Claude Anet
Ariane
Claude Anet

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XIII

Er rief dem Kutscher eine Adresse zu und der Schlitten glitt über den harten Schnee. Er begab sich zu einer jungen Dame, die er im Hause der Baronin Korting kennengelernt hatte. Diese verbrachte den Winter in Pau, um ihre Gesundheit zu pflegen. Natascha X, die er besuchen wollte, war die noch sehr junge Frau eines in die Mongolei kommandierten Offiziers. Sie lebte ziemlich zurückgezogen mit einer alten Tante ihres Gatten in einem kleinen Häuschen. Sie war eine reizende Frau, bald fröhlich, bald traurig, die mit siebzehn Jahren die Dummheit begangen hatte, einen allzu lebenslustigen Offizier zu heiraten, der kein Vermögen besaß und den sie nicht liebte. Sie hätte ihn verlassen oder sich einen Geliebten nehmen können, aber weder zu dem einen noch zu dem andern fand Natascha jemals den Mut. Sie hatte gleich beim Verlassen des kaiserlichen Institutes vollständig lebensfremd geheiratet und in den Armen eines rohen, sinnlichen Mannes den häßlichsten Geschmack von der Liebe empfangen. Sie vergaß die Tränen nicht, die sie im Schnellzug vergoß, der sie nach dem Kaukasus führte, nichts hatte diesen ersten Eindruck verwischen können. Seither war ihr Mann ihrer überdrüssig geworden. Er ließ sich in entfernte Gegenden abkommandieren und mit zwanzig Jahren führte Natascha ein ziemlich trauriges Leben, einsam, verlassen, unsicher, unruhig, immer aber noch mit einem kleinen Lächeln, dessen Spuren man auf ihren jungen Lippen erraten konnte. Zwischen Konstantin und ihr war im ersten Augenblick eine, wie sie es nannten, zärtliche Freundschaft erwacht. In einem Land wie Rußland, wo das Leben frei ist, unbeeinflußt von Vorurteilen, gleichgültig gegen den Klatsch, wo die Erziehung sich darauf beschränkt, angenehme Umgangsformen anzulernen und der Natur ihre ganze Ursprünglichkeit läßt, wundert sich niemand, Gefühle so rasch aufblühen und so natürlich sich äußern zu sehen. Das erstemal schon, als sie ihn sah, hatte Natascha zu Konstantin wie zu niemand vorher gesprochen. Bei ihrem zweiten Zusammentreffen hatte sie ihn wegen seines Verhältnisses mit einer kleinen, »wie man sagt entzückenden« Schülerin verspottet. Konstantin war überaus erstaunt zu erfahren, daß man im Salon der Baronin so gut über sein Privatleben unterrichtet war, obschon er keiner lebenden Seele über Ariane ein Wort gesagt hatte. Er hütete sich, zu leugnen, da er es für wichtiger hielt, nicht den Anschein zu erwecken, als würde er solchem unbegründeten Klatsch irgendwelche Bedeutung beimessen. Aber vorsichtig kehrte Natascha immer wieder zu diesem Thema, das sie zu interessieren schien, zurück; Konstantin antwortete mit einigen kurzen nichtssagenden Worten. Immerhin hatte er verschiedentlich die Unruhe erkennen lassen, in die ihn das komplizierte Naturell jenes jungen Mädchens versetzte und auf den Zweikampf angespielt, der, seitdem er sie kannte, mit versteckten Waffen zwischen ihnen ausgefochten würde; alles dies erzählte er Natascha, die ihm aufmerksam zuhörte, nur in Andeutungen, ohne sich offen zu bekennen. Ihre geschickten Fragen hatten alle dasselbe Ziel, sie wollte die Gefühle Konstantins für Ariane erforschen. Konstantin wich aus. – Endlich brannte Natascha darauf, Ariane kennenzulernen. Als sie das erstemal zu Konstantin davon sprach, zuckte er bloß mit den Schultern. Sie ließ sich nicht abschrecken und kam darauf zurück. Bei jeder Begegnung erneuerte sie ihren Angriff. Das wiederholte sich so oft, daß Konstantin schließlich versprechen mußte, mit Ariane darüber zu reden. Er hielt sein Versprechen, als sie eines Tages eine Loge zum Ballett hatten.

Er stieß auf eine ganz entschiedene Weigerung bei Ariane, die Natascha vom Sehen kannte und sie übrigens hübsch und sympathisch fand.

