf an Sauerstoff; er entspricht vor allem aber der Notwendigkeit, die massenhaft bei umfassender Muskeltätigkeit im Blute auftretende Kohlensäure schnellstens aus dem Körper zu entfernen. Eine bestimmte Stelle in unserem Zentralnervensystem, der Boden der vierten Hirnhöhle im Übergangsteil vom Hirn zum Rückenmark, ist für die Auslösung dieser Vorgänge wichtig. Der französische Physiologe Flourens nannte diese Stelle, deren Zerstörung sofortiges Aufhören der Atmung und damit den Tod zur Folge hat, den »Lebensknoten« ( nœud vital).

Die unwillkürlich erfolgende Auslösung tiefster Atmung nach allen Durchmessern der Lunge hin, wie sie durch solche Bewegungen statthat, welche wie Bergsteigen, Rudern, Laufen usw. die größten Muskelgebiete des Körpers in Anspruch nehmen, ist zweifellos für die gesunde Entwicklung der Lungen von größter Bedeutsamkeit. Denn wir beteiligen für gewöhnlich nur 1/7 unserer Atemfläche an der Atmung, und es werden insbesondere die Lungenspitzen wenig gelüftet und verlieren an Widerstandskraft gegen krankmachende Einflüsse. Die gewaltige Inanspruchnahme aller Abschnitte der Lungen, wie sie bei den genannten Schnelligkeitsbewegungen statthat, gewährt auch den entlegensten Teilen der Atemfläche die nötige Übung und Entwicklung und bewahrt sie vor Verkümmerung. Allerdings können auch hier wie beim Herzen die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des Organs bei heftigen Bewegungen derart wachsen, daß Ermüdungserscheinungen auftreten und das Organ zu versagen droht. So tritt z. B. nach schnellstem Lauf, Rudern, Schwimmen u. dgl. der Zustand der Atemlosigkeit oder der Atemnot ein. Es ist das ein ernstes Warnungszeichen der Natur und bedingt sofortige Unterbrechung der starken Bewegung – worauf denn für gewöhnlich nach Muskelruhe der heftige Sturm sich bald legt und nach einer Reihe von Minuten der Atemgang wieder gleichmäßig sich herstellt. Verhängnisvoller wirkt für die Lungen wie für das Herz der zur Ausnutzung der höchsten Muskelkraft in Szene gesetzte Vorgang der »Pressung«, d. h. das Anhalten des Atems zur Festlegung des Brustkorbs. Wenn im Übermaß vorgenommen, von Leuten z. B., welche stärkste Kraftübungen treiben oder berufsmäßig schwere Lasten bewältigen müssen, so ist die Folge davon Erweiterung der Lungen und Entartung des Herzmuskels. Schon im Altertum wurde häufig auf die frühe Hinfälligkeit der Athleten und Krafthuber hingewiesen.

Im Gegensatz zu den inneren Organen, deren Tätigkeiten sich unwillkürlich vollziehen, stehen die der willkürlichen Bewegung dienenden Organe, von denen die Knochen die bewegten, die Muskeln die bewegenden Teile bilden. Die Knochen, die härtesten und festesten Bestandteile des Körpers, bauen sich in Form von Balken, Sparren, Würfeln und Platten zu einem festen Gerüst, dem Skelett, auf. Das Knochengerüst gibt den Weichteilen Halt und Stütze; es bestimmt wesentlich Höhe und Maß der menschlichen Gestalt; es bildet Höhlen zur Sicherung edler Eingeweide, so für das Hirn, das Rückenmark, die Brust- und die Beckenorgane; es bietet den Muskeln feste Anhaltspunkte und namentlich in den Gliedmaßen bewegliche Hebelarme.

Die Wirbelsäule, aus 24 aufeinandergesetzten Teilstücken, den Wirbeln, bestehend, die von dem Wirbelkanal für das Rückenmark durchzogen sind, bildet die feste und doch auch mannigfach bewegliche Achse des Skeletts. Auf ihrem oberen Ende, den Halswirbeln, thront der knöcherne Schädel, der sich zusammensetzt aus einer eiförmigen Kapsel, dem Gehirnschädel, welche das Gehirn einschließt, und dem Gesichtsschädel. Dieser gibt die Unterlage ab zu mehreren Höhlen für die hervorragendsten Sinnesorgane. An die 12 Brustwirbel setzen sich ebenso viele Rippenpaare an. Die 10 oberen davon, platt und reifenartig gebogen, fügen sich mit dem Brustbein vorne zum Brustkorb zusammen.

An den Rumpf sind die oberen Gliedmaßen mittels des oben offenen Schultergürtels angesetzt. Bestehend aus den Schlüsselbeinen und den beiden Schulterblättern, steht er nur durch das Schlüsselbein-Brustbeingelenk mit dem Rumpf in Verbindung, wodurch seine große Beweglichkeit ermöglicht wird. Der Arm gliedert sich in den Oberarm und den Unterarm mit den parallel gelagerten Knochen Speiche und Elle. Die Elle sichert den Zusammenhang mit dem Oberarm im Ellbogengelenk, an der um ihre Achse drehbaren Speiche hängt die Hand, wodurch diesem Glied, dem vollkommensten Werkzeug der Natur, seine besondere Beweglichkeit und mechanische vielseitige Verwendbarkeit gesichert ist.

Anders liegt die Sache bei den unteren Gliedmaßen, welche den Rumpf zu tragen und fortzubewegen haben. Das Endstück der Wirbelsäule, das Kreuzbein, ist wie der Schlußstein eines Gewölbes fest in den Knochenring des Beckens eingekeilt. Auf den beiden Köpfen der Oberschenkelknochen, der größten und schwersten Knochen des Körpers, balanciert der Rumpf. In der Bildung des Unterschenkels zeigt sich der grundlegende Unterschied gegenüber dem Unterarm mit Hand darin, daß derselbe kräftige Knochen, das Schienbein, sowohl die Verbindung mit dem Oberschenkel wie mit dem Fuße erhält; das dünne Wadenbein ist ihm nur als ein fester Strebepfeiler unbeweglich zur Seite angeheftet. Der Fuß setzt sich in seinen festen Knochenstücken von der kräftigen Hacke bis zu dem Ansatz der Zehen zu einem elastischen Gewölbe zusammen, welches bei Belastung durch das Körpergewicht leicht einsinkt, bei Entlastung zurückfedert, während die Zehen, wie Sprungfedern gekrümmt, die Sicherheit des Stehens und die Leichtigkeit des Abhebens vom Boden beim Schreiten noch erhöhen. So ist der menschliche Fuß in seiner mechanischen Leistungsfähigkeit ein Glied von nicht minder bewunderungswürdigem Bau wie die Hand.

Die Knochensubstanz ist nichts weniger als eine feste, leblose Masse. Sie stellt vielmehr ein Gewebe dar, in welchem sich bestimmte Lebensvorgänge abspielen, und das daher durchzogen ist von Blut- und Saftkanälchen, während in besonderen Hohlräumen der festen Masse, den Knochenkörperchen, lebende Zellen eingeschlossen sind. Die ernährenden Blutgefäße werden dem Knochen zugeführt durch die umschließende Beinhaut. Wo der Knochen von dieser entblößt ist, stirbt er ab und muß als toter Bestandteil (»Sequester«) aus dem Körper entfernt werden. Ist der Knochen gebrochen, so liefert die Beinhaut Elemente, welche eine Kittsubstanz (»Kallus«) bilden, die zunächst die gebrochenen Stücke wieder verlötet. Diese Kittsubstanz wandelt sich dann später in feste Knochenmasse um, die den gebrochenen Knochen wieder zu einem einheitlichen festen Stab gestaltet.

Ausgefüllt sind die Hohlräume im Innern der Knochen mit einer sehr blutreichen, stark fetthaltigen Masse, dem Knochenmark, welches nicht nur eine leichte Füllmasse darstellt (bei den leichtbeschwingten Vögeln tritt Luft an Stelle des Knochenmarkes), sondern auch als Bildungsstätte von neuen roten Blutkörperchen eine wichtige Lebenstätigkeit erfüllt (vgl. o. S. 39).

Bewegt werden die Knochen in ihren verschiedenen Gelenken durch die willkürlichen Muskeln. Sie heißen so im Gegensatz zu den unwillkürlichen Muskeln, welche den vegetativen Körpertätigkeiten dienen und vom Herzen angefangen die Wände namentlich der Schlagaderrohre, ferner Speiseröhre, Magen und Darmrohr, die Ausführungsgänge aller Drüsen, insbesondere auch der Geschlechtsdrüsen usw., umgeben.

Die willkürlichen Muskeln bilden als das rote Fleisch des Körpers dessen Hauptmasse: es entfallen auf sie 35-40 %, also nahezu die Hälfte des gesamten Körpergewichts. Nach dem mikroskopischen Aussehen ihrer feinsten Elemente, der in parallele Bündel vereinigten Muskelfasern, heißen die willkürlichen Muskeln auch die »quergestreiften«. Die unwillkürlichen oder glatten Muskeln besitzen diese Querstreifung nicht, mit Ausnahme des Herzmuskels. Kein anderes Gewebe des Körpers besitzt eine solche Energie des Wachstums. Während das Gesamtgewicht des Körpers von der Geburt bis zur vollendeten Reifung um das 19fache zunimmt, vermehrt sich das Gewicht der Muskulatur um das 32 bis 35fache, ja oft noch stärker.

