Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)
Für und über die deutschen Frauen
Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)

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Von alten Jungfern.

Der Versuch, eine Ehrenrettung der alten Jungfer zu schreiben, liegt mir fern, denn so vielfach er auch schon gemacht worden ist, ich habe ihn stets für eine ganz überflüssige Sache gehalten. Die alte Jungfer bedarf vor dem Forum Einsichtiger keines Vertheidigers; sie vertheidigt sich selbst; sie ist besser, als der Ruf, den sie bei Flachköpfen genießt, und Flachköpfe klug zu machen, hat es mich nie gelüstet – lieber will ich Mohren weiß waschen.

Aber auch einsichtige Leute, welche der alten Jungfrau bereitwillig ihre Ehre geben, pflegen doch wohl manchmal, wenn auch nur heimlich, mit einem gewissen Mitleid auf dieselbe herabzublicken; und diesen einsichtigen Leuten will ich nur kurz bemerken, daß sie sehr Unrecht daran thun und durchaus keinen Grund zu einem Gefühle von Superiorität haben. Es giebt zwei Arten alter Jungfrauen: aktive und passive. Die aktive alte Jungfrau ist heißer Liebe werth befunden und begehrt worden; weil der Bewerber aber nicht dem Ideal entsprach, das sich die Jungfrau in ihrem Herzen gebildet hatte, hat sie ihm einen Korb 275 gegeben und es vorgezogen, lieber ledig zu bleiben und die schwere Bürde alternder Jungfrauschaft auf die Schultern zu nehmen, als widerwillig Hand und Herz zum ungleichen Bunde zu zwingen. Ist ein solches Fräulein nicht mit materiellen Glücksgütern gesegnet, geht sie einer ungewissen Zukunft entgegen, und hat sie dennoch nicht geschwankt, der Stimme des Herzens zu folgen, so ist sie eine Heldenjungfrau und verdient unsere größte Hochachtung und Bewunderung. Denn, seien wir ehrlich, meine Damen! – nicht jedes Mädchen denkt so groß von der Bestimmung des Weibes; nicht jedes gleicht dem großen Kaufmann,

Der, ungerührt von des Rialto Gold,
Und Königen zum Schimpfe, seine Perle
Dem reichen Meere wiedergab, zu stolz,
Sie unter ihrem Werthe loszuschlagen;«

manch ein Fräulein schätzt die Gelegenheit, »versorgt« zu werden und unter die Haube zu kommen, die aus dem Geldbeutel eines Anderen bezahlt wird, höher als jene Stimme des Herzens, die den Verkauf von Leib und Seele als unweiblich, als verdammenswerth verurtheilt. Manch ein Nabob, der Richards des Dritten Wort auch in moralischer Hinsicht von sich selbst sagen könnte:

»Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajestät,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Athmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei –«

276 manch' ein Nabob dieser Art hat ein widersträubendes Mädchen durch seine Millionen und Paläste verführt, daß sie endlich den Zuflüsterungen kuppelnder Basen nachgab und dem widerwärtigen Geldsack zum Traualtar folgte. Ehre der alten Jungfrau, die das Bewußtsein im Busen trägt, solcher Verführung getrotzt zu haben, die dem Besitzer der verlockendsten Schätze ihr kräftiges: »Hebe dich weg von mir!« zurief, weil ihm die Schätze des Geistes und des Herzens fehlten, ohne welche der Mammon doch nur ein elender, nichtsnutziger Bettel ist! Preis und Heil einem solchen Mädchen! sie ist ein Weib,

In der Verschwendung der Natur gebildet;

sie besitzt Reize, die nie verwelken; sie ist es werth, daß ihr Männer und Frauen den Saum des Kleides küssen; sie ist ein goldenes Gefäß, gefüllt mit Edelsteinen.

