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Das alte Sprichwort:
»Es finden zwei Große in einem Sack
Nicht Platz mit ihrem ganzen Pack«
fand an Herrn Bruß und Niels Bryde seine Bestätigung, wenn diese beiden überhaupt groß genannt werden können. Sie waren gleich begabt, gleich eitel, und das war wohl der eigentliche Grund, weshalb sie stets zusammengeriethen, sobald sie einander trafen. Bei ihrer nächsten Begegnung ließ Herr Bruß ein humoristisches Douche- und Sturzbad über die Hegelsche Philosophie herabrauschen, der Niels Bryde nach seiner Annahme huldigte. »Heiberg und Martensen,« sagte Herr Bruß, »haben dieses ›Goldene Kalb‹ eingeführt, um welches unsere Jugend tanzt, nachdem der Tanz in Deutschland, wo man den bittren Geschmack des Metalls bereits gekostet, aufgehört hatte.«
Niels Bryde dagegen sprach von schlechten Predigern, von ihrer »Blumensprache«, oder von »mit Bibelsprüchen gespickter Geistlosigkeit«, von »Perlen auf Fäden, die nicht zusammenhingen«.
»Sie kommen ja nie in die Kirche,« entgegnete Herr Bruß, »wenn es nicht etwa bei einem Leichenbegängnisse ist. Sie haben ja selbst dergleichen geäußert.«
»Auch bei Trauungen,« erwiderte Niels Bryde. »Neulich hörte ich von den vielen schönen Geschenken reden, welche die jungen Leute, wenn sie nach Hause kämen, von ihren Freunden und Freundinnen vorfinden würden.«
So ging es weiter und immer weiter. Nach der Bestimmung der Frau des Hauses sollten Herr Bruß und Herr Bryde künftig nicht mehr zusammen eingeladen werden.
In der Bibel heißt es, daß wir am jüngsten Tage Rechenschaft über jedes unnütze Wort ablegen müssen, und unter diesen wiegt gewiß jedes lieblose Wort über unsere abwesenden Nächsten am schwersten; ob es gedankenlos oder in Bitterkeit gesprochen ist, es durchfliegt die Luft und steht vielleicht einmal wie eine ewige Eisblume auf der Tafel, auf der unsere Missethaten mit feurigen Buchstaben verzeichnet stehen.
So faßte Esther wenigstens eine Äußerung Niels Brydes auf. In der letzten Zeit war sie öfters zu einer älteren Dame, der Witwe des Consistorialraths Ancker gekommen, die in hohem Grade und aus christlichem Gemüthe wohlthätig war. Esther sprach von ihr mit großer Innigkeit.
»Sie ist allerdings eine sehr achtungswerthe Frau,« sagte Niels Bryde, »nur ist es schade, daß sie etwas närrisch ist.«
»Närrisch!« rief Esther.
»Ja wohl, sie glaubt ja im vollen Ernste, daß die Sterne des Himmels auf die Erde herabfallen und wie welkes Laub auf ihr liegen bleiben können!«
»Sie glaubt es, weil es in der Bibel steht,« versetzte Esther.
»Und eben daß sie es glauben und dergleichen im Ernste sagen kann, das spricht doch gegen allen gesunden Menschenverstand, das ist doch Narrheit.«
»Das nehmen Sie an, aber nicht meine Freundin,« erwiderte Esther und fuhr dann fort: »Ich bin nicht der Ansicht, daß man den Glauben eines andern in religiösen Angelegenheiten so absprechend verwerfen darf.«
»Meine liebe, verständige Esther hat heute einmal Lust zu disputiren,« sagte Niels Bryde und blickte das kecke, bestimmte Gesicht des jungen Mädchens lächelnd an. »Sie, die Sie die Entfernung und die Größe der Sterne kennen, Sie wissen doch recht gut, wie unsere kleine Erde unter dem Druck der herniederstürzenden Sterne zerschellen und verschwinden müßte. Wie in aller Welt können Sie – – – das ist ja reine Narrheit!«
»Wenn nun aber Ihr Wissen Narrheit wäre?« entgegnete Esther.
»Bravo!« rief Niels Bryde. »Schnee ist schwarz, Kohle ist weiß. Wir streiten, um uns lustig zu machen.«
»Das vermag ich Ihnen gegenüber nicht,« sagte Esther, »aber Sie sind kein wahrer Christ,« und sie sah Niels Bryde mit einem Blicke an, den er nicht zu deuten verstand; er war ernst und doch sanft, es spielte sogar ein kindliches Lächeln um ihren Mund.
»Ich gehöre nicht zu den Christen, die an Unmöglichkeiten glauben,« wandte er ein.
»Bei Gott ist nichts unmöglich,« erwiderte sie; »das glaube ich und ich weiß nichts Besseres!«
»Nichts unmöglich!« wiederholte Niels Bryde. »Es ist ihm doch unmöglich, gegen die Vernunft zu handeln! Er kann das Geschehene doch nicht wieder ungeschehen machen! Er kann das Böse nicht lieben, kann nicht lügen! Aus der Schrift selbst kann ich Ihnen Gegengründe in Menge anführen. Ich verstehe Sie nicht; was halten Sie für wahr, was glauben Sie?«
»Daß Sie kein Christ sind!« sagte sie und verließ das Zimmer.