Schon der Umstand, daß die Muskeln die Hauptmasse des Körper bilden und den größten Teil der ganzen Blutmenge in sich enthalten, läßt darauf schließen, wie eingreifend der Einfluß der in den Muskeln sich abspielenden Vorgänge auf die Gesamtheit der Lebensvorgänge im Körper sein muß. In den Muskeln werden die Spannkräfte unserer Nahrungsstoffe unter Zutritt von Sauerstoffgas, also durch eine Art von Verbrennung, umgesetzt in Arbeit und Wärme. Hier ist also der Wärmequell zu suchen, welcher unserem Gesamtblut einen Wärmegrad von 36,5 bis 37,5° C verleiht. Diese Blutwärme ist beim gesunden Menschen stets die gleiche, mag er am Äquator oder in der Nähe der Pole hausen. Dieselben Verbrennungsvorgänge liefern die lebendige Kraft oder die Arbeit, deren der Körper fähig ist. In der Arbeit des Herzens wie der Atemmuskeln hatten wir oben bereits Arbeitsleistungen aufgeführt, die sich im Laufe von Stunden oder Tagen zu beträchtlichen Summen mechanischer Arbeit anhäufen.

Der Muskel arbeitet, indem er sich mit seinen Fasern verkürzt, und zwar kann er bis um ein Drittel seiner Länge kürzer werden und die Punkte, zwischen denen er ausgespannt ist, so einander nähern. Der verkürzte oder zusammengezogene Muskel wird ferner dicker, fühlt sich fester an und wird, da bei Arbeit eines Muskelgebiets sich dessen Blutgefäße selbsttätig erweitern, von einer um das Mehrfache größeren Blutmenge als bei Muskelruhe durchflossen.

Damit der Muskel vermöge seiner Erregbarkeit sich zusammenziehe, muß ihm eine Erregung, ein »Reiz«, zugehen. Ein solcher Reiz wird dem Muskel zugeführt durch einen Nervenfaden, den Muskelnerven, welcher zuletzt mit dem Muskel verschmilzt: denn alle Muskeln sind schließlich nichts anderes als die Endorgane von Bewegungsnerven. Wir kommen bei der Besprechung der Vorgänge im Nervensystem noch darauf zurück. Beim physiologischen Versuch wird ein solcher natürlicher Reiz ersetzt durch einen künstlichen Reiz. Als am besten zu handhaben, am leichtesten abzustufen und zu messen, benutzt man dazu den elektrischen Strom, und zwar so, daß ein kurzer elektrischer Schlag auf den bloßgelegten Muskelnerven ausgeübt wird. Der so dem Nervenfaden erteilte Impuls läuft mit einer Geschwindigkeit von 33,9 m in der Sekunde den Nerven entlang zum Muskel. Sowie dieser ganz kurze Reizstoß den Muskel erreicht, zieht sich der Muskel einmal heftig zusammen, d. h. er wird kürzer und dicker, und kehrt dann langsam zur früheren Ruhelage wieder zurück. Dieser elementare Vorgang, den wir »Muskelzuckung« nennen, nimmt nur einen ganz geringen Bruchteil einer Sekunde in Anspruch. Soll, was bei weitaus den meisten unserer Körperbewegungen der Fall ist, die Verkürzung des Muskels etwas länger anhalten, so müssen dem Muskel eine ganze Reihe kurzer Reizstöße hintereinander zugeschickt werden: beim Menschen 8-12 in der Sekunde. Die einzelnen Zuckungen verschmelzen dann zu einer einzigen, länger dauernden Zusammenziehung.

Wird ein Muskel sehr oft im Versuch hintereinander gereizt, oder läßt man, was auf dasselbe physiologische Ergebnis hinauskommt, einen umschriebenen Muskelbezirk ein und dieselbe Arbeit sehr oft hintereinander ausführen (z. B. andauerndes Beugen und Strecken des Armes), so werden schließlich die Zusammenziehungen immer träger und immer weniger ausgiebig verlaufen, bis zuletzt der Muskel ganz versagt: er ist »ermüdet«. Im arbeitenden Muskel finden Verbrennungsvorgänge statt, d. h. es werden unter Zutritt von Sauerstoff bestimmte Stoffe der Nahrung zersetzt und dadurch neben Wärme Spannkräfte frei, welche eben zur mechanischen Arbeit verwendet werden. Bei diesen stofflichen kraftgebenden Umsetzungen im Muskel entstehen nun neben Kohlensäure und Wasser auch noch andere Endprodukte, Stoffe, welche lähmend sowohl auf den Muskel wie auch auf den Muskelnerven wirken. Werden diese »Ermüdungsstoffe« – über ihre chemische Natur herrscht noch keine Übereinstimmung – allmählich durch den Blutstrom aus dem übermüdeten Muskel fortgeführt, so ist der Muskel wieder »frisch« und arbeitsfähig. Der starke Blutzufluß zum arbeitenden Muskel durchtränkt bei übermäßiger, ermüdender Inanspruchnahme dessen Gewebe mit Wasser, und dieses dehnt die Muskelhäute. Daher entsteht bei Ermüdung außer jenem vorübergehenden Lähmungszustand auch noch das als »Turnfieber« bekannte Schmerzgefühl. Bei alledem handelt es sich um die Überanstrengung eines umschriebenen, womöglich ganz kleinen Muskelbezirks. Wir nennen die Form der so erzeugten Ermüdungserscheinungen »örtliche« Muskelermüdung.

Anders wenn lange Zeit hindurch sehr große Muskelgebiete zwar andauernd in Anspruch genommen werden, aber doch nur so, daß kein einzelner Muskelbezirk überlastet ist bis zum Auftreten jener örtlichen Ermüdungserscheinungen. In einem solchen Falle – bei einem überlangen Marsch von vielen Stunden, einer anstrengenden Bergbesteigung, einer übertrieben großen Radtour usw. – häufen sich allmählich Ermüdungsstoffe im kreisenden Blute an und bedingen weniger örtliche, als allgemeine schwere Ermüdungserscheinungen: Kraftlosigkeit, Schwere der Glieder, Unlust. In höheren Graden solcher Allgemeinermüdung fühlt man sich »wie zerschlagen«, ist »todmüde«, selbst Fiebererscheinungen stellen sich ein und Schlaflosigkeit trotz allen Ruhebedürfnisses. Am folgenden Tage werden die giftigen Ermüdungsstoffe allmählich ausgeschieden, es stellt sich mit der Erholung neue Frische, ja vermehrte Arbeitsfähigkeit ein.

Denn der Muskel hat das vor allen von Menschenhand gefertigten Maschinen voraus: er nutzt sich nicht ab durch den Gebrauch, sondern er wird um so leistungsfähiger, nimmt zu an Umfang und Kraft, je mehr und je regelmäßiger er zu arbeiten veranlaßt wird. Nicht nur das: der Muskel paßt sich auch der besonderen Art von Arbeit an, die er häufig oder gewohnheitsmäßig zu leisten hat. Wird der Muskel viel in Anspruch genommen zu kurzdauernden Höchstleistungen wie Heben schwerster Gewichte oder Lasten, Bezwingung stärkster Widerstände, so nimmt er außerordentlich an Umfang und Dicke zu und erfährt eine sog. athletische Entwicklung. Die Muskeln werden selbst zu strotzenden Fleischmassen, namentlich um Arme, Brust und Schultern; die ganze Figur wird plump und schwerfällig. Eine gesunde Art der Körperentwicklung ist das aber nicht. Werden häufig möglichst ausgiebige, sei es sprunghaft schnellende oder auch ganz langsame, von größtmöglicher Ausdehnung bis zur größtmöglichen Zusammenziehung führende Bewegungen gemacht, so nimmt der Muskel nur mäßig an Masse zu, erhält dafür aber eine möglichst schlanke Form, im Gegensatz zu den kurzen knolligen Muskeln des Schwerathleten. Bei solchen Leuten endlich, welche häufig größere Dauerleistungen, im Marsch, im Bergsteigen, im Dauerlauf usw., unternehmen, ist, da hier die Arbeit auf viele und zwar die größten Muskeln derart verteilt ist, daß keiner davon eigentliche Höchstleistungen zu bewältigen hat, irgendeine Umfangszunahme der Muskulatur ohne Bedeutung, ja infolge der Gewichtsvermehrung eher hinderlich. Dagegen gewinnt der Muskel beim »Tränieren« auf solche Leistungen die Fähigkeit, mit möglichst sparsamem Stoffumsatz und daher möglichst lange zu arbeiten. Ein Athlet mag mit seinen muskelstrotzenden Armen leichtlich Fangball spielen mit Zentnergewichten – was z. B. ein dünner Schneider beileibe nicht kann. Der Schneider aber kann stunden- und stundenlang nähen und den Faden ausziehen tagaus tagein, während der riesenstarke Schwerathlet das noch keine halbe Stunde aushält, ohne jämmerlich zu ermüden. Wie wesentlich solche Dauerleistungen erleichtert werden durch rhythmische, taktmäßige Ausführung, darauf kommen wir noch in anderem Zusammenhang zurück.