Die passive alte Jungfrau erscheint weniger imponirend, denn sie ist von Niemandem begehrt worden, sie ist, wie es der Volksmund ausdrückt, »sitzen geblieben.« Selten trifft dieses traurige Loos eine reiche Jungfrau; meistens sind es arme, connexionslose, aber nicht selten hübsche und reizende Geschöpfe, die von den Umschau haltenden Heirathscandidaten als concurrenzunfähig total übersehen wurden. Hier muß ich nun gestehen, daß Niemand ein Recht hat, solch »sitzen gebliebenes« Mädchen zu bespötteln, daß mir aber Grund genug vorzuliegen scheint, eine vernichtende Anklage gegen viele Jünglinge unseres dollarjagenden, feigen 277 Jahrhunderts zu erheben. Wer ein Mädchen bei der Auswahl seiner Lebensgefährtin außer Concurrenz stellt, blos weil sie keine Glücksgüter zu verschenken hat, der ist ein elender Genüßling; er ist kein echter deutscher Mann; er hat nichts von dem Marke in seinen Knochen, das unsere Altvordern befähigt hat, den Ruhm deutscher Minnekraft und deutscher Heldenstärke bis an die Grenzen der damals bekannten Welt zu verbreiten. Ob es eine Statistik der alten Jungfern giebt, weiß ich nicht; wenn sie wirklich existirt, so ist sie jedenfalls noch sehr jung, und es bleibt daher schwer zu entscheiden, ob die Zahl alter Jungfrauen in neuerer Zeit zugenommen hat; bedenkt man aber, wie epidemisch die Seuche des Materialismus und der Genußsucht unter den jungen Männern der Gegenwart wüthet, so erscheint der Schluß auf eine Zunahme des Standes alter Jungfrauen gerechtfertigt. Wenn heut einmal ein junger Mann bei der Wahl seiner Ehegattin eine Ausnahme macht, wenn beispielsweise ein reicher Sproß des höchsten Adels ein armes Mädchen aus schlichten, ehrbaren bürgerlichen Verhältnissen zum Weibe kürt, dann macht dies einen so überraschenden Eindruck auf die Menge, daß sie in laute Lobeserhebungen eines so edlen, nur dem Herzen folgenden Mannes ausbricht. Und doch sollte ein solches Verfahren die Regel sein und die Voraussetzungen des Publikums in keiner Weise über den Haufen werfen. Hieraus ergiebt sich aber, daß die passive alte Jungfrau gewöhnlich an ihrem Schicksale keinen Schuldantheil trägt und daß ihr Vorkommen oft nur der 278 moralischen Degeneration der heirathsfähigen Männer zur Last fällt.

Freilich erleidet jede Regel ihre Ausnahmen. Es giebt gefallsüchtige Mädchen, die heut diesem und morgen jenem Manne entgegenkommen und die durch dieses Gebahren auch den entschlossenen Freier, der sich ihnen schon genähert hatte, wieder zurückschrecken; sie wollen durchaus nicht ledig bleiben, finden aber im Momente der geforderten Entscheidung nicht den Muth des Entschlusses und vertagen ihr Jawort auf eine günstigere Gelegenheit, wo ein noch mehr willkommener Bewerber auf den Kampfplatz treten dürfte. Bei solch unwürdigem Verhalten verzetteln sie ihr Herz und ihre Kraft; statt zur Leidenschaft der Hingabe gelangen sie nur zur Anempfindung, zur Velleïtät eines eingebildeten Affektes; die Nachfrage schlägt andere Richtungen ein und sie bleiben schließlich als Angebot ungefragt und unbegehrt, schieben aber die Verantwortlichkeit für ihr Geschick dem flüchtigen, wetterwendischen männlichen Geschlechte in die Schuhe. Der grammatikalischen Vollständigkeit wegen könnte man solche Geschöpfe, in denen das aktive und passive Wesen gemischt erscheint, die Deponentia unter den alten Jungfern nennen.

Ein feiner Mehlthau schmerzlichster Resignation liegt zuletzt auf jeder noch so lieblichen Blüthe des ledigen Weibes. Schon die naive Classicität der altgriechischen Literatur hält das Schicksal einer alten Jungfrau für beklagenswerth; einer der größten Kenner des Menschenherzens, Sophokles, legt seiner Elektra 279 das Wort in den Mund (ich will galant sein und statt des wohllautenden griechischen Originals die dürftige Uebersetzung citiren):

»Ich wandle hin ohne Kind und Gatten,
Thränengebadet, ein Raub des unendlichen Jammers; – –«

Orestes ruft derselben Elektra bedauernd zu:

»Weh dir, der Gattenlosen und Verlassenen!«

und Antigone klagt in erschütterndem Gesange:

