Hans Christian Andersen
Sein oder Nichtsein
Hans Christian Andersen

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VII.

Unsterblichkeit.

Unmittelbar nach seiner Ankunft in der Stadt wurde Niels Bryde zu Kranken berufen, und in früher Morgenstunde wurde er schon wieder geweckt, um Sterbende in einem ärmlichen Hause in der Adelstraße zu besuchen. Das schmutzige und verfallene Äußere des Hauses gewährte einen unheimlichen Anblick; abgetretene und baufällige Treppen führten zu einer Giebelstube hinauf, in der zwischen weinenden Kindern zwei Sterbende lagen. Es war eine dem Tode geweihte Stätte, mit all dem Jammer, den die Armuth herbeiführt.

»Mutter stirbt, und Großvater stirbt auch!« schluchzten und schrieen die Kinder.

Niels Bryde erkannte den Mann, ungeachtet er ihn vorher nur ein einziges Mal und zwar in seiner eigenen Wohnung gesehen hatte. Der Gedanke, den ihm derselbe damals ausgesprochen hatte, beschäftigte ihn noch in der Todesstunde in unheimlicher Weise. Seine noch immer nicht zu Stande gekommene Tretmaschine war der letzte leere Gedanke seines Lebens. Und an seiner Seite lag wie er mit dem Tode ringend seine Tochter, die letzten Gedanken auf ihre Kinder richtend, die keinen Vater mehr hatten und nun auch bald die Mutter verlieren sollten. Trotz der Schwere des ihn umgebenden bitteren Elends, das ihn wohl hätte verstimmen können, strahlte doch Niels Brydes Herz von Lebensglück. Selbst hier wie überall, wohin er kam, begleitete ihn Esthers Seelenbild, ja es schwebte fast sichtbar vor seinen Augen, frisch und blühend, wie ein Spiegel der Gesundheit und des Lebens. Alles, was er sah und vornahm, war ihm wie ein unheimlicher Traum, aus dem er bald zum Leben erwachen müßte. Reich und hell glänzte ihm die Zukunft entgegen; es kam ihm nicht in den Sinn, wie nahe er selbst an den Tod herantrat, »wie leicht und bald« er selbst abberufen werden konnte. Wenn man recht jung ist, wähnen wir, gar nicht sterben zu können, oder der Tod scheint uns wenigstens so fern zu liegen, daß er noch unfähig wäre, unsere Gedankennerven zu berühren; haben wir doch noch eine lange, reiche und thatenvolle Lebenszeit vor uns! Einem solchen Wahne überließ sich auch Niels Bryde.

Der ganze Vormittag verstrich in emsiger Thätigkeit; endlich fühlte sich Niels körperlich angegriffen, so daß er auf dem Sopha eine Stunde Ruhe suchte.

Man weckte ihn; Großhändler Arons ließ ihn benachrichtigen, Esther wäre erkrankt, der Hausarzt wäre schon von Kopenhagen abgeholt, es stände schlimm, alle befänden sich in Angst. Esther hätte nach Niels Bryde gefragt, er möchte sofort in dem Wagen des Großhändlers hinausfahren.

Niels Bryde wurde von einem Schrecken ergriffen, wie er ihn früher noch nie empfunden hatte. Esther krank, sie, die noch gestern im Glanze und in der Fülle der Gesundheit strahlte! Er beeilte seine Abfahrt, der Kutscher fuhr mit Windesschnelligkeit, betrübte Gesichter empfingen ihn.

»Sie stirbt,« sagte die Mutter, »ihr ganzes Gesicht ist schon verändert!«

»Deshalb ist der Tod noch nicht zu befürchten,« erwiderte Niels Bryde und fühlte sein Herz stärker klopfen.