Der Muskel ist eine Art Kraftmaschine, in der, wie wir sahen, durch Verbrennung des Kohlenstoffs der Nahrung ruhende Spannkräfte umgewandelt werden in Wärme und mechanische Arbeit. Es ist damit nicht anders wie mit der Feuerung bei einer Dampfmaschine. Der Umfang der stofflichen Umsetzungen im Muskel läßt sich bestimmen aus der Menge des verbrauchten Sauerstoffs und der ausgeschiedenen Kohlensäure. Da zudem der Brennwert unserer Nahrungsmittel bekannt ist, so läßt sich hieraus der Umfang der inneren Arbeit im Muskel, d. h. sein Energieaufwand, feststellen. Nur ein Teil dieses Energieaufwandes (beim Muskel bis zu 35%, bei der Dampfmaschine meist nicht über 8-12%) tritt als meßbare Arbeit, als »mechanischer Nutzeffekt« zutage. Die Größe der Verbrennungswärme drücken wir aus in Wärmeeinheiten oder Kalorien, denen bestimmte Krafteinheiten entsprechen. Eine Kalorie ist die Wärmemenge, die ausreicht, um 1 kg Wasser um 1° C zu erwärmen; als Krafteinheit dient das Meter-Kilogramm, d. h. die Kraft, welche 1 kg 1 m hoch zu heben vermag. Eine Kalorie entspricht 425 m-kg Arbeit (mechanisches Wärmeäquivalent). Das Verhältnis von innerem Energieaufwand und tatsächlichem Nutzeffekt bei der Arbeit von Muskeln ist nicht immer das gleiche. Am günstigsten werden die Umsetzungen im Muskel ausgenutzt bei gut tränierten Muskeln, während wenig geübte und schlecht entwickelte Muskeln unökonomisch arbeiten. Unvorteilhaft, d. h. mit starkem Stoffumsatz und leicht eintretender Atemnot bei verhältnismäßig geringfügiger Leistung arbeiten die Muskeln dann, wenn es sich um ungewohnte Bewegungen handelt, die zudem auf die einzelnen Muskeln unzweckmäßig verteilt sind und bestimmte Muskelbezirke übermäßig belasten. Die mittlere Leistungsfähigkeit eines gesunden Erwachsenen beträgt etwa 300 000 m-kg in 24 Stunden, was einem inneren Energieaufwand von mindestens dreifacher Höhe – gesteigerte Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe, Unterhaltung der vermehrten Herz- und Lungentätigkeit usw. – entspricht. Bei gut geübten kräftigen Jünglingen und Männern ist die Summe der möglichen Tagesleistung weit höher. Nach Zuntz bedeutet ein Marsch von 45 km in 7½ Stunden – eine mittlere Leistung – eine Summe von 297 915 Meter-Kilogramm wirklicher mechanischer Arbeit. Den gesamten Energieaufwand dabei stellte er auf 902 790 m-kg fest. Ähnliche Messungen und Berechnungen liegen vor für das Radfahren, für Bergsteigen und ähnliche Dauerbewegungen. Diese sowie auch handwerkliche Berufsarbeit, wenn sie in bestimmtem Rhythmus erfolgt, machen die größten Arbeitssummen im Laufe eines Tages möglich. Dagegen gestatten Schnelligkeitsbewegungen, vorab der Lauf, ferner Wettrudern u. dgl., die Erreichung der größten Arbeitssumme in einer kurzen Zeiteinheit. So ist nach Marey ein schnellster Lauf über die Strecke von 450 m in einer Minute gleichbedeutend mit einer mechanischen Arbeitsleistung von 7230 m-kg. Will man eine Kraftübung zum Vergleich heranziehen, so wäre die Arbeitsleistung dieses Einminutenlaufes gleich der, 72 Kilo 100mal in einer Minute einen Meter hochzustemmen – was einfach unmöglich ist.

Alle Bewegungsvorgänge in unserem Körper, seien es die der Skelettmuskulatur, seien es die, welche bei den Organtätigkeiten der Atmung, des Blutkreislaufs, der Verdauung, der Absonderung aus Drüsen usw. stattfinden, stehen unter dem Einfluß des Nervensystems, wenn auch nur ein geringerer Teil dieser Vorgänge bewußt und unter der Herrschaft unseres Willens sich vollzieht. Ferner gibt uns das Nervensystem durch Übermittlung von Sinneseindrücken und Empfindungen sowohl von Vorgängen im Körper wie auch von dem, was sich in dessen Umwelt ereignet, Kunde. Insbesondere werden wir so aufmerksam gemacht auf drohende oder bereits eingetretene Störungen im Ablauf der Lebensvorgänge. Das setzt uns dann in den Stand, Gefährdungen möglichst vorzubeugen oder ihnen entgegenzuwirken und für die Erhaltung des Daseins wichtige Bedürfnisse zu befriedigen. Die edelsten Teile endlich unseres Nervensystems müssen wir als die Werkzeuge unseres Geistes, als den Sitz unseres Denkens, Empfindens und Wollens ansehen, wenn uns auch der Zusammenhang, der zwischen allen geistigen Tätigkeiten und den sie begleitenden stofflichen Umsetzungen im Nervensystem besteht, wohl stets ein unfaßbares Geheimnis bleiben wird.

Zweierlei Formelemente setzen unser Nervensystem zusammen: nämlich Zellen und Fasern; beide in ihrem mikroskopischen Bau wohl die feinst differenzierten Bestandteile unseres Körpers. Die Nervenzellen oder Ganglienzellen sind die eigentlichen Herde des Nervenlebens, während die Nervenfasern oder Nerven schlechtweg lediglich die verknüpfenden Leitungsorgane bilden. Die Ganglienzellen sind in Größe und Gestalt sehr verschieden. In den Zentralorganen haben sie meist eine sternförmige Gestalt, d. h. sie laufen in mehrere oder viele spitze Fortsätze aus, die schließlich in feinste Fasern enden und sich zerteilen, Fasern, welche mit denen benachbarter Ganglienzellen in Beziehung treten und durch eine Art von Kontaktwirkung auf diese einen Einfluß auszuüben vermögen. Einer dieser Fortsätze aber löst sich nicht in feinste Fasern auf, sondern stellt einen Nervenfaden oder Achsenzylinder dar, der weiterhin mit einer feinen Hülle, der Markscheide, sich umgibt, d. h. zu einem eigentlichen Nerven wird, welcher entweder Erregungen von der Ganglienzelle zu den Bewegungsorganen hinaus trägt oder umgekehrt Erregungen der Sinnesorgane oder Empfindungen der Ganglienzelle übermittelt.

Die Nerven sind im Grunde also nichts anders als außerordentlich lange Fortsätze der Ganglienzellen. Dem entspricht auch der Gang ihrer Entwicklung beim werdenden Menschen, während der man die Nervenfaser aus der Ganglienzelle hervorwachsen sieht. Da der Nerv lediglich Leitungsorgan für Erregungen ist, welche zur Ganglienzelle hinführen oder von ihr ausgehen, so hat man ihn mit dem Metalldraht verglichen, welcher z. B. bei einer Telegraphenleitung den Weg für den elektrischen Funken bildet. Dieser bekannte Vergleich trifft indes nur in beschränktem Maße zu. Denn der Nerv ist eine lebendige Faser. In ihm finden Stoffwechselvorgänge mit starkem Sauerstoffverbrauch genau so bei seiner Tätigkeit statt, wie dies bei der Arbeit in allen Körpergeweben der Fall ist. Die Leitung einer Willenserregung oder einer Empfindung den Nerven entlang ist also nicht etwa ein physikalischer Vorgang, wie er im Kupferdraht einer elektrischen Leitung statthat, sondern bedeutet eine Auslösung von Spannkräften im Nerven. Die Schnelligkeit, mit der dieser Vorgang den Nerven entlang läuft, ist deshalb auch nicht zu vergleichen mit der außerordentlichen Schnelligkeit des elektrischen Stromes: denn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit eines Reizes im Nerven ist nicht größer als 33,9 m in der Sekunde.

Die Nervenzellen sind vorzugsweise angehäuft in den Zentralorganen, und zwar in der »grauen« Substanz des Hirns und des Rückenmarks. Außerhalb dieser Zentralorgane finden sich aber auch Nervenzellen in zahlreichen Knotenpunkten des Nervensystems durch den Körper hin verteilt. Insbesondere kommen solche Ganglienknoten vor in dem sog. sympathischen Nervengeflecht, welches zwischen den Eingeweiden liegend wesentlich die unwillkürlichen Bewegungsvorgänge in den Verdauungsorganen, den zugehörigen Drüsen sowie in den Blutgefäßen beherrscht und reguliert.

Die Nervenfasern bilden dagegen die sog. »weiße« Substanz der Zentralorgane und weiterhin, indem sie den ganzen Körper in Form von Strängen und Fäden durchziehen, die »peripheren« Nerven. Je nachdem sie Erregungen zu den Nervenzellen hinleiten und bewußte Empfindungen veranlassen oder aber von den Nervenzellen her Willenserregungen zu den Bewegungsorganen hinführen und in diesen bestimmte Tätigkeiten auslösen, unterscheiden wir ganz allgemein Empfindungs- und Bewegungsnerven. Aus dem Rückenmark treten die Nerven so aus, daß die vorderen Nervenbündel oder die Vorderwurzeln reine Bewegungsnerven, die Hinterwurzeln nur Empfindungsnerven sind. Diese Stränge oder Wurzeln vereinen sich aber alsbald zu größeren Nervenstämmen oder Nervenbündeln, die dann »gemischte Nerven« heißen. In diesen liegen also Bewegungs- und Empfindungsnerven vereint wie die in einem Telegraphenkabel nebeneinander verlaufenden Drähte. Jede einzelne Faser eines solchen Bündels ist auch ebenso isoliert wie jeder der Kupferdrähte eines Kabels. Alle Nervenfasern des Körpers – mit Ausnahme der zu dem sympathischen Geflecht gehörenden – stehen in Beziehung zu den Nervenzellen des Gehirns; entweder direkt (Gehirnnerven) oder durch Vermittlung des Rückenmarkes (Rückenmarksnerven).

Das Gehirn füllt die gesamte Schädelhohle aus als ein beim Europäer im Mittel 1300-1400 Gramm schweres Eingeweide. Das Gehirn der australischen Rasse ist mindestens l00 Gramm leichter; bei dem größten Menschenaffen, dem Gorilla, wiegt das Gehirn nur 4-500, beim Orang-Utan 350-400 Gramm. Beim erwachsenen Menschen kommen größere Unterschiede im Hirngewicht vor, die zwischen 900-2000 Gramm liegen. Bei einem Hirngewicht von weniger als 900 Gramm ist indes stets geistige Minderwertigkeit vorhanden. Solche entsteht z. B. dadurch, daß in früher Jugend das natürliche Wachstum des Gehirns aus Gründen, die nicht immer zutage liegen, eine stärkere Hemmung erfährt (Mikrozephalie).

