Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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VI.

Auf der Entenjagd. Niels wird Student.

Bis nach dem sogenannten »Alten Meierhof« am Aalwehre, wo sich heutigen Tages die Stadt Silkeborg erhoben hat, war vom Pfarrhause aus ungefähr eine Meile, indem man über die Windingedaler Hügel und beinahe um den ganzen »Langsee«, der die Gudenau durchströmt, gehen muß. Der Weg lag tief und war häufig unfahrbar. Fußgänger thaten besser daran, einen nur halb so langen Richtweg einzuschlagen, wenn sie vom Pfarrhause aus über den Hügel gerade auf die Stelle am Ufer des Sees zuschritten, an der noch jetzt das einsame Fährhaus liegt. Hier ist der See nur einige Steinwürfe breit, und setzte man hier hinüber, so hatte man, wenn auch durch tiefen Sand, nur noch eine kurze Strecke bis zum Aalwehr und zu dem Meierhofe, wo Herr Schött wohnte, der Aufsichtsbeamte über den Aalfang, den damals noch die Regierung betreiben ließ. Das angrenzende Land, welches mit zu dem »Rittergute« gehörte, wie es allgemein genannt wurde, lag öde und unbebaut und doch war hier die Einsamkeit weniger auffallend, als auf der Haide und in der Nähe des Pfarrhofes; man hätte glauben sollen, hier wäre der eigentliche Schauplatz, auf dem die »Vögel« des Aristophanes spielten. In der üppigen Wildnis von Rohr und Schilf und knorrigen Erlen bis weit in die Gudenau hinein, in der die Wasserlilien ganze Inseln bildeten, wimmelte es beständig von Vögeln, die nur einige Male im Jahre von Jägern, die aus weiter Ferne zur Fischottern- und Entenjagd herbeikamen, aufgescheucht wurden.

Herr Schött war ein leidenschaftlicher Jäger und alles Entenwild in der Küche des Pfarrhauses langte mit einem freundlichen Gruße von Herrn Schött an. – Niels weidete sich an dem Anblick der prächtig gefiederten Enten und anderer Vögel und hörte aus Herrn Schötts eigenem Munde allerlei Jagdgeschichten, die ihm wie eine neue Offenbarung von Freude und Lust erschienen. Aber Niels hatte noch nicht eine Flinte abzufeuern gelernt, und es verging auch noch lange Zeit, ehe er mit auf die Jagd kam. Dies geschah erst im dritten Herbste nach seiner Aufnahme in das Pfarrhaus. Herr Schött hatte oft seine Lust, einer Jagd beizuwohnen, bemerkt, und da Niels sonst fleißig studirte und dazu ein munterer Knabe war, dem es nur vortheilhaft sein konnte, wenn er einmal ordentlich Luft schöpfte, so gab ihm Japetus Mollerup gern Erlaubnis, Herrn Schött auf die Entenjagd zu begleiten. Diese seine erste Jagd, auf der er eigentlich nur zusah, da er zwar die Flinte abfeuerte, aber nichts traf, blieb ihm unvergeßlicher als manche spätere lustige und glückliche Jagd. Sie war mit einem jener unbedeutenderen Lebensereignisse verbunden, die man sein Leben lang nicht vergißt, während größere Erinnerungsbilder verschwinden; es wurde nämlich sein Wunsch erfüllt, mit echten Zigeunern zusammen zu treffen.

Im Pfarrhause gab es zwei Flinten, eine gute und eine, mit der sich zwar schießen ließ, die aber stieß. Niels konnte gewärtigen, einen tüchtigen Schlag von ihr zu erhalten; am besten, meinte Mutter und Bodil, wäre es, er nähme gar keine Flinte mit, er sollte nur zusehen. Vater sagte dagegen, zur Jagd gehörte auch eine Flinte, und die müßte Niels haben; er wäre ja jetzt fast mündig und hätte Herrn Schött an seiner Seite, der ihm schon zeigen würde, wie er mit ihr umgehen müßte, und unser Herrgott würde ihn in seinen Schutz nehmen.