Er trat in das freundliche, mit Bildern ausgeschmückte Schlafzimmer. Esther lag mit geschlossenen Augen, bleich und mit abgespannten Zügen da. Der Todeshauch, der sich in der Veränderung des ganzen Gesichts in wenigen Stunden zu erkennen giebt, als wäre der Tod schon eingetreten, ruhte unverkennbar auf ihren Zügen. Das gestern lächelnde, volle, geistreiche Antlitz zeigte sich jetzt scharf gezeichnet, das Lächeln um den Mund war eine todte Falte, und unter den geschlossenen, vorher so geistvollen Augen trat ein schwarzblauer Streifen hervor. Plötzlich schlug die Kranke die Augen auf, sie fühlte Niels' Nähe; wie durch einen Nebelschleier nahm sie ihn wahr. Er fühlte ihren Athemzug, er war eisigkalt wie die Luft aus einem tiefen, kalten Brunnen zur Sommerzeit.

»Dank, daß Sie gekommen sind!« sagte sie. Ihre Worte klangen hohl und wie aus weiter Ferne gesprochen. »Sagen Sie es mir nur, daß es bald vorbei ist! – Die Wissenschaft sagt – –«

»– der Tod ist!« erwiderte Niels Bryde, von dem Unerwarteten ergriffen und überwältigt, unwillkürlich mit leiser Stimme. Alles drehte sich rings vor ihm.

»Und der Glaube,« flüsterte sie, »sagt, daß es das Leben ist.« Das Wort »Leben« betonte sie auffallend stark und drückte seine Hand fest in die ihre. Jetzt war nicht der Augenblick zu reden, nicht ein einziges Wort wurde gesprochen. Ihre Augen sanken gleichsam tiefer, und wie ein Schneebild unter dem Hauche der heißen Luft seine ursprüngliche Form verliert, so zeigte das Schönheitsbild dieses Körpers und dieser Seele immer deutlichere Spuren der Vernichtung. Ihre Hand wurde wie der Marmor und hielt doch die seinige fest. »Es ist das Leben!« Diese vier Worte bildeten hier im Kreise ihrer Lieben die Brücke zwischen »Sein oder Nichtsein«.

»Sie ist todt!« jammerte die Mutter.

»Todt!« hallte es ringsumher wieder. Nur in Niels Bryde lebte nicht dieser Gedanke, nur er sprach nicht dieses Wort. Esther, die Summe seiner freudigsten Gedanken, sie, die lichte, klare, lebendige Seele, fort, verwischt, ausgelöscht wie ein Funke! Wie, nur Asche sollte noch übrig sein, Asche, die nicht mehr in Brand gerathen kann? Nein, der Gedanke war ihm fern. Jetzt lebte in ihm die Überzeugung: Sie ist nicht todt, nicht aus der lebendigen Gedankenbewegung getreten, sie hat das volle Bewußtsein ihres persönlichen Seins bewahrt.

Rings um ihn her wiederholten sie: »Todt, todt!« Er erhob sich schweigend, schwindelig; ihm war, als würde das Blut ihm das Herz zersprengen, aber es traten ihm nicht Thränen in die Augen, er hatte nicht einmal Worte. Er verließ das Haus und schöpfte in langen Zügen Athem; eine Viertelstunde später stand er wieder an ihrem Bette; er betrachtete die Todte. Der Leichnam, auf dem sein Auge ruhte, war ihm nicht mehr Esther. Verändert, fremd lag da ein todter Körper hingestreckt, den er nicht liebte, nicht beweinte – seine Esther hatte ihn verlassen!

Wenn der Tod uns unsere nächsten Lieben nimmt, dann redet Gottes Stimme zu uns am lautesten von einem ewigen Leben und einem Wiedersehen im Jenseits. Diese Stimme vernahm Niels. »Sterben, schlafen, vielleicht träumen,« in solchem Fluge eilten seine Gedanken vorwärts, weit hinaus über das »Nichtsein«.

»Sie schläft süß,« sagte der Vater, der sonst stumm und still da stand wie jetzt Niels Bryde.