In der Uranlage bei den niedersten Wirbeltieren zeigt das Gehirn drei Abschnitte: Vorder-, Mittel- und Hinterhirn. Diese sind hier hintereinander gelagert. Beim Menschen ist das Großhirn, der Sitz der Intelligenz, der bewußten Empfindung und Willensanregungen, so überragend entwickelt, daß es weitaus den größten Teil der Hirnmasse ausmacht und vollständig das Hinter- oder Kleinhirn, von oben her gesehen, überdeckt. Das Mittelhirn stellt als »Brücke« den Verbindungsteil dar zwischen Groß- und Kleinhirn.

Am Schädelgrund geht das Gehirn als » verlängertes Mark« (Nachhirn) über in das strangförmige Rückenmark. Das verlängerte Mark ist von besonderer Bedeutsamkeit für das Nervenleben schon dadurch, daß in ihm die meisten Nerven des Kopfes entspringen oder endigen. Es ist ferner die Durchgangsstelle für sämtliche im Rückenmark sich sammelnden Nervenfasern des Körpers (vom Kopf abwärts), mit Ausnahme natürlich der Fasern des selbständigen, sympathischen Nervengeflechts. Dieser Durchgang vollzieht sich so, daß der weitaus größte Teil dieser Fasern im verlängerten Marke sich kreuzt, indem die Nervenfasern, die von der rechten Körperseite kommen oder dorthin gehen, in der linken Großhirnhälfte ausstrahlen, während umgekehrt die Empfindungen und Bewegungen der linken Körperseite beherrscht werden von der rechten Großhirnhälfte. Wird letztere z. B. durch einen plötzlichen Bluterguß aus einer verkalkten und geborstenen Pulsader zerstört oder doch außer Tätigkeit gesetzt (Schlaganfall), so tritt sofort Lähmung und Empfindungslosigkeit auf der linken Körperseite ein, und umgekehrt. Die Scheidung in rechte und linke Großhirnhälfte ist eine vollkommene durch einen tiefen von vorn nach hinten gehenden Spalt. Man nennt diese beiden Hälften des Großhirns auch dessen »Hemisphären«.

Die graue Substanz des Gehirns, welche als hervorragendsten Bestandteil die Nerven- oder Ganglienzellen enthält, überzieht als eine etwa kleinfingerdicke Rindenschicht die Oberfläche des Gehirns. Zahlreiche Windungen und tiefere Furchen, welchen die Rindenschicht folgt, geben der Oberfläche des Gehirns ein bezeichnendes Relief von wulstförmig verschlungenen Erhabenheiten. Das Hirn des Menschen ist besonders reich an solchen Windungen, und dementsprechend ist hier auch die graue Substanz – wenn man sie sich in die Fläche ausgebreitet denkt – überragend mächtig entwickelt. Ganz besonders zahlreich fand man diese Windungen an den Gehirnen geistig sehr hochstehender Männer. Auch um die Höhlen des Gehirns, insbesondere um die beiden großen Seitenhöhlen, sind stärkere Herde von grauer Substanz gelagert (sog. graue Kerne).

Mit unendlicher Mühe hat die neuere Forschung versucht, den Verlauf der zum Rückenmark durch das verlängerte Mark und die sog. Hirnstiele radiär zur Gehirnrinde ausstrahlenden Empfindungs- wie Bewegungsfasern in der weißen Substanz des Gehirns zu verfolgen. Nun gibt es aber hier auch Fasern, welche keine Beziehung zum Rückenmark und damit zu den Bewegungsorganen oder den Sinneszellen des Körpers besitzen, sondern in mehr tangentialer Richtung zu der halbkuglig gekrümmten grauen Hirnrinde lediglich in dieser gelegene Punkte, d. h. Zellen, miteinander verknüpfen. Wir nennen diese Fasern »Assoziationsfasern«. In den Ganglienzellen, welche durch diese Fasern verbunden werden, haben wir den Sitz des höheren geistigen Lebens zu suchen. Es werden dort Sinneseindrücke gewissermaßen aufgespeichert, verglichen mit früheren Eindrücken und dementsprechend gedeutet; es werden weiter auf Grund dessen Entschlüsse gefaßt und deren Ausführung durch den Willen den Bewegungsorganen vermittelt. Man hat gefunden, daß jene radiär zum grauen Hirnmantel ziehenden Fasern, welche entweder Sinneseindrücke zum Hirn oder Bewegungsimpulse zu den Muskeln leiten, schon in der allerersten Kindheit, beim Säugling, fertig entwickelt sind, daß dagegen die verknüpfenden Assoziationsfasern erst im Laufe vieler Monate, mit dem Erwachen der Vorstellungs- und Gedankenbildung, reifen und ihre Markscheide erhalten.

Was nun die graue Substanz betrifft, so hat man hier durch das Tierexperiment sowohl wie durch die Erscheinungen, welche nach krankhaften Störungen in bestimmten Teilen der Großhirnrinde eintreten, zu ermitteln vermocht, daß sich die graue Gehirnrinde zusammensetzt aus umschriebenen Gebieten oder Hirnzentren, welche den funktionellen Sitz bestimmter Hirntätigkeiten vorstellen. So kennt man eine Reihe von »Sinneszentren«, welche die Endstation gewissermaßen für die Leitungen von bestimmten Sinnesorganen her darstellen und die entsprechenden Sinneserregungen mit dem Zentralherd des Bewußtseins verknüpfen. Ebenso kennt man »Bewegungszentren«, von denen aus die Bewegungen in den verschiedenen Körpergegenden hervorgerufen werden. Man kennt ferner »Denk- oder Assoziationszentren«, in welchen die Erregungen mehrerer Sinnesorgane zu höheren Einheiten zusammengefaßt werden. Die Sinneszentren und die geistigen Zentren, sagt Paul Flechsig in seinem berühmten Buche »Gehirn und Seele«, sind untereinander »durch Millionen wohl isolierter, insgesamt Tausende von Kilometern messender Leitungen verbunden ... und aus dieser Mechanik resultiert die Einheitlichkeit der Großhirnleistungen«.

Den Sitz z. B. des Zentrums der Tastempfindungen hat man ermittelt in der oberen Stirn- und der seitlichen Scheitelgegend des Hirns; ziemlich in dem gleichen Gebiet liegen die Zentren für die hauptsächlichsten willkürlichen Bewegungen, und zwar in der Reihenfolge (von vorn nach hinten) Hüfte, Knie, Fuß, Schulter, Ellbogen, Hand. In der Hinterhauptgegend ist der Sitz der wichtigen Sehsphäre. Sie zerfällt in zwei besondere Zentren: in dem einen erfolgt die einfache Wahrnehmung der Gesichtseindrücke, in dem anderen deren Deutung. Bei Zerstörung des ersten Zentrums tritt einfach Blindheit ein; ist dies Zentrum nur auf einer der beiden Hirnseiten zerstört, so erblindet infolge der teilweisen Kreuzung der beiden Sehnerven auf beiden Augen je eine Hälfte des Gesichtsfeldes. Anders liegt die Sache bei dem anderen, dem sog. psycho-optischen Zentrum, welches als Erinnerungsfeld früherer Gesichtswahrnehmungen neue Gesichtseindrücke zu deuten gestattet. Fällt dieses Zentrum aus, so tritt »Seelenblindheit« ein, d. h. die Gegenstände der Umwelt werden zwar gesehen, aber nicht wiedererkannt und gedeutet. In ähnlicher Weise besteht neben der eigentlichen Hörsphäre, wo Geräusche und Klänge zum Bewußtsein kommen, ein sog. »psycho-akustisches« Zentrum, in dem die Erinnerungsbilder der Gehörseindrücke aufbewahrt werden. Bei Ausfall dieses Zentrums tritt »Seelentaubheit« ein, d. h. das Unvermögen, Gehörtes wiederzuerkennen und zu deuten. Es ist so, als ob jemand plötzlich in eine Umgebung versetzt sei, deren Sprachlaute er zwar vernimmt, aber deren Sprache ihm gänzlich fremd ist.

Bekannt ist ferner schon seit längerer Zeit das motorische Sprachzentrum, welches in der Gegend der zweiten linken Hirnwindung seinen Sitz hat. Dabei sei erwähnt, daß ein solches Zentrum zwar auch auf der der Symmetrie entsprechenden Stelle der rechten Hirnseite liegt; indes überwiegt für die meisten willkürlichen Bewegungsvorgänge die linke Hirnhemisphäre. Wir brauchen da nur an die überlegene Kraft und Geschicklichkeit der rechten Hand zu denken, welche auch – infolge der Kreuzung der Nervenleitungen des Rückenmarks – von der linken Hirnseite her ihre Bewegungsanregungen erhält. Zerstörung also dieses »Sprachzentrums« erzeugt Aphasie oder Sprachlosigkeit. Solcher kann zugrunde liegen Verlust der Fähigkeit, sich die zum Sprechen nötigen Bewegungen vorzustellen und demgemäß richtig zu koordinieren. Es kann aber auch dasjenige Zentrum zerstört sein, in welchem die Wortbezeichnungen für Dinge, Personen, Begriffe usw. aufbewahrt werden. Dann ist womöglich die Beherrschung der zum Zustandekommen artikulierter Sprache nötigen Muskeln noch erhalten, aber die Wortbezeichnungen stehen nicht mehr zur Verfügung. Es entsteht »Wortblindheit«, so daß die Worte nicht mehr wiedererkannt werden. Übrigens tritt ein solcher Ausfall von Worterinnerungen teilweise schon als Altersveränderung im Gehirn bei manchen Menschen in die Erscheinung. Ähnlich wie die Fähigkeit verloren gehen kann, die Sprachbewegungen zu koordinieren, kann bei der sog. »Agraphie« durch Zerstörung derjenigen Stellen der Großhirnrinde, wo die zugehörigen Assoziationen ihren Sitz haben, das Unvermögen eintreten, die gehörten Worte und Ziffern niederzuschreiben.

