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1812–1813–1823.
Zu Anfang des Jahres 1812 erregte ein Mordanfall in der Mitte des friedlichen Leipzig die allgemeine Aufmerksamkeit; um so schreckhafter war der Eindruck auf die Bewohner der Stadt, als, aller Nachforschungen ungeachtet, der mysteriöse Thäter unentdeckt blieb.
Zu dem hochbejahrten Kaufmann Schmidt, Eigenthümer eines Hauses in der Grimmaischen Gasse, kam am Morgen des 28. Februar, etwa zwischen 10 und 11 Uhr, ein ihm unbekannter Mann von gegen vierzig Jahren und eröffnete ihm, er sei aus Hamburg an ihn empfohlen; weil dort nichts mehr zu machen sei, wolle er sich in Sachsen umsehen. Er fragte ihn, ob er sich ein Landgut oder sächsische Obligationen kaufen solle? Im Gespräch hierüber, das ungefähr eine halbe Stunde dauerte, holte Schmidt, auf des Fremden Verlangen, eine leipziger Stadtobligation von 100 Thalern aus dem Schreibtisch, zeigte sie demselben, legte sie aber nachher wieder in den Schreibtisch. Auf einmal sank er bewußtlos nieder. Nach dem weitverbreiteten Gerücht geschah dies, nachdem er eine Prise aus der Dose des Fremden genommen. Das Erkenntniß erwähnt dieses Umstandes nicht.
Als Schmidt wieder zu sich kam, blutete er stark am Kopfe und schrie: »So helfen Sie mir doch auf.« Der Fremde aber war fort. Nachdem er sich mit Mühe aufgerichtet, sah er drei Kästchen seines Schreibtisches leer auf dem Tisch und den Stühlen umherstehen. Die Angst, daß er bestohlen sei, bemächtigte sich seiner und stärkte ihn. Blutend wie er war, durchsuchte er seine Sachen und fand, daß ihm aus seinem Schreibtische elf leipziger Stadtobligationen, zusammen im Werthe von 3000 Thalern, fehlten.
Nachdem er sich kaum von der Ehefrau seines Hausmanns, Vetter, oberflächlich verbinden lassen, eilte er nach der Schoßstube, um Anzeige von dem Vorfall zu machen und zugleich die Nummern der ihm fehlenden Stadtobligationen anzuzeigen.
Dies sowol, als das Circular, welches er sogleich an sämmtliche leipziger Banquiers erließ, half ihm aber nichts, denn die elf Obligationen waren bereits bei Frege und Comp. verkauft und von diesen in Golde baar bezahlt worden.
Noch in derselben Stunde, wo der Fremde bei Schmidt gewesen, nämlich zwischen 10 und 11 Uhr des Morgens, war, nach Angabe der Frege'schen Leute, in dem Comtoir des großen Wechselgeschäfts auch ein ihnen Fremder erschienen, und hatte jene Obligationen gegen den Coursbetrag in preußischen, sächsischen, braunschweigischen, französischen Louisdors und weniges Silbergeld in Conventionsmünze umgewechselt. An dem Fremden war weder Angst noch Unruhe zu bemerken gewesen. Er hatte genau nachgerechnet, das empfangene Geld überzählt, auch einzelne Münzsorten, die ihm nicht convenirten, zurückgeschoben, um sich andere dafür zahlen zu lassen.
Die Personbeschreibung dieses Fremden, wie ihn die verehelichte Vetter in Schmidt's Stube gesehen haben wollte, zusammen mit derjenigen, welche die Frege'schen Commis von ihm entwarfen, ward in die öffentlichen Blätter eingerückt. Dieser zufolge hätte der Fremde wie »ein modern gekleideter Landgeistlicher« ausgesehen. Ein gewisser v. Bürger gerieth in Verdacht. Der Cassirer des Frege'schen Comtoirs, Witzendorf, wollte ihn »gewiß als den Verkäufer der Obligationen recognosciren«. Da aber weder die andern Comtoirbedienten, noch die Vetter, noch der Verwundete ihn erkannten, so erledigte sich der Verdacht sogleich.
