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Klara Wendel, oder der Schultheiss Kellersche Mord in Luzern.

1816-1826.

Am 12. September 1816 ging der Schultheiß des Kantons Luzern, Keller, nachdem er den Abend im städtischen Cassino zugebracht hatte, in Begleitung seiner beiden Töchter, welche in der Stadt Besuche gemacht und gegen 8½ Uhr ihren Vater aus dem Cassino abgeholt hatten, nach seinem unfern gelegenen Landgute, Geißmatt, welches er im Sommer mit seiner Familie bewohnte.

Am nächstfolgenden Morgen erfuhr man in der Stadt, daß Keller nicht in sein Landhaus gekommen, sondern spurlos verschwunden sei. Es ward dies noch am selben Tage in der Sitzung des täglichen Rathes demselben durch den Statthalter Dulliker angezeigt.

Der Weg war nicht weit, und da sie ihn so oft zurückgelegt, gewiß der Familie Keller wohl bekannt. Aber unter Umständen war er nicht ungefährlich. Der schmale Fußpfad führte, bald nachdem, man aus dem Thore kam, an den Ufern der Reuß fort, die links von den Fußgängern blieb. Zuweilen entfernte er sich von demselben, an andern Stellen berührte er dicht das schroffe, jähe Felsufer, unter welchem der wilde Strom tobte. Eine dieser gefährlichsten Stellen wurde gemeiniglich »der böse Weg« genannt. Dazu war es eine stürmische, stockfinstere, regnichte Nacht, und gerade als die Familie unterweges war, strömten die stärksten Regengüsse herunter. Der Schultheiß hatte keinen Bedienten bei sich, auch keine Laterne, aber er sowol, wie jede seiner Töchter, trugen einen Regenschirm.

Nach der erst weit später zu Protokoll genommenen Aussage der beiden Damen gingen sie zusammen bis zu einer »Trülle«, einem Kreuz, das sich auf einem Pfahle dreht, um den Fußweg für Pferde zu schließen, unfern dem Nöllithor. Hier bot ihnen der Vater den Arm. Sie schlugen ihn aber aus wegen der Regenschirme, und weil sie doch auf dem engen Fußpfade nicht nebeneinander gehen konnten. Sie gingen nun hintereinander. Als der Vater fragte: ob sie auch Alle beisammen wären, antwortete die ältere Tochter: »Papa, mein Schirm stößt an deinen.« Bald darauf merkte die Tochter, daß sie vom Wege abgekommen war, und mußte sich wieder links richten, um hineinzukommen. Hierdurch und durch das Aufschlagen ihrer Kleider, war sie etwas zurückgeblieben, und vermißte ihren Vater nicht, bis sie nach Hause kam.

Die jüngere Tochter ging vor ihrem Vater her und dicht bei demselben. Da, wo der böse Weg anfängt, rief der Vater ihr zu, sie solle sich rechts halten, da man auf der linken Seite leicht ausgleiten könne. Weiter hörte sie nichts mehr von ihm, vermißte ihn jedoch nicht eher, als bis sie nach Hause kam und auf ihn wartete. Aber nur die ältere Schwester kam, der Vater blieb aus. An einer Mistpfütze etwa 200 Schritt von jener gefährlichen Stelle, hatte sie noch ihren Vater gewarnt, nicht hier zu fallen, hatte aber keine Antwort erhalten. War der Schultheiß hier nicht mehr am Leben, oder verhinderte der Sturm und das Brausen der Reuß, daß er die Stimme der Tochter, oder sie seine Antwort hörte?

Die ältere Tochter, welche sich verspätet hatte, hörte eben so wenig etwas Anderes, als Sturm, Regen und das Toben des Bergstroms. Nur glaubte sie, als sie an den bösen Weg kam, den weißen Rock ihrer vorausgehenden Schwester zu sehen, als ob diese auf sie warte. Beim zweiten Geländer glaubte sie Dasselbe, erreichte aber doch, wie sie auch eilte, Niemanden. Als sie an die Anhöhe kam, auf welcher, mehre hundert Schritte vom Flußbette rechts ab, die Keller'sche Wohnung lag, verlor sie im schlüpfrigen Boden einen Schuh. Sie suchte ihn vergebens, beschloß aber dort zu warten, bis sie Vater und Schwester oben ins Haus gehen sehe. Dann, dachte sie, würde man ihr von oben Licht schicken. Sie sah auch die Schwester wirklich in die Hausthür treten, und nach einigen Minuten kam die Magd mit der Laterne herunter, um ihr zu leuchten. Den Vater fand sie nicht. Er war in der Mitte zwischen seinen beiden Töchtern verschwunden. Nach der Oertlichkeit zu schließen, so waren auf dem ganzen Wege beide Damen höchstens 300 Schritt von einander entfernt. Nimmt man an, daß der Schultheiß grade in der Mitte von ihnen ging, so war er von jeder seiner Töchter etwa 150 Schritte ab, als er ihnen spurlos entschwand.

Fräulein Salesie, so hieß die ältere Tochter, kehrte sogleich um. Auch die jüngere Tochter und die Mägde stürzten ihr nach, um zu suchen. Eine dieser Mägde, Marie Stirnemann, ging, um ihr ausgelöschtes Licht wieder anzuzünden, in das Haus eines Nachbars (wir nennen seinen Namen noch nicht, aus Gründen, welche später sich ergeben werden), der mit seiner Familie ruhig beim Abendessen saß. Bald, kam auch die jüngere Tochter dahin, weinend und jammernd. Sie ward von dem Nachbar und seiner Frau in ihre Wohnung zurückgeführt.

Dieser Nachbar ging darauf, nachdem er sich eine Weile im Keller'schen Hause aufgehalten, mit der Magd Stirnemann, welche eine Leuchte ihm vortrug, in die Stadt zurück, um den Schultheiß, der doch möglicherweise zurückgekehrt sein konnte, dort aufzusuchen. Er fand ihn aber weder in seinem Stadthause, noch bei seinem Schwager. Mit diesem Letztem kehrte der Nachbar darauf, ohne Trost zu bringen, in das Keller'sche Landhaus zurück. Als er ihn auch hier nicht fand, ging der Unermüdete noch ein Mal in die Stadt und meldete dem damaligen Staatsrath, der darauf selbst Schultheiß ward, Herrn Am Rhin, den Vorfall.

Die erste und nächste Vermuthung war, daß Keller in der stürmischen und finstern Regennacht auf einem der jähen Abhänge ausgeglitten, und ohne Rettung, unbemerkt in den unten fließenden, reißenden und hochangeschwollenen Reußstrom gestürzt sei. Sofort wurde vom Staatsrath der Republik wegen Aufsuchung des Vermißten längs der Reuß und wegen seiner möglichen Wiederbelebung das Nöthige angeordnet. Zugleich ward schleunigst allen Oberamtmännern des Cantons von dem Vorfall Kunde gegeben, und ihnen besonders Aufmerksamkeit auf Alles anempfohlen, »was darüber Falsches verbreitet werden möchte«. Denn Keller, obgleich der erste Würdenträger einer Republik, gehörte doch einer politischen Partei an, der eine andere Partei gegenüber stand. Jeder Vorfall, der an die Oeffentlichkeit tritt, nimmt unter solchen Verhältnissen leicht eine politische Färbung an. Später ward den Oberamtmännern noch anbefohlen, darauf Acht zu haben, in welcher Art sich die Nachricht in ihrem Oberamte ausbreite, mit welchen Bemerkungen sie im Publicum herumgetragen würde, und welchen Eindruck sie hervorbringe. Der Umstand, daß von keinem der Oberamtleute der gefoderte Bericht deshalb einging, gewann in dem spätern Processe einige Bedeutung.

Erst am dritten Tage nach Keller's Verschwinden, am 15. September 1816, ward gegen Mittag der Leichnam des Schultheiß entdeckt. Etwa 200 Schritt von der Stelle, wo man vermuthete, daß er in die Reuß gestürzt sein könne, fand man ihn auf einer Sandbank im Flusse. Alsbald eilten, hiervon benachrichtigt, der Oberamtmann von Luzern, Joseph Pfyffer von Heidegg und der Amtsstatthalter Glogner herbei, sie nahmen ein Protokoll über den Leichenfund auf und ließen den todten Körper unter Assistenz des Amtsphysicus und Amtschirurgus, gegen zwei Uhr in ein nahegelegenes Landhaus bringen.

Nachdem alle auf der Stelle angewandten Wiederbelebungsversuche, wie sich erwarten ließ, gescheitert waren, schritt man ordnungsmäßig zur Obduction des Leichnams. Er ward dann in einen Sarg gelegt, auf das Rathhaus gebracht und der tägliche Rath ordnete die Feierlichkeiten an, mit welchen der um das Vaterland hochverdiente Verstorbene beerdigt werden solle. Hinsichts einer Untersuchung wegen der Todesursachen ward nichts verordnet, da die bisherigen Ermittelungen zur Genüge ergeben zu haben schienen, daß der Verstorbene an einer gefährlichen Stelle des Fußsteiges durch einen Fehltritt in die Reuß gefallen sei. Diese Vermuthung sprach der Oberamtmann Pfyffer am Beerdigungstage amtlich aus, und sie ward ohne Widerspruch zu Protokoll genommen.

Das visum repertum der Gerichtsärzte, welches der Medicinaldirector jedoch erst später einreichte, ergab nichts, was dieser Vermuthung widersprochen hätte. Der Körper des Verunglückten war auf dem Vorderleib und Gesicht liegend, steif und erstarrt, auch schon etwas in Fäulniß übergegangen, gefunden worden. Beide Arme waren auswärts gebogen, die Hände jedoch an den Schenkeln sich anlehnend, die Knie etwas gebogen, die Finger mäßig in die hohle Hand gebogen, die Daumen ausgestreckt, Mund und Augen geschlossen. »In den Gesichtszügen lag der tiefe Ausdruck innerer Ruhe, der Mund war eher lächelnd.« Die anständige Kleidung, welche der Verstorbene getragen, war, bis auf den Hut vollständig. In den Taschen fand man Alles, was Keller gewöhnlich bei sich trug, auch seinen Geldbeutel und seine Uhr. Sie stand auf neun Uhr 26 Minuten. Hier hatte das eingedrungene Wasser sie in ihrem Lauf gehemmt. Keller war also zwischen dieser Zeit und 8½, wo er das Cassino verließ, umgekommen. Zugleich fand man zwei Notizbüchlein, welche das Protokoll als »merkwürdig« bezeichnet. Nur die Beinkleider waren an den Knieen ganz abgestoßen und an der rechten Hosentasche zum Theil zerrissen. Auf dem Rücken der Nase war eine leichte Quetschung und die Oberhaut von der Stirn losgetrennt. Die leichten Verletzungen des Körpers waren nur gerissene Wunden oder Quetschungen, wie sie bei einem Fall vorkommen mögen; sonst bemerkte man keine Spur von einer verübten Gewaltthätigkeit.

Zugleich führten die Obducenten an, was nach unsern Grundsätzen hier über ihre Aufgabe ging, daß nach glaubwürdigen Zeugnissen, der Schultheiß Keller schon lange mit Schwindelanfällen behaftet gewesen sei. Schon vor acht Jahren sei er ein Mal in einem Schwindelanfall zu Boden gefallen und habe dabei auf längere Zeit sein Bewußtsein verloren. Auch habe er seit einiger Zeit an Gesichtsschwäche gelitten und die Erscheinung eines; anfangenden schwarzen Staars sei mit Betrübniß bei ihm bemerkt worden.

Als Schlußfolge sprach der Obductionsbericht folgende Sätze aus:

1) An dem Leichnam ist keine Spur von Gewaltthätigkeit bemerkt worden, welcher sein Tod zugeschrieben werden könnte.

2) Der Tod ist theils durch Erstickung im Wasser, theils durch einen Schlagfluß, welcher wahrscheinlich die Erstickungsscene früher beendete, erfolgt.

3) Der Fall des Verstorbenen ins Wasser ist vermuthlich durch einen Schwindelanfall verursacht worden, weil er einmal zu dieser Krankheit Neigung gehabt, und bei solchen Personen, nach der Erfahrung, nicht nur der Blick in fließendes Wasser, sondern auch das starke Rauschen desselben Schwindelanfälle hervorrufen könne; zweitens die Quetschwunden an der Stirn, ohne Zeichen eines Widerstrebens an den Händen, auf ein passives Hinfallen deute, und er drittens während und nach dem Fallen keinen Laut von sich gegeben habe. (Weiß man das, wo der Herbststurm tobte, der Regen prasselte und die schäumende Reuß rauschte? Und konnten es gerade die Aerzte wissen? Auch dies ward an der Instruction des Processes gerügt; es wäre aber zu wünschen gewesen, wenn diese Rüge gegen die Aerzte, welche außer der Sphäre ihres Amtes, aus Angaben und Aussagen dritter Personen Schlußfolgen zogen, die einzige geblieben wäre!)