Noch vor Sonnenaufgang mußten Niels und Herr Schött im Röhricht sein, weshalb sie beide den Tag vorher gegen Abend das Pfarrhaus verließen, da sie die Nacht im alten Meierhofe zuzubringen gedachten. Niels hatte sich aus der Garderobe des Pfarrers ein Paar hohe Wasserstiefel hervorgesucht und angezogen; das Gehen wurde ihm deshalb ziemlich beschwerlich, aber es war ja nur ein kurzer Weg über die höchste Spitze der Windingedaler Hügel bis an das Fährhaus hinab, und ließen sie sich hier übersetzen, so hatten sie nicht mehr weit zu gehen.

Es fiel ein feiner Regen, und als sie auf der Anhöhe angelangt waren, wehte ein ziemlich heftiger Wind; hoch schlugen die Wellen des Langsees, mit Schaum bedeckt. Auf diesem See, meldet die Sage, segelte einmal ein Bischof, Namens Petrus, der sich eine Ritterburg bauen wollte, aber über die Stelle noch unschlüssig war. Da wurde ihm plötzlich seine seidene Mütze vom Winde fortgeweht und er befahl, daß dort, wo sie ans Land getrieben würde, die Burg errichtet werden sollte, und das führte er auch aus; und von dieser seidenen Mütze erhielt die Burg den Namen »Seidenburg« oder auf dänisch Silkeborg. Während des schwedischen Krieges wurde sie zerstört, und jetzt lag von ihr kein Stein mehr auf dem andren. Nur zwei große Eichen erhoben sich hoch über die Erlen und bezeichneten die Stelle, wo einst die Einfahrt zur Burg gewesen war.

Herr Schött und Niels erreichten bald das Fährhaus. Das Boot, das sie hinüberfahren sollte, war in das Schilf hinaufgezogen, da der See hohe Wellen schlug. Der Wind trieb den gepeitschten Schaum in die Höhe, so daß er ihnen ins Gesicht flog.

Sie gingen auf die Hausthüre zu, zogen die Klingelschnur an derselben und traten in die Stube ein, die so niedrig war, daß selbst Niels bis an das Gebälk reichte. Außer dem Fährmann und seiner Frau befand sich noch eine Person in dem Zimmer, eine kräftig gebaute Frau mit einem großen Mannshute, wie ihn die Bewohner der Westküste zu tragen pflegten. Sie machte sich fortwährend mit einem auf dem Fußboden liegenden Gegenstande zu schaffen, und die Frau des Fährmann blickte sie, nachdem sie die Eintretenden begrüßt hatte, beständig von der Seite an oder behielt sie vielmehr unablässig im Auge.

»Es weht draußen ein heftiger Wind,« sagte Herr Schött, »aber die Überfahrt wird deshalb doch wohl nicht ausgesetzt werden?«

»Muß unser Mann noch einmal übersetzen,« sagte die Frau des Fährmanns und warf dem Frauenzimmer einen Seitenblick zu, »dann könnt Ihr mit hinüber!«

»Ei ja, ei ja!« versetzte das Weib.

Unser Mann nahm erst einen kräftigen Schluck aus seiner Schnapsflasche, um das Abendbrot hinunterzuspülen. Den Schnaps hatte ihm die große Jagdgesellschaft, die vor drei Tagen hier war, zurückgelassen. Durfte er, da er von einer feineren Sorte war, sich vielleicht erlauben, Herrn Schött davon ein Schlückchen anzubieten?

»Ei ja, ei ja!« wiederholte das Weib. Es schien keine große Lust zu haben, über das Unheil verkündende Wasser zu setzen, welches allerdings so gewaltig brauste, als befände man sich am Meeresstrande.

»Womit schleppt Sie sich denn immerfort umher?« fragte Herr Schött.

