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Neue schwere Tage sollten wieder über Dänemark hereinbrechen; viel schwerer noch als der Krieg sie herbeiführte, auch für Niels Bryde schmerzlicher, und doch – Tage des Lichts, des Lebens, der Erweckung. Die Kriegsjahre hatten auf Dänemark schwer gelastet, aber sie verliehen auch moralische Kraft, weckten den Geist der Eintracht, und selbst auf dem Gebiete des Schönen wurden unvergängliche Erinnerungen gesammelt. Viele Lieder aus dieser Zeit werden der dänischen Literatur immerdar zur Zierde gereichen; Bissens Hand schuf das Modell zu dem sieggekrönten Landsoldaten; von der Leinwand herab redeten Sonnes tiefgefühlte Schlachtgemälde zu den dänischen Herzen und erfüllten sie mit Begeisterung. Am vollendetsten aber zeigt sich die dänische Kunst in jenen Jahren in Elisabeth Jerichaus »Dänemark« in der Gestalt eines geharnischten Bauernmädchens mit lichtem, weit über den Rücken hinabwallendem Haar, das nur um die Stirn mit einer goldenen Spange zusammengehalten ist, mit flatterndem Danebrog und gezücktem Schwerte.
Aber eine neue Prüfung, die keine Blüten der Schönheit trieb, kam über das dänische Land. Das Athmen wurde schwerer, der Boden unter den Füßen schien zu schwanken wie ein Schiff auf hoher See. Wie einst in Egypten der Würgengel in einer Nacht in alle Häuser drang und die Erstgeburt erschlug, so ging auch bei uns von Haus zu Haus Angst und Schrecken. Wie der Schlamm sich über die grünen Wiesen ergießt, in gleich häßlicher Gestalt erschien plötzlich die Pest Indiens, aus den Giftdünsten des Flusses geboren, durch die Luft hinüber geleitet oder – denn wer will es wissen – durch die Erdrinde hindurchrieselnd. Gewaltsam riß sie ihre Opfer schaarenweise mit sich; ganze Häuser starben aus. Die Cholera war in Kopenhagen eingezogen.
Tag für Tag stieg die Summe der Todten, schichtenweise wurden die Särge aufgestellt, die Gräber konnten nicht schnell genug gegraben werden. Auf einem Möbelwagen ließ die Frau die Särge ihres Mannes und ihrer Kinder nach dem Orte der Ablieferung hinausschaffen. Freunde und Verwandte gingen einander aus dem Wege. Nur zwei Berufsklassen hielten ehrlich und getreulich aus, die Ärzte und die Geistlichen, die Vertreter der Wissenschaft und des Glaubens; hier war ihr Vereinigungspunkt. In dieser erschlaffenden und niederdrückenden Zeit der Angst glänzten Ausdauer, Anstrengung und Menschlichkeit. Wir begriffen es: unser Wissen ist nur gering, der Glaube ist mächtig.
Wer es irgend vermochte, verließ die Stadt; die Geschäfte in ihr gingen zwar ihren gewohnten Gang, aber über allem ruhte doch ein schwerer Druck, eine abstumpfende Schwermuth. Täglich wurden unter den Todten Verwandte, Freunde oder wenigstens Bekannte genannt. Niels Bryde fühlte sich bereits fast überangestrengt; während er sonst stets äußerst geschmackvoll gekleidet war, ging er jetzt nachlässig in einem alten Rocke einher. Tag und Nacht wurde er an Krankenbetten gerufen; um diese und um den Tod drehten sich alle Gespräche.
Die Familie Arons bewohnte ziemlich weit von der Stadt ein Landhaus am Ufer des Meeres; nur Herr Arons selbst besuchte wöchentlich zweimal sein Comptoir, und Angst herrschte bei seiner Abfahrt und Freude bei seiner Rückkehr.