Bei den Anstalten, die Leiche aufzufinden, hatte sich der Oberamtmann Joseph Pfyffer von Heidegg, welcher in der Nähe des Schultheißen auf dem Lande wohnte, sehr thätig bewiesen; bei der Obduction des Leichnams war er jedoch nicht bis zu Ende geblieben.

So viel und mehr nicht wußte man von dem Todesfall im Herbste des Jahres 1816. Es war nichts versäumt worden, um sich über die Sache Aufklärung zu verschaffen. Alle Maßregeln gingen von dem Staatsrath der Republik aus und wurden pünktlich ausgeführt. Der tägliche Rath erklärte sich damit einverstanden und dankte dem Rath dafür. Keine dieser beiden höchsten Staatsbehörden hatte einen Grund zum Verdacht wegen eines dabei stattgefundenen Verbrechens, und der ordnungsmäßig abgestattete Obductionsbericht gab eben so wenig zu einer Untersuchung oder Vernehmung Anlaß.

Der bei weitem größere, gebildete Theil der Einwohner des Cantons Luzern glaubte an einen Tod, der nur durch einen Unglücksfall herbeigeführt worden. Unter den niedern Ständen flüsterte man sich Gerüchte von einem Selbstmorde zu. Aber es gab auch Andere, höher Stehende, welche einer dunkeln Ahnung und dem Argwohn von einer dabei vorgefallenen Mordthat Gehör liehen. Parteigeist und Mißtrauen schweigen selten in einer Republik, sie gehören vielleicht als Agentien dazu, um die Lebensmaschine in Bewegung zu erhalten.

Der Schultheiß Keller, der erste Würdenträger der kleinen Republik, mit dem Prädicat Excellenz, war ein durchaus rechtlicher Mann, ein guter Ehemann und vortrefflicher Vater; selbst seine politischen Gegner räumen von ihm ein, daß er ein großer Staatsmann gewesen, dem nicht allein sein Canton, sondern die ganze Schweiz viel verdanke, ein gerechter Richter, ein Unterstützer der Armen, ein Beförderer alles Guten, und wegen seines edlen, menschenfreundlichen Biedersinnes in der Eidgenossenschaft überall geschätzt. Aber er war der Mann, vielleicht das Haupt einer Partei, die der Freisinnigen, welche damals in Luzern die Oberhand hatte. Ihre Gegner, die Ultramontanen, welche mit der päpstlichen Nuntiatur in engem Verhältnis lebten, und ihre Hoffnung nicht aufgaben, dereinst wieder ans Ruder zu kommen, warfen ihm, freilich persönlich nichts, aber viel als Staatsmann vor. Unter Anderm, daß Keller einst ein Verzeichniß der Fehler der Geistlichkeit, von Jahrhunderten her, ablesen lassen. Die Furcht vor den Jesuiten war lebendig, man fürchtete ihre Intriguen, und wie die Gegenwart zeigt, nicht mit Unrecht, man traute ihnen zu, daß sie alle Mittel in Bewegung setzen könnten, um ihre Zwecke zu erreichen, und in diesem speciellen Falle fragte man sich, was denn das für Notizbücher gewesen sein könnten, die in dem über die Auffindung des Leichnams aufgenommenen Protokolle als »merkwürdig« bezeichnet wurden? Indeß blieben dies lange Jahre, hindurch vague Vermuthungen, mehr flüchtige Träume als ausgesprochene Gedanken, und es mußten noch nach acht Jahren ganz besondere Umstände eintreten, um sie wieder zu beleben.


Es gibt in der freien Schweiz, wie bekannt, eine Classe Menschen, welche der Freiheit in so vollem Maße genießen, daß sie ihnen zum Fluch wird. Die Heimatlosen sind die Parias und Zigeuner der helvetischen Cantone. Sie sind Schweizer und gehören doch keinem Cantone an; keiner übt auf sie ein Recht, als daß er sie von seinen Landjägern fortjagen läßt, oder wenn sie ein Verbrechen begehen, bestraft. Diese Unglückseligen sind durch den Verruf, in dem sie stehen, zum Verbrechen angewiesen. Wo sie erscheinen, betrachtet man sie als eine Plage und denkt nur daran, wie man sie am schnellsten wieder loswerden kann. In einigen Cantonen ließ man von diesen Unglücklichen, wo sie anderwärts nur Zuchthausstrafe erlitten hätten, hinrichten, weil es an Strafanstalten fehlte! Wo sie sich auf Märkten und in Dörfern zeigen, erscheinen sie als »Zwirnmacher, Zundelkrämer, Keßler, Kachelgeschirrkrämer, Vogelträger, Weihwasserwedelverkäufer«. Aber es ist nur der Anschein des Gewerbes, welches dasjenige, das sie eigentlich ernährt, nothdürftig verbirgt, das Diebeshandwerk und die Bettelei.

Schon die Kinder dieser Heimatlosen werden, theils durch Schläge, theils durch das Beispiel ihrer Aeltern und größern Geschwister zum Lügen abgerichtet, oft ehe sie reden gelernt. Kaum daß sie gehen können, werden sie von den Aeltern, die sich im Walde verbergen, an die Straße geschickt, um zu betteln. Sie müssen die kleinen Hände ausstrecken und rufen: sie hätten nicht Vater, nicht Mutter. Wenn sie etwas größer sind, lehrt man sie umständlichere Lügen und falsche Angaben über die Herkunft und den schrecklichen Tod ihrer Aeltern, und wie sie hülflos in die Fremde gerathen sind, sowol um die Vorüberziehenden und Reisenden zu rühren, als um die Policeidiener und Behörden zu täuschen. Zurückgekehrt in den Wald, in die Grube oder das Steingeklüft, wo die Ihrigen lagern und auf die Beute der Kleinen harren, hören sie von den Erwachsenen nichts als Erzählungen von gelungenen Betrügereien, Täuschungen der Obrigkeit und kühnen Diebstählen. Die Kühnsten und Glücklichsten prahlen mit ihren Thaten, die Andern sehen sie mit Bewunderung an und vernehmen die goldenen Regeln, welche die Erprüften ihnen mittheilen, wie man die Obrigkeit hintergehen müsse. Wenn eine Schar dieser Heimatlosen ergriffen wird, so kennt vor dem Gericht natürlich Keiner den Andern; sie Alle sind dann erst heut zufällig zusammengetroffen. Ist der Vater nicht mit verhaftet, so ist er immer längst gestorben; man nennt auch wol einen falschen Namen. Keiner aber von ihnen, vor Gericht gestellt, weiß etwas Anderes, außer wessen er überführt wird.

Man glaubt, und namentlich durch diesen Proceß, welcher viel dazu beigetragen hat, nähere Kenntniß über das Wesen der Heimatlosen in der Schweiz zu erlangen, jetzt zu wissen, daß die Mehrzahl derselben, deren Abkunft dunkel ist und die selbst der Beweise, ja der Nachrichten entbehren, wo sie herstammen, unter einander verwandt und verschwägert sind. Aber ihre Ehen sind wilde Ehen, auf Zeit abgeschlossen und beständigem Wandel unterworfen. In der Schweiz ist der officielle Ausdruck dafür: Beihälter und Beihälterinnen. Einem Dichter könnte es beikommen, das Leben dieser Heimatlosen als heiter und lustig zu schildern, weil es der Freiheit des sogenannten Naturzustandes sich nähert, weil Alle eine große Familie bilden, die der gleiche Druck verbindet, und Jeder den Andern kennt. Aber die es nach der Wahrheit geschildert, sprechen von einem herzzerreißenden Jammer, und betrachten das Dasein der Heimatlosen als eine Plage für sie und das Land und als einen Fluch und eine Schande, für das Schweizervolk, das noch kein Mittel aufgefunden hat, sich der Herumstreicher zu entledigen und ihnen feste Wohnsitze anzuweisen. Noch schiebt ein Canton sie dem andern zu, und mit ihren Kindern und ihren Alten, ihrem Elend, ihren Krankheiten und ihren Verbrechen, werden sie, von Landjägern umzingelt über die Grenze transportirt. Ost aber empfangen die Jäger an der andern Grenze sie gleich beim Eintritt, um sie zurückzuschieben und dann beginnt der unnatürlichste Kampf, oder sie nehmen sie nur auf, um die Unglücklichen, ohne Rast und Ruhe, mit ihren Kolben bis an die nächste Grenze zu stoßen.

Ihre Züge erstrecken sich westlich bis in den Hauenstein und in den Canton Solothurn, östlich und südlich bis in die Cantone Appenzell, Graubündten, Tessin, ins Liechtensteinsche und ins Piemontesische. Selten daß sie auf den Straßen, gewöhnlich am Saum der Wälder, öfters daß sie auf den Gebirgsrücken entlang wandern. Bisweilen wagen sie sich auf die besuchteren Jahrmärkte, suchen die Cantone Luzern, Zug, St. Gallen, Glarus heim und gefährden die Grenzen von Bern, Zürich, Aargau. Sie stehlen sich Nachts in abgelegene Scheunen, oder lagern im Freien um Feuerplätze. Oft ist im Winter selbst das Schneefeld ihr Nachtlager! Mehren von ihnen wäre die Möglichkeit geboten, wenigstens in ihrer Jünglingskraft ein ehrliches Auskommen zu finden, wenn sie in Dienste träten. Aber das findet selten statt. Die Macht der Gewohnheit ist schon früh zu mächtig in ihnen, der Hang zum Herumschwärmen, Müßiggang, Trunksucht, sinnlichen Ausschweifungen, hier so leicht befriedigt. Sie mußten lügen und stehlen, auch wo sie die Noth nicht drückte, und unwiderstehlich zog es sie zurück zu ihren alten Genossen. Der reuige Sohn ward immer wieder gern von den Seinen ausgenommen.

Der Stolz dieser Freien im Felde war um die Zeit unseres Processes ein junger Bursche, der Krüsihans genannt. Ein Dieb sonder Gleichen. Innerhalb zehn Jahren hatte er so viel Diebstähle und Einbrüche vollbracht, daß er sie selbst nicht genau zählen konnte, und – nie war er darum arretirt worden! Muthig, keck, aber auch voll Ausdauer und Schlauheit bediente er sich falscher Legitimationsatteste, um sich einzuschleichen und durchzukommen. Niemand war so auf seiner Hut als der Krüsihans. Er schlief in der Regel nicht an den Feuerplätzen, wo die Seinigen lagerten, sondern entfernt von ihnen im Dickicht, in Höhlen, Getreidefeldern, oft auf eigens ausgesuchten trockenen Stellen mitten im Sumpfe. Wenn er schlief, mußten gewöhnlich Mehre Wache halten. Wo er sich in eine Scheune wagte, mußten ihn die Andern ganz mit Heu bedecken. Zu Sommerszeiten liebte er es, der Sicherheit wegen, auf Bäumen zu schlafen, und band sich auf den Aesten fest. Sein Name war weit und breit gefürchtet, die Gerichte aber hatten ihn noch nicht zu Gesicht bekommen.

Im Mai des Jahres 1824 wurde zu Näfels im Canton Glarus bei einem Kramer ein nächtlicher Einbruch verübt, und aus seinem Laden wurden sehr viel Waaren entwendet. Einige Wochen darauf ergriff man ein Mädchen im Canton Schwyz, welches von den gestohlenen Waaren feilbot. Sie nannte sich Klara Wendel und behauptete, die Waaren gekauft zu haben. Am folgenden Tage widerrief sie diese Aussage, mit der Bemerkung: »es sei Arrestantengebrauch, am ersten Tage nicht Alles auszusagen.« Man sah also, daß man es mit einer in gefährlichen Dingen gewitzigten, aber auch mit einer, in gewisser Beziehung, offenherzigen Person zu thun habe. Sie wollte die Waaren von ihren Verwandten und andern Herumstreichern zum Feilbieten erhalten haben, wußte aber nichts von deren Ursprung. Doch bezeichnete sie ein Haus, wo man noch mehr davon finden werde. Man fand, was man suchte.

Klara Wendel ward nach Glarus abgeführt. Das zwanzigjährige Mädchen zeigte sich hier in den Verhören keineswegs blöde oder zurückhaltend. Wenn man sie mit Geschick ausfragte, so gab sie über Alles Auskunft, was man zu wissen wünschte; zuerst mit Unwahrheiten vermischt, aber die Wahrheit kam doch zuletzt an den Tag. Das geschwätzige Mädchen ließ sogar die Lust durchblicken, noch weit mehr auszusagen, als sie die Wirkungen bemerkte, welche ihre bisherigen Aussagen hervorgebracht hatten. Schon wußte man zum größeren Theil ihre Familiengeschichte, daß sie viel Böses in ihrem jungen Leben gesehen habe, und daß ihre Familie zu einer der ärgsten Gaunerclassen unter den Heimatlosen gehöre. Ja der berühmte Krüsihans war ihr Bruder und hieß Johann Wendel! Sie gab mehre Spießgesellen dieses Bruders, ihre Beihälterinnen und ihre Thaten an, auch die Häuser, wo sie Zuflucht und Herberge fänden. Unter ihrer Familie, waren auch viele Hingerichtete!