»Ich, kein Christ!« wiederholte er, »freilich, nach ihrem Begriffe bin ich es nicht. Aber will sie es etwa sein? Ist dies Gesundheit oder Krankheit? Ist es nur Lust zu widersprechen? Hm, habe ich ihrem Verstande vielleicht zu viel zugetraut?«
Diese ihn durchkreuzenden Gedanken gereichten Esther nicht zum Ruhme, und doch fühlte er sich wunderbar zu ihr hingezogen. Er hatte ihren Verstand für den Berührungspunkt zwischen ihr und ihm gehalten, aber es war der Geist, das unbewußt Geniale, das aus dem tiefen, reinen Grunde hell hervorstrahlte; er sah in ihr eine dänische Bettina und in sich einen Göthe.
Als er noch ein Kind war und bei seinen Eltern hoch oben auf dem »Runden Thurme« wohnte, saß er dort, und dieses Gleichnis hat er schon früher angewandt, wie die Else und die kleine Marie in dem stattlichen Baume saßen, welcher urplötzlich aus dem Obstkerne emporwuchs, den sie in die Erde gelegt hatten. Als Kind war er auf den Zauberbaum der Phantasie gehoben worden, hatte sich auf ihm geschaukelt und von ihm aus weit über ganz Kopenhagen hinfortgeschaut, und war im Traume mit der Schnelligkeit der Schwalben dem leuchtenden Sterne entgegengeflogen, welchen er doch nicht zu erreichen im Stande war, denn der Flug hinauf mußte länger als hundert Jahre dauern. – Jetzt hatte die Wissenschaft ihren starken Fruchtkern in den Erdboden gelegt, der Baum des Verstandes wuchs und wuchs, und hoch oben in dessen Gipfel saß er schaukelnd da und schaute hinaus über die Erde, hinaus in das Weltall. Er hatte gelernt, daß die Töne, welche das Menschenherz rühren, nur Schallwellen in der Luft sind, die rosenrothen, schwebenden Wolken nur nasse Dünste, die unermeßliche leuchtende Luft nur ein Zittern in der Atmosphäre; durch die Funken des Verstandes erschien ihm die ganze Herrlichkeit todt und geringfügig. Der Augennerv wird durch gewisse Brechungen gereizt, welche wir, da sie uns angenehm sind, Schönheit nennen, gerade wie die Geschmacksnerven durch gewisse Nahrungsmittel gereizt werden. Die Thätigkeit unseres Gehirns ist das begründende und bedingende Sein unseres höchsten Ichs, davon war Niels überzeugt, und er erkannte, daß, wie der Laut durch Erschütterung und Bewegung der Luft, so auch jede Stimmung oder jedes Gefühl durch eine Thätigkeit des Gehirns, dieser terra incognita, hervorgebracht werde. Der Phosphor desselben leuchtete, wie Feuerbach ihn gelehrt hatte, als Laterne bei diesem Insich- und Umsichschauen, bei welchem ihm der jugendliche Übermuth wie die Eitelkeit des Ichs, die zwar »der Quell aller Laster, aber auch aller Tugenden ist«, einen Sinnengenuß bereitete, der wie jeder Genuß auf seinem Höhepunkte kein Verlangen nach Erneuerung oder längerer Dauer fühlt; die Minute ist das Herrschende, man verliert sich in sie und verlangt nicht nach der Ewigkeit. Diese wie Gott verschwanden in seiner Selbstbeschauung. In den Schriften, die er gelesen, hatte er besonders die Stellen roth angestrichen, die seine eigenen Gedanken oder wenigstens solche wiedergaben, die er sich angeeignet hatte. Namentlich einen Satz wollen wir aus diesen angestrichenen Stellen hier anführen; er lautet:
»Der Mensch allein ist und sei unser Gott, unser Vater, unser Richter, unser Erlöser, unsere wahre Heimat, unser Gesetz und Maß, das A und O unserer staatsbürgerlichen und sittlichen, unseres öffentlichen und häuslichen Lebens und Strebens. Kein Heil außer dem Menschen.« Feuerbach
Niels wußte, alles Geschaffene war auf so vernünftige Weise entstanden, daß man seine Schöpfung müßte begreifen und fähig sein können, das Geschaffene selbst ins Leben zu rufen, besäße man nur die Kräfte dazu. Der Alchymist müßte Gold machen können, der Diamant müßte sich schaffen lassen, verstände man nur den Druck, dem er sein Dasein verdankt, hervorzubringen; ja, es war sogar denkbar, daß selbst der Mensch durch Zusammensetzung der organischen Stoffe geschaffen und ihm Leben eingeblasen werden könnte. Göthe hätte, wie er meinte, diese Ansicht sicherlich getheilt, aber in Folge nicht erlangter Klarheit sie nur spielend in der Gestalt des Homunculus im Faust zur Anschauung gebracht. Der Mensch müßte durch die Entwickelung und Erfahrung der Geschlechter hindurch gewiß im Stande sein »zu werden wie Gott«. So weit war Niels Bryde.