So lassen sich auf einem Modell der Hirnoberfläche alle bisher bekannten Zentren aufzeichnen und umschreiben als die Provinzen gewissermaßen des Reiches unserer Geistestätigkeiten. Wir wissen, daß bei Geistestätigkeiten in den betreffenden Nervenzellen sich Stoffwechselvorgänge abspielen, wobei bestimmte, der Nervenzelle zugeführte Stoffe unter Umsetzung von Spannkräften in lebendige Kraft eine Zersetzung oder Abbau erfahren. Die Steigerung dieser Umsetzungen in den Nervenzellen nennen wir »Erregung«, ihre Herabsetzung »Lähmung«. Man hat sogar in den Nervenzellen bestimmte, unter dem Mikroskop erkennbare Formelemente, die sog. »Tigroidschollen«, bei Ermüdung und Erschöpfung dieser Zellen verschwinden gesehen. Diese Elemente müssen offensichtlich wieder in den Nervenzellen sich ansammeln, wenn die Zelle sich »erholen«,, d. h. zu neuer Tätigkeit geschickt sein soll.

Aber wenn wir auch noch so genau den Sitz und die Art der verschiedenen Vorgänge bei unserer geistigen Tätigkeit ergründen: dem Entscheid der Frage, wie denn unser Fühlen und Denken und wie unser Bewußtsein verknüpft ist mit solchen in letzter Instanz doch rein materiellen Prozessen, sind wir damit um keinen Schritt näher gerückt. Hier ist unserer Einsicht eine, wie es scheint, ewig unübersteigbare Grenze gesetzt.

»Geheimnisvoll am lichten Tag
läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.«

Die Grundlage aller unserer Vorstellungen sind die Sinnesempfindungen. Unsere Zentralorgane erhalten den ersten Anstoß zu ihrer Tätigkeit dadurch, daß ihnen Erregungen zugetragen werden durch die Empfindungs- und Sinnesorgane. Soweit diese Erregungen der Umwelt entstammen, chemische, mechanische oder Wärmeeinwirkungen, Licht- oder Schallwellen den Zentralorganen und damit unserem Bewußtsein übermitteln, müssen in der Außenbedeckung des Körpers besondere Einrichtungen vorhanden sein, nämlich die Sinnesorgane, welche jene äußeren Einwirkungen gewissermaßen auffangen, d. h. von ihnen erregt werden und diese Erregungen als Reize auf die von hier dem Zentralorgan zugehenden Nervenleitungen übertragen.

So befinden sich im oberen Teil der Nasenhöhle die Endorgane der Geruchsnerven. Es sind zwischen den Zellen der Nasenschleimhaut mit feinsten haarförmigen Fortsätzen frei endende sog. Riechzellen, welche die Eigenschaft besitzen, durch gasförmige Stoffe, welche der unsere Nasengänge passierenden Atemluft beigemengt sind, erregt zu werden. Diese besonderen Erregungen oder Reize werden der Riechsphäre der Großhirnrinde zugetragen und dort als Geruchsempfindungen gedeutet. Die Empfindlichkeit der Riechzellen, d. h. des Geruchsorgans, ist außerordentlich fein. Stoffe in der Außenluft werden so erkannt und unterschieden oder, wie wir sagen, gerochen in solch winzigen Mengen, wie sie auch für die feinsten Reaktionen des Chemikers noch bei weitem nicht nachweisbar sind. Millionstel eines Milligramms auf ein Liter Luft verteilt erzeugen bei zahlreichen Stoffen bereits deutlich gesonderte Geruchsempfindungen, und doch sind die Leistungen des Geruchsorgans beim Menschen nur geringfügig gegenüber dem Unterscheidungsvermögen, welches z. B. der Hund besitzt. In ähnlicher Weise werden in offenen, knospenartig gebauten Organen, den Schmeckbechern, die hier frei liegenden Anfänge der Geschmacksnerven durch in Flüssigkeit gelöste Stoffe erregt.

Unser Sehorgan, das Auge, ist gebaut nach Art einer photographischen Dunkelkammer. Alle die von außen kommenden Lichtstrahlen werden durch die Linse – die durch Muskelzug verschieden gewölbt, d. h. auf nahe wie weite Entfernung eingestellt werden kann – vereint und so gebrochen, daß auf dem Augenhintergrund, der Netzhaut, ein kleines, scharfes, umgekehrtes Bildchen der Außenwelt entsteht. Die Netzhaut ist aber nichts anderes als die Ausbreitung des Sehnerven, dessen feinste Fasern in zahllose, dichtgedrängt nebeneinanderliegende Endglieder (Zapfen und Stäbchen) münden. So wie aus verschieden gefärbten Stiftchen sich ein Mosaikbild zusammensetzen läßt, so werden auch alle die feinsten Elemente der Netzhaut, jedes für sich, je nach den unendlich feinen Abstufungen in Helligkeit und Farbe verschieden erregt. Diese ganze ungeheure Summe verschiedener Erregungen wird der Sehsphäre des Gehirns übermittelt und hier gedeutet nach Form, Farbe und Beleuchtung der Gegenstände.

Mit zahllosen Endigungen, den »Haarzellen«, breitet sich auch der Hörnerv im inneren Ohr, und zwar in der Labyrinthschnecke tief im Felsenbein aus. Die von außen an das Trommelfell schlagenden Schallwellen teilen sich durch besondere Einrichtungen dem Labyrinthwasser mit, welches die Endapparate des Hörnerven, das sog. Cortische Organ, umspült. Die hier den Schneckenwindungen des Labyrinths folgende Grundmembran besteht aus Fasern, welche an Länge von innen nach außen stetig zunehmen und gewissermaßen auf eine große Skala von Tönen (10½-11½ Oktaven umfassend) abgestimmt sind. Beim Anschlagen einer Tonwelle an das Hörorgan werden immer nur diejenigen feinen Fasern in Mitschwingung geraten, welche in ihren Längenverhältnissen denen des Grundtons der Tonwelle mit ihren zugehörigen, die Klangfarbe bildenden Ober- und Untertönen entsprechen. Diese isolierten Schwingungen übertragen sich den zugehörigen Hörzellen des Hörnervs als Erregungen, welche, der Hörsphäre des Großhirns übermittelt, den Ton oder das Geräusch nach Höhe und Tiefe, nach der besonderen Klangfarbe und nach der Stärke zur Wahrnehmung und Empfindung bringen.

Verhältnismäßig einfacher in ihrem Bau sind diejenigen Anfänge von Empfindungsnerven in der Haut, welche, wie die Tastkörperchen, mechanische Eindrücke oder als Temperaturnerven die verschiedenen Wärmeverhältnisse der umgebenden Luft oder eines anderen mit dem Körper in Berührung gebrachten Gegenstandes dem Bewußtsein übermitteln. Die Feinheit auch dieser Sinnesempfindungen ist außerordentlich. Durch Betasten eines Körpers erhalten wir genaueste Auskunft über seine Oberflächenverhältnisse, ob er rauh oder glatt, feucht oder trocken, hart und spröde oder weich und nachgiebig usw. ist. So kann der Tastsinn, welcher am feinsten in den Fingerkuppen entwickelt ist, beim Erblindeten nach mancher Hinsicht die mangelnde Sehtätigkeit in überraschender Weise ersetzen. Andere Empfindungsnerven im Innern des Körpers geben uns als » Muskelsinn« über die Stellung der Gelenke, die Belastung der Muskeln usw. wichtige Auskunft; andere vermitteln das Gefühl des vorhandenen Gleichgewichts des Körpers bei den verschiedenen Haltungen und Bewegungen; noch andere wecken in uns Gemeingefühle, welche als Gefühl des Wohlbehagens und der Kraft zu den Lust-, als Gefühl der Schwäche, Kraftlosigkeit usw. zu den Unlustgefühlen rechnen. Heftigere Reizungen dieser Nerven durch mechanische Einwirkungen oder durch Erkrankungszustände äußern sich für unser Bewußtsein als Schmerzgefühle.

Soll nun eine Sinnesempfindung den Anstoß geben zu einer willkürlichen Muskelbewegung – z. B. Geben eines verabredeten Zeichens auf einen Schall-, Licht- oder Tasteindruck –, so verläuft zwischen dem veranlassenden Sinneseindruck und der Bewegung eine gewisse meßbare Zeit: die Reaktionszeit. Nehmen wir z. B. an, es werde jemandem, der auf einem Stuhle sitzt, ohne daß er es sieht, ein zugespitzter Stab gegen die Kniegegend des rechten Beines gebracht, und er solle, sobald er dies fühle, durch eine energische Streckbewegung des Schenkels den schmerzmachenden Stab wegtreten. Zerlegen wir diesen Vorgang in seine einzelnen Geschehnisse, so wären diese folgende: Erregung der Gefühlsnerven an der berührten Hautstelle des Knies, Leitung dieser Erregung durch die Empfindungsnervenbahn hinauf zum Gehirn, wo sie ins Bewußtsein eintritt und durch die Aufmerksamkeit erfaßt wird; Entschluß zur Bewegung des Unterschenkels; Übertragung dieses Entschlusses durch Vermittlung der früher erwähnten Assoziationsbahn der Hirnrinde auf das willkürliche Bewegungszentrum für den Schenkel; Leitung des Willensimpulses als Reiz die Bewegungsbahn hinab durch das Rückenmark zu den zugehörigen Muskelnerven; Erregung und Zusammenziehung des Muskels. Es ist also ein beträchtlicher Weg, welcher hier in Frage kommt. Er setzt sich zusammen aus einer Kette von Teilstücken, deren jedes besteht aus einer Nerven- oder Ganglienzelle und einem von dieser ausgehenden Nervenfaden, der sich schließlich in feine Faserverzweigungen, das »Endbäumchen«, auflöst. Wir nennen ein solches Teilstück » Neuron« und stellen uns vor, daß alle die zahllosen Leitungsbahnen unseres Nervensystems aus Ketten solcher Neurone sich zusammensetzen. In dem gedachten Beispiel wird das erste – oder »periphere« – Neuron sich zusammensetzen aus den in der Haut des Knies beginnenden Empfindungsnerven und einer sensorischen Ganglienzelle im unteren Abschnitt des Rückenmarks. Von dieser Ganglienzelle werden dann weitere in der Empfindungsbahn bis zum Hirn sich erstreckende Neurone beeinflußt. In gleicher Weise geht vom Hirn die motorische Bahn, welche den Bewegungsreiz zum Muskel leitet, zunächst das Rückenmark abwärts. Im unteren Abschnitt des Rückenmarks – wo die Beinnerven entspringen – beginnt dann mit einer Bewegungsganglienzelle das letzte periphere Neuron mit dem Bewegungsnerven, der zum Streckmuskel des Schenkels führt. Das Endbäumchen dieses Nerven endet im Muskel, mit diesem gewissermaßen verschmelzend, so daß der Nervenreiz unmittelbar sich dem Muskel mitteilt und ihn zur Zusammenziehung veranlaßt.