Schon im dritten Verhör gestand sie, daß jener Diebstahl in Näfels von ihrem Bruder, dem Krüsihans, und Anderen begangen worden. Sie selbst sei dabei gewesen, und habe die Waaren, welche die Diebe unter einem Baum niedergelegt, fortgetragen. Aber 28 Verhöre waren nöthig, Verhöre, in welchen sie mit großer Redseligkeit über die Verbrechen, von Anderen verübt, die genaueste Auskunft gab, bis sie sich selbst als Verbrecherin angab. Sie selbst war in Näfels in den Laden des Krämers geschlüpft, nachdem ihr Bruder die Eisenstäbe des Gitters weiter gemacht hatte, und sie hatte von innen die Waaren herausgereicht.

Entweder hatte sie sich selbst durch die reiche Angabe anderer Diebereien verwickelt und glaubte nicht anders loskommen zu können, oder sie fürchtete die Angaben jetzt weniger, da sie sich so großes Verdienst durch ihre außerordentlichen Denunciationen erworben hatte.

Die Policei fand in der That in ihr ein Werkzeug, wie sie es nur wünschen konnte. Sie wußte von allen seit langen Jahren in der Schweiz verübten Diebstählen, sie war mit allen Gliedern der Heimatlosen entweder verwandt, oder doch bekannt. Ihre natürliche Redseligkeit wurde durch die weibliche Eitelkeit und Gefallsucht genährt, als es ihr nicht entging, daß Gerichte und Policei sie als eine außerordentliche, ihnen noch nicht vorgekommene Erscheinung betrachteten. Durch ihre Anlagen zeichnete sie sich allerdings vor vielen Geschöpfen ihrer Classe aus. Sie besaß ein glückliches Gedächtniß, viel Beobachtungsgeist und die Fähigkeit, sich sehr bestimmt und deutlich auszudrücken. Ihre im Sinn der Heimatlosen ausgezeichneten Familienverbindungen verschafften ihr aber Kenntnisse, welche wenigen Andern beiwohnen mochten. Neben ihrem Bruder, dem großen Krüsihans, war auch ihr Schwager, Joseph Twerenbold, ein Mann von Verdienst. Früher in den Niederlanden bei einem Schweizerregiment, hatte er sich bei seiner Rückkehr ganz auf das Diebeshandwerk geworfen und sich dem Krüsihans zugesellt. Um den Bund noch enger zu schließen, hatte er sich Klara's und des Krüsihans' Schwester, die Barbara Wendel, als Beihälterin genommen. Beide große Diebe arbeiteten theils in Verbindung, theils getrennt. Klara Wendel war bald mit diesem, bald mit jenem gezogen. In der Regel bediente man sich der Weiber nur zum Auskundschaften und zum Verkaufen der gestohlenen Sachen; sie aber hatte sich immer als eine thätige und beherzte Gehülfin bei den Einbrüchen gezeigt.

Die Verhörscommission zu Glarus handelte sehr verdienstlich, daß sie ihre Untersuchung, nicht allein auf die in ihrem Canton verübten Diebstähle beschränkte, sondern sie auch auf alle zur Sprache kommenden in andern Cantonen begangenen erstreckte. Da ihr die Mittel und die Macht dazu abging, foderte sie den Canton Luzern zur Theilnahme auf, in dessen Gebiet ein großer Theil der schon ans Licht gekommenen Verbrechen begangen war. Aber auch dieser Beitritt genügte nicht, und nun vereinigten sich mehre Mitstände zu dem Beschlusse, die durch die Angaben der Klara Wendel veranlaßte Procedur gemeinsam zu verfolgen, die schon Verhafteten und noch zu Verhaftenden künftig in die Gefängnisse nach Luzern zu schaffen und die ganze Untersuchung einem verdienten Manne aus Glarus, dem Dr. Heer, zu übertragen, weil dieser dort mit der ersten Voruntersuchung beschäftigt gewesen und sich viele Kenntnisse von dem Wesen und den Personen der Herumstreicher erworben hatte. Aber Heer war wohl Doctor, doch nicht juris, sondern medicinae. Seine Rechtskenntnisse reichten zu einer so großen verwickelten Untersuchung nicht aus, und seine Bescheidenheit vermochte ihn, Andere vorzuziehen, und namentlich dem Herrn Am Rhyn, Sohn, in Luzern, einem Juristen, einen bedeutenden Einfluß auf die Untersuchung einzuräumen.

Ein anderer Uebelstand bei dem Processe war der Zustand der Gefängnisse in Glarus. Sie konnten die Menge Verhafteter kaum fassen. Fast sämmtliche berühmte und unberühmte Verwandte und Bekannte Klara Wendel's saßen dort bereits, und außerdem ein guter Theil der andern Heimatlosen. Communicationen und Besprechungen der Verbrecher unter sich und mit Andern außerhalb des Gefängnisses waren daher nicht zu vermeiden, zumal da Gauner so außerordentlich geschickt in der Zeichensprache sind.

Klara Wendel hatte in ihrer sechsmonatlichen Haft so viel erzählt, daß die Richter müde geworden, zu schreiben. Nun aber schien auch ihr der Stoff zu mangeln, und die Protokollführer hatten sich erholt und wollten schreiben. Bei jedem neuen Verhör ward sie befragt: »was sie sich seit ihrem letzten Verhör weiter besonnen habe?« Sie brachte nun in mehren Terminen leere Faseleien zum Vorschein und unterhielt die Richter mit Hühner-, Bienen- und Katzendiebstählen. Nach so gewichtigen Depositionen wollte man mehr. Aber auch die Erfindungsgabe des geschwätzigen Mädchens schien erschöpft. Die Commission war jedoch der Meinung, daß sie noch mehr wissen müsse, und man wandte deshalb, nach dem zweifelhaften Ausdrucke des Protokolls: »zweckgemäße Vorstellungen« an. Diese wirkten vortrefflich. Klara Wendel fing an, vielfache Brandstiftungen und Ermordungen anzugeben, bei welchen sie selbst eine Rolle gespielt haben wollte. Bei ihren früheren Angaben hatte man immer, wenn nicht die volle Wahrheit, doch einen Kern davon aufgefunden. Jetzt war es anders. Zwar hatten die Feuersbrünste, die sie angab, wirklich stattgefunden, es waren notorische Sachen; aber es ließ sich nichts von einer Brandstiftung ermitteln. Bei den angegebenen Mordthaten ließ sich aus ihren dunkeln Angaben selten entnehmen, wer eigentlich der Ermordete, und wo und wann der Mord vorgefallen war.

Plötzlich verbreitete sich zum allgemeinen Schrecken die Nachricht, Klara Wendel habe bekannt, daß sie mit mehren ihrer Verwandten vor vielen Jahren den Schultheiß Keller bei Luzern ermordet. Es war kein leeres Gerücht. Aber es bleibt merkwürdig, daß man mit der schärfern Untersuchung dieses wichtigen Bekenntnisses so lange anstand. Schon in den Verhören vom 10. December 1824 bis zum 10. Februar 1825 hatte sie die That unter mannichfachen Abwechselungen und unter Angaben ihrer Helfershelfer, die größtentheils gefangen saßen, erzählt; sie war Anfangs Juni nach Luzern abgeführt worden, aber erst am 25. September wurde in einem gerichtlichen Verhör eine Aussage darüber zu Protokoll genommen. Man nimmt an, daß sich diese auffällige Verzögerung nur dadurch erkläre, daß man von den Theilnehmern erst Eingeständnisse über andere Verbrechen erwartete, um das Geständniß der Keller'schen Mordthat dann um so leichter zu erlangen, und daß man durch außergerichtliche Ueberredungen mit Klara und Barbara Wendel, durch Sammlungen von Notizen und heimliche Vorkehrungen die Procedur vorbereiten und einleiten wollen.

Vom 23. September bis zum 3. November 1825 ward nun die strenge gerichtliche Untersuchung fortgesetzt, und sie führte zu folgendem Ergebniß, welches das Fundament eines neuen Criminalprocesses ward.

Der Krüsihans (Johann Wendel) hatte mit dem Alt-Bäckeler (Joseph Kappeler, Vater) und anderen, theils unmittelbaren, theils mittelbaren Theilnehmern und Mitwissern, darunter Klara Wendel selbst, den Schultheiß Keller in die Reuß gestürzt und auf diese Weise ermordet. Die Mehrzahl der Theilnehmer waren der That geständig und behaupteten, den Mord auf Anstiften zweier angesehener Männer vollbracht zu haben, des Oberamtmanns Joseph Pfyffer von Heidegg und des Arztes Dr. Leodegar Corraggioni d'Orelli, Beide in Luzern, Beide Mitglieder des täglichen Rathes.

Die Verhörcommission machte dem täglichen Rathe der Republik von diesem außerordentlichen Ergebnisse Anzeige, legte die Schlußverhöre der Inquisition bei und trug darauf an, die beiden bezeichneten Anstifter, Pfyffer und Carraggioni, in Verhaft zu bringen. Der tägliche Rath ließ beide Herren, die so schwerer Anklage erlagen, verhaften und der Untersuchungscommission übergeben.

Inzwischen waren sämmtliche, bei dem Gaunerprocesse beteiligte Cantone durch Abgeordnete von neuem zu einer Conferenz in Luzern zusammengekommen. Diese Conferenz ließ alle Acten durch eine Commission untersuchen, wobei viele Bedenklichkeiten über die Zuverlässigkeit laut wurden. Die Versammlung erklärte darauf, daß die Keller'sche Angelegenheit wegen ihrer Wichtigkeit eine von dem übrigen Gaunerprocesse abgesonderte Procedur erfodere, und daß die Ehre des Cantons, seiner Regierung, ja die der ganzen Eidgenossenschaft eine gründliche und unparteiische Untersuchung erfodere. Diese könne aus mehren Gründen, unter andern auch wegen Ueberfüllung der Gefängnisse, in Luzern nicht stattfinden, und weil nach den Acten schon Mittheilungen zwischen den Gefangnen und andern Personen statt gefunden haben sollten. So mußte die Versammlung auch rügen, daß noch nicht einmal die beiden Töchter des Verstorbenen gerichtlich vernommen waren; und dies geschah erst jetzt auf ihr Verfügen neun Jahre nach dem Vorfall, wobei sich Das ergab, was wir in der Vorerzählung erwähnt haben.

Der Keller'sche Proceß ward hierauf, unter Beistimmung von Luzern, in Zürich durch eine gemeinschaftliche Untersuchungscommission vorgenommen, deren Präsident der Landamman Sidler von Zug, deren Verhörrichter H. Escher von Zürich, und deren Beisitzer der Geheimerath von Steiger von Bern und der Regierungsrath von Mohr, von Luzern, waren.

Der erste Actus, welcher nicht eigentlich von der neuen Commission, aber in ihrer Gegenwart vorgenommen wurde, war merkwürdig. Die Gefangenen, welche von der bisherigen Commission der neuen Commission übergeben werden sollten, wurden nämlich noch einmal, in Gegenwart der Mitglieder der letztern, von der ersteren summarisch verhört, wobei die neuen Commissarien nur als Zeugen auftraten. Bei diesem summarischen Verhör nun widerriefen sogleich die Meisten alle ihre bisherigen Eingeständnisse. Sie wollten den Schultheiß Keller nicht ermordet haben, und nur die beiden Schwestern Klara und Barbara Wendel blieben bei ihrer ersten Aussage.


So in Widersprüche verwickelt erhielten die neuen Richter einen der schwierigsten, weitläufigsten Processe, auf den die Augen der ganzen Schweiz gerichtet waren, in zwiefacher Beziehung. Es handelte sich um einen der wesentlichsten Uebelstände, an welchem die Eidgenossenschaft leidet, um ihre rechtlosen, flüchtigen, verfolgten Mitbrüder, die Heimatlosen, die eben dieser, ihr rechtloser, Zustand Verbrecher zu werden zwingt; und hierin wurde durch die nun erfolgende gründliche Untersuchung viel Licht verbreitet, aber über Verhältnisse, über die Manche gern einen Schleier hätten ruhen gelassen, weil die Entdeckung keine Heilung des Uebels herbeiführte. Gestraft wurden Viele, gebessert wurden weder die Nichtgestraften noch der allgemeine Zustand.