Die Welt ging inzwischen ihren Gang, »sie setzte ihre Krystalle an«; die Weltgeschichte, diese Tropfsteinhöhle von Zufälligkeiten, nahm mehr und mehr zu; sich auf dem Baume des Verstandes schaukelnd, war es lieblich, den, werdenden Gott im Kelche der Lotosblume der Wissenschaft zu betrachten.
»Und käm' der Kön'ge ganze Reih'
Mit aller Macht und Klerisei,
Sie könnten selbst mit ihren Pfaffen
Kein einz'ges Nesselblatt erschaffen.« H. A. Brorson
Mit aller seiner Klugheit gelangte Niels Bryde nicht zum Verständnis der richtigen Mischung der Stoffe, nicht einmal in dem geringen Blatt und nicht im todten Stein; und wäre er auch dazu gelangt, hätte er auch den Marmorblock chemisch aufgelöst und glücklich wieder zusammengesetzt, so wüßte er doch nicht, was der Geist aus ihm meißeln würde.
Der Steinblock des Alterthums und der Neuzeit ist derselbe, aber Phidias, Praxiteles, Thorwaldsen, das sind die Kräfte, die ihn umgestalten. Demselben Marmor wird der Künstler Seele einhauchen, ob er ihn nun in eine Laokoons-Gruppe, in eine mediceische Venus oder in einen Ganymed umwandelt.
»Der große Meister haut aus dem Block heraus.« In die Weltgeschichte meißelt der Geist hinein. Die Hammerschläge waren in unseren Tagen hörbar, laut hörbar, während Niels Bryde ruhig auf dem Baum des Verstandes schaukelte und über die sich krystallisirende Welt hinausschaute, die der Mensch mit allen ihren Geschöpfen, ja mit dem Menschen selbst müßte erfinden können, verstände man nur die Stoffe zu mischen.
»Auf Mischung kommt es an!«
läßt Göthe den Wagner in seinem Faust sagen, als sich die Krystalle in der Phiole zu dem Homunculus gestalten.
»Als die Zeit erfüllet war,« sagt die Bibel, »ward Christus geboren. Wenn die Zeit erfüllet ist, dann wird geboren und geschieht, was wir Menschen in aller unserer Klugheit nicht vorausdachten. Wir sehen den Marmorblock, wissen aber nicht, was aus ihm herausgehauen werden soll.«
Von der Seinestadt dröhnten Hammerschläge herüber, von ihr her, die einst die Stätte der kostbaren, leeren, leuchtenden Girandola Ludwigs XIV. war, in der sich Kaiser Napoleons Thronsaal mit den Siegestrophäen erhob und in der die Marseillaise der Rhythmus des Herzschlages bei dem Gedanken an das Vaterland ist. Der Bürgerkönig Ludwig Philipp, der, so lange es sein mußte, der Mann des Muthes war, frei und keck und ohne Furcht vor Höllenmaschinen, beugte plötzlich das Haupt. Die ihm zuertheilte Rolle war ausgespielt, eiligst verließ er Frankreich mit Weib und Kindern und erschien als Flüchtling in England.
Ein tiefer Freiheitsseufzer ging mit einem Male weit durch alle Lande; durch Blut wollte die Volksmasse die goldene Freiheit gewinnen, für welche die Kinder der Zeit noch nicht reif waren. Die schwarz-roth-goldene Fahne wehte. »Sein oder Nichtsein«, diese Worte Hamlets wurden in irdischem Sinne zum Gedanken der Völker.
Die Begeisterung des reinen Herzens, Gemeinheit und Eigennutz, Haß und Leidenschaft tanzten durch Deutschlands Städte, über Ungarns Ebenen und die fruchtbaren Landschaften Norditaliens ihren bacchanalischen Todtentanz. Ein Dröhnen schallte durch Europas Länder, Hammerschläge fielen auf den Marmorblock hernieder, sie klangen bis nach Dänemark hinüber, bis nach den grünen Inseln mit den Lagunen des nördlichen und südlichen Jütlands.
Recht und Gesetz auf seiner Seite haben ist ein herrliches »Dannewirke«, und das war bei Dänemark der Fall. Aber Sympathie gleicht den mächtigen, in dem Innern der Erde strömenden Quellen, die plötzlich hervorbrechen; der Sprudel fragt nicht nach Grenzen.
Über ganz Europa ergossen sich die Ströme des nationalen Einheitsgedankens; wie Gebirgsströme schwollen die verheerenden Sympathieen an. Freiheitsträume, Hoffnungen auf einen allgemeinen Wechsel der Dinge erhoben rauschend ihre Sündflutsgewässer mit Freiheitswimpeln und schwarz-roth-goldenen Fahnen.
Aufruhr war ausgebrochen, ein nur allzu schmerzlicher Krieg! In Reih und Glied wollte Bruder gegen Bruder stehen, Verwandter gegen Verwandte kämpfen!
Tage tiefen Ernstes, Tage der Prüfung, bitter und schwer für den, welcher nicht christlich denkt und fühlt, nahten heran.