»Etwas Schönes,« sagte er, »haben diese Prüfungstage doch an sich; die Leute rücken einander näher; Menschen, mit denen man sich sonst nicht grüßte, redet man jetzt auf der Straße an und wechselt mit ihnen einige Worte über das, was das Gemüth beschwert, und was es vielleicht erleichtern kann. Häufig begegnet man dort einem Paare, das zurückgeblieben ist und dem Geringeren, der da weiß, daß es leicht auf das Land hätte flüchten können, aber freiwillig die Prüfung mit dem armen Manne bestehen wollte, thut das wohl. Vor diesem Paare, dem Kronprinzen mit seiner Gemahlin, ziehe ich jetzt noch einmal so tief als sonst den Hut. Nie werde ich ihnen diesen kleinen Zug vergessen! Auch was ich von einem jungen Mädchen vernommen, dessen Vater bei seinen Lebzeiten den höheren Beamtenklassen angehörte, hat mich tief ergriffen. Von herzlichem Mitleid getrieben, ging das Mädchen vor kurzem eines Abends nach dem Hospital, klingelte und erbot sich, ohne sich zu nennen, bei den Cholerakranken Wache und Pflege zu übernehmen. Mit zitternden Händen hatte es die Klingelschnur gezogen. Da es indessen nicht angenommen wurde, ging es nach dem städtischen Krankenhause, in dem es, da man dort gerade einer Krankenwärterin bedurfte, einen Dienst erhielt. In diesem soll es ein wahrer Segen sein. Still, unmerkbar geht es dort auf Filzsohlen wie ein Geist der Liebe umher, wacht, hilft und ist eine nordische ›Barmherzige Schwester‹. Wäre ich ein Dichter, so würde ich es besingen, und hätte ich Orden zu vertheilen, so erhielte es einen. Das junge Mädchen ist eine Schwester Clara Raphaels!«
»Sie gehören beide dem Adel des Geistes und des Herzens an!« rief Esther; »ich fühle, wie sehr ich die stille, im Verborgenen wirkende Schwester liebe; allein auch die andere, die reich begabte, schätze ich.«
Eines Mittags hatte der Großhändler Niels Bryde in seiner Begleitung; während der ganzen langen Cholerazeit hatte ihn die Familie nicht hier draußen bei sich gesehen. Er war gerade völlig überangestrengt, halb krank, und Herr Arons hatte ihn zur Fahrt so gut wie zwingen müssen, um sich doch einige Stunden bei ihnen auszuruhen. Es war für ihn doch immer eine Veränderung der Luft und Umgebung. Auf der Fahrt wollte das Gespräch nicht recht in Gang kommen; gleichsam wie durch einen Trauerflor schauten sie auf das offene Meer wie auf die schöne Gegend am Ufer hinaus, selbst die Sonnenstrahlen kamen ihnen drückend vor.
Erst draußen in dem gemüthlichen Landhause wurde es Niels wieder wohler; in dem Verkehre mit den freundlichen Menschen fühlte er sich erleichtert, und sein Gemüth wurde wohlthuend angeregt. Esther entfaltete an diesem Tage all ihre geistige wie körperliche Schönheit, sie war einnehmend und bezaubernd.
Herr Arons gab das Bulletin des Tages unter der Bedingung, daß an diesem Abende, wo Herr Bryde wieder Athem schöpfen sollte, nicht weiter an Krankheit oder Todesfälle gedacht, geschweige denn von ihnen gesprochen würde.