Es handelte sich aber auch um eine specielle Frage, die von genereller Bedeutung war. Wenn die beiden angeschuldigten Männer aus Luzern wirklich die Mörder ihres Schultheißen waren, so war dies kein einzelner Mord, keine leidenschaftliche That aus Jähzorn, Rache oder Habsucht begangen. Es konnte, so urtheilte die öffentliche Meinung, nur ein politischer Mord sein, die wilde, finstere That einer Partei. Also war der Zustand dieser Partei so erbittert, daß sie schon Meuchelmörder dung, um sich ihrer politischen Gegner zu entledigen; so waren die reinsten, edelsten Charaktere nicht mehr gesichert vor Dolch und Gift, wenn sie hohe Aemter bekleideten, nach denen die andere Partei aspirirte. Wenn die Jesuiten so einflußreich waren, daß sie die Sinne zweier bis da geachteter, begüterter, in Würden und Ansehen stehender Männer so verwirren konnten, welche Macht mußten sie auf die rohe, fanatische Menge auszuüben im Stände sein!

Es war nicht mehr die einfache Frage: ist Keller ermordet worden, und sind die Herren Pfyffer und Carraggioni die Anstifter des Mordes? sondern die Frage lautete: Hat die ultramontane Partei in Luzern, die in nächster, nach Einigen hochverräterischer Verbindung mit der päpstlichen Nunciatur stand, Mörder gedungen, um das Haupt der freisinnigen Partei in Luzern über die Seite zu schaffen? So sah das Publicum sie an; es war eine Frage, geeignet die Parteiwuth auf das verderblichste anzufachen, und wären Parteimänner die Richter geworden, so konnte man das Aergste gewärtigen. Zum Glück gerieth sie in die Hände allgemein geachteter und rechtlicher Männer, welche sich ihr mit ungetrübtem Eifer unterzogen und die Untersuchung in dieser Weise zu Ende führten.

Der Verhörrichter Hr. Escher, bei der zu Zürich versammelten Central-Verhörcommission, dessen: »Geschichtliche Darstellung und Prüfung der über die denuncirte Ermordung Herrn Schultheiß Keller sel. von Luzern verführten Criminalprocedur. Aarau 1826« wir unserer Erzählung zu Grunde gelegt, sagt in der Einleitung zu seiner Relation: »Mögen uns bei der Prüfung dieser Angelegenheit die Gesinnungen leiten, von denen der Verewigte, wenn er selbst bei wichtigen Straffällen dem Gerichtshöfe vorstand und seine Amtsgenossen durch seine weisen Einsichten erleuchtete, beseelt war. Sowie das Andenken seiner unvergeßlichen Verdienste und der wichtige Verlust, der durch seinen Tod für die gesammte Eidgenossenschaft entstand, die möglichste Nachforschung und strengste Strafe fodert, wenn er durch ein Verbrechen der Finsterniß uns geraubt wurde, so würden wir seinen Schatten beleidigen, wenn durch übereiltes Verfahren oder Urtheil sein Name und sein Andenken die Veranlassung eines Justizmordes werden sollten.«

Mit diesen Gesinnungen ging die Commission bei der schwierigen Untersuchung zu Werke.


Sie fand so den Zustand des Processes:

Klara Wendel war die Erste gewesen, welche in einem Verhör zu Glarus des an dem Schultheißen verübten Mordes Erwähnung gethan. Es schien ein ganz freiwilliges Geständniß. Später gestand ihr Bruder, der Krüsihans, nach der allgemeinen Ermahnung zur Wahrheit, und sonst ungefragt: er habe an einem großen Herrn von Luzern in Gesellschaft mit Andern einen Mord begangen. Nachher nannte er den Schultheiß Keller.

Allmälig waren fünf Herumstreicher als Mitthäter bezüchtigt und der That geständig: der Krüsihans, der Jung-Bäckeler (der junge Kappeler), der Twerenbold, und Klara und Barbara Wendel. Aus ihren Geständnissen stellte man Folgendes zusammen: Sie fanden sich am Tage der That auf einem Feuerplatze, unweit dem Rothen (einem Bade, eine halbe Stunde von Luzern) zusammen. Von da begaben sie sich in das Lädeli, ein in der Nähe des baseler Thores stehendes Schenkhaus und tranken mit einander. Da beschied sie der Schlifertoni (Anton Hauser, sein wahrer Name) in die Stadt. Sie kehrten in dem verrufenen Schenkhause »zur Taube« ein. Dort trafen sie den Doctor Carraggioni. Einige wollten auch noch zwei andere Herren gesehen haben. Gegen Abend verließen sie, in zwei Parteien getrennt, die Stadt und trafen auf dem Gute des Verwalter Lutiger wieder zusammen. Von da begaben sie sich in ein Wäldchen, in der Nähe des Keller'schen und des Pfyffer'schen Landhauses. Ein Knecht des Oberamtmann Pfyffer rief sie später in das Haus. Hier ward ihnen zu trinken gegeben. Herr Pfyffer trank mit ihnen und blieb, so lange sie da waren, bei ihnen. Alsdann schwärzten sich Einige von ihnen die Gesichter mittelst einer Farbe, welche sie aus der Stadt mitgebracht. Beim Weggehen sagte Herr Pfyffer zu ihnen: sie sollten sich gut halten, wie sie es versprochen hätten.

Nun ward dem Schultheiß Keller aufgelauert. An dem Wege, der vom Nöllithor herführte, hielten Twerenbold und Jung-Bäckeler Wache. In einiger Entfernung hielten sich die Weiber. Außer den beiden Wendel's hatte sich nämlich noch eine dritte, Maria Ulrich, zum Bunde eingefunden. Zu ihnen gesellte sich noch ein damals angestellter Landjäger Kratz. Von einem der am Wege stehenden Männer ward das verabredete Zeichen gegeben, daß der Schultheiß komme. Als der Herr sich einem bestimmten Orte näherte, stürzten der Krüsihans, Alt-Bäckeler (der alte Kappeler) und Fridolin Zimmermann auf ihn los, griffen ihn bei der Brust und am Gurt, rissen ihn »durch die Matte,« und »pufften ihn hinunter,« und warfen ihn in die Reuß.

Nachdem der Herr im Wasser verschwunden war, kehrten die Thäter ins Haus des Pfyffer zurück. Hier ward ihnen wieder zu trinken gegeben. Einige aber liefen die Reuß hinunter, um zu sehen, daß der Leichnam nicht etwa ans Ufer geschwemmt werde. Dann traten sie den Rückweg nach der Stadt an. – Barbara Wendel will noch im Pfyffer'schen Hause gewesen sein, als die Keller'schen Töchter jammernd und weinend über den vermißten Vater dorthin kamen.

In der Stadt kehrte das Gesindel diesmal im Hause des Doctor Carraggioni selbst ein, der sie in seine Apotheke führte und ihnen hier ein Getränk von rother Farbe vorsetzte, auch, gleich dem Oberamtmann Pfyffer, selbst mit ihnen trank. Dann gab der Doctor ihnen baar Geld; nach Aussage der Barbara Wendel dem Krüsihans vier Kronenthaler. Doch schwankten die Aussagen hierüber unter den Betheiligten. Klara Wendel sprach von fünf Louisdor. Der Twerenbold und Jung-Bäckeler wollten nur drei Zehnbatzenstücke empfangen haben.

Aus Carraggioni's Hause kehrte die Bande auf den früher verlassenen Feuerplatz beim Rothen zurück. Hier erst ließ der Krüsihans sein geschwärztes Gesicht sich vollends rein waschen.

Dies war der Hauptinhalt der gravirenden Aussagen, so viel man derselben aus den schwankenden, oft sich widersprechenden Aussagen der Thäter zusammenstellen konnte. Es waren acht Jahre seit der That verstrichen; auch gebildetere Personen möchten Vieles von den Einzelheiten vergessen, vermischt haben; um wie viel mehr Leute von der Bildung dieser Herumstreicher, welche in der Unmasse von Verbrechen, welche sie in der Zeit begangen, – ja ihr ganzes Leben seitdem war eine Reihe von Verbrechen gewesen – sich selbst über die einzelnen nicht klare Rechenschaft zu geben wußten. Daß zum Beispiel der Twerenbold sich der That wohl erinnerte, aber der Namen der beiden Anstifter nicht entsann, deren Wohnungen er genau angab, wollte nichts bedeuten. Ebenso wenig, daß der Alt-Bäckeler, der nach allen Angaben als der Hauptthäter erschien, hartnäckig alle Theilnahme und Mitwissenschaft an dem Verbrechen in Abrede stellte. Die andern fünf, der Krüsihans, Jung-Bäckeler, der Twerenbold und Klara und Barbara Wendel waren der That in ihren Hauptmomenten geständig. Von den andern Dreien, welche auch der Mitthäterschaft bezüchtigt waren, als die Maria Ulrich, der Fridolin Zimmermann und der ehemalige Landjäger Kratz, waren die ersteren Beiden noch nicht vernommen worden, als die Untersuchung abgegeben wurde, der Kratz war aber inzwischen verstorben.

Fünf Personen bezüchtigten übereinstimmend zwei angesehene Männer der Anstiftung eines Meuchelmordes. Freilich, wenn man das moralische Gewicht der Ankläger und der Angeklagten in eine Wagschale that, so wurden die Ankläger zu leicht befunden. Aber sie klagten nicht allein die beiden Luzerner, sondern zugleich sich selbst eines todeswürdigen Verbrechens an. Sie räumten ein, daß sie selbst die That, welche Jene nur angegeben, ausgeführt hatten. Wenn man weiß, wie schwer gemeine Leute vor Gericht dazu zu bewegen sind, auch wenn sie schon der Theilnahme an einem Morde überführt und geständig sind, einzuräumen, daß sie selbst den letzten Schlag gegeben, daß ihre Hand an der Gurgel des Erwürgten war, wie sie gar zu gern, aus abergläubischer Unkenntniß der Gesetze, Andere vorschieben und sich nur eine mittelbare Theilnahme vindiciren, etwa daß sie dem zu Erdrosselnden nur die Füße gehalten, oder die Arme, daß er sich nicht wehren konnte, und sie vermeinen, dadurch etwas von der Schärfe des Gesetzes von sich abzuwenden – der Criminalist, sage ich, der von diesem psychologischen Erfahrungssatz ausgeht, muß ein bedeutendes Gewicht für die Wahrheit der Aussage jener Gauner in dem Umstande finden, daß die Aussage zugleich ein Bekenntniß des allerschwersten Todesverbrechens war, eines, welches in den Augen dieser Leute schwerer war, als die Anstiftung selbst. Und fünf Personen stimmten in dieser Aussage, in diesem Bekenntniß überein! Was konnte sie bestimmt haben, sie, die freilich Verbrechen begangen hatten, aber leichterer Art, sich freiwillig eines Mordes zu zeihen, der unfehlbar eine schmachvolle Todesstrafe in seinem Gefolge hatte?

Auf diesen Geständnissen beruht der ganze Beweis des Thatbestandes, der Täterschaft. Für das Motiv sorgte die allgemeine Meinung. Sie ist ausgedrückt in einer Stelle, welche wir in der Escher'schen Darstellung finden: »Nicht als Opfer roher Brutalität, ja nicht einmal blos durch den Streich abfälliger Feinde; nein als das Opfer höherer politischer Zwecke, als Opfer finsterer Cabale, des Jesuitismus, fällt er, ein Vertheidiger, wie einst Paolo Sarpi, wie das pariser Parlament, der Rechte des Souverains gegen ultramontanische Grundsätze

Die anderweitigen Anzeigen, welche den aus den Verbrechergeständnissen zu führenden Beweis bestärken sollten, waren sehr schwacher Art. Keine verdächtigen Schriften, noch Aeußerungen seitens der Anstifter; Blutflecken konnten an ihren Kleidern nicht kleben. Gegen Pfyffer ward hervorgehoben, daß er als Oberamtmann das Anschreiben des kleinen Rathes hinsichts der Aufsuchung des Schultheißen und des gewünschten Berichts über die Stimmung, welche sein Verschwinden hervorgebracht, nicht beantwortet habe. Das hatten aber auch die anderen Amtleute nicht gethan. Er unterließ, was man in Anregung brachte, in derselben Nacht, wo er den Mord erfahren, in der Reuß nach ihm suchen zu lassen. Allein die Finsterniß, Sturm, Regen und der hohe Stand des ungestümen und trübe gewordenen Stroms machten in dem Augenblick jede unverzügliche und wirksame Nachsuchung unmöglich. Er hatte jedoch später bei der Aufsuchung des Leichnams sich sehr bethätigt. Aber er war während der Obduction desselben fortgegangen, doch hatte Niemand von einem etwaigen Entsetzen, einer Gewissensunruhe, welche er dabei verrathen, etwas bekundet. Er war gegangen, um ein Kirchweihfest zu besuchen, was vielleicht ein Dienstfehler und ein unziemliches Benehmen war. Ein Schuldbewußter würde grade Theilnahme zu erheucheln gesucht und gewiß Alles vermieden haben, was Anstoß geben konnte. Er war der Erste gewesen, der zu Protokoll seine Meinung aussprach, daß der Schultheiß durch einen Zufall verunglückt sei; er hätte können dadurch die weitere Untersuchung, die ihn graviren durfte, ablenken wollen! Diese Meinung theilten aber damals alle Gebildete in Luzern. Bei der äußersten Schwäche dieser Anzeigen blieb also der ganze Beweis auf den Aussagen der fünf Verbrecher ruhen. Aus ihnen mußten sowol der Tatbestand des Verbrechens, als die Täterschaft hergestellt werden.