»Unbetrauert, unvermählet, freundlos,
Betrübt werd' ich geführt meinen Weg!« –

Dieser Mehlthau schmerzlicher Resignation, wenn er überhaupt ein Schönheitsfehler sein sollte, läßt sich aber beseitigen durch bewußte, selbstgesetzte Dahingabe an das Wohl der Menschheit. »Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst!« – das ist das Rezept, nach dem man den giftigen Mehlthau in den farbenschillernden Schmelz verwandelt, wie er auf die Schwingen des Schmetterlings gestäubt ist. So manche alte Jungfrau hat überwunden, allen Weltschmerz niedergerungen und sich als frohes, lebensheiteres, nur Liebe und Wohlthun athmendes Wesen entpuppt, das als barmherziger Samariter Thränen trocknet, Wunden verbindet, gebrochene Herzen heilt. Die ganze Menschheit ist ihr zum geliebten Gatten geworden, dem sie im Daseinskampfe hülfreich und tröstend zur Seite steht; jeder leidende Menschenbruder ist ihr ein liebes Kind, das sie im Schooße hegt und pflegt und mit mütterlicher Inbrunst an das große, reine Herz drückt. Wenn 280 jener unsterbliche Chor in der sophokleïschen Antigone singt:

»Viele der Wunder sind, doch kein
Wundervolleres, als der Mensch! –«

so ist dieser Hymnus auch der alten Jungfrau gesungen, welche die Liebe zur Menschheit zum eigentlichsten Lebensberufe erwählt hat. Sie ist ein Wunder unter den Wundern! sie vermag durch ihr selbstloses, von Segen triefendes Schalten und Walten unsern Blick, der schmerzlich vor den Räthseln dieses irdischen Daseins zusammenschrickt, befreiend auf die Ewigkeit und ihre endgültige Versöhnung hinzulenken!