»Mein kleiner Tyrann!« versetzte die Frau, und jetzt konnte man sehen, daß es ein altes verkrüppeltes Kind war. Es war äußerst häßlich und hatte einen Wasserkopf, aber kohlschwarze leuchtende Augen. »Fünf Jahre alt,« sagte sie und hob ihre fünf Finger hoch.

»Da hat sie auch ein schweres Kreuz zu tragen!« sagte die Frau des Fährmanns. Aber das Gesicht der armen Frau nahm einen Ausdruck an, der zu verrathen schien: »Es ist mir doch mein Liebstes!« Sie erhob sich und stieß dabei mit dem Kopf an die Decke, daß ihr Hut verletzt wurde. Jetzt konnte man ihre dunklen, scharfgezeichneten Züge und ein Paar Augen wie die eines Raubvogels erblicken. Niels kannte sie schon von damals her, als er sie draußen auf der Haide an sich vorüberschreiten sah. Sie war, wie er wußte, eine echte Zigeunerin.

»Jetzt könnt Ihr mit hinüberkommen,« sagte die Frau des Fährmanns. »Wenigstens könnt Ihr das Aalwehr erreichen; fragt nur Herrn Schött.«

Sie traten aus dem Hause; sausend fuhr der Wind durch Binsen und Rohr, daß sie hin und her wehten, als sollten sie zerknickt werden, und sich bis auf das Wasser hinabneigten, das sich schwarz und schäumend dahinwälzte. Das Boot wurde ins Wasser gezogen; Niels und Herr Schött ließen sich nieder, wie es gerade anging; es war, als säßen sie in einer Schaukel. Am schwersten fiel es der Zigeunerin, einen Sitz zu finden; endlich setzte sie sich auf den Boden des Nachens und hielt ihren kleinen Tyrann auf dem Schooße gerade Niels gegenüber, auf dem ihre schwarzen, scharfen Augen ununterbrochen ruhten.

»Ei ja,« rief die Frau, als das Boot vom Lande stieß. Der Wind erfaßte das Fahrzeug und einige Wellen stürzten über dasselbe hinfort, daß es fast gekentert wäre. »Ei ja, mein kleiner Tyrann,« schrie sie laut auf und machte einige Bewegungen, die für die Fahrt unheilvoll werden konnten, und der kleine Tyrann lachte zugleich laut auf; es klang wahrhaft schrecklich.

»Halte das Maul!« lautete die kurze Warnung des Fährmannes.

Wind und Wetter machten einen bedeutenden Umweg nöthig; es war bereits fast ganz finster, als sie das jenseitige Ufer erreichten. Die Zigeunerin begnügte sich, ihren Dank mit einigen Worten auszusprechen. Niels verstand nicht, was sie sagte, und ehe er es sich versah, war sie schon verschwunden; aber der Eindruck, den sie mit ihrem Idiotenkinde auf ihn gemacht hatte, so wie die Erinnerung an diese ganze Überfahrt in einem solchen Wetter blieben ihm für alle Zeiten unvergeßlich. Der Regen goß vom Himmel hernieder. War die Strecke, die sie noch bis zum Aalwehr zurückzulegen hatten, auch nur kurz, so führte sie doch durch einen fast unwegsamen Morast. Niels sank oft tief hinein, und es war nur gut, daß er des Pfarrers Wasserstiefel angezogen hatte; trotzdem wurde er bis auf die Haut naß.

»Dafür weiß ich Rath,« sagte Herr Schött; und als sie auf dem Meierhofe anlangten, mußte sich Niels vollständig ausziehen und sich in trockene Kleidungsstücke des Herrn Schött hüllen, wenn sie ihm auch etwas allzu vollkommen waren. Da er morgen schon ganz früh seine Kleider auf der Jagd tragen mußte, wurden sie zum Trocknen neben dem Feuerherde aufgehängt. Daß sie trocken würden, darüber konnte man unbesorgt sein; hätte man nur hinsichtlich der Stiefel dieselbe Sicherheit gehabt. Man that wenigstens sein Bestes und stellte sie auf die heiße Eisenplatte des Herdes. Auch für das Innere der beiden Durchnäßten wurde Sorge getragen. Für sie gab es gekochten wie gebratenen Aal nebst Sauerkraut und Aracpunsch. Niels bekam ein mächtig großes Glas; man müßte für den morgenden Tag Kräfte sammeln, und ein Jäger wäre im Stande, ein Glas zu vertragen, sagte Herr Schött.