Ein corpus delicti war nicht da, und konnte nach den Verhältnissen nicht da sein. Auch wenn die That sich grade so verhielt, wie die fünf Verbrecher sie angaben, so konnten sich keine näheren Spuren finden, ja nur denken lassen, als man wirklich gefunden hatte. Wenn sie den Unglücklichen »hinuntergepufft« hatten, so wird er ziemlich ebenso in den Strom gefallen sein, als wenn er, von einem Schwindel befallen, ausgeglitten und hinabgestürzt wäre. Möglich freilich wäre, daß er sich vertheidigt, seine Angreifer in die Haare gefaßt und einen Büschel in der Hand behalten hätte. Aber davon haben die Verbrecher nichts angegeben. Sie faßten ihn am Gurt und an der Brust und stießen ihn hinab. Ein Mehr konnte hier nach Lage der Dinge zum Beweise des Tatbestandes nicht gefodert werden, als die Zeugenaussagen, in Verbindung mit der Auffindung der Leiche im Strom bekunden, insofern diesen selbst volle Beweiskraft beigemessen würde. Auf die Prüfung, ob sie Beweiskraft an und für sich hatten, kam es also zuerst und vor Allem an, und demnächst, ob sie, nach dem geschehenen Widerruf, denselben noch behielten.

Abgesehen von dem ganz besondern, gravirenden Umstande, daß die Zeugen durch ihr Zeugniß sich selbst anschuldigten, springt für jeden Unbefangenen die große Unwahrscheinlichkeit ihrer Angaben in die Augen. Es wiederholt sich hier eine Angaben- und eine Complottgeschichte, wie wir sie in den Fällen der Ermordung des Fualdes und des Pater Thomas in Damascus (den Fall von Fonk können wir aus den dort angegebenen Gründen nicht hierher zählen) aufgeführt und beleuchtet haben. Die juridische Wahrheit wird durch den Mund zweier Zeugen festgestellt; aber auch der Mund von fünf Zeugen kann für die moralische Ueberzeugung etwas nicht feststellen, was dem gesunden Sinn als eine relative Unmöglichkeit erscheint.

Zwei angesehene, begüterte Bürger eines Freistaates, Beide Mitglieder der ersten Staatsbehörden, Glieder achtbarer Geschlechter, Väter geehrter Familien, sollen sich aus politischem Haß (denn eine Privatfeindschaft fand notorisch nicht statt) entschlossen haben, das Haupt der Republik, einen allgemein verehrten, auch von ihnen seiner Verdienste wegen anerkannten Mann, meuchelmörderisch umbringen zu lassen! Sie waren Beide nicht mehr in dem Alter – Pfyffer war an 70 Jahr – wo man ein sicheres Glück wilden Leidenschaften opfert. Wenn die That mislang, entdeckt wurde, so war ihr und der Ihrigen Glück und Ruhe vernichtet. Und was, wenn sie gelang? Eine große politische Spannung fand im Cantone statt. Erst vor zwei Jahren hatte er eine neue Verfassung erhalten, welche die widerstreitenden Ansichten und Interessen ausgleichen sollte; aber die gemäßigt liberale Partei, welche am Ruder war, hatte mit den Extremen von beiden Seiten zu kämpfen. Wurde durch den Meuchelmord ihres Oberhauptes die Partei vernichtet? Wie die Sachen standen, mußten die Reactionaire erwarten, daß, sobald nur der Verdacht eines solchen ruchlosen Verbrechens entstand, die entgegengesetzte Partei Oberwasser erhielt; wie es denn auch in der That eintraf; daß nach Keller's Tode das Haupt der Liberalen, Am Rhin, zum Schultheiß erwählt wurde. Wäre also auch ein Motiv, so wäre doch kein vernünftiger Zweck bei dem Morde gewesen. Und von einer blind leidenschaftlichen Erbitterung, die aus wilder fanatischer Rachsucht die eigenen Interessen vergißt, lag nichts zu Tage.

Aber gesetzt, der politische Fanatismus habe sie über alle Rücksichten sich hinwegsetzen lassen, ist es denkbar, daß sie mit solcher Unbesonnenheit, solchem grenzenlosen, unbegreiflichen Leichtsinn zu Werke gehn konnten? Männer, welche das wagen wollten, hätten anders verfahren. Wäre kein einzelner Banditenarm in dem nahen Italien zu erkaufen gewesen, in den italienischen Cantonen, wo das Blut heißer rinnt und Thaten dieser Art häufiger vorfallen? Ein irgend verständiger Mann – und Beiden als Mitglieder einer Regierung mußte man doch so viel Verstand zutrauen – wäre hinüber gereist, hätte hier den sichern Mann sich ausgesucht, dessen er bedurfte, und wahrscheinlich hätte er sich ihm im Dunkel der Nacht, unter einer Maske gezeigt, er hätte jedenfalls Alles gethan, um ihn nicht Blicke in seine Heimlichkeiten, in seine häuslichen Verhältnisse zu gewähren. Er hätte nicht mit einer ganzen Bande, sondern mit ihrem Haupte und ganz in der Stille verhandelt. Statt dessen verhandelt der Oberamtmann Pfyffer mit einer ganzen Bande hergelaufenen Gesindels, die er nicht kennt, nicht einmal genau ihre Anzahl weiß; er läßt sie in seine Wohnung kommen, ertrinkt, schwelgt mit ihnen, und das nicht genug, er läßt sie auch durch seinen Knecht rufen, statt sich, in den Mantel gehüllt, zu ihnen in den Wald zu begeben und sie verstohlen durch die Hinterthür in sein Haus zu führen! Auch genügt es nicht, daß er sich ihnen zeigt, nein, auch sein Mitverschworener, der Doctor Carraggioni, geht zu ihnen und führt sie in sein Haus und tractirt sie, wo Alles das besser und gefahrloser mit etwas mehr Geld abgethan gewesen wäre. Ja, wo es sich um das Regiment in einer Republik, um den Mord eines Cäsar im Kleinen handelt, werden fünf bis neun Banditen mit vier Kronenthalern oder höchstens mit vier Louisdor bezahlt, und murren nicht darüber, und zufrieden mit dem Lumpengelde, wo sie im Besitz so schwer wichtiger Zeugnisse gegen reiche, vornehme Staatsmänner sind, machen sie während acht Jahren nicht die geringsten Anstrengungen ihre Kenntnisse zu versilbern! Das wäre in der Gaunergeschichte unerhört.

Wir sagten, Pfyffer und Carraggioni verhandelten mit Gesindel, das sie nicht kannten. Aber sie kannten es so vollkommen, wie nur schweizer Obrigkeiten ihre Heimatlosen, als die unzuverlässigsten Taugenichtse von der Welt. Jeder von ihnen konnte sie jeden Tag, mit oder ohne Absicht, aus Bosheit oder aus Schwatzhaftigkeit, in der Trunkenheit oder in der Tortur des Kerkers, vielleicht um Gnade zu erhalten für andere Vergehen, angeben und ins Verderben stürzen. Abgesehen von der großen Anzahl der Gauner – ziemlich dieselbe wie im Fualdesschen Processe – so muß sich das Erstaunen darüber noch vermehren, daß außer einem alten, versoffenen Kerl, dem Alt-Bäckeler (welcher aber hartnäckig die Thäterschaft leugnete), zwei halb erwachsene Bursche von 15 und 16 Jahren (Twerenbold und Jung-Bäckeler), Krüsihans, ein entlaufener Bauernknecht von damals 21, Fridolin Zimmermann, ein Kesselflicker von noch nicht 22 Jahren, und außerdem drei blutjunge Mädchen von 18-13 und 12 Jahren sich darunter befanden. Diesem Complot vertrauten zwei erprüfte Magistratspersonen ihr Geheimniß an! Wie war es denkbar, daß sie, solche schlechte Wahl als möglich gedacht, auch zu dem beabsichtigten Morde noch drei wehrlose, furchtsame Mädchen, von denen zwei noch wirkliche Kinder waren, hinzuzogen, oder nur zuließen? Schon Krüsihans und Alt-Bäckeler, zwei so gewitzigte Verbrecher und Taugenichtse, würden diese Weibspersonen, die nur schreien, stören, die Flucht erschweren, plaudern und nicht helfen konnten, bei einem so ernsthaften Unternehmen fortgewiesen haben. Die Männer, und gar schon ein Theil derselben waren genug um die That zu vollbringen.

Nach einer solchen That, deren Bedeutung auch dem stumpfsinnigsten Buben klar sein mußte, würden diese Freien doch geeilt haben, sich auf nächtlichen Wegen über die Cantonsgrenzen zu entfernen. Aber statt dessen kehrten sie in die Stadt zurück, in Gesellschaft, und in die Wohnung des Herrn Carraggioni und ließen sich dort mit Getränken bewirthen. Die Schenke »zur Taube« war verrufen wie nur eine in der Schweiz, sie ward auch von Obrigkeits wegen geschlossen, und dieses Haus gerade, das kein anständiger Mann ohne böse Nachrede betreten durfte, sollten Männer wie die genannten, erwählt haben, um sich daselbst mit den Mördern – und das noch bei hellem Tage – zu treffen und zu verabreden?

Ferner, wenn es eine Mordthat war, so war es eine vorausbedachte, und man hatte Erkundigungen eingezogen. Diese aber mußten dahin lauten, daß der Schultheiß nicht allein aus der Stadt gehen würde, sondern in Begleitung seiner beiden Töchter. Diese, deren weiße Kleider in der Nacht leuchteten, mußten auch von den Posten der Mörder am Thore bemerkt sein. Was war die Ansicht oder Absicht der Mörder hinsichts ihrer; denn daß Keller zufällig, allein und in der Mitte zwischen Beiden zu gehen kam, konnten sie nicht vorauswissen? Wollten sie den Vater zwischen den Töchtern ergreifen und in die Reuß stürzen, die Töchter aber verschonen, um sogleich ein Hülfegeschrei, Aufstand zu erregen und gefährliche Zeugen wider sich zu haben? Oder sollten auch die Töchter als Opfer fallen, eine doppelte Mordthat, durch welche es dann vollends unmöglich geworden wäre, der Sache den Anstrich eines zufälligen Verunglückens beizulegen? Wir geben zu, daß dieser Einwand gegen die Wahrscheinlichkeit kein schlagender ist, denn wo die That einmal mit so unbesonnener Leidenschaftlichkeit unternommen war, ließe es sich denken, daß man in derselben blinden Wuth auf die Gegenwart der Töchter gar keine Rücksicht genommen hätte. Es wäre die Losung gewesen: Drauf los! und: Fort mit aller Rücksicht! Welchen Seelenzustand, welche furchtbare Zerrüttung der socialen Zustände, welchen grimmigen Parteikrieg, der bis zur Krisis gekommen, setzte aber dies voraus; und davon ist keine Spur. Und sei die Nacht noch so stürmisch gewesen, wo neun Menschen einen Angriff auf einen Mann machen, der in der Mitte zwischen zwei andern Personen, wenn auch in gewisser Entfernung, von ihnen geht, und diese Personen, Damen, von Natur ängstlich, werden durch die Schrecken des Weges gewiß noch ängstlicher gewesen sein und ihr Ohr wach gehalten haben, und man sollte denken, daß die vorangehende oder nachkommende, doch etwas Ungewöhnliches sollte wahrgenommen haben, einen Schrei, einen Kampf, einen Sturz, Fußtritte, das Rauschen der Büsche. Es ist möglich, daß die Mörder wie lauernde Tiger auf ihr Opfer gestürzt sind, und im Nu den Mord vollbracht haben und sogleich entflohen sind; aber es ist nicht wahrscheinlich.

Die Verbrecher wurden allerdings, jedoch erst später, über diesen Mord befragt, aber ihre Auskunft darüber war dunkel, alle widersprachen sich. – Der Krüsihans will die »Weibervölker« hinter Herrn Keller gesehen haben. Aber vermuthlich wären sie in die Stadt zurückgekehrt; denn bei ihm waren sie nicht mehr, als es losging. – Barbara Wendel meint, die Töchter wären vorangegangen. Wenn er in ihrer Mitte gekommen wäre, dann hätte die That nicht verübt werden können. Klara Wendel gab ausweichende, unbestimmte Antworten: sie wäre nicht weit von ihm, aber während der That nicht an seiner Seite gewesen. Als man sie fragte: warum des Schultheißen Töchter keinen Lärm machten, antwortete sie: »Sie werden es, denk' ich, nicht gesehen haben.« Man stellte ihr vor, daß der Schultheiß in ihrer Mitte gekommen wäre. Ganz ausweichend erwiederte sie hierauf: »In diesem Falle würde es vermuthlich auf eine andere Mode gegangen sein.« Jung-Bäckeler und Twerenbold erinnerten sich des Umstandes nicht bestimmt.

