Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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IX.

Der neue Aladdin.

Im Pfarrhofe erwartete man Niels Bryde; der Tag seines Erscheinens war diesmal in der Lebensgeschichte der alten Pfarrersleute ein bedeutungsvoller, und am folgenden ging ihnen der herrlichste auf: der Tag ihrer diamantenen Hochzeit. Aber in diesem Augenblicke war Niels der Gegenstand aller Gedanken, jeder freute sich in seiner Weise. Wenn man erst das Alter des greisen Paares erreicht hat, machen zwölf Jahre um vieles älter; manche werden dann mißmuthiger, die meisten jedoch weit milder, und dieses war bei dem Jubelpaare der Fall.

Bei jedem dem Rasseln eines Wagens ähnlichen Tone eilte Bodil in den Hof hinaus – endlich kam er.

Es gab Thränen, es gab Freude! – Wie verändert waren sie doch alle äußerlich, das bemerkte man sofort beim ersten Zusammentreffen, aber nach wenigen Minuten leuchteten wieder alle die bekannten Züge hervor, die Augen waren noch immer dieselben, das Lächeln dasselbe, der Klang der Stimme derselbe; durch die gealterte äußere Gestalt leuchtete und tönte die innere ewige Jugend hindurch. Blicke waren hier Gedanken, und die Gedanken bedurften nicht vieler Worte.

Wie wenn man nach einem anstrengenden, geschäftigen Arbeitstage einen stärkenden, traumlosen Schlaf genossen hat und nun wieder erwacht, so fühlte sich Niels Bryde hier in der Heimat seiner Kindheit.

Trotz ihres Alters hatte sich Musikanten-Grethe mit ihrer Harmonika eingefunden und spielte zu seinem Empfange ihre schönsten Lieder. Die alten bekannten Töne, die freundlichen, bekannten Gesichter, die ganze Umgebung aus seiner Kindheit ringsumher, alles war wie früher. Sie weilten in trautem Geplauder bis spät in den Abend hinein bei einander; da gab es keinen Streit – sie begegneten sich in Liebe, in Duldung!

Der Morgen des Festtages, der fünfte August, brach an; es war ein herrlicher Tag des Lebens. Aus der neuentstandenen Stadt jenseits des langen Sees zog man mit Musik heran; Waldhörner und Choralgesang tönten schon in früher Morgenstunde von dort herüber. Mit leuchtenden Augen küßten sich die greisen Eheleute; ihre Seelen waren noch so jung wie in den Jahren ihrer Jugend.

Bodil, Niels und die alten, treuen Freunde aus der Nachbarschaft empfingen sie in dem ausgeschmückten Saale; in reicher Fülle dufteten die schönsten Blumen aus den Silkeborger Gärten; zahlreiche Geschenke, die verschiedenartigsten Stickereien, wurden dargebracht. Vor der Thür hielt der Wagen, der das Jubelpaar nach der Kirche abholen sollte, und alle begaben sich nun dorthin. Die Glocken läuteten, die Sonne schien hell und warm, wie in ihren jungen Liebestagen, und vor der Kirche stand die Gemeinde, Männer, Frauen und Kinder; sie entblößten ihre Häupter und drängten sich fröhlich um das greise Paar. Die alte, kleine Orgel spielte einen Festchoral.

In einer solchen Stimmung wie jetzt hatte sich Niels Bryde an dieser Stätte und bei diesen Klängen nicht mehr befunden, seitdem er kurz vor seiner Studentenzeit zum letzten Male, doch weich und lieblich, hier gewesen war. Es liegt eine eigenthümliche Macht in dem Heiligthume der Heimat, in den alten, bekannten Melodien; sie erheben und tragen uns über das Alltägliche hinweg.

Der Gesang der Gemeinde, aus dem die Kinderstimmen hell und rein hervortönten, klang wie in jener früheren Zeit, als er noch selbst mit seiner wohllautenden Altstimme mitsang; er überflog in Gedanken alle dazwischen liegenden Jahre bis zum Tode Esthers, seiner Braut vor Gott. Mit den reinsten Liebesgedanken begleitete ihn ihre Gestalt, sie, die ihm gleichsam zum Licht und zum Leitstern in seinen Lebenspfad in dieser Welt hineingestellt war. Es geschieht nur, was für uns das Beste ist. Jeder Druck verleiht dem Geiste Wachsthum, wie der Druck der Palme. Er gedachte des frühen Todes seiner Eltern, durch den er in einen fremden Kreis versetzt worden war, was ihm nur zum Heil gereicht hatte; die schweren Jahre des Krieges hatten ihn gehoben und belehrt; selbst aus Seuche und Krankheit war ihm ein Quell der Gesundheit hervorgesprudelt, der ihm das Leben, durch Esther gereicht, gegeben hatte. Besser hätte die Schule des Lebens auf andere Weise nicht sein können. Zur Wirklichkeit war geworden, was er als Kind einst geträumt, daß er wie Aladdin in die Höhle hinabgestiegen, wo ihn Tausende von Schätzen und leuchtenden Früchten fast blendeten, aber auch die wunderbare Lampe gefunden hätte, die aber bei seiner Heimkunft in die Bibel seiner Mutter verwandelt war.