»Wir wollen uns,« sagte Esther, »wie in Boccaccios Dekameron weit von dem verpesteten Florenz fühlen und nur leben, um von dem Schönen zu sprechen.«
»Leider habe ich jedoch,« versetzte Niels Bryde, »nicht eines Boccaccios Genie, den alten Goldstaub vergessener Schriftsteller in gediegene Goldstatuen für alle Zeiten zu verwandeln. Mir ist fast zu Muthe, als wäre die Kunst und das Schöne aus der Welt und meinen Gedanken verwischt. Mir leiht die Wirklichkeit nur den Bilderrahmen, in den Boccaccio seinen Dekameron faßte, und den ich lieber bei ihm so wie bei Thukydides, Manzoni und Bulwer betrachten will.«
»Und über ihn wollen wir hinausfliegen, obgleich auch diese Prüfungszeit ihre Blüten treibt, wie sie die schweren Kriegstage getrieben haben.«
»Nein, nein!« rief Niels Bryde, »diese Zeit bringt keine Blüten hervor. Der Schlamm tiefer Gedrücktheit, dieser häßliche, kalte Lindwurm, hat sich in unsern Garten gelegt.«
»Und dennoch erweckt diese Zeit vielleicht in mancher Brust ernste Gedanken, in der sie sonst nie rege geworden wären. Man empfindet einen Drang, bereit zu sein, wenn die Stunde kommt. Vorher ging man in allzu großer Sicherheit einher; jetzt ist man dessen eingedenk, daß in wenigen Stunden vielleicht alles zu Ende ist, an das sich sonst so viele klammern, und diese Erinnerung hat viel Gutes. Es liegt ein Segen in dieser Erweckung. Ich glaube, daß in diesen Tagen viele an den Herrn mehr denken als sonst in ganzen Jahren, und das ist eine Erweckung, eine Gnade für das Leben. Wir bedürfen von Zeit zu Zeit einer plötzlichen geistigen Erregung, sonst verlöre sich das bloße Verstandesleben in der großen materiellen Herrlichkeit. Sie wissen, ich betrachte das Materielle nach meiner Weise. Ich freue mich in der materiellen Welt eben so, wie ich mich freue, wenn ich die Thätigkeit der Maurer und Zimmerleute auf dem schwebenden Gerüste ansehe; ich weiß, daß ein herrliches Gebäude daraus entsteht.«
Niels Bryde lächelte; es war, als ob er einen Einwand dagegen erheben wollte, er bedachte sich jedoch und sagte: »Wir wollen weder für die Macht der materiellen Kräfte noch für die Wissenschaft eine Lanze einlegen – wir wissen in der That gar wenig!«
»Wahrlich,« rief Esther, »ich schätze die Wissenschaft und die materiellen Bewegungen ganz anders als Sie wähnen!« und sie blickte ihn mit einem so klugen, so einnehmenden Lächeln an, daß ihre Züge dadurch fast verklärt wurden.
Im Gespräche hat das lebendige Wort eine Kraft, eine Elasticität, eine so wunderbar schmelzende Weichheit, daß der Gegenstand in kaum bemerkbarem Umschwunge unaufhörlich wechselt. Hier hatte bereits Esther sofort die Fäden ergriffen; das Gespräch drehte sich um die Größe und Bedeutung der Zeit, die sich in Erfindungen, in einem immer tieferen Eindringen in Natur und Wissenschaft nebst ihrer Fruchtbarmachung für die Menschheit zu erkennen gab. Das Gespräch wurde äußerst lebhaft, niemand dachte mehr an die Cholera, an das Läuten der Todtenglocke in der Schrecken erfüllten Stadt und an die rings um sie her verbreiteten Todes-Oasen.