Der anstrengende Marsch und der starke Punsch machten Niels bald schläfrig; er legte sich nieder und schlief sofort ein; aber ob es nun die Phantasie oder der starke Arac, das Sauerkraut und die fetten Aale oder wahrscheinlich dies alles zusammengenommen war, der Schlaf brachte ihm einen gar unheimlichen Traum: Das Idiotenkind saß auf seinem Schooße und blickte ihn mit seinen feurigen Augen an; ihm war, als ob es wie der Alp auf ihn drückte, er fühlte sich an allen Gliedern wie gelähmt, und immer schwerer lastete der kleine Tyrann auf ihm. Die Arme desselben, die er emporhob, glichen den Flügeln der Fledermaus, und mit ihnen schlug er Niels und drückte ihn fester und immer fester an sich. Die Flügel waren schleimig, weich und doch so kräftig, daß er sich des Unthieres, denn ein solches war es ja, nicht zu erwehren vermochte. Dabei erhob es ein weithin schallendes, gräßliches Gelächter. Niels war nicht im Stande, es länger auszuhalten, und machte deshalb in der Verzweiflung eine gewaltsame Bewegung. Da fühlte er in demselben Augenblicke, wie ihn die festen Klauen des Unthiers mit solcher Gewalt schüttelten, daß er erwachte, – – Herr Schött stand vor seinem Bette.

»Auf, auf!« sagte er, »du hast jetzt deine vollen sieben Stunden geschlafen, von gestern Abend halb neun Uhr an hast du im Bette gelegen; jetzt müssen wir auf die Jagd.«

Niels kam es vor, als hätte er nur eine Viertelstunde, und noch dazu eine Viertelstunde der Angst, im Bette zugebracht. Erfreut jedoch, daß der häßliche Traum verscheucht war, erhob er sich schnell und hatte bald seine immer noch feuchten Kleider angezogen. Die Stiefel konnte er nur mit großer Mühe anbekommen, obgleich sie an den Füßen mehr als groß waren, aber in der Hitze waren die Schäfte zusammengeschrumpft; als sie jedoch mit Lichttalg eingeschmiert waren, ließen sie sich endlich anziehen, und nun hatte Niels um so größere Freude an der Jagd. Es wurden Enten erlegt, prächtige wilde Enten; die Hunde holten sie aus dem Schilf und Röhricht heraus. Was aber mit dieser ersten Jagd in Verbindung stand, das Idiotenkind und dessen Auftreten im Traume, gestaltete sich für ihn zu einem solchen Ereignis, daß es, wie die Frau Pfarrer sagte, »etwas bedeuten mußte«. Wir werden ja sehen, ob es etwas zu bedeuten hatte.