Wo sich jedoch die Sorge des ledigen Weibes nicht den hülfsbedürftigen Mitmenschen zuwendet, wo sie nur eigenes Wohlbefinden, Vergnügungen und Unterhaltungen aller Art im Auge hat, da entstehen leicht jene altjüngferlichen Caricaturen, wie sie längst zum Gespött der Menge und zum Sprüchwort wurden. Es ist nicht zu leugnen, daß hier und da eine alte Jungfrau einer geradezu entsetzlichen Neugier und Klatschhaftigkeit zum Raube wird. Ich kannte zwei unverheirathete Schwestern, deren gemeinschaftliches Lebensalter weit ein Jahrhundert überstieg; sie saßen Sommer und Winter, Tag für Tag an je einem Fenster ihres Stübchens und hielten die Straße drunten, über die Strickzeuge hinwegsehend, unausgesetzt unter dem Kreuzfeuer ihrer spähenden Blicke. Nicht daß sie etwa schielten; aber sie saßen Angesicht gegen Angesicht, so daß eine Jede auch denjenigen Theil der Straße beobachten konnte, welchem 281 die Andere den Rücken zukehrte. Jeder Vorübergehende wurde bemerkt; jede Damentoilette gemustert; jede Equipage kritisirt. Sie kannten Jedermann beim Namen, sowohl den vorüberreitenden Offizier als den ehrbar wandelnden Pastor; sie kannten jeden Arzt, jeden Richter, jeden Ladendiener, jede Hökerin und jede Wehmutter der Stadt. »Warum trägt nur heut die Landgerichtsräthin ihr neues seidenes Kleid?« – »Sieh nur den Rittmeister, wie er sich geschniegelt hat! was hat er nur vor?« – »Ei, was mag denn der Rentner für ein Packet bekommen? die Packetpost hält schon wieder vor seiner Thür.« – »Nein, diese Baronin! ich bitte Dich um Gottes willen! Hast Du gesehen, welchen herausfordernden Blick sie dem Präsidenten zuwarf? Das ist doch ein gar zu schlimmes Weib!« – »Der Krämer drüben steht schon wieder vor der Ladenthür und guckt den hübschen Mädchen nach – der wird wohl nächstens Bankrott machen – Kunden scheint er gar nicht mehr zu haben.« – »Da trägt der Conditorjunge schon wieder eine Torte zu Postmeisters! die Leute leben auch nur so drauf los – ich möchte wissen, wo sie eigentlich die Mittel hernehmen.« – »Wer ist nur im Eckhause erkrankt? Der Doktorwagen hält dort schon seit einer halben Stunde.« – »Barmherziger Himmel! das Müller'sche Ehepaar geht heut zusammen spazieren! Das wird wohl kurz vor dem Ende des guten Mannes sein – sonst sitzt er doch immer hinter der Weinflasche und läßt die arme Frau allein gehen.« – Nicht immer ist die Unterhaltung der beiden Schwestern so relativ 282 harmlos; es kommen auf der Straße auch fragwürdigere Dinge vor, die sie nicht gleich zu deuten wissen, und dann erschöpft sich ihre Neugier in recht gewagten Vermuthungen und schrickt selbst vor den verwegensten Hypothesen nicht zurück. »Sieh nur! da geht Frau Z. immer noch ohne ihre Tochter.« – »Die ist ja längst abgereist.« – »Ja, ich weiß es – die Abreise erfolgte sehr schnell und ohne jeden ersichtlichen Grund – und nun ist das Fräulein schon seit Monaten verschwunden – – Kam es dir nicht auch so vor, als ob sie sich in letzter Zeit etwas verändert hatte?« – »Aber, Schwester, was sind das für Gedanken! Und dennoch – du könntest Recht haben – ich erinnere mich ganz genau, auch mir erschien damals nicht alles ganz richtig – –.« – »Wir müssen gut Acht geben, wenn sie wieder kommt! man hat ja doch Augen im Kopfe – –.« Es ist eine sehr schiefe Ebene, auf welche sich die Combinationsgabe und das Sensationsbedürfniß der beiden Schwestern diesmal begiebt. Neugier erzeugt Mißtrauen; Mißtrauen, durch eine krankhafte Phantasie genährt, gebiert die Verleumdung, und die Verleumdung mordet kalten Blutes und lächelnden Mundes selbst den Ruf der besten Freundin. Hat eine alte Jungfrau auch nur den ersten Punkt der so verlaufenden Linie betreten und ist sie von Mutter Natur mit einem leicht beweglichen Zünglein ausgerüstet – dann wehe, dreimal wehe dem Frieden der Familien, dem guten Leumund einer ganzen Stadtbevölkerung! Ich will lieber zwischen den knirschenden Kiefern eines Alligators zappeln, als 283 meinen ehrlichen Namen von der Zungenspitze einer klatschsüchtigen, neugierigen alten Jungfrau bedroht wissen. Die Fenstersitze fleißiger Damen sollen übrigens hierdurch keineswegs verdächtigt werden; sie gewähren für weibliche Handarbeiten in den Früh- und Spätstunden das meiste Licht; warum aber eine emsige Stickerin und Strickerin auch mitten am Tage, wo das einfallende Sonnenlicht oft genug lästig wird, am Fenster sitzen muß, das habe ich nie begreifen können.

So wie das vorige Jahrhundert in roher Unwissenschaftlichkeit den Geisteskranken nicht als leidenden, der Hülfe bedürftigen Menschenbruder, sondern wie eine Art Dämon mit absichtlicher Feindlichkeit und Rohheit behandelte, so hat es auch die alte Jungfrau meist nur zur Zielscheibe des grausamsten Spottes genommen, während es erst der Gegenwart vorbehalten blieb, auch diesen Geschöpfen ein humanes Interesse zuzuwenden und ihretwegen die Frauen-Erwerbsfrage ernsthaft aufzuwerfen. Von dieser brennenden Frage soll hier nicht gehandelt werden, wohl aber bleibt eine andere Frage kurz zu beantworten: in welchem Lebensjahre tritt ein Fräulein in den ehrbaren Stand der alten Jungfern?