Von dem unglücklichen Kaufmann Schmidt war das Wenigste zu erfahren. Zwar erhärtete er durch einen Eid alles bisher Angegebene; aber Schreck und Verwundung hatten seine geistigen Kräfte dermaßen benommen, daß er von der Kleidung und Gestalt des Fremden nichts anzugeben wußte; auch nicht, ob dieser ihn auf den Kopf geschlagen und er dadurch verwundet worden, oder ob die erhaltene Wunde vielleicht davon herrühre, daß er in Ohnmacht und an die Ofenecke gefallen sei.
Noch ehe die Kopfverletzung des alten Mannes geheilt war, starb er, in der Nacht zum 6. April desselben Jahres; offenbar, nach einem schmerzlichen Krankenlager, in Folge des Mordanfalls.
Die Obducenten gaben bei der Leicheneröffnung ihr übereinstimmendes Urtheil dahin ab: daß die verletzende Ursach mit einer großen Gewalt gewirkt haben müsse; daß sie in mehren heftigen, durch eine fremde Hand geführten Schlägen bestanden habe, indem ein bloßes Hinsinken des Körpers bei einer Ohnmacht, selbst durch Anschlagen des Kopfes an einen harten Gegenstand nicht an zwei von einander entfernten Stellen des Kopfes die beiden ähnlichen Wunden verursachen können; daß sich aus dem Befunde der Leichenöffnung aber auf das Werkzeug, womit die Verwundung erfolgt, nicht schließen lasse, da die Wunden sich nicht mehr in frischem Zustande befanden.
Als Thatbestand des vorliegenden Verbrechens stellte sich nach den Ermittelungen demnächst fest: daß dem Kaufmanne Schmidt von fremder Hand, in gewinnsüchtiger Absicht, Verletzungen zugefügt worden, welche als per se lethalia den Tod des Verletzten zur Folge gehabt.
Die fernere Untersuchung wurde, beim Mangel aller leitenden Spuren, mit der Leiche des unglücklichen Schmidt zu Grabe getragen. Sie ruhte daselbst über Jahresfrist, und es mußte ein neues, nicht minder schaudervolles Verbrechen begangen werden, um eine Spur wieder aufzufinden, wo man sie nie gesucht hatte.
Die Ermordung des Kaufmann Schmidt schien längst im Drangsal und dem kriegerischen Getöse der verhängnißvollen Jahre, welche ihr folgten, vergessen, als im Februar 1813 ein neuer, schauderhafter Mord, abermals in der Mitte der Stadt, an einer friedlichen Bewohnerin verübt, allgemeines Entsetzen erregte.
Am neuen Neumarkt wohnte, vier Treppen hoch, im Dr. Kunitz'schen Hause, die 75jährige Witwe des Briefträgers Kunhardt. Sie hatte am Morgen des 8ten Februar ihre Dienstmagd Schmidt bald nach acht Uhr fortgeschickt, um aus einem Gewölbe eine Flasche Wein zu holen. Als diese von dem Gange zurückkam, begegnete ihr im Hausflur ein Magister, den sie sonst schon gekannt, als sie noch im Dienste des Magisters H… war (der eine Schänkwirthschaft hielt). Dieser richtete die Frage an sie: ob sie weggehe und wann sie wieder komme (nach der ersten Aussage der Schmidt)? Als sie antwortete: sie komme eben zurück, eilte er schnell aus dem Hausthor fort. Als sie oben bei ihrer Dienstherrschaft ankam, fand sie die alte Kunhardt auf dem Vorsaale, in einem Winkel an der Stubenthür lehnend, mit blutigem Kopfe. Die Verwundete sagte ihr: ein fremder Kerl, der ihr den Brief gebracht, wobei sie auf den auf der Erde liegenden Brief wies, habe sie so blutig geschlagen.
Auf das Hülfsgeschrei der Magd eilten mehre Bewohner des Hauses, als die Dr. Cnobloch'schen Eheleute und die Dr. Kunitz herbei und brachten die arme Verwundete in ihre Wohnstube. Auf ihre Fragen über den Zusammenhang sagte sie nur: »Ein Kerl hat mich geschlagen; der Brief muß da sein; ich bin froh, daß ich meine Kette habe.« Auf die Frage: ob sie den Kerl kenne? antwortete sie »nein!« Der mit Blut befleckte Brief war datirt: Hohendorf den 24. Januar 1813, Johann Gottfried Bröse unterzeichnet, an die Geschlagene adressirt und enthielt das Gesuch des Ausstellers, ihm ein Darlehn von 1000 Thalern vorzustrecken.
