Claude Anet
Ariane
Claude Anet

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XIX

Als er Natascha verließ, war es noch zeitig. Er ging zu Fuß zum Hotel. Das Gespräch mit Natascha hatte ihn darin bestärkt, den Bruch mit Ariane zu beschleunigen. Indem er die Gedanken, die ihn unaufhörlich bestürmten, laut in Worte faßte, wurde ihm klar, daß er sobald als möglich Schluß machen müsse. Seinen ganzen Groll gegen Ariane breitete er noch einmal vor sich aus. Wie sollte er das Leben mit einem so boshaften und zynischen Mädchen noch länger ertragen? Einem Mädchen, dem es Vergnügen machte, ihn zu quälen und ihn seine Nichtigkeit fühlen zu lassen und für das er schließlich doch nur einer unter allzu Vielen bleibt! Und welche unerhörte Künstlerin auf ihrem verwerflichen Weg, Künstlerin in dem Raffinement ihrer Grausamkeit, Meisterin in der Vollendung, mit der sie ihre giftigen Pfeile abschnellte! Allmählich redete er sich in einen grenzenlosen Abscheu gegen Ariane hinein, von der er sich ein Bild in den schwärzesten Farben ausmalte.

So kam er nach Hause. Die Wohnung war beleuchtet, aber niemand war in den drei Zimmern. Erst im Badezimmer fand er Ariane und blieb ganz überrascht stehen, so wenig stimmte ihr Anblick mit der Vorstellung überein, die er sich eben von ihr gemacht hatte. Sie hatte einen losen Kittel an, wie ihn Schulkinder tragen, der nur bis zu den Knien reichte, und ihre offenen Haare fielen auf die Brust. Sie machte den Eindruck eines vierzehnjährigen, hochaufgeschossenen, frühreifen Mädchens mit lebhaften Augen und einem Mund, der schon zu küssen versteht.

Sie warf sich ihm an den Hals und blieb wie ein kleines Kind an ihm hängen.

»Wie spät du kommst! Schau, ich habe die Photographien entwickelt, die wir neulich aufnahmen. Du bist schön wie ein Gott, ganz Großfürst, einzig. Ich bin gräßlich wie immer, schlampig, zum Grausen! Nur das eine Bild von mir auf dem Diwan ist beinahe gelungen.«

Sie reichte ihm eine Platte, die sie in der Stellung der Maja von Goya zeigte: in leichtem, seidenem Pyjama auf dem Diwan ausgestreckt, die Jacke offen und eine nackte Brust, rund und wunderbar modelliert, sichtbar.

Konstantin lehnte verwirrt an der Tür, so heftig hatte ihn der Gegensatz der Ariane seiner Gedanken, die ihn auf dem Weg ins Hotel begleitet hatte, und diesem fröhlichen Kinde, das an seinem Halse hing, getroffen.

Er betrachtete zuerst die Platte und dann das Mädchen und sagte launig:

»Du bist mir als Schulmädchen viel lieber als auf dem Bild. Du siehst ja zwar wie ein Galgenstrick aus, aber man hat das Gefühl, daß man dir noch handgreifliche Belehrungen erteilen könnte, die dich vielleicht bessern würden.«

»Versuch es doch, versuch es doch nur!« rief sie davonlaufend. »Niemand wagte es bisher, mich anzurühren.«

Sie flüchtete in den Salon. Er folgte ihr.

»Weißt du, ich habe noch nicht gegessen. Ich sterbe vor Hunger. Bestelle ein Nachtmahl, nachher erzähle ich dir Geschichten aus meiner Schulzeit.«

Ein wenig später, als sie das Essen beendeten, begann sie ihre Erinnerungen aus der Schulzeit.