Ein ziemlich geschmackloser Autor, der Ausgangs des vorigen Jahrhunderts in Leipzig einen »philosophisch-historisch-moralischen Versuch über alte Jungfern« herausgab, definirt die alte Jungfrau als »eine unverheirathete Weibsperson von vierzig Jahren.« Der bekannte lachende Philosoph bestreitet die Richtigkeit dieser Erklärung und sagt: »Im gemeinen Leben datirt man 284 schon mit dreißig, daher sie (die alten Jungfern) auch gern einige zwanzig Jahre in den Zwanzigen bleiben, die ganz offenen ›etwas über neun und zwanzig‹; eine von neununddreißig rechnet gewiß eher neunundzwanzig als dreißig, und mit fünfzig immer noch neunundvierzig, wie die Wirthe lieber 59 Kreuzer rechnen, als 1 Gulden.« Ich halte diese Behauptungen für nicht ganz zutreffend, wie es mich überhaupt schmerzt, daß der so ziemlich vorurtheilslose und jedenfalls amüsante Demokrit in seiner Besprechung der alten Jungfern noch ganz auf dem Standpunkte des vorigen Jahrhunderts steht und nichts Besseres vorzubringen weiß, als fade Zweideutigkeiten und recht plumpe Scherze. Das, was er von dem Sich-jünger-machen-wollen der alten Jungfrauen sagt, paßt auf jedes eitle und gefallsüchtige Frauenzimmer, sie mag den güldenen Reif am Finger tragen oder nicht; es giebt genug Mädchen, die aus ihrem Alter niemals ein Geheimniß machen, wenn sie auch schon zum dritten oder vierten Male »genullt« haben. Nicht mit vierzig, und nicht mit dreißig Jahren wird man eine alte Jungfer; jene Vertreterinnen echter Weiblichkeit, die sich Zeit ihres Lebens ein junges Herz voll Menschenliebe zu bewahren wissen, bleiben auch noch im Greisenalter jugendlich; und eine zimperliche, neugierige, ansäuerliche, boshafte, klatschsüchtige Person kann sich schon mit fünfundzwanzig Jahren zur richtigen alten Jungfer ausgebildet haben. Ein Mädchen, das ihr Herz an einen Mops oder einen Stubenkater hängt, statt es der Nächstenliebe zu öffnen, das bei einem 285 ehrlichen, deutschen Kraftworte scheinzüchtig erröthet, während es heimlich die Romane französischer Naturalisten liest, das gern über die Schlechtigkeit der Welt und besonders der jungen Männer jammert und dabei den guten Leumund jeder Verlobten heimtückisch erdrosselt, das sich einer unberechenbaren Launenhaftigkeit hingiebt und nicht für Jedermann den Sonnenschein der Milde und des Lächelns hat, – ein solches Mädchen wird man eine alte Jungfer nennen dürfen, selbst wenn es erst zwanzig Lenze hätte blühen sehen.

Der Begriff »alte Jungfer« erscheint nach alledem als eine Kategorie, die sich nur in den allerniedrigsten Schichten des weiblichen Geschlechtes mit einem Inhalte erfüllt; in den höheren Sphären, wo es herz- und geistesgebildete Jungfrauen giebt, wird er gegenstandslos. Die alte Jungfer im schlechten Sinne des Wortes ist allemal eine wurmstichige, mißrathene Frucht am Baume der Weiblichkeit; im guten Sinne ist sie ein älteres Fräulein, das eben alles andere eher ist als eine alte Jungfer. Es dünkt mir immer ein übler gesellschaftlicher Brauch der Deutschen, diesen älteren ledigen Damen den Titel »Fräulein« zu belassen, da man verkehrter Weise mit diesem Worte den Begriff der Gattenlosigkeit verbindet; »Fräulein« ist in Wirklichkeit nur das Diminutiv, die höfliche oder zärtliche Verkleinerungsform von »Frau«, und mit dem Ehrentitel »Frau« bedachten die alten Deutschen jedes edle Frauenzimmer, gleichviel ob es verheirathet war oder nicht. Die französische Sitte, welche auch dem älteren Fräulein das 286 Prädikat »Madame« giebt, wäre für uns gewiß nachahmungswürdig; wir hätten dieses »Madame« einfach mit »gnädige Frau« zu übersetzen und erlösten uns so von dem unpassenden Brauche, auch der jüngsten verheiratheten Frau stets den Vorrang vor einem älteren Fräulein zu geben. Eine beispielsweise sechzigjährige ledige Dame, als »gnädige Frau« angeredet, kann sehr wohl den Anspruch erheben, an der Gasttafel über der zwanzigjährigen Gemahlin eines Obersten oder Geheimen Rathes zu sitzen, denn die wahrhaft feine Gesellschaft verbeugt sich überall respektvoller vor dem ehrwürdigen Alter als vor einem Titel. 287

 


 


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