Blutflecken fanden sich an der Wand des Vorsaals und auf dem Fußboden.
Dies die Wahrnehmungen, welche in dem policeilich noch in derselben Stunde des Mordanfalls aufgenommenen Protokoll verzeichnet sind. Noch am frühen Vormittage begab sich eine Gerichtsdeputation in die Kunhardt'sche Wohnung. Sie fand die alte Witwe schon völlig besinnungslos im Bette liegend. Die Dienstmagd wiederholte ihre Aussage, indem sie nur noch bestimmter hinzusetzte, es sei der ihr wohlbekannte Magister K… gewesen, der ihr bei der Rückkehr im Hausflur einen guten Morgen geboten und dann aus dem Hause gegangen sei. Er sei mit einem dunkeln Matin bekleidet gewesen. Schon auf der Treppe habe sie die Stimme ihrer Dienstfrau gehört, die: »Hanne! Hanne!« geschrieen. Oben habe sie dieselbe in dem angegebenen Zustande mit heruntergerissener Haube gefunden. Die Aeußerungen der Kunhardt seien wörtlich die gewesen:
»Der Kerl habe ihr einen Brief gebracht; er habe sie auf die Hände geschlagen, und wundere sie sich, warum er ihr nicht auch die Kette vom Halse gerissen.«
Außer den Blutspuren an der Wand, am Boden, und dem Zustande der Kleider, welche von der zugefügten Gewalt sprachen, fand das Gericht an der linken Wand des Vorsaals die chamoisfarbige Bordure, gleich wie von einer Reibung daran, abgewischt.
Die Dr. Kunitz bekundete sofort, daß sie kaum fünf Minuten vor dem Hülferufen der Schmidt eine Mannsperson mittler Statur, mit einem ganz dunklen Matin bekleidet, eine schwarze, oder doch ganz dunkle Mütze auf dem Kopf, aus der Hausthür herausgehen gesehen. Im Fortgehen habe dieser sich den Matin so, als wenn er sich denselben an der Wand weiß gemacht, abgestäubt.
Werkzeuge, womit die That hätte verübt werden können, fand man nicht. Aber auch von den Effecten wurde nichts vermißt.
Die Trepanation, welche man, um die Todesgefahr von der Unglücklichen abzuwenden, versuchte, blieb fruchtlos. Sie starb in der Nacht zum 10. Februar, ohne wieder zum Bewußtsein gekommen zu sein. Bei der Sektion des Leichnams gaben die Obducenten ihr vorläufiges Gutachten dahin ab: daß die Kopfverletzungen, der Hirnerschütterungen und Extravasate halber, absolut tödtlich gewesen.
Der Verdacht der Täterschaft fiel natürlich sogleich auf den Mann, welchen die Magd Schmidt aus dem Hause gehen gesehen; um so mehr, als sich die Schmidt entsann, daß sie denselben Mann ja schon zwei Tage vor dem Falle, am 6. Februar, im Hause gesehen. Er war damals die Treppe zur Kunhardt'schen Wohnung hinaufgegangen, hatte sie nach der Kunhardt gefragt, war aber gleich darauf wieder fortgegangen, weil sich Fremde bei ihr befanden. Denselben Fremden hatte damals auch die Kutscherfrau Vetterlein, die unten im Hause wohnte, gesehen, in einem Matin von feinem, dunkelblauem Tuche und einer schwarzen Mütze. Er hatte sie nach der Kunhardt gefragt und sie ihn die vier Treppen hinauf gewiesen. Er ging hinauf, und sie, die grade Geschäfte auf dem Boden hatte, folgte ihm. Auf der vierten Treppe rief sie ihm zu: »Hier wohnt die Madame, nach der Sie mich fragten.« In demselben Augenblicke hatte die Schmidt die Thüre geöffnet, um den Brotmann herein zu lassen. Der Fremde aber, in anscheinender Verlegenheit, äußerte: »Nein es soll eine Frau Dr. Kunitz sein,« und kehrte wieder um. Aber er ging auch nicht zur Kunitz, wohin sie ihn gewiesen, sondern die Treppen hinunter und zum Hause hinaus.