Die Unwahrscheinlichkeit der Aussagen sollte auch vom formellen Standpunkt aus durch das Nichtdasein des corpus delicti hervorgehoben werden. So streng unsere Proceßgesetze den Beweis desselben fodern, wo es nicht da ist – durch zwei unverwerfliche übereinstimmende Zeugen und das Zeugniß des Schuldigen selbst – so kann Schreiber dieses in diesem Falle doch kein so besonderes Gewicht darauf legen, um aus dem Umstande des Nichtvorhandenseins des Thatbestandes und der mangelhaften Führung des Beweises für seine Existenz, die Unwahrscheinlichkeit der Denunciation noch verstärkt zu sehen. Er kann sich hier nur auf den Standpunkt einer Jury stellen, und diese würde, wenn die Aussagen und Zeugnisse sonst das Gepräge der Wahrscheinlichkeit an sich trügen und mit andern Anzeigen übereinstimmten, ihren Spruch des Schuldig nicht um deshalb zurückhalten, weil die obducirenden Aerzte keine Merkmale einer Gewaltthätigkeit entdeckt hatten, noch entdeckt haben konnten, da Keller nicht erdrosselt, oder unter den Faustschlägen seiner Mörder, sondern in beiden möglichen Fällen durch den Sturz ins Wasser umgekommen war. Sämmtliche Verletzungen, die man an ihm gefunden, wahrscheinlich in Folge des Sturzes vom felsigen Ufer, waren nicht tödtlich. Aber auch die Verletzungen, welche die Verbrecher durch ihre rohen Fäuste ihm beigebracht haben könnten, konnten nicht tödtlich gewesen sein. Es kommt in ihren Aussagen nichts vor, daß sie blanke Waffen, Stöcke oder Steine geführt hätten. Sie ergriffen ihn nur an Gurt und Brust und stießen (»pufften«) ihn hinunter. Die Unwahrscheinlichkeit ihrer Aussage ist hierdurch, durch den Mangel des corpus delicti, nach unserm besten Einsehen, nicht erhöht; wol aber durch die an Wahrscheinlichkeit grenzende Möglichkeit, daß der dem Schwindel unterworfene, an den Augen leidende Mann, auf dem abschüssigen, schlüpfrigen Wege ausgeglitten sein kann, sowie durch die im Obductionsbericht angenommene Wahrnehmung, daß in seinen Zügen der Ausdruck des tiefsten Friedens gelegen.

Weit wichtiger sind die Widersprüche, in welche die Zeugen untereinander und in ihren verschiedenen Angaben mit sich selbst geriethen, um die Unwahrscheinlichkeit ihrer Aussagen ins Licht zu stellen. Die Geschwister Wendel wollten nach dem Morde wieder in Herrn Pfyffer's Haus gegangen sein, wo sie getrunken; die Klara meint, sie seien bis 11 Uhr da geblieben, die Barbara aber, es sei nicht lange gewesen, sondern nur bis Herrn Keller's Tochter dahin kam. Der Jung-Bäckeler und Twerenbold dagegen behaupteten, sie seien gar nicht mehr zu Herrn Pfyffer zurückgekehrt, sondern hatten ihm durch ein Husten die Keller'sche Ankunft verabredetermaßen zu wissen gethan, und dann wären Alle nach dem Morde zum Doctor Carraggioni gegangen, wo sie wieder den Herrn Pfyffer angetroffen hätten. Es würde überflüssig sein, alle diese Widersprüche auszuführen. Dagegen heben wir einige Momente hervor, durch welche die Unwahrscheinlichkeit der Unmöglichkeit nahe gerückt wird.

Die betheiligten Gauner gaben, einer wie der andere, an, daß sie in der Schenke zur »Taube« sich versammelt und dort den Dr. Carraggioni angetroffen hätten, sowie daß dieses Wirthshaus damals von zahlreichen Gästen besucht worden. Nun ist aber durch Vernehmung des ehemaligen Wirthes und durch Zeugnisse der Policei erwiesen worden, daß diese Schenke im Jahre 1816 bereits von Obrigkeitswegen, der lüderlichen und verrufenen Wirthschaft wegen, geschlossen war und so beaufsichtigt wurde, daß auch ein geheimer Verkehr daselbst nicht stattfand.

Der Krüsihans und Jung-Bäckeler hatten mehre bestimmte Diebstähle an gewissen Orten verübt, von denen Klara Wendel und auch Jung-Bäckeler selbst aussagten, sie seien in dem nämlichen Herbste vorgefallen, wo Herr Keller starb. Diese Diebstähle sind actenmäßig ermittelt, aber erst im Jahre 1817 verübt, also ein Jahr später, als der Keller'sche Todesfall. Irrthümer in der Zeitangabe sind erklärlich, wo so viele Jahre wie hier dazwischen lagen; dennoch erinnert sich gerade der gemeine Mann solcher bestimmten und für ihn wichtigen Vorfälle sehr genau, nicht nach den Jahreszahlen, sondern nach dem Zusammentreffen mit andern Ereignissen, die seinen Kalender bilden. Ebenso behauptet Krüsihans, daß seine Beihälterin Verona Wagner, die übrigens bei der That unbetheiligt ist, ihn an dem Mordabend mit Seife von der Schwärze, mit der er das Gesicht bestrichen, gereinigt habe. Aber Beide haben ihre Verbindung erst im Jahre 1817 angeknüpft, und sind früher nie zusammen gewesen.

Wir gaben das Resumé der Mordgeschichte, wie es sich nach vielfachen Verhören, Privatunterredungen der Untersuchungsrichter mit den Verhafteten und nach mehren Confrontationen der letztern unter sich herausgestellt hatte; die abweichenden Aussagen hatten sich ausgeglichen durch gegenseitige Nachgiebigkeit. Aber wenn man die Geschichte des Werdens dieser Hauptgeschichte verfolgt, so verschwindet, wie von ihrer innern, so von ihrer äußern Wahrscheinlichkeit sehr viel.

Die Erste, welche des Keller'schen Mordes erwähnt hatte, war, wie angegeben, Klara Wendel. Sie hatte gelegentlich bei einer andern Erzählung davon gesprochen. Bei dem eigens deshalb angesetzten Verhör erzählte sie eine Geschichte, welche mit der, wie sie in letzter Auflage erscheint, sehr wenig gemein hat. Danach hatten zwei Leute, Namens Meyer und Leder, als Herr Keller aus der Stadt kam, sich gestellt, als ob sie in der Reuß fischten, und da er ihnen nahe kam, stießen sie ihn, gleichsam als geschähe es von ungefähr, in die Reuß. Dann fischten sie noch zum Schein weiter, in der Hoffnung, er werde unten am Walde hangen bleiben, wo sie ihn dann berauben wollten. Sie wollte die Geschichte entweder von Leder selbst, oder von Fridolin Zimmermann gehört haben, der den Meyer genau kenne. – Demnach wäre der Mord am Tage vorgefallen, da man wenigstens nicht in einer stürmischen, finstern Regennacht fischt; es war also eine offenbare Lüge. Schon am folgenden Tage erklärte sie aber Klara Wendel selbst ganz naiv dafür. In acht aufeinanderfolgenden Verhören trug sie den Fall nun mit solchen Variationen vor, daß sie jeden Tag etwas Anderes vorbrachte. Zunächst hatte statt des Leder der Fridolin Zimmermann die That verübt. Dann nannte sie den Alt- und Jung-Bäckeler als Thäter; später ihren Bruder, den Krüsihans und den Twerenbold. Anfangs wollte sie die Geschichte nur vom Jung-Bäckeler bei einer zärtlichen Unterredung gehört haben. Dann war sie Augenzeugin der Verabredung gewesen. Endlich aber wollte sie selbst mit der Maria Ulrich der Ermordung von dem Ufer drüben zugesehen haben. Einmal sollte Herr Keller haben spatzieren gehen wollen; dann habe er ins Wasser hinabgeschaut, und da hätte man ihm den Stoß gegeben. Ueber die Zeit und was für Wetter gewesen, brachte sie die verschiedenartigsten Angaben zum Vorschein. Einmal sagte sie: »Wenn nicht schön Wetter gewesen, so wäre er wol nicht spatzieren gegangen.« Daß ein 20jähriges Mädchen sich in den Angaben über eine That, welche sie in ihrem 12. Jahre erlebt, vielfach irrt, ist nichts Unnatürliches; solche Widersprüche erschüttern aber das ganze Fundament ihrer Aussage.

Nicht sicherer erschien der weit ältere Krüsihans in seinen ersten Angaben. Da heißt es: »Wir warfen den Herrn Nachmittags in die Reuß. Der Herr las. Als wir bei einander vorbeikamen, grüßte er uns, und Bäckeler gab ihm einen Stoß. Als wir das gethan, erschraken wir doch und kamen auseinander. Ich ging durch das Wäggisthor in »die Stadt«. Nachdem er mit Barbara und Klara Wendel mehrmals confrontirt worden, änderte und besserte er seine Aussagen, bis sie so ziemlich mit denen der beiden Schwestern übereinstimmten.

So in sich selbst zerfallen waren die Aussagen der Zeugen, und im Widerspruch mit den wirklich ermittelten Thatsachen. Jede hatte andere Wahrnehmungen, andere Erinnerungen, die nur nothdürftig, durch Verhöre, Ermahnungen, Einschüchterungen, zuletzt in Einklang gebracht wurden. Sie Alle waren in einer großen, furchtbaren Lügenschule erzogen; ihr weites Gewissen erlaubte ihnen, Alles auszusagen, wovon sie sich einen augenblicklichen Vortheil versprachen, und schon morgen waren sie geneigt, die heutige Aussage zurückzunehmen, wenn ihnen dadurch ein anderer Vortheil erwuchs; vielleicht wenn der Untersuchungsrichter es wünschte. Die geschwätzige Klara Wendel sagte ja Alles aus, was man von ihr verlangte, wenn ihre Eitelkeit, bei ihren Richtern in Ansehen zu steigen, von ihnen belobt und bewundert zu werden, dadurch befriedigt wurde. Ihre Schwester Barbara hatte den eigenen Bruder, den Krüsihans, den Landjägern verrathen, und er ward zum ersten Male gefangen, nicht weil er in seiner Vorsicht nachgelassen, sondern weil ihr ein Liebesverhältniß mit den Landjägern in dem Augenblicke angenehmer war und alle anderen Erinnerungen und Rücksichten in den Hintergrund drängte. Ueberdies hatte einer der bezüchtigten Hauptthäter, der Alt-Bäckeler, von Anfang an alle Theilnahme und Mitwissenschaft beharrlich geleugnet; drei der Theilnehmer hatten ihre Geständnisse widerrufen, als sie sahen, daß die Untersuchung an eine andere Behörde überging. Auch Barbara Wendel widerrief. Endlich auch Klara Wendel; anfangs die ganze Geschichte; nachher äußerte sie sich schwankend. Was die Anstiftung durch Herrn Pfyffer beträfe, so sei die erlogen, aber die Mordthat sei doch begangen, durch den Alt-Bäckeler, den Krüsihans und den Anderen.

Was blieb nun noch übrig von der ganzen Geschichte? Immer das merkwürdige, ungewöhnliche Factum, daß fünf Personen, in der Hauptsache wenigstens übereinstimmend, sich zu einem todeswürdigen Verbrechen bekannt hatten. Die Eine (Klara Wendel) ohne alle äußere Veranlassung, die Andere (Krüsihans) zwar später, aber auch unaufgefodert. Die neue Untersuchungscommission hatte zu prüfen, ob dem Widerrufe oder den früheren Geständnissen vorzugsweise Glauben beizumessen sei? Sie hatte eine ungeheuere Arbeit, denn die frühere Untersuchung, zum Theil in den kleinern Cantonen, von nicht ordnungsmäßig besetzten Gerichten willkürlich geführt – die Acten bestanden oft nur aus Papierzetteln, auf die man gelegentlich Notizen aufgenommen, und erst nachher hatte man sie zusammengeheftet und mit Bleistift paginirt – bot der Mängel, der Unregelmäßigkeiten so viele, daß die ganze Untersuchung eigentlich von Neuem wieder angefangen werden mußte. Das Resultat, die moralische Ueberzeugung stellte sich dabei zwar schlagend heraus, eine, die wir kaum auszusprechen brauchen, dennoch aber scheinen die politischen Rücksichten, welche dabei obwalteten, ein anderes Resultat verhindert zu haben, nämlich das, das vorige Untersuchungsverfahren einer neuen Untersuchung zu unterwerfen.