Diese ganzen Vorgänge nun, welche bei jeder Willkürhandlung sich abspielen, können teils hemmend, teils fördernd beeinflußt werden. Sie verlaufen langsamer und träger bei Ermüdung, nach Einwirkung lähmender Stoffe (Alkohol, Opium usw.), beim Vorhandensein hemmender Unlustgefühle wie Furcht, Widerwillen, Unbehagen u. dgl. sowie dann, wenn die gewollten Bewegungen verwickelter Art sind und erst mühsam zurechtgelegt oder koordiniert werden müssen. Umgekehrt wird die Reaktionszeit verkürzt, und die Bewegungen verlaufen prompt bei Vorhandensein von Lustgefühlen wie Freude, Wetteifer u. dgl., ferner bei gespannter Aufmerksamkeit sowie dann, wenn die Bewegungen oft ausgeführt, also gut geübt und ganz geläufig sind.

Den Willkürhandlungen stehen gegenüber die unwillkürlich erfolgenden. Diese scheiden sich in automatische Vorgänge, welche andauernd tätig sind, und Reflexvorgänge, welche nur auf einen bestimmten Reiz hin sich auslösen. Als automatische selbsttätig sich regulierende Vorgänge haben wir kennen gelernt die Arbeit des Herzens und den Gang der Atmung. Dieser rhythmischen Automatie gesellt sich hinzu die tonische, nämlich dauernde Spannung (Tonus) der willkürlichen Muskeln, wie sie namentlich nötig ist in den haltenden und tragenden Muskeln des Beckens, des Rumpfes und des Halses, um den Körper auch bei anscheinendem Ruhezustand (im Sitzen, Stehen, Gehen usw.) aufrecht zu halten und vor dem Zusammensinken zu bewahren. Nur tiefer Schlaf hebt diese Spannung und löst die Glieder.

Unter » Reflex« verstehen wir Bewegungen oft umfangreicher und zweckmäßiger Art, welche selbsttätig, ohne Inanspruchnahme unseres Willens, d. h. ohne Leitung durch die zum Großhirn führenden Bahnen mittels Erregung eines Sinnesnerven hervorgerufen werden. Kehren wir noch einmal zu dem vorhin bei Erläuterung einer Willkürhandlung gegebenen Beispiel zurück. Wenn wir die Versuchsperson, bei der wir die Reaktionszeit feststellten, veranlassen, das rechte Bein über das linke zu legen und nun etwa mit dem Rücken eines Buches in dieselbe Gegend am Knie, unterhalb der Kniescheibe, einen leichten Schlag ausführen, so macht ganz unwillkürlich, auch gegen den Willen des Betreffenden, der Unterschenkel eine kleine Bewegung nach aufwärts, veranlaßt durch Zusammenziehung desselben Muskels, der bei dem vorhin angestellten Versuch die willkürliche Bewegung machte. Dieser »Kniesehnenreflex« kommt dadurch zustande, daß der Empfindungsnerv dieser Hautstelle zu einem peripheren Neuron gehört, dessen Nervenzelle im unteren Abschnitt des Rückenmarkes gelegen ist, da wo die Wurzel des Empfindungsnerven in das Rückenmark eintritt. In derselben Höhe des Rückenmarks beginnt aber auch, und zwar nach vorn gelegen, das letzte periphere Neuron für den Schenkelmuskel. Es besteht nun zwischen den Verästelungen der sensorischen (Empfindungs-) Zelle und denen der motorischen (Bewegungs-) Zelle quer durch das Rückenmark eine Verbindung, der sog. »Reflexbogen«. Mittels dieser Verbindung kann die Erregung des Empfindungsnerven sich im Rückenmark direkt übertragen auf das letzte periphere Neuron und damit auf den Bewegungsnerven des Schenkelmuskels unter Ausschaltung des ganzen langen Weges zum Hirn hinauf und wieder hinab, der bei der bewußten willkürlichen Bewegung eingeschlagen werden mußte. Auf diese Weise kommen alle Reflexe durch direkte Übertragung von Erregungen der Sinnesbahnen auf die Bewegungsbahnen zustande, und zwar im Rückenmark sowohl wie im verlängerten Mark und im Mittelhirn.

Ein einfacher Reflex ist es z. B., wenn bei starkem Lichtreiz sich unwillkürlich der Schließmuskel der Regenbogenhaut des Auges zusammenzieht und durch Verengerung der Pupille die Netzhaut am Augenhintergrunde stärker beschattet. Als einen umfangreichen wohlgeordneten Reflex, der instinktmäßig in die Erscheinung tritt, haben wir die Saugbewegung des Neugeborenen zu betrachten. Weitere Beispiele wohlgeordneter zweckmäßiger Reflexe sind: die Schlingbewegung, welche den Bissen vom Schlundkopf die Speiseröhre hinab befördert; die Speichelabsonderung beim Kauen; das Husten oder Niesen zur Entfernung von Schleim oder eingedrungenen Fremdkörpern aus den oberen Luftwegen und der Nase; der Brechakt; die Schweißabsonderung bei starker Außenwärme und umgekehrt die Verengerung der Blutgefäße der Haut bei Kälte zur Vermeidung starken Wärmeverlusts usw. Auch bestimmte Vorstellungen und Gemütsbewegungen können selbsttätige Reflexe hervorrufen: so die Schamröte, das Lachen, das Weinen. Wenn wir auch das Lachen als »befreiend«, das Weinen als »erleichternd« bezeichnen, so ist hier doch ein unmittelbarer Zweck wie bei den obengenannten Reflexen kaum ersichtlich. Auf dem Wege wohlgeordneter und instinktmäßiger Reflexe erfolgende Bewegungen spielen bei den Tieren eine um so größere Rolle in deren Dasein, je niedriger ihre Intelligenz ist.

Willkürliche Bewegungen, welche gewohnheitsmäßig sehr oft in gleicher Weise vorgenommen werden, können schließlich derart unseren Bewegungszentren geläufig werden, daß sie sich so gut wie von selbst vollziehen und zu sog. halbautomatischen Bewegungen werden. So bedarf es z. B. zum Gehen auf ebener Straße nur einer geringfügigen Willensanregung: das Gehen vollzieht sich so gut wie automatisch. Das hat den Vorzug, daß unsere Großhirnrinde stark entlastet wird: ich kann gehend frei nachdenken oder im Gespräch alle möglichen Probleme erörtern. Nur dann, wenn der Weg uneben und holprig oder durch Steine oder durch Wasserlachen unterbrochen ist, wenn eine schmerzende Stelle am Fuße oder Bein mich zu vorsichtiger Gangart zwingt und dgl., muß die Aufmerksamkeit fortwährend auf die Gehbewegungen gerichtet sein, und es ist mit der wohltuenden Entlastung des Geistes vorbei.

Auch handwerksmäßige Bewegungen werden leicht halbautomatisch, namentlich dann, wenn sie in bestimmtem Rhythmus ausgeführt werden. Je mehr dabei der Rhythmus in den Vordergrund tritt, um so weniger wirken solche Bewegungen ermüdend. Die Automatie bei allen solchen Bewegungen und die geringere Ermüdbarkeit der Nervenbahnen tritt namentlich dann zutage, wenn rhythmische Gehörseindrücke den Arbeitsrhythmus begleiten. Die Marschmusik erleichtert den Marsch, so daß die Beine »von selbst fliegen«; fast rein automatisch vollziehen sich die Rundtänze nach den Klängen des Orchesters. Aus den ältesten Zeiten kennen wir Arbeitsliedchen, welche zur Arbeit gesungen diese erleichterten und so der vorzeitigen Ermüdung vorbeugten. Diesen Zusammenhang hat der Leipziger Nationalökonom K. Bücher in seinem bekannten Buche: »Arbeit und Rhythmus« behandelt.