»Schläft!« wiederholte dieser fast lautlos. »Und doch,« sagte er bei sich selbst, indem er weiter darüber nachdachte, »und doch schläft der Todte nicht! – Selbst das Neue Testament nennt die Todten nicht die Schlafenden, sondern die Entschlafenen. Wo ist nun diese überschäumende Lebenskraft, dieser Gedankenquell, diese Reinheit und dieses Streben nach der Erkenntnis der Wahrheit, nach dem Wo und dem Wie?« So fragten seine wogenden Gedanken, aber sein Verstand hatte keine Antwort darauf. »Was haben die Weisesten aller Zeiten über den Zustand nach dem Tode ausfindig gemacht? Nur Phantasien, Vermuthungen, einen von Menschen erdichteten Zwischenzustand. Pindar weist in seiner zweiten olympischen Siegeshymne den Guten, bevor sie zu den Inseln der Seligen gelangen, einen Aufenthalt in einem Schattenreiche an; in Platos Phädon ist von einer Erlösung aus der Unterwelt und von einem Emporschwingen zu den reineren Wohnungen über der Erde die Rede. Was lernen wir hieraus? Nur, daß selbst der Heide den Drang und das Streben empfunden hat, dieses uns Unbestimmbare zu bezeichnen. Der Todte schläft!« wiederholte er, »das singen noch die Dichter unserer Zeit. Wie unwahr! Nein, selbst der Staub, der im Grabe ruht, schläft nicht, sondern geht in den Kreislauf der Dinge über, während die Seele – der rechtgläubige Christ, um ein allgemein gebräuchliches Schlagwort anzuwenden, sagt, sie sei in die stille Seligkeit des Himmels hinübergegangen. – Nein! dazu ist sie bei keinem Sterblichen entwickelt genug; sie schwebt einer höheren Vollkommenheit entgegen, oder ist erloschen! – Nichtsein! – Nein, für den Gott, der die Gerechtigkeit und die Liebe heißt, ist es eine Unmöglichkeit!« – Diese Gedanken stürmten auf ihn ein, bis ihn schwindelte.

Ha! – was war das für ein Laut, der sich plötzlich vernehmen ließ! Ein Klang, ein Ton ging durch das Zimmer, höher und höher anschwellend und wieder verhallend. Was war das! »Es ist nur eine Saite im Klavier gesprungen,« sagte die älteste Schwester.

»Welche Saite?«

»Die E-Saite!« entgegnete sie, indem sie sich über das Instrument beugte.

»E! – Esther!« rief Niels und gedachte mit einem Male, was er im Scherze zu ihr gesagt hatte: sterbe ich zuerst und giebt es ein geistiges Fortbestehen, so werde ich mich als ein Klang, als ein Ton offenbaren. Esther hatte diese Worte wiederholt – und jetzt! Er, der so hoch über dem Glauben stand, er, bei dem die Prüfung des Verstandes das einzige Gewisse war, er wurde in diesem Augenblicke ein Kind des Aberglaubens. Viele Menschen zeigen eine psychologische Merkwürdigkeit, die in dem alten Volksmärchen von dem Manne, der das Gruseln lernen wollte, durchgeführt ist. Weder Riesen, noch Gnomen oder Spukgeister jagten ihm Angst ein, aber als ihn in einer hellen Morgenstunde unter freiem Himmel das Geschrei einer Schaar Krähen erweckt, die mit lautem Flügelschlage aufstiegen, da empfindet er mit einem Male das Gruseln, das er zu lernen ausgezogen war. Gerade das Natürliche, Einfache, aber Unerwartete ist im Stande, mit Furcht zu erfüllen. –

Aber nur so lange die Saite vibrirte, währte bei Niels dieser Geisterglaube, er erstarb mit dem Klange; allein auch bei ihm hatte es sich gezeigt, daß wir unendliche Fühlfäden für die unbegreiflichen Bahnen der Geisterwelt in uns besitzen.

Gestern galt ihm Esthers Besitz als das höchste Glück des Erdenlebens; sein ewiges Glück, die nothwendige Vorbedingung der Entwickelung zum Übergange, mußte sich in seinem Innern vollziehen und wurde vielleicht nur durch Esthers frühen Tod begründet. Doch zu diesem Schlusse des Verstandes erhob er sich noch nicht, er lag noch unter dem plötzlichen Eintritt des Unglücks darnieder. Wir haben nicht die Absicht den Schmelz in diesem trauten Daheim und die Trauer der Familie zu schildern, wir wenden uns einzig und allein demjenigen zu, dem der Tod seiner inniggeliebten Freundin ein Schritt zum Leben wurde.