Die Schmidt hatte diesen Fremden, als sie beim Magister H… diente, oftmals in dessen Wirthshause gesehen. Sie lief dahin, um sich nach seinem Namen zu erkundigen. H…, bei dem viele Magister zu wohnen pflegten, nannte ihr mehre Namen. Als er ihr auch den Namen des Magister K… nannte, rief sie: »Ja der Närrische, das ist B…!« lief fort, und gab ihn dem Untersuchungsrichter an, und der arme Magister K…, außerhalb Leipzig wohnhaft, ward sofort, auf Requisition von den dortigen Gerichten, gefänglich nach der Stadt gebracht. Aber weder die Vetterlein, noch die Schmidt erkannten ihn für Den, welchen sie gesehen, und welchen die Letztere im Sinne hatte.
Der Magister K… ward natürlich freigelassen; aber der Verdacht lenkte sich sogleich auf einen Andern. Der Gastwirth und Magister H… hatte bei seiner Vernehmung ausgesagt, daß unter den bei ihm logirenden Magistern auch der Pfarrer Tinius aus Poserna bei Leipzig sei. Dieser habe vom 7. bis 8. Februar bei ihm übernachtet, sei am 8ten um acht Uhr früh aus seinem Hause gegangen, angeblich um zum Oberhofrichter zu gehen, und um neun Uhr ungefähr wieder bei ihm eingetroffen, nachdem er beim Antiquar Rau ein Buch gekauft und im Beygang'schen Museum Zeitungen gelesen.
Tinius war ein Mann, auf dem bisher gar kein Verdacht lastete; ja sein Ruf schien dem entschieden zu widersprechen. Er war seit einigen Jahren Pfarrer im Dorf Poserna und in der Umgegend als Prediger wegen seiner populair eindringlichen Reden berühmt. Er war zum zweiten Male verheirathet, beide Male, wie es scheint, mit Frauen, welche ihm Vermögen eingebracht, Vater einer Familie, ein Mann von Verstand und Kenntnissen, mit den besten Zeugnissen aus seinen früheren Dienstverhältnissen. Er war schon als Schriftsteller aufgetreten, unter Anderm mit einer Selbstbiographie. Seine Lieblingsneigung aber waren Bücher. Er kaufte von allen Seiten auf, ganze Nachlassenschaften und stand deshalb in lebhaftem Verkehr mit Antiquaren und Büchersammlern. Seine eigene Bibliothek war zu einer, für die Verhältnisse eines Landgeistlichen ungeheuren Größe angeschwollen, bis auf eine Bändezahl von 60,000! Dem Gerüchte nach suchte er darin nicht allein Befriedigung seiner eigenen Bibliomanie, sondern beabsichtigte einen großen Bücherverkehr mit Amerika.
Nichtsdestoweniger schöpfte das Kreisamt zu Leipzig Verdacht gegen ihn. Die Personbeschreibungen schienen auf ihn zu passen. Mit der äußersten Vorsicht ging man zu Werke, und der Amtslandschöppe Kretschmar ward mit der Dienstmagd Schmidt nach Poserna geschickt, damit Letztere den Tinius unbemerkt und ohne Aufsehen in Augenschein nehme. Der Pfarrer trat grade aus seiner Hausthür, als die Schmidt eintreten wollte. Sie erkannte ihn augenblicklich für den Nämlichen, den sie am 6. und 8. Februar im Kunitz'schen Hause gesehen und gesprochen. Tinius, als er sie erblickte, ward auffallend verlegen. Rasch fragte er: woher sie sei? antwortete sich aber sogleich selbst: »Ach aus Weißenfels!«
Dieses erste Nichtkennenwollen und dann das Angeben eines falschen Wohnortes erschien um so verdächtiger, als die Schmidt sich inzwischen genauer der einzelnen Umstände ihres Zusammentreffens im Flur des Kunitz'schen Hauses mit dem Fremden besonnen und sie so zu Protokoll gegeben hatte: Der Fremde, als er ihr im Flur begegnet, sah blaß aus und schien zu zittern; er erkannte sie aber im Augenblick und sagte: »Ei das ist ja die Köchin, die beim Magister H… gedient hat.« Damals hatte er sie im dunkeln Flur sogleich erkannt; jetzt am hellen Tage fragte er, woher sie sei? und corrigirte sich sogleich, wie um das Gespräch abzubrechen: »Ach aus Weißenfels!«
Der Verdacht erschien so dringend, daß Tinius' Verhaftnehmung beschlossen wurde. Am 27. Februar hatte ihn die Schmidt in Poserna recognoscirt; am 4. März ward er in der Stille der Nacht auf Requisition des Consistoriums arretirt und nach Leipzig gebracht, und die Untersuchung gegen ihn eröffnet. Diese dehnte sich bald auch noch auf ein bestimmtes anderes Verbrechen, ja auf mehre versuchte Verbrechen aus, und wahrte bei der außerordentlichen Hartnäckigkeit, mit welcher Tinius sich vertheidigte, auch wol verschleppt durch Ungunst der Zeitumstände und dadurch, daß Tinius' Domicil in Folge des wiener Friedens an Preußen überging, durch zehn Jahre, bis das Endurtheil erfolgte.