Wahrlich, wie ein neuer Aladdin war er in die Höhle der Wissenschaft hinabgestiegen, um unter ihren wunderbaren Früchten die Lampe des Lebens zu finden, und nun war ihm zugefallen – die alte Bibel seiner Mutter, nicht ihr Buchstabe, sondern ihr göttlicher Geist!

Mit dem wieder erweckten Kindersinn, der sich unbewußt an den Glauben hält, wird die Wissenschaft zu einer Verherrlichung der Allmacht, Weisheit und Güte Gottes. Die Naturgesetze, die Gottesgedanken läßt Gott den menschlichen Geist auf vielen Gebieten erkennen, allein zu den Gesetzen der Liebe im Reiche des Geistes schwingt sich die Wissenschaft nimmer empor. Auf Erden vermögen wir nur zu erfassen, was von der Erde ist; im höheren Geistesleben haben wir nur die Hoffnung und den Glauben.

Hell fielen die Sonnenstrahlen durch die Kirchenfenster auf die festlich gestimmte Gemeinde und auf die beiden frohen Greise, die wie junge Brautleute vor dem Altare standen. Mit unauslöschlichen Zügen stand es in ihren Herzen geschrieben, hier glücklich zu sein – ewig selig zu sein!

Spät am Abend des Festtages, als im Pfarrhause schon alles wieder still geworden und jeder sein Bett aufgesucht hatte, sprachen die Alten ein recht herzliches Gebet, dessen Erhörung sie namentlich an diesem Abende, an ihrem Jubelfeste, das Gott sie in Gnaden hatte erleben lassen, sicher waren. Niels besaß, davon hatten sie sich überzeugt, ein frommes Gemüth; aber war er denn auch ein ganzer Christ, hatte er wohl ihren Glauben, den einzig richtigen? – Sie beteten, Gott wolle ihm denselben schenken, wolle ihm in Christo gnädig sein.

Niels Bryde war tief bewegt, das weiche Gemüth des Kindes war wieder in ihm erwacht; auch er betete in demselben Augenblicke für die Alten: »Allmacht, von dir sind sie durchdrungen! Sie glauben, ohne zu wissen; das war und ist ihnen in diesem Leben noch immer genügend. Allein im Jenseits laß sie deine größere Herrlichkeit schauen. Schenke ihnen das Licht des Geistes und erhalte ihnen dazu den Frieden, den sie hienieden in Christo haben!«

Bodil betete, daß der Geist der Versöhnlichkeit, das Verständnis der in Gott und Christo erschienenen Liebe und alles, was den Menschen nöthig ist, einem jeden zu Theil werden und uns alle Versöhnlichkeit, Duldung und Liebe erfüllen möchte!

Zu diesen lieben Betern allen leuchtete von außen ein großer, funkelnder Stern gleich hell und wie bestätigend hinein. Für Niels Bryde führte er den wissenschaftlichen Namen »Jupiter«; die alten Pfarrerleute und Bodil dachten bei ihm an »Gottes Auge«, welches leuchtend auf sie herniederblickte, wie auf den Türken, den Heiden und den irregeleiteten Mormonen, Augen und Gedanken nach oben erhebend.

Bodil und die Alten sprachen noch ihr Vaterunser, auch Niels Bryde sprach es in der Seele und in Gedanken; und der Schlaf, der Bruder des Todes, stellte sich ein, der unserm Erdenleben mit seinem Drama »Sein oder Nichtsein« den dritten Theil entzieht.

Sie schliefen, sie träumten beim Blinken des Sternes, der nur wie ein Funken aussah und doch, wie wir einst droben erkennen werden, eine Weltkugel ist, größer als die unsrige. Ja, was werden unsere Blicke nicht alles schauen, weil der Allliebende uns vergönnte, hier zu sein und ewig zu »sein«.

Ende


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