Thätigkeit ist das beste Mittel zur Bekämpfung unserer Trauer; allein gerade die fast überwältigende Thätigkeit, in die ihn diese Tage schwerer Prüfung hineinrissen, weckte in ihm fort und fort die Erinnerung an Esthers Tod. Bei jedem Ausbruch der Trauer an einem neuen Todtenbette erneuerte sich auch die Erinnerung an jene schmerzlichste Stunde. Der Kelch war zu voll, er mußte überströmen.

Zwischen getrennten Lieben kann ein geistiges Zusammenleben geführt werden; mit den uns in die Ewigkeit Vorangegangenen können wir gleichsam noch ein veredelndes Leben fortführen. Esther war seine erste, seine einzige Liebe, sie erhob sich rein und ohne menschliche Schwäche. Sie war noch immer bei ihm und mit ihm, und zwar inniger als zuvor, sie war der beste Theil seines Erdenlebens. – Ihr war die Unsterblichkeit Gewißheit und Glaube gewesen; mußte nun nicht ihr Scheiden von dieser Welt eine Bürgschaft für die Wahrheit dieses Glaubens sein? Lebte sie ja doch auch im Geiste noch immer bei ihm.

Der Zugvogel besitzt einen von uns Instinkt genannten Trieb, der ihn durch das große Luftmeer nach dem Orte hinführt, den er erreichen will. Dieselbe Kraft trägt und führt ihn genau in dasselbe Land, an denselben Ort und an den kleinen Punkt, zu dem ihn die uns unerklärliche Macht der Sehnsucht trieb; es ist dies eine Thatsache, die wir durch alle Zeiten bemerken. Des Menschen Seele besitzt einen noch mächtigeren Drang, einen Trieb, eine Sehnsucht nach der Heimat der Unsterblichkeit. Niels fühlte diese Sehnsucht in sich und hegte doch zugleich wieder Zweifel, den brennendsten, drückendsten Zweifel, und diese Augenblicke des Zweifels waren ihm eine Qual, die größte, die ein Mensch erdulden kann – lieber nicht geboren werden, als solche Qualen auszustehen!

In Esthers Zimmer hingen mehrere gute Kupferstiche. Man bot Niels Bryde einen derselben zur Erinnerung an sie an, doch zog er es vor, sich Göthes Faust zu erbitten, das Buch, welches sie so gern gelesen und in dem sie so viele Stellen angestrichen hatte. Dieses Buch erinnerte ihn an eine ganze herrliche Vergangenheit; ihm war, als ob die Worte hier noch immer den Klang von ihren Worten hätten. Im Buche fand er eine von ihrer eigenen Hand herrührende Abschrift des alten Kirchenliedes: »O Ewigkeit, du Donnerwort« von Johannes Rist, einem Dichter in dem Zeitalter der Reformation. In ihm hatte sie besonders den Vers unterstrichen:

»O Ewigkeit, du machst mir bang,
O, ewig, ewig ist zu lang!«

Gewiß hatte Esther dieses fromme Lied, welches Niels Bryde bisher nicht gekannt, gewiß hatte sie diesen wahren Angstseufzer im Geiste ihres festen Bibelglaubens aufgefaßt und abgeschrieben. Er fühlte sich von der erschütternden Schilderung des Sünders, der auf demselben Punkte stehen bleibt, ganz ergriffen. Was muß ein solcher nicht bei einem ewigen Leben leiden! Wozu bedarf es der Erwähnung von Wasser, Feuer und Schwert! Die können nicht ewig sein; aber die Zeit, die niemand zählen kann, beginnt immer wieder von neuem – ewig, ewig ist zu lang!

Die höchste Größe, die sich ein Mensch zu denken im Stande ist, »das ewige Sein« wird zur fürchterlichsten Strafe, falls wir nicht vermögen, uns durch die Vernunft in der Vernunft, das heißt im Wahren, durch die Vernunft im Willen, das heißt im Guten, und durch die Vernunft in der Phantasie, das heißt im Schönen, zu erheben. Welcher Ruf zur Selbstprüfung, zum Streben zu Gott empor!