Nachdem die vorläufige Untersuchung ein Jahr gedauert, fiel das am 26. März 1814 publicirte Erkenntniß des Schöppenstuhls zu Leipzig dahin aus: daß wider Tinius mit der Inquisition gebührend zu verfahren sei. Dieses Erkenntniß hatte aber verfassungsmäßig schon die Entsetzung des Tinius von seinem geistlichen Amte und Uebergabe an den weltlichen Richter zur Folge. In aller Feierlichkeit erfolgte diese Amtsentsetzung am 31. März 1814 in Gegenwart der geistlichen und weltlichen Behörden zu Leipzig und im Beisein zahlloser Zuschauer in der St.-Nicolaikirche. Es war einer der furchtbarsten Acte, welcher neuerer Zeit in einer protestantischen Kirche begangen wurde. Der Superintendent Dr. Rosenmüller, den sein Amt zu dieser traurigen Handlung berief, hat seine dabei gehaltene Rede besonders herausgegeben, wodurch dieser Criminalfall, bereits vor seiner Erledigung durch den weltlichen Richter, dem größern Publicum bekannt wurde.
Als dem Angeschuldigten vom Kirchenaufwärter Priesterrock und Halskragen abgenommen worden, unter der Verwarnung, sich nie wieder im priesterlichen Ornat zu zeigen, überlieferte ihn der Frohnvoigt als einen Laien dem weltlichen Gerichte zur weitern Fortsetzung der Untersuchung.
Nachdem darauf der Proceß vor der königlich sächsischen Landesregierung zu Dresden über Formalien in der Behandlung sich gedreht, die zu verfolgen außer unserer Aufgabe liegt, erfolgte die Trennung Sachsens. Zufolge der Convention vom 20. Februar 1816 sollte das forum domicilii, nicht des delicti commissi über die Frage entscheiden: welchem der getrennten Landestheile die Untersuchung gegen einen in Haft befindlichen Inculpaten gebühre? Da nun Poserna bei Weißenfels, wo Tinius sein letztes Domicil gehabt, preußisch geworden, requirirte das Kreisamt Leipzig das competente preußische Obergericht, den Tinius von Leipzig abholen zu lassen. Dies geschah, und die Untersuchung wurde seitens des damit beauftragten preußischen Justizamtes fortgesetzt und vervollständigt, bis im Februar 1820 endlich die spruchreifen Acten zur Abfassung des Erkenntnisses erster Instanz eingereicht wurden.