Um den Stoffverbrauch bei unserem Empfindungs- und Vorstellungsleben wie bei unseren willkürlichen Bewegungen im Nerven- und Muskelsystem zu ersetzen, d. h. diesen Organen Erholung zu verschaffen und sie immer wieder »frisch« zu erneuter Arbeit zu machen, dient der Schlaf. Es ist insbesondere die allmähliche Häufung von Ermüdungsstoffen, welche alltäglich im Schlafe die Tätigkeit der Großhirnrinde ganz einstellen macht. Im Schlafe fehlt sowohl die Empfindung für die Vorgänge in der Außenwelt – soweit nicht außergewöhnliche Erregungen der Sinnesnerven den Schlafenden erwecken – als auch willkürliche Bewegung und geistige Tätigkeit. Nur beim Übergang vom Wachen zum Schlaf oder vom Schlaf zum Wachen äußert sich in mehr oder weniger verschwommenen, oft phantastischen Traumbildern eine Art geistigen Empfindens und Schaffens. Der tiefe Schlaf ist traumlos, der Mensch gleicht dabei einem Wesen, dem man beide Halbkugeln des Großhirns entfernt hat. Dagegen nehmen auch im tiefsten Schlafe zahlreiche Lebenstätigkeiten ihren Fortgang. Regelmäßig geht der Atem, geht der Herzschlag; es arbeiten die Verdauungsorgane und die verschiedenen Drüsen; bei überwarmer Bedeckung erweitern sich die Hautblutgefäße, und es wird Schweiß abgesondert. Selbst leichte Körperbewegungen, meist zweckmäßiger Art, werden bei unbequemer Lage, bei Reizung einer Hautstelle u. dgl. instinktmäßig ausgeführt, ohne daß dies dem Schlafenden zum Bewußtsein kommt. In den seltenen Fällen des Nachtwandelns sehen wir sogar wohlgeordnete Bewegungen mit vollkommener Gleichgewichtserhaltung sich vollziehen. Alle diese automatischen und Reflexvorgänge, instinktmäßige Bewegungen, die zweckmäßig ausgeführt werden, ohne daß das Bewußtsein des Zweckes vorhanden ist, und die in den sog. halbautomatischen Bewegungen einen Übergang finden zu den reinen Willkürhandlungen, stehen unter Nerveneinfluß. Und zwar sind es besondere Abschnitte des Zentralnervensystems, von denen sie ausgehen: nämlich vom Mittelhirn, vom Kleinhirn, vom verlängerten Mark und vom Rückenmark. Dazu gesellt sich dann noch die von unserem Bewußtsein unabhängige Selbsttätigkeit des sympathischen Nervengeflechts.

Das Gesamtleben des Körpers setzt sich zusammen aus einer ungeheuren Summe von Einzeltätigkeiten in den zahllosen Zellen unseres Körpers. Ununterbrochen muß sich in jeder Zelle der Fortgang ihrer besonderen Lebenstätigkeit vollziehen und muß ihr Bedarf gedeckt werden durch die entsprechenden großen Organtätigkeiten, welchen die Versorgung des Gesamtkörpers obliegt. Nicht alle Zellen des Körpers sind hier gleichwertig, nicht alle gleich empfindlich für Störungen ihrer Tätigkeit. Ich kann z. B. einen Arm während einer Operation durch Umschnüren am Oberarm immerhin eine geraume Spanne Zeit gänzlich blutleer halten. Sowie nachher dem Blutstrom wieder der Zutritt zu dem abgeschnürten Gliede gewährt ist, beleben sich von neuem die Zellen seiner Muskeln, Sehnen, seiner Haut usw. Dagegen braucht nur ein kleines Blutgerinnsel, etwa von einer erkrankten Stelle der Herzwand her, in den Blutstrom und mit diesem in einen Schlagaderstrom des Gehirns zu geraten, den es wie ein Pfropf verschließt, so daß plötzlich ein größerer Hirnabschnitt von der Blutzufuhr abgeschnitten ist – augenblicklich erlischt damit das Gesamtleben, und wie vom Blitz niedergeschlagen stürzt der Mensch leblos zu Boden.

So mannigfach die Tätigkeiten der verschiedenen Körpergewebe sind, so mannigfach sind auch die Störungen, welche teilweises oder gänzliches Versagen dieser Tätigkeiten herbeiführen. Nicht schutzlos steht der Körper dem gegenüber. Im Gegenteil bedeutet das, was wir Kranksein nennen, in letztem Grunde einen Kampf der Gewebszellen um ihren Fortbestand, d. h. um die Möglichkeit, ihre für das Gesamtleben wichtige Tätigkeit in ausreichendem Maße wieder zu erfüllen. Der Körper verfügt auch über Bildungsmaterial, welches in diesem Kampfe zugrunde gegangenes Zellenmaterial wieder neu ersetzt. Genesung ist gleichbedeutend mit dem Siege der Zellen in solchem Kampfe. Zahllose Ursachen können solche Funktionsstörungen veranlassen. Es sei hier nur auf solche hingewiesen, bei denen mit der Atemluft, mit der Nahrung, dem Trinkwasser oder durch eine Einfallpforte, die sich infolge einer kleinen Verletzung der äußeren Bedeckung oder der die Körperhöhlen umkleidenden Schleimhäute bildet, Zellgifte in unseren Körper eindringen, welche dieses oder jenes Organ in seiner Lebenstätigkeit bedrohen. Es kann sich da um fertige Giftstoffe handeln; es kann sich vor allem handeln um gärungserregende Fermente oder um schnell wachsende kleinste Organismen, Bakterien und Kokken, welche dann erst innerhalb des Körpers bestimmte Giftstoffe erzeugen. Im letztgenannten Falle sprechen wir von Infektionskrankheiten.

Zwei Wege haben wir hier einzuschlagen zur Erhaltung unseres Daseins. Der eine Weg ist der, allen möglichen Schädigungen der Gesundheit so weit nur angängig aus dem Wege zu gehen durch eine besonnene geregelte Lebensführung. Nur darf solche nicht ausarten in allzu ängstliche Behutsamkeit, Zagheit oder gar bedenkliche Verweichlichung. Denn dadurch wird schließlich die Daseinsfreude verkümmert und jede frische Unternehmungslust gelähmt.

Von mindestens gleicher Wichtigkeit ist der zweite Weg – der die gebotene Vorsicht in der Lebensführung ja nicht ausschließt –: nämlich die Übung und Regung der Leibeskräfte derart, daß der Körper die größtmögliche Lebensfülle und Widerstandskraft gewinnt und zu einem nie versagenden, stets sprungbereiten, ebenso ausdauernden wie schnellkräftigen Werkzeug des Willens wird. Das damit erworbene Gefühl der Leistungsfähigkeit und Sicherheit in allen Lagen wirkt auch belebend zurück auf das geistige Wesen, weckt Schaffensfreude und Daseinslust. Es handelt sich hier vorab um geeignete Leibesübungen von früher Jugend an. Solche Übung ist für beide Geschlechter gleich notwendig, um den Körper in allen seinen Teilen zu derjenigen gesunden und vollen Ausbildung zu bringen, welche in seiner Anlage vorgesehen war. Richtig geleitete Turnübungen erziehen zunächst zu guter Körperhaltung und vor allem auch zu Anstelligkeit, Gewandtheit und Geschicklichkeit. Reichliche schnelle Bewegung in freier Luft durch Spiel und sportliche Übungen tragen zur Ausbildung der lebenswichtigsten Organe, nämlich des Herzens und der Lunge wesentlich bei, so daß sie zur vollen Höhe ihrer Entwicklung, Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft gelangen. Dafür sind die Jahre der beginnenden Reifung bis hin zur Vollendung des Wachstums von entscheidender Wichtigkeit. Denn in dieser Lebenszeit vermehren sich die Lungen in ihrem Gesamtmaße etwa um zwei Drittel, das Herz, wie oben (S. 29) bereits erwähnt, um fast das Doppelte. Neben das Turnen und das Spiel, welches selbstverständlich für die weibliche Jugend einen etwas anderen Charakter tragen muß als für die männliche, treten noch Wanderungen. Zunächst in die engere Heimat, die der Jugend in ihrer Eigenart, in ihrer Schönheit, in ihren geschichtlichen Erinnerungen usw. bis in die kleinsten Winkel vertraut sein sollte. Dazu kommen gelegentliche größere Wanderfahrten in unsere Mittelgebirge oder gar in die Alpen. Ebenso sind das Schwimmen, das Rudern auf Fluß oder See, die winterlichen Übungen des Eis- und Schneeschuhlaufs u. dgl. von großer Bedeutsamkeit für die Entwicklung eines lebensfrischen, muterfüllten und daseinsfreudigen Wesens. Allerdings sind Übertreibungen und Überanstrengungen zu vermeiden; der Betrieb stählender Übung soll sich stets den Charakter erfrischender Erholung wahren und nicht ausarten zu einem Sport, der die Kräfte verbraucht, alles Denken in Anspruch nimmt und die geistige Arbeit beeinträchtigt.

Alledem hat sich zur Gewinnung rechter Widerstandskraft und Abhärtung eine geregelte Hautpflege zuzugesellen, die sich übrigens auch in der Übung des Schwimmens, im Wandern gegen Wind und Wetter wie im Wintersport zu erproben hat.

Wir haben im Weltkrieg gesehen, welche Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit der wehrhaften Jugend gestellt werden müssen und ohne Bedenken auch gestellt werden können. Natürlich werden sie um so eher ohne jede Schädigung erfüllt, je mehr der Körper vorgeübt, widerstandsfähig und abgehärtet ist. So wird der Erwerb dieser Eigenschaften zur hohen Pflicht des jungen Mannes, damit er in der Stunde der Gefahr vollwertig seinem Vaterlande dastehe zur kraftvollen Wehr.