Durch Göthes Faust hatte Esther Niels Bryde zum ersten Male gleichsam in den Kreis ihres Geistes hineingezogen; in demselben Buche lag wie für ihn hingelegt das alte Kirchenlied vom »Schrecken der Ewigkeit« und klang an sein Ohr mit der Stimme Esthers aus der großen, Ewigkeit. Das Erdenleben gleicht dem anvertrauten Pfunde das Wenige, was uns hier gegeben, muß wohl angewandt werden, damit wir über Größeres gesetzt werden können. Das Erdenleben ist nicht ein Theil, den wir in unserer Trauer und unserem Schmerze von uns werfen dürfen, wir müssen vielmehr aushalten, ausdauern, wirken und üben, ehe wir weiter hinaus in das Unendliche gerufen werden, um dort nicht verzweifelt in die Klage ausbrechen zu müssen:

»Ewig, ewig ist zu lang!«

Ihm war, als vernähme er Esther um sich her, als wären seine Gedanken ihre Rede; das Zusammenleben zwischen ihnen kam ihm so lebendig und ihn so ganz erfüllend vor wie noch nie zuvor; er fühlte den Drang, ihre Glaubensvorstellungen ganz in sich aufzunehmen, aber er vermochte es nicht ganz.

»Ich glaube an die Herrlichkeit des Himmels, die wir alle trotz der Verschiedenheit unserer Auffassungsweise erkennen müssen; ich glaube an die Hölle, an eine furchtbarere als die, in der das Feuer nie erlischt und der Wurm nimmer stirbt! Was ist wohl die Qual des Körpers gegen die Verzweiflung der Seele über vorsätzliche Sünde! Ich glaube an die Liebe Gottes! Wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, sagte Christus, er, der Gekreuzigte, der unter den Qualen der Kreuzigung für seine Feinde betete. Wer von uns wäre fähig, ihn hierin zu erreichen! Ja, zu ihm sagt mein Herz: Du Ausdruck des lebendigen Gottes, in dir erblicke ich ihn persönlich! – Wer da suchet, der wird finden!«

Wiederum herrschte Kampf und Streit in seiner Seele. Er hatte den festen Glauben an einen persönlichen Gott, er bekannte sich auch zu dem Glauben an die Unsterblichkeit und an Christus, aber dieser Glaube war doch nicht der einer Esther. Der Glaube wird gegeben, man erringt ihn sich nicht durch eigenes Denken.

Die schweren Kriegsjahre waren stille Tage der Erweckung gewesen; der Erdboden lag unter der schützenden Schneedecke und sammelte Kräfte. Esthers Tod war die Frühlingssonne, die die Kräfte weckte und Leben hervorrief. »Esther!« seufzte er. Mit ihr hatte ihn der beste Theil dieser Welt verlassen; sie war vorausgegangen, sie, die ihm hier im Schauen des Geistes längst vorausgeeilt war. Und doch schien sie ihm bisweilen so nahe zu sein wie seine eigene Seele, und er sehnte sich nach dem Wiedersehen, seine Liebe nahm wo möglich noch mehr zu und wurde inniger als zuvor. Jedes geistvolle, gläubige Wort, das sie in ihrer klaren Überzeugung von Gott, Christus und Unsterblichkeit ausgesprochen, hallte mit wunderbarer Kraft, Sehnsucht und Innigkeit in seiner Seele wieder. Gott war ihm eine Thatsache, die Unsterblichkeit mußte es auch werden, und dann würde sich alles Wunderbare aufklären und seine Seele mit Licht erfüllen! – Unter seinem unendlichen Schmerze und seiner Sehnsucht wurde sein kindliches Gemüth wieder wach, seine Hände falteten sich und über seine Lippen drang das Gebet: »Gott, mein Gott, schenke mir Glauben!«

Da trat der tief bedrückten und geprüften Seele Innigkeit im Gebete hervor, Thränen strömten über seine Wangen, licht wurde es in seinem Herzen.

Beklagenswerth, wer nicht erkennt, daß Gott in unser Herz herniedersteigen kann! Hier wurde die Gnade, die Liebe empfunden! Den Glauben kann man sich nicht durch eigenes Denken erringen, er muß gegeben werden.

Der Unsterblichkeitsgedanke hatte sich zum Glauben erhoben!


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