Es ist ermittelt, was sich ermitteln ließ, und erkannt in letzter Instanz. Seit dieser sind abermals zwei Decennien verflossen; aber, wiewol der Angeschuldigte noch im Augenblick, wo wir dieses schreiben, in der Versorgung in Zeitz lebt, ist der eigentliche Hergang der Sache noch immer mit einem dunklen Schleier verdeckt. Ein directer Beweis ist weder durch Zeugenaussagen noch durch Eingeständniß vorhanden; vielmehr mußte aus dem Connex vielfacher Indicien auf künstliche Weise der Beweis der Thäterschaft so weit hergestellt werden, damit eine außerordentliche Strafe sich rechtfertigen ließ. Das Gewissen der Richter, die ihn verdammten, wird unbelästigt von Vorwürfen sein; das Publicum theilt mit ihnen die moralische Ueberzeugung von Tinius' Schuld. Dagegen hat die Untersuchung, wenigstens so weit sie in dem ausführlichen Erkenntniß niedergelegt ist, uns den psychologischen Schlüssel über den Zusammenhang der That mit dem Seelenzustande des Thäters vorenthalten. Ja sie hat, nur und allein an die Kritik der Indicien der Thäterschaft sich haltend, es ganz verschmäht, dem Leser eine Anschauung von der Persönlichkeit des Thäters zu geben. So sind wir hinsichts der Motive, mit Ausnahme weniger zuverlässiger Hülfsquellen, auf Das verwiesen, was zur Zeit der That und nachher jedes Kind wußte, was aber jetzt nur dunkel im Gerüchte lebt, und bleiben über die wichtige Frage im Dunkel: wie ein Mann von solcher Verstandeskraft, seiner Bildung, wie ein Geistlicher seine Bücherliebe bis zu der Raserei der Leidenschaft steigern konnte, nicht um einen Andern, der etwa ein ihm kostbares Kleinod besaß, in der Wuth zu erschlagen, damit er das theure Besitzthum sich aneigne – denn die Manie hat ihre eigenen Gesetze –, sondern, wie Tinius ein kaltblütiger Raubmörder werden konnte, der mit Vorbedacht und entsetzlicher Consequenz Mord und Raub als Geschäft betrieb. Welche Stufen und Stadien liegen da zwischen einem makellosen Jüngling, der sich überall des besten Ruhmes erfreute und dem Manne im Gefängniß, der hinter den Gitterfenstern hervor mit eiserner Stirn falsche Zeugenaussagen bestellt und bezahlt, in dessen zehnjähriger Untersuchungshaft aber nie eine Spur von Reue oder Gewissensbissen aufleuchtet. So wenig die Methode unsererseits gebilligt wird, welche, in der Sucht, Manien zu finden, aus der Subjectivität des Thäters ruchlose Thaten allein herleiten und entschuldigen will, so wenig mögen wir die umgekehrte loben, wo der erkennende Richter nur am Thatbestande haftet, ohne einen Blick auf die Seelenzustände des Thäters zurückzuwerfen, aus denen sie hervorging, oder unter denen sie erfolgte.
Johann Georg Tinius war im Niederlausitzischen auf dem Lande von Aeltern niedern Standes im Jahr 1764 geboren. Sein Vater war Aufseher königlich preußischer Schäfereien. Bei seinem Großvater erhielt er die erste Erziehung. Seine Anlagen wurden von einem Geistlichen beim Religionsunterrichte bemerkt und derselbe verschaffte ihm die Möglichkeit, sich dem Studium zu widmen. Nachdem er, durch die Mildthätigkeit guter Menschen unterstützt, sich auf der Universität Wittenberg durchgeholfen, ward er an mehren Orten Hauslehrer, dann Tertius am Gymnasium in Schleusingen; 1798 erhielt er das Pfarramt in Heinrichs im Hennebergischen, und 1809 die Pfarre zu Poserna bei Weißenfels.
Von allen diesen Orten her hatte er die besten Zeugnisse. Der Rector Walch am Gymnasium zu Schleusingen bezeugte ihm beim Abgang von dort, »daß er den durch den Oberhofprediger Reinhardt von ihm erregten, nicht geringen Erwartungen während seiner dreijährigen Amtsführung vollkommen entsprochen, sein Schulamt mit Nutzen für die Jugend verwaltet, auch sich so betragen habe, daß man seine frühe Trennung vom Gymnasium sehr bedauert.« Der Pastor Kolb, als Ephorus von Suhl, bezeugte ihm, hinsichts seiner Amtsführung zu Heinrichs: »daß er immer auf das gewissenhafteste gehandelt, und eine Sittenreinheit und Unbescholtenheit des Wandels an den Tag gelegt habe, daß ihm keine Rüge zu Ohren gekommen.« Dasselbe bezeugte der Rath zu Heinrichs, wie auch: »daß er im außerordentlichen Beifall und Zulauf der Zuhörer aus allen Gegenden seines Gleichen hier noch nicht gehabt.« Der berühmte Professor Reinhardt in Wittenberg, später Oberhofprediger in Dresden, hatte dem von der Universität abgehenden Jünglinge das prägnante Zeugniß geschrieben: ita vixit in hac Academia ut mihi carus esset in paucis; d. i. »So lebte er auf dieser Hochschule, daß er mir vor Allen lieb und werth wurde.«
Der Superintendent zu Weißenfels bezeugte sogar noch nach Tinius' Verhaftung, und als der schwere Verdacht schon zur begründeten Anklage wurde, »daß Tinius sich jederzeit so benommen, daß ihm der Gedanke einer solchen Verwilderung, deren er jetzt bezüchtigt werde, nie habe beikommen können.« Das Ganze erschien ihm als ein Räthsel, dessen Lösung er nur in der unseligen Kunst zu finden glaubte, den wahren Grund des Herzens vor den Augen der Menschen zu verbergen und im Geheimen zu sündigen.