»Es berührt mich oft ganz eigenthümlich,« sagte Esther, »wenn ich daran denke, daß in meiner kurzen Lebenszeit oder wenigstens kurz vorher eine so bedeutungsvolle Reihe von Entdeckungen gemacht worden ist: Dampfschiffe, Eisenbahnen, elektromagnetische Fäden, Lichtbilder – das Eine greift immer wunderbar in das Andere ein. Jede Entfernung ist jetzt verschwunden; die Städte rücken einander eben so wie die Menschen immer näher.«
»Und die Thiere ebenfalls,« sagte Niels Bryde und erzählte, wie man den Versuch gemacht hätte, lebende Fische solcher Arten, die sich in französischen Flüssen nicht fänden, von Berlin nach Paris zu transportieren. Bei der Geschwindigkeit der Eisenbahnzüge wäre es auch gelungen; nur die Seekarpfen hätten Zeichen von Unwohlsein zu erkennen gegeben; wie viele Menschen »seekrank« würden, wären sie »fahrkrank« geworden, hätten aber im Übrigen dabei nicht viel gelitten. »Unsere Zeit wird durch unaufhörliche Veränderungen charakterisirt,« versetzte Esther. »Die Menschen haben die Herrschaft über die Stoffe erhalten. Die Wüste Sahara beabsichtigt man in kürzester Zeit in einen See zu verwandeln. Wie ich gelesen, hat ein Ingenieur den Vorschlag gemacht, das mittelländische Meer, welches höher liegt, über die unermeßliche Sandwüste hinströmen zu lassen. Wie bald würden dann die Dampfschiffe über die Sandsteppen hinwegeilen, in welche jetzt die Füße der Kameele und ganze Karavanen versinken!«
»Das wird geschehen,« erwiderte Niels Bryde, »oder man wird artesische Brunnen durch die dichten Sandschichten bohren; dann wird sich eine Oase nach der andern bilden und immer weiter ausbreiten, bis die Wüste zu einer blühenden Ebene wird.«
»Auf den eisernen Schienen des Dampfes fliegt man um die ganze Welt und wer nicht mitfliegt, wird in Photographien billig in den Besitz von Monumenten und Gebäuden kommen. Die Gelehrten werden die Keilschriften des Alterthums in den entferntesten Gegenden Indiens leicht lesen und studiren können; das genaue Abbild wird auf Papier aufgenommen und fliegt in einem Briefe in die stille Stube des Gelehrten, und mit der Lupe dringt er in jeden Schnörkel ein. Wie wunderbar helle Lichtstrahlen, die uns die Herrlichkeit Gottes verkündigen, dringen doch besonders in unsere Zeit hinein! Keine Äolsharfe hat für mich einen so erhebenden Klang wie die Harfe der Gegenwart, deren Saiten eine Stadt nach der andern umziehen: die gedankenschnelle Botschaft des Elektromagnetismus. Froher schlägt mein Herz bei der Vorstellung, daß der erste Gedanke von einem Dänen ausging.«
»Ich weiß es aus Örsteds eigenem Munde,« fuhr Niels Bryde fort; »in einem kleinen Kreise, in dem ich mit ihm zusammen war, erzählte er uns, mit welcher Freude ihn seine Entdeckung augenblicklich erfüllte. Es traf sich gerade, daß er denselben Tag von dem Staatsminister Schimmelmann, dessen Haus damals in Kopenhagen als der Glanzpunkt der Bildung galt, zur Tafel geladen war. Schon in früheren Zeiten wurde dasselbe von den Brüdern Stollberg und Klopstock und später von Baggesen, Öhlenschläger und natürlich auch von dem Adel und den höheren Beamten besucht. Örsted sprach von seiner Entdeckung, und man hörte ihn an, wie man alles, auch das alltäglichste Geplauder, anhörte, ja, eine überlegene ,Größe' klopfte Örsted auf die Schulter und sagte: ,Spaß kann es ja machen, aber was nützt es?' – ,Den Nutzen kann ich noch nicht in klaren Worten aussprechen' erwiderte Örsted ernst, ,aber ich bin von ihm überzeugt.' – Er erlebte ihn, und wir mit ihm; von Europas äußersten Grenzpunkten fliegt der Gedanke wie ein hörbarer Laut und wird wieder beantwortet. Wenn in Amerika einst ein mächtiger Faden vom Norden bis zum Süden gezogen ist, und nun der Orkan heranbraust, der trotz seiner Geschwindigkeit Tage und Nächte gebraucht, um diese Grenzpunkte zu erreichen, dann wird der Telegraph sein Kommen Tage und Nächte voraus verkündigt haben, und der kluge Kaufmann und der Schiffsführer werden ihre Fahrzeuge in Sicherheit bringen können, bis der Sturm vorüber ist. Hier sehen wir den Nutzen handgreiflich, und so viel ich weiß, hat man diesen Nutzen schon daraus gezogen.«