Die Jagdlust war damit nicht gestillt, sondern nahm vielmehr erst recht zu. Von jener Zeit an wurde die Freude an der Jagd ein starker Faden der Erinnerung, welcher seine Gedanken an die Heimat, an die Jahre der Kindheit auf der Haide knüpfte. Mit Leib und Seele zog er mit hinaus, wenn die Jagdstunde schlug; aber eben so fest hielten ihn auch wieder seine Bücher, wenn die Lernzeit da war. In allem, was er sich vornahm, zeigte sich Wille und Ausdauer. Solche Ausbrüche von Heftigkeit, wie wir damals, als er die Katze gegen den Ofen warf, einen kennen lernten, kamen sehr selten vor; aber gleichwohl war es nicht unmöglich, daß später noch ein heftigerer erfolgen konnte. War das wirklich zu befürchten? Ihm war das Glück zu Theil geworden, daß diese neue Heimat, in der er die Jahre seiner Kindheit verlebte, auf eine Natur wie die seinige am wohlthätigsten einwirken mußte. Über dem Pfarrhause ruhte ein echter Geist des Friedens, und der christliche Sinn, welcher die Herzen wie Sonnenschein erwärmte, wandte Niels immer mehr dem Guten zu. Sein kindliches Gemüth war eben so empfänglich wie die bononischen Steine, welche das Sonnenlicht einsaugen und, wenn sie später an einen dunklen Ort gelegt werden, Licht ausstrahlen. Bodil, die ihm die liebevollste und zärtlichste Schwester war, hielt sich davon überzeugt. »Durch das ganze Leben des Mannes wird dieses Licht des Friedens und der Liebe, das er hier als Kind einsaugt, leuchten und ihm Kraft verleihen.« Die alten Pfarrersleute freuten sich über die merkwürdige Entwickelung seines Geistes, seine Bibelkenntnis und seinen Eifer für die lautere Verkündigung des Evangeliums; ja, er sprach sein lebhaftes und heißes Verlangen aus, Missionär zu werden und das Reich Christi auf Erden auszubreiten.

Die Einsegnung, welche zu Michaelis stattfand, sowie die erste Abendmahlsfeier waren für ihn in Wahrheit Tage des Bundes mit Gott, dem persönlichen Gott, zu dessen Rechten der Sohn sitzt und bei dem der heilige Geist wohnt, drei und doch einer und derselbe.

»Des Menschen Hochmuth führt auf Irrwege!« sagte der alte Pfarrer. »Gott duldet zwar, daß das Böse auf eine Zeit den Sieg davon trägt, aber das reine Licht des Glaubens ist wie die Sonne, es bricht nach trüben Tagen endlich immer wieder hindurch und alsdann sind die finstern Wolken vorübergezogen.«

Als Niels in seiner Kindheit daheim auf dem »Runden Thurm« lebte, waren ihm die Bibel und »Tausend und Eine Nacht« zwei Bücher von gleicher Wahrheit; jetzt hatte das Märchenbuch in seinem Verständnis die richtige Stelle gefunden; die Bibel nahm den heiligen Platz des Glaubens ein, sie stand wie ein mächtiger Baum da, der in seinem Herzen immer tiefere Wurzeln schlug und in dessen Wipfel Gottes Stimme erschallte; ja, die Bibel war das Buch der Bücher. Ihr Wort erfüllte im Pfarrhause Aller Gedanken und sprach sich in Aller Werken aus; die geistige Welt drang in die körperliche hinein. Die Gebilde des Aberglaubens hatten sich zwar ebenfalls Eingang verschafft, der persönliche Teufel und seine Macht waren furchtbare Gestalten, allein was vermochten sie gegen die wahrhaft Christlichfrommen? Gott war ihr Schirm und Schild, er, der Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, er, der Persönliche und Herrliche, an den man sich klammern kann, der Milde und doch streng Gerechte, der den verhärteten Sünder in das ewige Feuer sendet, das nie verlöscht.

In dieser Weise erblickte und lernte auch Niels den Gott kennen, in dessen Namen er durch die Lehre »des Sohnes« wirken sollte. Das stille, einförmige Leben hier oben in Jütland war vom ersten Adventssonntage bis zum siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis eine reiche, unendliche Zeit, und doch, wie schnell war am Neujahrsabend das ganze Jahr dahingeflogen!

Jahre kamen und vergingen; sechs Jahre waren fast seit Niels Ankunft verronnen. »Merkwürdig, wie schnell die Zeit verstrichen ist,« sagte Mutter. Noch merkwürdiger wäre es, meinte Bodil, daß sie nicht viel länger als fünf Jahre zusammen gewesen wären. Und Niels war derselben Ansicht; wie ein Traum, wie eine ganz andere Lebenszeit standen die elften Jahre seiner Kindheit in Kopenhagen vor ihm; dorthin sollte er nun bald wieder zurückkehren, um Student zu werden.