Es ist erwiesen, daß in den engen Gefängnissen von Glarus und Luzern vielfache Communicationen zwischen den Verbrechern unter sich und Unterstechereien mit Personen außerhalb stattgefunden, daß Einschüchterungen, Drohungen auf die Gefangenen eingewirkt, daß sie ihre Aussagen erweitert, verändert haben, daß ihre Glaubwürdigkeit demnach ganz und gar, abgesehen vom Widerruf, erschüttert wird. Aber es ist nicht dargethan, woher Klara Wendel's erstes Geständniß entsprungen ist? Diese erste Quelle bleibt in einem geheimnißvollen Dunkel verhüllt, wie denn diese ganze Person, trotz ihrer naiven Plauderhaftigkeit, noch immer als eine räthselhafte Erscheinung besteht.

Wie die andern Gauner auf ihre Angaben geleitet wurden, darüber gibt uns die Escher'sche Darstellung wenigstens bedeutsame Winke.

Krüsihans sagte: er sei einst von dem früheren Verhörrichter, Herrn Am Rhin, im Gefängnisse befragt worden: ob er nichts vom Alt-Bäckeler wisse? und dann: ob er nicht wisse, wie der Schultheiß Keller in die Reuß gefallen sei? Dann habe ihn der Actuar Rikenbach einst gefragt: ob er über keine That Auskunft geben könne, die Alt-Bäckeler einst in der Gegend von Luzern verübt? Er antwortete: »Ja, Alt-Bäckeler hat einst einen Mann über die Brücke in den Krimbach gestürzt.« Rikenbach wollte davon nichts hören, »sondern von einem Höheren sei die Rede.«

Krüsihans beklagte sich ferner, er sei im Gefängniß zu Luzern ganz unmenschlich behandelt worden. Einst trat Herr Am Rhin mit dem Thurmwart und zwei Landjägern zu ihm ein, und fragte ihn: ob er nichts wisse? Als er erklärte, daß er nichts wisse, ließ ihn Herr Am Rhin abwechselnd durch den Thurmwart und den einen Landjäger – während der andere Wache stehen mußte – zwei Stunden lang schlagen. Nach 150 Streichen mußte ihn der Thurmwart halb todt aufheben. Nach einiger Zeit kam Herr Am Rhin wieder und fragte ihn, ob er gesund sei? Als er »Nein« antwortete, sagte der Richter, er werde mit dem Doctor Elmiger wiederkommen und ihn curiren. Der Krüsihans glaubte, der Herr meine unter dem Doctor Elmiger den Landjägercorporal, und der Thurmwart winkte ihm höhnisch zu: ja, ja der Doctor Elmiger werde ihn curiren, wie er, der Thurmwart, schon gethan. Darauf fragte ihn der Herr Am Rhin nochmals: was geschehen sei, als er mit Alt-Bäckeler in die Stadt gegangen? Als er von dem Sturz in den Krimbach reden wollte, sagte Am Rhin: davon wolle er jetzt nichts wissen, sondern wie er mit Alt-Bäckeler in Luzern gewesen, sich angeschwärzt, und die Verona Wagener ihn dann abgewaschen habe. Dann ermahnte ihn auch der Rikenbach, er solle die Wahrheit freiwillig bekennen und sich erinnern daß er mit Alt-Bäckeler in Luzern ein Verbrechen begangen, das größer sei, als alle diejenigen, welche er in Glarus verübt. Da, erklärte Krüsihans, habe er erst gemerkt, was man denn von ihm wollte, und um nur nicht ferner so schlecht behandelt zu werden, habe er beschlossen, das Verbrechen über sich zu nehmen, da er ja ohnedies schwere Verbrechen genug begangen hätte.

Leider bestätigten die Acten die grausame Behandlung des Verbrechers in Luzern, eine Behandlung, welche nicht immer als Strafe für freches Leugnen, sondern in unsern Augen als eine Tortur gelten muß Man erinnere sich der jüngsten in Zug vorgefallenen Torturgeschichte gegen einen dort angesessenen, wohlhabenden Goldschmied, der auf den Verdacht eine Caricatur gegen die Jesuiten verfertigt oder verbreitet zu haben, im Winter ohne Rock und Schuhe in einen kalten Kerker und darauf in eine überheizte heiße Stube geworfen wurde, um – zum Bekenntniß gebracht zu werden!. So ward ihm am 16. April 1825 zuerkannt, »bis er sich der Wahrheit nähere«, ihn auf Brot und Wasser zu setzen. Als er am 2. Mai wieder leugnete, wurde er krumm geschlossen, und mit Brot und Wasser fortgefahren. Aber er leugnete auch noch am 6. Mai, worauf ihm »wegen dieser unbegränzten Unverschämtheit« sechs Stockstreiche aufgemessen und verordnet wurde, ihm beide Hände zusammen und diese so zu den Füßen hinunter zu schließen, auch die Diät von Wasser und Brot fortzusetzen. Endlich machte er am 6. Juni einige Geständnisse und versprach noch mehre. Sogleich verbesserte sich seine Lage und er erhielt die frühere Thurmkost. So war ihm der Unterschied der Folgen auf Leugnen oder Gestehen deutlich genug gemacht. Dennoch antwortete er, beim achtzehnten Verhör, am 30. Juni, auf die Frager »Worauf hast du dich seit heute Morgen besonnen?« – »Ich habe mich besonnen, aber nichts erinnert.« Er erhielt abermals sechs Stockstreiche und ward wieder auf Wasser und Brot gesetzt. Hinsichts der nicht registrirten 150 Stockstreiche mußte Herr Am Rhin selbst einräumen, daß er den Krüsihans ein Mal im Gefängniß züchtigen lassen wegen eines Disciplinarfehlers, und weil er ihn verhöhnt hatte, doch habe die Züchtigung keine zwei Stunden gedauert. Der darüber vernommene Thurmwart bestätigte die Züchtigung und sagte aus, der Krüsihans habe sich darum zu Tode hungern wollen.

Erweislich ist diese Behandlung dem Verhafteten nicht grade in Bezug auf den Keller'schen Mord widerfahren; aber welche Glaubwürdigkeit bleibt der Aussage eines Verbrechers, der durch solche Qualen zum Geständniß gebracht wurde? Wo er schon so grausam wegen geringerer Vergehen gemartert worden, welche Aussicht stand ihm bevor, wenn man mit Ernst sein Bekenntniß über die Mordthat verlangte? Er hatte schon 237 Diebstähle und Einbrüche, mehre mittelst Einsteigen mit gewaffneter Hand, eingestanden, er wußte, daß sie ihm das Leben kosten mußten, er hatte schon andere, todeswürdige Verbrechen, aus Furcht vor der Marter bekannt; was kam es ihm also eigentlich darauf an, ob er noch einen Mord bekannte, den die Herren wünschten? Auf der einen Seite war sein Leben schon verwirkt, auf der andern konnte er sich einige Erleichterung seines Zustandes dadurch verschaffen.

Danach lauteten denn auch seine ersten Geständnisse: »Es sind mir zwei Mordthaten eingefallen, eine, die ich eingestehen mußte, die andere an einem großen Herrn zu Luzern, den ich mit dem Bäckeler in die Reuß geworfen.« Auf die Frage: wie es mit dem großen Herrn zuging, antwortete er: »Probmäßig kann ich anfangs nur sagen, daß ich und Bäckeler es gethan; vielleicht half noch Jemand, worüber mir die Mutter helfen muß.« – Er verlangte Nachhülfe von außen, um seine Angaben »probmäßig« zu machen. Darauf wußte er sich aber durchaus nicht des Namens des großen Herrn zu entsinnen. Erst auf die mindestens unvorsichtige Frage eines Beisitzers: ob er nicht etwa Schultheiß Keller geheißen, antwortete er: »ja ich glaube es«, und von da ab wußte er, wen er ermordet hatte.

Wie es mit dieser Hülfe aussah, auf die Krüsihans wartete, ergibt sich zur Genüge aus dem Protokoll über eine Confrontirung zwischen Barbara Wendel und ihm, die uns darin als Dialog mitgetheilt wird.

»Hans, wer war dabei, als Schultheiß Keller in die Reuß geworfen wurde?

Alt-Bäckeler und ich; weiß nicht bestimmt, ob auch Jung-Bäckeler.

Barbara, sag ihm, wer dabei gewesen.

Auch Jung-Bäckeler war dabei.

Hans, was sagst Du dazu?

Ja, ich glaube bestimmt, Jung-Bäckeler sei dabei gewesen, und dabei gewesen ist er bestimmt. Ich berief mich daher auf die Mutter.

Hans, warum beriefst du dich auf die Mutter?

Weil sie es auf alle Fälle so gut weiß, als ich, wo wir gelegen.

Hans, sag' noch einmal, ob es Tag oder Nacht war, als ihr den Schultheiß in die Reuß warft?

Es war später, als ich gesagt, jedoch war es noch bei Tag.

Babi, was sagst du dazu?

Besinne dich Hans, es war bei Nacht, und es war schlecht Wetter.

Hans, was sagst Du dazu?

Ja, es war spätlicht und gegen Nacht; aber daß es schlecht Wetter war, erinnere ich mich nicht.

Hans, wo war Babi (Barbara), während der Schultheiß Keller in die Reuß geworfen wurde?

Es wird bei Mutter und Hanseli gewesen sein; Vreni (Verona) war, glaub' ich, noch nicht bei mir.

Babi, sag' ihm, wo du warst.

Ich stand neben Klara, Mei (Maria) Ulrich und Landjäger Aloys Kretz in der Nähe in einer Matten oben.

Hans, was sagst du hierauf?

Es kann sein, aber ich wußte bis dahin nichts davon.

Hans, darfst du dem Jung-Bäckeler ins Gesicht sagen, daß er dabei gewesen, als Schultheiß Keller ins Wasser geworfen wurde?

Ja, wann es ist.«

Auf gleiche Weise fand die Konfrontation mit seiner Schwester Klara statt. Diese ward aufgefodert, die Umstände anzugeben, wie sie stattgefunden, und auf des Richters Frage: Hans, was sagst du dazu? wiederholte er, was Klara gesagt. Bei diesem Hineinfragen ist allerdings zu verwundern, daß die Zeugen noch in einzelnen Umständen von einander abweichen, wenn man darin nicht eine List gewahren will, welche indessen fast über die Begriffssphäre dieser geschwätzigen und stumpfsinnigen Verbrecher hinausgeht.

Die Geständnisse von Jung-Bäckeler und Twerenbold wurden ziemlich auf die nämliche Weise erlangt. Jung-Bäckeler hatte zu einem Zeugen gesagt: wenn man ihm Schläge gäbe, so wolle er glauben und aussagen, daß er den Teufel mit seinen Hörnern gemacht, wenn es schon nicht wahr sei.

Man hat viel auf die erwiesenen heimlichen Communicationen der Verhafteten unter sich gegeben; aber nach den Mittheilungen über die Art der Konfrontationen bedurfte es deren kaum, denn Jeder erfuhr dort Alles, was er aussagen sollte, aus dem Munde der Barbara oder der Klara und eignete es sich nach mehren oder mindern Schlägen zu. Jung-Bäckeler und Twerenbold, welche anfangs geleugnet, bekannten später Beide in einer wunderbaren Uebereinstimmung; sehr erklärlich, da sich ergab, daß Beide in einem Gefängnisse gesessen hatten. Auch sagte Klara Wendel selbst später in ihrer Art über die Verhöre aus: »Es ist jetzt nur Eines schlimm, nämlich daß sie (die frühern Inquirenten) Alles aufschrieben, was ich sagte, aber nicht was sie sagten.« Und über die Confrontationen: »Ich will keine Confrontation; ich habe an der zu Luzern genug. Bei der in Luzern sprach ich nicht vier Worte. Der Richter fragte mich immer nur: Klara ist es so und so? und dann sagte ich ja!«

Die erste Aussage der ersten Zeugin und der eigentlichen Hauptperson in diesem Denuciationsprocesse bleibt, wie schon angegeben, in einem räthselhaften Dunkel verhüllt. Nichts berechtigt zur Vermuthung, daß hier schon Einflüsse von außen, politische Rücksichten obgewaltet hüben, denn sie hatte den Mord nur als die Frevelthat zweier betrunkenen Menschen bezeichnet. Aber deutlicher werden die Spuren darüber, wie die Geschichte sich bei ihr ausbildete und vielleicht ausgebildet wurde. Als die erste Nachricht davon dem luzerner Schultheißen Am Rhin mitgetheilt wurde, dachte er an geheime Umtriebe, und muthmaßte auf Anstifter und Anrather. Sein Sohn, Herr Am Rhin, der Jüngere, bedingte sich, als die Sache nach Luzern kam, ausdrücklich die Inquisition über diese Keller'sche Ermordungssache aus. Ja, als er eidgenössischer Staatsschreiber wurde, und also aus aller amtlichen Stellung zur Verhörcommission gesetzt, nahm er doch noch außeramtlich den lebhaftesten Antheil daran. Er trat fortwährend als Verhörrichter auf, während der eigentliche Inquirent, der Dr. Heer, nur noch als Beisitzer erschien. Am Rhin, Sohn, besuchte die Verhafteten in ihren Gefängnissen und benutzte diese Besuche, um Angaben zu erhalten oder – zu erpressen. Als er auf das Unschickliche dieses Benehmens aufmerksam gemacht wurde, ließ er diese Thurmverhöre durch den ihm ergebenen, sehr jungen Actuar Rikenbach fortsetzen. Dieser veranlaßte die Klara und Barbara Wendel, durch Suggestivfragen gegen die Herren Pfyffer und Corraggioni Anzeigen zu machen. Ja Klara brachte damals die Namen noch mehrer angesehener Personen und Familien von Luzern, welche zur ultramontanen Partei gehörten, vor, und selbst die päpstliche Nunciatur ward mit als Anstifterin des Mordes genannt! Man ließ aber die Vielen fallen und begnügte sich mit zwei Opfern.