»Und wer will sagen, wo die Grenze ist, wer will wissen, in welchen Richtungen die Entwickelung noch vorwärts schreitet!«
»Ich zweifle kaum daran,« sagte Niels Bryde in scherzendem Tone, »ob es nicht in wenigen Jahren die Genialität schon so weit gebracht hat, daß die großen Virtuosen gar nicht persönlich zu uns zu kommen brauchen; ein Liszt, ein Thalberg, ein Dreyschock benutzen einfach die elektromagnetischen Fäden, die mit ihrem Piano in Verbindung stehen. Dann nimmt man hier in Kopenhagen im Theater Platz, während Liszt in Weimar, Thalberg in Paris und Dreyschock in Prag sitzen und uns zwei- vier- oder sechshändig etwas vorspielen. Der Beifall muß ihnen natürlich zutelegraphirt werden und eben so, so oft da capo gewünscht wird.« Niels Bryde lachte, freute sich über seinen Einfall und wurde so unter Scherz und Ernst immer mehr belebt. Nie hatte er Esther aber auch so lebensfrisch und einnehmend gefunden wie an diesem Abende. Es kam ihm so vor, als träte sie ihm in ihrer Rede inniger, herzlicher, freundschaftlicher entgegen denn je; dasselbe Interesse, dieselbe Hoffnung auf die Zukunft erfüllte sie beide. Das Ungewöhnliche, wenn wir bei ihr die Genialität so bezeichnen können, trat in einem nicht überspannten, sondern warmen, fast begeisterten Redestrome hervor.
»Glücklich,« sagte sie, »wer sich in der Welt umschaut, die Vertreter und Träger der Zeit sieht und hört, sie, die unser Zeitalter eine Stufe höher heben! Welch ein Segen, die Großen seiner Zeit gesehen, die Auserwählten unter uns Alltagsmenschen erblickt zu haben! Ich fühle mich glücklich darüber, daß ich einen Thorwaldsen, Örsted, Öhlenschläger von Angesicht zu Angesicht gesehen habe, und danke Gott aufrichtig dafür. Glücklich,« wiederholte sie mit noch gedankenvollerem und ernsterem Ausdrucke, »glücklich, wem Gott es beschieden hatte, als die Zeit erfüllt war, ihn selbst zu sehen, ihn, der zu Bethlehem geboren wurde und für noch ungeborene Geschlechter in den Tod ging! Selig, ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben!« Und in hellem Schönheitsglanze leuchteten Esthers Augen. Von diesem Augenblicke an war ihr Bild für alle Zeiten in die Seele des Freundes eingebrannt – des Freundes, sagen wir? Von dieser Stunde an war er ein anderer; die Verwandlung war geschehen.
Der seelenhafte Schönheitsausdruck in den Formen war es, der bei ihm eine Sympathie erweckte, die er noch nicht kannte und nicht für möglich gehalten hätte. Ihre Worte klangen ihm wie Musik, ihre Rede erhielt eine ganz andere Bedeutung als früher; die frische Liebe und Bewunderung für die Wissenschaft, die Esther aussprach, fand einen Wiederhall in ihm und rückte sie ihm weit näher. Lebhaft und erregt setzte Niels Bryde jetzt die unendliche Bedeutung der Wissenschaft für die ganze neuere Dichtung auseinander, gab seine Freude darüber zu erkennen, in wie gesunder und klarer Weise Örsted dies nachgewiesen, und äußerte seine Verwunderung, wie selbst denkende, bedeutende Männer nicht schienen verstehen zu können, daß der Dichter auf dem Höhepunkte der Entwickelung seines Zeitalters stehen, das Veraltete in die alte Rüstkammer der Poesie werfen und durch Hilfe der Geister der Wissenschaft sein Aladdinsschloß aufführen müsse.