Das Jahr, in dem seine Studienzeit beginnen sollte, war gekommen; Mitte September sollte er nach Kopenhagen übersiedeln, wo er sechs lange, lehrreiche Jahre, die gerade die Zeit seines Übergangsalters ausmachten, nicht gewesen war.

Er sollte, wie seine gute Pflegemutter sagte, jetzt aus ihrer Heimat des Friedens wieder hinaus auf die wilde See, in die Welt der Sünde! Hätte er in seiner Vaterstadt damals als ein unschuldiges Kind gelebt, so kehre er jetzt in sie als ein »Kind der Schwäche« zurück, und der Teufel ginge in ihr wie ein brüllender Löwe umher. Allein er ginge ja dem Ziele seiner Sehnsucht entgegen, das er sich seit Jahren herbeigesehnt hatte! »Student werden!« Es liegt ein Klang der Größe, der Freiheit, ein seliger Zauber für die Jugend in den Worten: »Student werden!« Doch als die Stunde schlug, als er nun von allem scheiden sollte, was ihm theuer war, ergriff ihn tiefer Schmerz. Er wollte ihn verbergen, und doch hätte man fast glauben können, daß ihm selbst der Kettenhund denselben anmerkte, denn winselnd und schwänzelnd stand er vor seiner Hütte. Niels, der einst lediglich der Hunde wegen gern aus Kopenhagen fortgelaufen wäre, nahm jetzt mit Thränen im Auge von einem Hunde Abschied. Ja, er war gegen sonst so verändert, daß er sogar den kecken Wunsch aussprach, einen Hund mitzunehmen. Herrn Schötts Waldine hatte vier reizende Junge geworfen, einen von diesen wünschte sich Niels, gar nicht bedenkend, daß er dadurch Kopenhagens Hundemenge um einen Hund vergrößerte und daß einer der Stammvater oder die Stammmutter einer ganzen Masse werden könnte. Japetus Mollerup war jedoch so vernünftig, sich dem zu widersetzen; Niels würde schon genug mit sich und seinen Büchern zu schaffen haben.

Mutter gab ihm wollene und leinene, lauter gute und neue Sachen mit; zwischen die Wäsche streute sie Lavendel, damit sie einen guten Geruch bekäme; kein nur irgend denkbares Bedürfnis wurde vergessen, weder weißer noch schwarzer Zwirn, weder Nähnadel noch Stopfnadel, ja nicht einmal ein Fingerhut, denn nun mußte er sich selbst die Knöpfe annähen, wenn sie ihm abrissen.

Die alte Bibel und »Tausend und Eine Nacht« wurden gleichfalls eingepackt, gar nicht zu reden von den gelehrten Büchern, die ihn in das Reich der Wissenschaft einführen sollten.

Bodil und Mutter weinten, die Mägde in der Küche wie im Brauhause weinten; »unser Sohn muß nach Kopenhagen«. Der Pfarrer gab ihm gleich den übrigen einen Kuß und sagte: »Halte fest an deinem Vaterunser, möge es dir immerdar Gebet und Leitstern für dieses Leben sein!«

Der Wagen hielt vor der Thür, bei Aarhuus lag das Dampfschiff und sobald es ihn nach Kopenhagen gebracht, war auch dort bereits für ihn gesorgt. Herr Schwan hatte ihm bei einer braven Frau, der ehrenwerthen Witwe Jensen in der Schwerdtfegerstraße, eine Wohnung verschafft. Ihr Haus, Mitten in der Stadt, lag in bester Gegend und in nicht zu großer Entfernung von der Universität.

»Lebe wohl, geliebtes Heimatsland, du braune Haide!«

Vorwärts, vorwärts nun nach Kopenhagen!


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