Mit der ihr eigenen Entschiedenheit meinte sie:

»Ich habe durchaus keine Lust, die Neugier deiner Freundinnen zu befriedigen. Warum wollen sie mich sehen? Weil ich deine Geliebte bin? Danke, ich stelle mich nicht zur Schau. Und überhaupt würde ich wünschen, daß du von mir nicht sprichst.«

Mit Natascha sprach Konstantin aber doch von ihr. Je schärfere Formen der Konflikt, der zwischen ihnen bestand, annahm, desto größer wurde sein Bedürfnis, von diesen Fragen, die ihn so stark beschäftigten, zu sprechen. Er machte keinerlei persönliche Anspielungen auf seine Geliebte, sondern sprach mit Natascha ganz allgemein über das russische Mädchen der jetzigen Generation. Eines Tages sagte er ihr:

»Hörten Sie schon von diesem Bund der freien Liebe, der fast überall in den höheren Klassen der Mädchengymnasien besteht, insbesondere im Süden, im Kaukasus? Ich begegnete gelegentlich auf meinen Reisen jungen Mädchen, die mich über Zweck und Ziele dieser Vereinigung unterrichteten. Sie sind ganz merkwürdig. Diese Mädchen, in der Mehrzahl starke Intelligenzen, bilden sich ein, daß Rußland dazu berufen sei, der Welt eine neue Zivilisation zu geben, und daß als erstes alle Vorurteile fallen müssen, die seit mehr als dreißig Jahrhunderten die menschliche Gesellschaft bedrücken. Diese kleinen Revolutionärinnen erklären als das sinnloseste und bedrückendste aller Vorurteile das der Jungfernschaft. Sie sagen nicht: Kraft welcher Bestimmungen wird von den jungen Mädchen gefordert, daß sie unberührt in die Ehe treten? – denn das hieße ihnen zumuten, die Ehe selbst in die Diskussion zu mengen, die Ehe, über die sie ihre Betrachtungen schon längst in ablehnendem Sinne geschlossen haben. – Nein, sie sagen: Die Frau hat ebenso wie der Mann das Recht über ihren Körper frei zu verfügen. Wenn es ihr gefällt, wird sie ihn verwenden, um ihre Erfahrungen zu bereichern, oder nur zu ihrem Vergnügen, oder zur Steigerung ihres Behagens; kurz sie wird über ihren Körper ausschließlich nach eigenem Gefallen und Belieben verfügen. Es gibt keine Gesetze in den Dingen der Liebe. – Sie sehen, was für eine Menge schöner Theorien diesen jungen Köpfen entspringen. Theorien, mit denen ich mich übrigens weiter nicht befassen will. Eines nur möchte ich wissen: welches ist der Punkt, an dem diese Theorien mit der Praxis in Konflikt kommen? Man versichert, daß die intelligentesten von diesen Mädchen, von unerbittlicher Logik angetrieben, es als Ehrensache betrachten, sich ohne Liebe und selbst ohne Vergnügen hinzugeben, nur um sich selbst ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Nur dann sind sie ganz sicher, das verachtete Vorurteil nicht nur in Worten, sondern wirklich überwunden zu haben. – Dieses Land ist tatsächlich die unerschöpflichste Fundgrube von absonderlichen Beiträgen zur Sittengeschichte der Gegenwart.«

»Ja, aber wenn eines von diesen so klugen und so verdrehten Mädchen an einen wirklichen Mann gerät, ist es aus mit allen Theorien, sie wird zur Sklavin. Haben Sie nicht selbst erst jüngst diese Erfahrung gemacht? Sie wissen darüber mehr als ich. Ich war ein unerfahrenes Gänschen, als ich heiratete und das war auch nicht das Richtige. Wenn ich eine Tochter hätte, wie sollte ich sie erziehen? Ich glaube ich würde Kopf oder Adler werfen. Ich nehme das alles viel weniger ernst als Sie. Das Leben ist so schwierig, daß ich nicht im voraus diejenigen verdammen kann, die einen Ausweg aus allen diesen Übeln suchen.«

Es ist zu beachten, daß Konstantin und Natascha einander nur bei ihrer gemeinsamen Freundin begegneten. Bisher hatte er, trotz der Freundschaft, die er für die junge Frau empfand, sie nicht besucht, da er fürchtete, der Charakter ihrer Beziehungen könnte leicht andere Formen annehmen. Er fühlte, daß er Natascha nicht gleichgültig blieb und es war ihm ein wohltuender Gedanke, daß er, wenn sein Ringen mit Ariane heftiger und quälender würde und er gezwungen wäre, mit ihr zu brechen, bei Natascha einen ruhigen Hafen fände, in den er flüchten könnte.