Aber wann hatte Tinius angefangen, im Geheimen zu sündigen? Wann, den innern Menschen vor den Augen der Andern zu verbergen? Wann war ihm der erste Gedanke zur ersten Mordthat gekommen? Wie hatte er das Gräßliche und Unerhörte so still im Busen zu tragen gelernt, vor und nach der That, daß keiner seiner Nächsten, kein Entfernterer die fürchterlichste Umwandlung bemerkte, die im Gemüthe eines christlichen Gottesgelehrten vorgehen konnte? Nagte in ihm ein uralter Grimm gegen die Reichern und Glücklichern, und war sein ganzes bisheriges Leben ein großes Schauspiel, eine fortgesetzte Lüge? Oder hatte ihn dämonisch die Wuth plötzlich überkommen und er war nur ein gefallener Engel? Auf alle diese Fragen hat selbst das Gerücht keine Antwort.
Einige sagten zwar: sie hätten ihm nie recht getraut. In seinem Wesen sei Etwas gewesen, was sie innerlich schaudern gemacht. So bezeugte der Superintendent Schmidt zu Weißenfels, in dessen Diöcese Tinius drei Jahre als Prediger lebte, daß »er ihm oft in einem rätselhaften Dunkel erschienen und er, der Beobachter, sich des erstern auf ihn gemachten Eindrucks nie ganz erwehren können, wo er zu sich gesagt: er sähe aus wie ein Adept.« Solche sinnliche Wahrnehmungen kommen in ähnlichen Fällen nicht selten vor, es ist aber zu beachten, daß sie nie vor, sondern allezeit erst nach der That zur Kenntniß Anderer kommen. Eine unheimliche Miene, besonders ein stechender Blick charakterisirten ihn. Das haben aber nur Solche bemerkt, welche ihn während der Untersuchung, in der Haft, oder später zu sehen Gelegenheit hatten. Uns fehlt jedes psychologische Zeugniß über sein häusliches Leben. Zwei Mal war er verheirathet. Beide Mal mit Witwen. Die zweite Frau, eine verwitwete Oberförsterin Helmerich, die er 1801 heirathete, brachte ihm drei Stiefsöhne zu, und er zeugte mit ihr (mit der ersten Frau eine Tochter) noch drei Kinder. Sie ließ sich während des Processes von ihm scheiden. Ihre alte Mutter beklagte es als das größte Unglück, daß ihre Tochter diesen Mann genommen. Es soll dies schon vor der Entdeckung seiner Verbrechen geschehen sein. Doch wird die alte Frau als halb kindisch dargestellt. Aus einzelnen Zügen erscheint es, als wäre Tinius ein rauher Ehegatte gewesen; seine Stiefkinder scheinen ihn gefürchtet zu haben. Das Erkenntniß sagt uns über seine Vorgeschichte nichts, als daß er »ein wissenschaftlich sehr gebildeter Mann gewesen, der besonders leidenschaftlich für seine beinahe aus 60,000 Bänden (nach Andern nur aus 30,000 Bänden) bestehende Bibliothek gewirkt und dadurch vielleicht den Grund zu seinem Unglück gelegt habe«.