»Wir hatten einen Geistlichen, bei dem wir Religion lernten. Er war ein reizender Mensch zwischen vierzig und fünfzig, mit einem großen Pfeffer- und Salzbart und blauen, lustigen Augen. Alle liebten wir ihn und er uns auch. Ich freute mich daran, ihm kitzlige Fragen zu stellen. Ich war damals vierzehn Jahre alt und verursachte einmal, als er uns die Geschichte von Adam und Eva erzählte, einen großen Skandal. Ich sagte ihm: ›Väterchen, erklären Sie mir bitte eine Sache, die ich nicht verstehe. – Am Anfang der Welt waren nur Adam und Eva und keine andern Menschen, nicht wahr?‹ ›Gewiß, mein Kind, so ist es.‹ ›Und ihre Söhne waren Kain und Abel, das weiß ich. Wie aber hatten diese vier zusammen Kinder? Konnten denn zu jener Zeit die Söhne sich mit ihrer Mutter verheiraten? wie unter den Pharaonen die Töchter mit dem Vater?‹ – Das war ein Gelächter in der ganzen Klasse und Väterchen wurde davon angesteckt und lachte, statt zu antworten, mit. Nur die Aufsichtsdame lachte nicht, die ging die Schulleiterin holen. Ich machte eine so unschuldige Miene, daß man mich nicht strafen konnte, aber von da ab war es uns verboten, über die heilige Geschichte Fragen zu stellen. ›Wunder‹, sagte die Schulleiterin mit ernstem Gesicht, ›sind eben Wunder und können nicht erklärt werden.‹ Das gute Väterchen trug mir nichts nach, wir wurden gute Freunde. Er erwartete mich zuweilen auf dem Gang und streichelte mir über die Wange oder nahm mich beim Arm. Ich kokettierte ein wenig mit ihm und warf ihm schmachtende Blicke zu. Eines Tages, als wir unsern Ball hatten, traf ich ihn wieder. ›Nun Kustnetzowa, heute abend werden Sie tanzen?‹ ›Kommen Sie mit, Väterchen, und ich werde mit Ihnen den Ball eröffnen.‹ – ›Ich kann nicht, mein Kind,‹ seufzte er, ›wir gehen auf keine Bälle.‹ – ›Also können Sie nicht tanzen. Wollen Sie, daß ich Sie unterrichte?‹ und ich reichte ihm die Hand. ›Ich konnte es einmal,‹ sagte er, ›aber ich habe alles vergessen.‹ Er hatte meine Hand genommen und einen Arm um mich gelegt. ›Und diese schreckliche Soutane.‹ ›Bah, sie ist nicht länger als mein Rock.' Und ich fing an die ,Troika' zu trällern. Und sieh da, Väterchen beginnt sich langsam mit mir im Arm zu drehen. Als er niederkniete, kehrte sein Rock den ganzen Staub vom Boden. Man hörte das Geräusch einer geöffneten Tür; er hielt plötzlich ein: »Welche Narretei!« rief er und lief lachend davon. Ach der reizende Mann, der liebte mich wirklich. – Er hatte dann genug Sorgen. Seine Tochter, ein Jahr älter als ich, eine große Hopfenstange mit einem häßlichen Gesicht, war die Ursache. Sie hatte wundervolle Formen und zeigte sie sehr freigiebig. Geliebte nahm sie, wie ein Mann Mätressen nimmt, und abends trank sie immer zuviel. Sie bändelte mit einem alten Schauspieler an, und stell dir vor, als er die Stadt verließ, ging sie mit ihm. Alle Leute sprachen davon und die Stellung von Väterchen war gefährdet. Aber die Leiterin des Gymnasiums, Frau Znamenskaja, verteidigte ihn und ließ ihn im Amt. – Ich glaube dieses Unglück hat ihn zum Trinker gemacht.«

Sie verbrachten einen reizenden Abend. Ariane ließ alle möglichen Szenen aus der Schulzeit vor ihm aufleben. Konstantin kannte schließlich fast alle Solisten, um die eine Menge Statisten wimmelte. Er staunte über die künstlerische Gestaltungskraft, mit der Ariane die Gefährten ihrer Kindheit vor ihn hinzauberte. Eine ganze jugendliche Welt begann nach dem Gebot dieser Zauberin vor ihm zu leben, füllte das Zimmer und ihre Schatten wirbelten noch ein paar Augenblicke, nachdem Arianes Worte verklungen waren, um ihn her, um erst dann in das Dunkel zurückzugleiten, aus dem sie sie gerufen hatte.

Konstantin sprach zu Ariane:

»Die Stadt, die ich in ganz Rußland am besten kenne, ist die, in der du als Kind lebtest und die ich nie betreten habe.«


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