Dann, wenn er besonders gereizt über Ariane war, in den Augenblicken des Zornes, den sie so gerne durch den kalten Zynismus, mit dem sie von sich selbst sprach, heraufbeschwor, fragte sich Konstantin oft, wie er das Leben mit dieser kleinen, schon verdorbenen Ariane ertragen könne, die trotz der Reize ihrer Jugend und trotz des Zaubers ihres blendenden Geistes bis in den Grund ihrer Seele schlecht ist. War es die sonderbare Schwäche, die der Mensch vor dem Unbekannten hat? War es die Furcht vor dem Morgen, die Angst vor der kommenden Leere, die er eintauschen würde? War sein Leben schon an jenem Punkt angelangt, an dem man, was man besitzt, aufzugeben zögert, aus Furcht nichts Besseres zu finden? Konstantin hatte sich oft genug diese Fragen gestellt, aber jedesmal hatte seine wachsende Intimität mit Natascha eine günstige Antwort gegeben. Wenn er wollte, konnte er sofort eine neue, reizende Geliebte haben. Und die Sicherheit noch zu gefallen, die er bei Natascha erwarb, gab ihm für den Kampf mit Ariane neues Selbstvertrauen und seine alte Kaltblütigkeit.

»Wenn ich sie aber,« fragte er sich selbst, »trotz aller Beleidigungen, trotz ihrer Schlechtigkeiten und trotz des Abscheues, den sie selbst in mir weckt, bei mir behalte, muß doch irgend ein geheimes starkes Band vorhanden sein, das mich an sie fesselt. Welchen Liebestrank hat mir diese kleine Hexe wohl eingegeben?«

Natascha gegenüber wollte er sich trotzdem nicht binden und sah sie nur selten. Darum war er selbst nicht wenig überrascht, als er ohne Überlegung ihre Adresse dem Kutscher zugerufen hatte, der ihn vom Theater wegführte.

Die Parterrefenster des Hauses, in dem Natascha wohnte, waren beleuchtet. Er wurde von dem Dienstmädchen in einen großen, mittelmäßig eingerichteten Salon geführt. Einige Minuten später erschien Natascha.

Sie hatte ein weißes Hauskleid an und um die Schultern lag ein leichter, bunter Schal. Ihre dunklen, aufgelösten Haare umrahmten das kindliche Gesicht. Ihre braunen, lachenden Augen strahlten ihn an. Sie streckte Konstantin beide Hände entgegen, kam ganz nahe zu ihm und sprach mit ihrer weichen Stimme, deren Wohllaut ihm schon vertraut war:

»Welche Überraschung, Sie hier zu sehen! Ach, welchem Drama verdanke ich es wohl, Sie bei mir begrüßen zu können? – Aber Sie hätten mich anrufen sollen. Ich hätte Ihnen einen würdigen Empfang bereitet und mich Ihnen zu Ehren sogar frisiert. Flüchten wir aus diesem Zimmer. Es ist kalt und zu feierlich. Kommen Sie zu mir hinüber.«

Sie zog ihn an der Hand in einen kleinen Raum, dessen eine Wand von einem Diwan eingenommen wurde. Bald stand der Samowar am Tisch und begann behaglich zu summen. Ein Tischchen bedeckte sich mit Süßigkeiten, mit Früchten, Honig und Bonbons. Natascha hatte sich neben ihn gesetzt. Wenn sie sich nach vorne beugte, konnte er den Ansatz ihrer jungen Brüste sehen. Ein leichtes Parfüm strömte von ihr aus. Er fühlte sich glücklich, losgelöst, fern den täglichen Kämpfen, in einer Stimmung voll Zärtlichkeit, die eines leisen, sinnlichen Beigeschmacks nicht entbehrte. Er hatte die Hand der jungen Frau ergriffen und führte sie öfter au seine Lippen. Sie sprachen unaufhörlich, fröhlich von allem möglichen. Natascha, die ihn beobachtete, stellte keine neugierige Frage. Die Zeit verfloß, ohne daß sie darauf achteten. Als der Abend vorgerückt war, zog Konstantin Natascha an sich und umarmte sie; er küßte ihren Nacken, sie wehrte sich kaum.

»Was tun Sie?« sprach sie und fügte mit schwacher Stimme hinzu: »Ich habe Angst...«


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