Es versteht sich von selbst, daß eine arbeitsfrohe Jugend auch zu ihrer vollen körperlichen Entwicklung einer auskömmlichen rechten Ernährung bedarf. Wir sind längst von der Ansicht zurückgekommen, daß der Betrieb von Sport eine überreichliche Zufuhr von Fleischnahrung verlange. Anderseits kann man die Forderung rein vegetarischer Kost und die Verdammung jeglichen Fleischgenusses auch dann für eine ungerechtfertigte Schrulle halten, wenn man gern zugibt, daß einer seinen Nahrungsbedarf ganz gut auch aus ausschließlicher Pflanzenkost zu decken vermag, vorausgesetzt, daß diese entsprechend ausgewählt und hergerichtet ist. Allerdings ist die Milch, welche doch von Natur dem Säugling zur Nahrung bestimmt ist, schließlich doch auch animalische Nahrung, ebensogut wie es die Eier sind, welche Vegetarier nicht gerade von der strengsten Observanz gleichfalls nicht verschmähen. Eine einfache gemischte sog. Hausmannskost, in ausreichender, aber nicht übermäßiger Menge auf drei Zeiten am Tage verteilt, ist unter allen Umständen weit zuträglicher als ein Übermaß verschiedener Gerichte, wie es namentlich in Gasthäusern üblich ist.

Ein Maßhalten zum mindesten empfiehlt sich auch den sog. Genußmitteln, vor allem dem Alkohol und dem Tabak gegenüber. Die Verheerungen, welche der übermäßige Genuß alkoholischer Getränke in unserem Volke anrichtet, sind bekannt genug. Ein großer Bruchteil aller Verbrechen wird im Alkoholrausch begangen; Erkrankungen innerer Organe, vorab der Halsorgane, des Magens und der Leber, Zerrüttung des Nervensystems, Abnahme der geistigen und sittlichen Energie stellen sich früher oder später beim Gewohnheitstrinker ein. Bei der Nachkommenschaft von Trinkern zeigt sich nicht nur häufig schwere Beeinträchtigung der körperlichen Entwicklung, sondern auch geistige Entartung und Schwachsinn. Ob darum ein mäßiger gelegentlicher Genuß alkoholischer Getränke als Würze fröhlicher Geselligkeit nach getaner Arbeit unbedingt zu verwerfen sei, mag man mit Fug bestreiten. Stetig Maß zu halten erfordert ebensowohl Charakterstärke wie gänzliche Enthaltsamkeit. Daß aber für die heranwachsende Jugend Alkohol in jeder Form am besten ganz zu vermeiden ist, steht außer Zweifel. Insbesondere hat auf unseren höheren Lehranstalten wie in der Studentenzeit das massenhafte Verschlingen von Bier schon manche jugendliche frische Tatkraft vernichtet. Über die verderblichen Folgen unvernünftigen Biergenusses für den Herzmuskel ist oben bereits gesprochen. Was den Tabak betrifft, so enthält dieser im Nikotin ein giftiges Alkaloid. Gemeinhin pflegt es bei den ersten Rauchversuchen seine Giftigkeit in drastischer Weise zu offenbaren: bei gewohnheitsmäßigem Genuß tritt dann allerdings eine Art Gewöhnung ein. Das hindert indes nicht, daß Gewohnheitsraucher häufig Schädigungen durch den Tabak erfahren: namentlich Herzklopfen, Schwindelgefühl und Schlaflosigkeit, in seltenen Fällen auch Schwächung der Sehkraft. Dazu kommt die Verschlechterung der Atemluft durch den Tabakrauch. Es ist daher wohl zu begrüßen, daß neuerdings die Zahl der Nichtraucher bei unserer Jugend in steter Zunahme begriffen ist.

Auch der sorgsamst gepflegte Körper erliegt schließlich der Zeit und altert. Von der erlangten Lebensfülle in körperlicher wie geistiger Hinsicht überträgt sich ein gutes Teil auf die Nachkommenschaft, wie wir oben gesehen haben (S. 26). In dieser leben wir gleichsam fort, gegen sie haben wir Pflichten zu erfüllen. So haben wir denn auch die Vorgänge, welche zur Fortpflanzung des Menschen dienen, mit Ehrfurcht, aber auch ohne Scheu zu betrachten. Ihre Bedeutung für das gesamte Gefühlsleben des Menschen äußert sich in der veränderten Richtung, welche dieses mit Abschluß der Reifezeit nimmt. Hier öffnet sich dem jugendlichen Gefühlsleben eine Quelle bester und edelster Empfindungen – die allerdings auch ausarten können zu Leidenschaft und führen können zum Verderben. Darum ist es eine sittliche Pflicht, diese Gefühle so zu beherrschen und zu zügeln, daß sie nicht das ganze Seelenleben in Beschlag nehmen und ausarten in ein Tun, welches den Jüngling seiner Selbstachtung berauben muß und sein heiligstes Empfinden besudelt. Verheerend wirkt oft im Kreise junger Leute ein unwürdiger räudiger Verführer, indem er harmlose Gemüter einweiht in schmutzige Laster. Leider fehlt es nicht an einer Schandliteratur, welche nur zu geeignet ist, den der Verirrung und insbesondere der Selbstbefleckung anheimgefallenen jungen Mann zur Verzweiflung zu bringen, indem ihm Zerrüttung seiner körperlichen und seelischen Kräfte als unabwendbare Folge seines Lasters vorgespiegelt wird. Und doch liegt hierzu kein Grund vor, solange ein mannhaftes Aufraffen möglich ist.

Es ist auch eine verhängnisvolle Vorstellung, die leider in vielen Köpfen spukt, als ob geschlechtliche Enthaltsamkeit das Gleichgewicht in den Körpertätigkeiten zerstöre, so daß Befriedigung des Geschlechtstriebes schon in jüngeren Jahren einfach ein natürliches Bedürfnis sei. Nichts ist unrichtiger, als damit Verirrungen und Verfehlungen entschuldigen, ja als berechtigt hinstellen zu wollen. Ebensowenig darf es zur Beschönigung dienen, daß die Mehrzahl der sittlichen Ausschweifungen begangen wird, wenn überreichlicher Alkoholgenuß die Willenskraft verminderte und das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit verdunkelte. Mag man mehr oder weniger streng darüber urteilen, daß die Mehrzahl unserer jungen Leute bei fröhlichem Beisammensein den Becherklang nicht missen will – jedenfalls hoffen wir, daß unsere akademische Jugend mit überkommenen Trinkunsitten gründlich aufräumen wird. Unter allen Umständen soll aber ein jeder die Grenzen genau kennen, die er auch in froher und angeregter Gesellschaft nicht überschreiten darf, wenn anders er die Herrschaft über sich nicht verlieren und unter Außerachtsetzen seiner Grundsätze Handlungen begehen will, die, ist der Rausch verflogen, nur den schalen Bodensatz bitterer Reue hinterlassen. Nicht weniger als drei Viertel aller Geschlechtskrankheiten werden – so melden wenigstens viele Erhebungen! – im Rausch erworben. Es muß dem jungen Mann ein heiliger Grundsatz werden, daß die Reinheit, welche er von seiner künftigen Lebensgefährtin verlangt, auch von ihm selbst zu fordern ist. Vor allem wahre er sich den gesunden Abscheu und Ekel gegen erkaufte Freuden und bezahlte Liebkosungen. Denn hier ist der Boden, auf welchem alle jene ekelhaften Geschlechtskrankheiten wuchern, Krankheiten, deren Spuren sich oft erst nach Jahren verwischen, manchmal das ganze spätere Dasein vergiften, unschuldige Frauen verderben und spätere Nachkommen belasten. Leicht begreiflich, daß mancher junge Mann, der in schwacher Stunde sich eine solche ansteckende Krankheit zugezogen hat, infolge von Reue und Scham zögert, sofort ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und doch wird unsägliches Unheil dadurch erzeugt, daß Geschlechtskranke die im Beginn oft unschwer zu beseitigende Erkrankung verschleppen, oder lieber – was unter Umständen noch schlimmer ist – sich einem unwissenden Kurpfuscher anvertrauen. Die schweren, oft spät erst hereinbrechenden Erscheinungen einer tertiären Syphilis – wie sie Ibsen in erschütternder Weise in dem Drama »Gespenster« zu schildern versuchte –, sind zumeist Folge einer Vernachlässigung der Krankheit bei ihrem ersten Auftreten. Genau so verhält es sich mit der vielfach als mehr harmlos angesehenen Gonorrhoe. Anscheinend beseitigt, aber nur unvollkommen ausgeheilt, wird sie leider oft genug Ursache zu langwierigen Frauenkrankheiten, welche auf die unschuldige Frau vom Gatten übertragen wurden. So kann es geradezu ein Verbrechen werden, wenn ein junger Mann eine Geschlechtskrankheit, die er sich nun einmal zugezogen hatte, leicht nimmt und gründlichste Heilung verabsäumt. Immer mehr bäumt sich auch das Rechtsbewußtsein unserer Zeit dagegen auf, daß das Weib zumeist, wenn nicht gar allein die Folgen eines Fehltritts zu tragen hat. Wenn es dann in seiner Not, wie leider so vielfach geschieht, vollends dem Laster verfällt, so trifft die größte Verantwortlichkeit die, welche jene Not ausnutzen. »Des Weibes weiblichen Sinn zu ehren«, wie es in dem alten Studentenlied heißt, sei dem jungen Mann heilige Pflicht auch dem ärmsten Geschöpf gegenüber!

Nur solche Lebensführung schafft dauerndes Glück, vor der man nie zu erröten braucht. Im Regen aller Kräfte der Seele und des Körpers liegt das beste Mittel, um die Herrschaft über das Empfindungsleben nie zu verlieren allen Versuchungen gegenüber. Freude an der Natur, Erheben der Seele an den ewigen Schätzen der Dichtung und Kunst und vor allem ernstes Wollen und Streben in der Berufstätigkeit schützt am sichersten vor dem Überhandnehmen verderblicher Triebe. Aber auch der, der einmal unterlegen ist, möge wissen, daß es nie zu spät ist, sich aufzuraffen und neuen Lebensmut zu gewinnen unter dem Wahrspruch, der dem prächtigen Buche von Thomas Carlyle als Titel vorgesetzt ist: »Arbeiten und nicht verzweifeln!«


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