»Ich bin überzeugt,« sagte Esther, »daß in unserer Zeit unter dem Sausen der sich rastlos drehenden Maschinenräder, unter dem Brausen des Dampfes und unter dem ganzen geräuschvollen Thätigkeitsdrange ein neuer Dichterheros auftreten wird, und zwar gerade getrieben von dem Geiste der Wissenschaft. Aber die Wissenschaft wird ihm freilich nicht das Leben einhauchen. Mit all seinem Wissen vermochte Nureddin nicht, in die Höhle hinabzusteigen und den Schatz zu heben. Der kleine David ist stärker als der Riese Goliath. Die Unschuld erreicht das Ziel: den Kindern gehört das Himmelreich, dem kindlichen Gemüthe wird es zu Theil; und doch wäre es verloren, besäße es nicht gleich Aladdin den Ring des Nureddin, das heißt die Kraft und die Stärke der Wissenschaft. Meines Erachtens ist die Märchendichtung das am meisten ausgedehnte Reich der Poesie: es reicht von den blutrauchenden Gräbern des Alterthums bis zu dem Bilderbuche der frommen, kindlichen Legende und gilt mir, weil es sowohl die Volks- wie die Kunstdichtung in sich aufnimmt, als der Repräsentant aller Poesie. Wer dieses Reich beherrscht, muß in dasselbe das Tragische, das Komische, das Naive, die Ironie und den Humor hineinlegen können, und ihm steht eben so gut die lyrische Saite zu Diensten, wie das kindlich Erzählende und die Sprache der Naturbeschreibung. Zeigt nun nicht, wenn wir darin einig sind, gerade dieser Repräsentant der Poesie, die Märchendichtung, eine solche Aladdinnatur? Im Volksmärchen ist es doch immer Hans Klotz oder Aschenpuddel, wie ihn die Norweger nennen, der zuletzt den Sieg davonträgt; er reitet den gläsernen Berg hinauf und gewinnt die Prinzessin. Auf diese Weise kommt auch die von ihren anderen Schwestern übersehene und verspottete Unschuld der Poesie doch am weitesten, schwingt sich zur Poesie, der königlichen Tochter, empor und gewinnt das halbe Königreich.«
»Das Unmittelbare, Gottes Offenbarung in uns ist die Seele und die Kraft der Poesie, aber freilich die Glieder, die Stoffe springen erst durch Nureddins Ring, durch die Macht der Klugheit und der Wissenschaft hervor, sie werden alle Jahrhunderte wie der Schnitt der Kleider wechseln, während die Poesie, die eigentliche Seele, unsterblich ist.«
»Unsterblich!« wiederholte Esther, ergriff unwillkürlich seine Hand und hielt sie fest, indem sie ihm ins Auge schaute, als ob er sich durch diese Worte über einen Abgrund zu ihr, zu dem Glauben an Unsterblichkeit hinübergeschwungen hätte; oder dachte sie hierüber vielleicht nicht tiefer? Es war spät geworden; Niels Bryde mußte den Kreis der lieben Freunde verlassen, der Wagen wartete seiner schon draußen vor der Thür. Mild strahlten die Augen beim Lebewohl, hell leuchteten die Kerzen. Wie lieblich war Esther, wie melodisch klang ihr Lebewohl! Niels Bryde verlor sich ganz in ihrem Anblicke. Liebe, wie groß ist doch deine Macht! Die Luft war so leicht, so erfrischend. Stille und Ruhe herrschte rings um ihn her, aber in seinem Innern leuchtete läuternd eine Flamme. Es wurde ihm plötzlich klar, daß er Esther liebte; sie war seine erste, seine einzige Liebe. Mit ihr wäre er im Stande gewesen, sein ganzes Leben im Gefühle des reinsten Glückes auf der einsamen Haide zu verleben, gerade auf ihr zu verleben, erlöst von all dem leeren Gerede, von all der Narrheit, die ihn schon so oft mit Widerwillen erfüllt hatten. Im Gedanken an sie vergaß er ganz sein eigenes Ich, der Egoismus seiner selbst verschwand; eine solche Macht wohnt der Liebe inne. Liebte sie ihn wieder? Das war die Frage, die er sich nun bald vorlegte; er mußte hierüber Gewißheit erlangen, sie mußte seine Gefühle erfahren.
Von Liebe und Träumen einer glücklichen Zukunft erfüllt und in freudiger Stimmung rollte er in die schweigende, vom Würgengel bedrohte Stadt hinein, in der der Tod von Haus zu Haus ging und Eltern, Kinder, Verwandte und Gesinde in die Ewigkeit abberief.