Als auch Klara Wendel endlich, die Letzte von Allen, ihre Aussagen zurücknahm, erklärte sie: »Rikenbach und Am Rhin fragten mich oft Sachen, von denen ich nichts wußte, und ließen mir keine Ruhe, bis ich was angab.« Eigen ist die Art, wie Barbara Wendel dazu verleitet wurde, grade den Doctor Corraggioni als Mitanstifter der That anzugeben. In jenen Schweizercantonen hat Jedermann irgend einen Namen, den ihm das Volk gegeben und unter dem er im gemeinen Leben bekannt ist. Gewöhnlich rührt er von ganz zufälligen Umständen her. So hieß Corraggioni bei den Leuten der Heubirlidoctor, der Heubirnendoctor. »Rikenbach war ein Mal bei mir im Zimmer,« sagte Barbara aus, »als ich schon bekannt hatte, daß Alt-Bäckeler und Krüsihans den Schultheiß ins Wasser geworfen, und fragte mich, wer sie bezahlt habe? Ich antwortete, ich wisse Niemand; sie hätten ihm Uhr und Geld nehmen wollen. Er drang aber in mich, ich sollte ihm sagen, wer bezahlt habe? Nachher kam er wieder zu mir, als Rodel (der Thurmwart) mir grade große Birnen, Fäßlibirnen, hereingegeben hatte. Er fragte mich wieder: wer bezahlt habe? Es sei doch ein großer Herr gewesen und eine ganze Familie? Nun sagte ich viele Namen von Luzernern, wie sie mir so einfielen. Da nahm er eine Birne und hielt sie mir vor, und fragte: Ist das keine Heubirne? Ich sagte: Nein, es sind Fäßli- oder Wegernser Birnen. Er lachte aber und sagte: das sind ja Heubirnen. Ich lachte auch, denn nun merkte ich's; aber ich sagte nichts, wußte aber, daß es einen Heubirler gebe, weil ich viel um die Stadt herum war, und dachte: der wird angegeben sein, als ob er bezahlt habe.

Auch Klara Wendel will auf ähnliche Art zur Angabe des Herrn Pfyffer veranlaßt sein. Der Actuar Rikenbach saß einst in ihrem Gefängniß am Fenster, während sie neben ihm stand. Sie sprachen von den Herren, die angestiftet, und »es mangelte Einer zum Anstiften«. »Ja, sagte Rikenbach zu mir, einer pfeift und einer reitet; weißt du, was ich meine?« Klara antwortete: Nein! »Einen Pfeifer!« lächelte Rikenbach.

Durch ein ähnlich grobes Witzspiel wurde die Hauptangeberin noch zur Nennung anderer bekannter Namen, wie des Rathsherrn Fleckenstein durch Vorhalten eines Steines mit einem Dintenfleck, der päpstlichen Nunciatur durch Vorzeigen einer Zeichnung der Hausfronte, verführt, und was das Schlimmste ist, ihre Aussagen über diese Art, sie zu induciren, fanden, wie Escher berichtet, in den Erklärungen Am Rhin's und Rikenbach's ihre Bestätigung. Noch auffälliger war, daß, obwol Klara Wendel, außer den Herren Pfyffer und Corraggioni, auch die Rathsherren Segesser, Fleckenstein, Postmeister Bell, Advocat Baumann, Leuenwirth Weber und die Nunciatur angegeben, wie sich bei der Untersuchung in Zürich ermittelte, Am Rhin dennoch von diesen Namen keinen einzigen in den Acten aufnehmen ließ, der Commission nichts davon anzeigte, ja der Klara Wendel ausdrücklich untersagte, diese Personen in den Verhören zu erwähnen. Als Grund dieser Zurückhaltung gibt uns Escher an, daß Am Rhin bei seinen Verwandtschaftsverhältnissen mit einigen der angezeigten Personen von der Untersuchung ganz hätte zurücktreten müssen. Auch hätte der gute Ruf, in welchem die meisten von diesen Neubeschuldigten standen, im Gegensatz mit der Unglaubwürdigkeit der Angeberin, eine stärkere Präsumtion erzeugen müssen, daß ihre Angaben erdichtet seien. Gilt dieses Argument, so gäbe es einen moralischen Rückschlag auf die Herren Pfyffer und Corraggioni, als wenn man gerade von diesen aus ihrer Partei Herausgerissenen sich vorzugsweise oder allein einer solchen That habe versehen können!

Doch über die Persönlichkeiten, der Kläger wie der Angeklagten, verbreitet sich der Züricher Berichterstatter aus weiser Schonung nicht weiter als es nöthig ist. Ihm gebot seine Stellung, sich damit genügen zu lassen, die höchste an Unmöglichkeit grenzende Unwahrscheinlichkeit der Denunciationsgeschichte herauszuheben, damit den Widerruf als vollkommen begründet zu erklären und endlich noch die einzelnen Anzeigen, welche gegen beide Angeklagte vorgebracht waren, in ihrer Nichtigkeit darzustellen. Wie schwach diese Anzeigen gegen Joseph Pfyffer von Heidegg waren, haben wir oben gezeigt; sie zerfallen in sich selbst. Gegen den Doctor Corraggioni ward angeführt, daß er den Gefangenen im Kerker oft Geld und Lebensmittel zufließen lassen, aber es geschah offen, mit dem bestimmt erklärten Willen, daß die Zuwendungen unter alle Gefangene, besonders die Weiber und Kinder, vertheilt würden. Auch andere Einwohner von Luzern wetteiferten in diesem Act christlicher Mildthätigkeit. Ihm ward ferner die Art, wie er sich vertheidigte und die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen gegen die Ankläger zu schleudern suchte, zum Vorwurf gemacht. Aber Corraggioni war ein Parteimann, wie seine Gegner, und, wie es scheint, einer der Heftigsten der ultrakatholischen Partei. Er denuncirte seine Richter als von persönlichem Haß und Rachsucht gegen ihn erfüllt und geleitet, und konnte die Thatsachen, auf welche er sich berief, nicht beweisen. Er betrachtete seine Richter als Feinde, die zu jedem falschen Verdachte geneigt wären, und denen er deshalb auch das Unschuldige verleugnen zu müssen glaubte. Dies war eine falsche Art der Vertheidigung; aber er gebrauchte gegen seine Feinde die Waffen, deren diese, seiner Ansicht nach, sich gegen ihn bedienten. Auch suchte er durch seine Hausgenossen eine Art Alibi in der angeblichen Mordnacht darzuthun. Wie wenig, unserer Ansicht nach, solche Zeugnisse zu bedeuten haben, wo die Zeugen über alltägliche Lebensbegegnisse bekunden sollen, welche an einem bestimmten Tage vor langen Jahren – hier vor neun Jahren! – vorfielen, haben wir im Fonk'schen und Fualdes'schen Processe ausgesprochen. Doch nahmen die Richter in Zürich an, daß durch die Aussagen jener Hausgenossen es noch wahrscheinlicher geworden, daß der Doctor Corraggioni in jener Nacht an keinem Verbrechen könne Theil genommen haben.

Der genannte Fridolin Zimmermann und die Maria Ulrich wurden erst später eingefangen. Ohne Mühe wurden sie zum Geständniß ihrer wirklichen Verbrechen gebracht; dagegen leugneten sie beharrlich, irgend etwas von einer Mordgeschichte in Luzern zu wissen.

Endlich spricht ein schlagender Umstand für Joseph Pfyffer's Unschuld, wenn noch Zweifel darüber vorhanden sein könnten. Jener Nachbar Keller's, zu welchem die armen Töchter in der schrecklichen Nacht sogleich nach dem Verschwinden ihres Vaters in Thränen stürzten und den sie im Schlafrock ruhig im Kreise der Seinen bei der Abendmahlzeit fanden, derselbe, welcher sich sogleich auf den Weg machte, den Verschwundenen zu suchen, der zwei Mal in die Stadt lief, dort Anzeige machte und erst gegen Morgen in sein Landhaus zurückkehrte, war Joseph Pfyffer von Heidegg. Die Thatsache spricht in Verbindung zur Geschichtserzählung der Gauner so deutlich, daß jedes Wort darüber überflüssig wäre.

Die Freisprechung der Angeschuldigten ergab sich von selbst. Der Riesen-Proceß gegen die Gauner – die species facti füllte allein 312 Folioseiten, die Beilagen 13 Bände – und seine Entscheidungen gehören nicht hierher; er gehört aber nicht allein in die schweizerische Criminalistik, sondern auch in die Geschichte der Eidgenossenschaft.

Der Proceß gegen die Pfyffer und Corraggioni erscheint als ein criminalistisches Monstrum, einer, in welchem das Wort »Inquisitionsproceß« in seiner nächsten Grundbedeutung, nämlich der des Hineinforschens auftritt. Die ganze Ermordungsgeschichte des Schultheiß Keller ward durch die Inquisition nicht ermittelt, sondern erst erzeugt. Der Krüsihans rief ein Mal höhnisch aus: »Schade für die Tinte, die in der Sache verschrieben worden ist!« Doch werfe man uns weder vor, noch lobe man uns, daß wir aus diesem einen Falle ein Verdammungsurtheil gegen den Inquisitionsproceß herleiten. Die Geschichte der Criminalprocesse in den kleinen Cantonen der Schweiz, wo das Volk richtete und die Gerichte öffentlich waren, liefert noch entsetzlichere Beispiele einer verfehlten Justiz. Auch dieser Fall ist nur ein neuer Beleg, daß, wo Parteileidenschaft zu Gericht sitzt, die Gerechtigkeit durch keine Formen gesichert ist.

Der päpstliche Hof führte Beschwerde bei der Eidgenossenschaft über die Art, mit welcher Beschuldigungen gegen die Nunciatur in diese Händel gemischt worden. Die Rathsherren Pfyffer und Corraggioni erlangten nur mit Mühe die Bewilligung zur persönlichen Einsicht der Keller'schen Proceßacten und foderten darauf eine neue Untersuchung gegen die Urheber des gegen sie geführten Criminalprocesses. In wie weit ihnen gewährt ist und welche Genugthuung ihnen für den ihnen angethanen Schimpf geworden, darüber fehlt uns authentische Auskunft. Der Verhörrichter, Hr. Escher in Zürich, erntete für seinen trefflichen, der Oeffentlichkeit übergebenen Bericht zwar Lob und Anerkennung aller vorurtheilsfreien Freunde des Rechts und der Wahrheit; aber in einem Lande, wo die Parteien gesetzlich sind und um das Regiment kämpfen, auch die Mißbilligung und Gegnerschaft Vieler, welche in andern politischen Ueberzeugungen auf seiner Seite standen.

Ob und welche Nemesis persönlich Diejenigen ereilte, welche in dieser ungerechten Verfolgung die Hauptthätigen waren, darüber fehlen uns, wie gesagt, die Nachrichten. Aber wenn sie es im Sinn und Interesse ihrer Partei thaten, um das Regiment der Freisinnigen in Luzern gegen die Machinationen der Ultramontanen aufrecht zu erhalten, so ist die Strafe dafür, daß man gegen die Jesuitenpartei in blinder Rücksichtslosigkeit jesuitischer Mittel sich bediente, nicht ausgeblieben, und der völlige Sturz der Liberalen in Luzern und die zeitweilige Herrschaft der Ultramontanen daselbst darf in die Reihe der warnenden Beispiele aus der Geschichte eintreten, daß die beste Sache durch Lüge und Excesse sich untergräbt und für den Feind selbst in die eignen Mauern Bresche legt.


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