Doch wird später als ermittelt angeführt, daß Tinius durch den Ankauf großer Bibliotheken und literarischer Nachlasse in bedeutende Geldverlegenheiten verwickelt worden, daß also die Noth wahrscheinlich das Motiv seiner Verbrechen geworden. Das einzige positive Zeugniß, welches über die allgemein verbreitete Annahme, daß Tinius aus Bibliomanie zum Raubmörder wurde, uns zu Augen kam, ist Dr. Rosenmüller's Rede bei seiner Amtsentsetzung, in welcher es heißt: »Wir sehen an dem schrecklichen Beispiele dieses Mannes, wie unglaublich tief ein Mensch sinken kann, wenn er sich von einer einzigen Leidenschaft beherrschen laßt. Seine Lieblingsneigung schien, an sich betrachtet, unschuldig zu sein. Er wünschte eine zahlreiche Büchersammlung zu besitzen, mit den angesehensten Gelehrten in Bekanntschaft zu kommen, und sich dadurch Ruhm und Ehre zu erwerben; hierzu wurde aber weit mehr Aufwand erfodert, als er mit seinem eigenen Vermögen bestreiten konnte; weil er nun seinen Zweck nicht durch regelmäßige Mittel bestreiten konnte, so verfiel er auf den unseligen Gedanken, ihn durch List, Betrug und die gröbsten Verbrechen zu erreichen. Durch Stolz und Eitelkeit ganz verblendet, unterdrückte er alle Regungen des Gewissens und stürzte sich in den tiefsten Abgrund des Verderbens u. s. w.«
Tinius kaufte, wie Rosenmüller noch gelegentlich erwähnt, nicht nur eine Menge einzelner, zum Theil seltener Bücher, sondern auch ganze Bibliotheken, wie die berühmte Nösselt'sche in Halle. Er rühmte sich damals, er habe 400 Thaler mehr als der König von Preußen darauf geboten!
Als Tinius verhaftet wurde, lag zunächst nur das eine Verbrechen, die Ermordung der Kunhardt, vor, deren er verdächtig geworden.
Ueber den Thatbestand dieses Verbrechens konnte kein Zweifel obwalten. Die Kunhardt war durch fremde Gewalt ums Leben gebracht. Die Aussagen der unverdächtigen Zeugen, wie sie oben aufgeführt, und die Leichenöffnung ergaben dieses Resultat. Nach dem Gutachten der Obducenten ergab sich an dem äußern, übrigens wohlgenährten Körper der Ermordeten, außer einer leichten Quetschung an der linken Hand (wahrscheinlich ein Resultat des Falles), keine Verletzung als die durch eine große Gewalt von außen her dem Kopfe beigebrachten Verwundungen, nämlich: 1) drei Zoll über dem Auge eine ¾ Zoll lange Wunde, 2) eine andere, höher gegen den Scheitel hin, ein Zoll in der Ausmessung, 3) eine Kreuzwunde, von der letztern zwei Zoll entfernt, mit 2¼ und ¼ Zoll Ausmessung. Dazu um beide Augen starke Sugillationen, eine Fissur auf der rechten Seite des Stirnbeins, eine große Menge Extravasat in den Hirnhäuten und leere Blutgefäße. Diese absolut lethalen Kopfverletzungen konnten nur mit einem sehr harten, mit runder, scharfer Kante versehenen Instrumente, dessen sich der Thäter mit großer Gewalt bedient, der Todten zugefügt worden sein.
Ueber die nächste Absicht des Thäters bei dieser Ermordung herrscht ein völliges Dunkel, worüber auch die Acten dem erkennenden Richter kein Licht gaben. Ob die Kunhardt mit Jemandem in Feindschaft gelebt, ob sie Erben hatte, denen ihr rascher Tod wünschenswerth sein mußte, wie sie zu ihrer Dienstmagd stand, ob sie wohlhabend war, baare Gelder oder Kostbarkeiten liegen hatte? alle diese Fragen bleiben unbeantwortet. Es wird nur angedeutet, daß man von ihren Effecten etwas vermißt. Nur aus dem Inhalt des blutigen Briefes läßt sich muthmaßen, daß der Thäter die Absicht hatte, die Kunhardt zur Darlegung ihres Vermögens dadurch zu veranlassen und sie demnach zu berauben. Möglich auch, wie im Sand'schen Fall, daß er ihr den Brief nur hinwies, um ihre Aufmerksamkeit zu beschäftigen. Ob er mit der Absicht gekommen, sie zu tödten, oder nur, um die Gefahr der Entdeckung zu verhindern, zuschlug, ist eben so unermittelt. Die große Gewalt, mit der er auf die schwache, alte Frau zuschlug, spricht mehr für eine bewußte, mörderische Absicht.
Tinius stellte alle und jede Bekanntschaft mit der Ermordeten in Abrede; Zeugen, die bei der Mordthat zugegen gewesen, fehlten; es kam also allein auf Ermittelung und Aneinanderreihung der Umstände an, welche den Causalzusammenhang der That mit dem Angeschuldigten, als Thäter, ins Licht stellten, und in dieser Verfolgung von Indicien ist die Untersuchung mit ungemeinem Fleiße geführt und hat einen überreichen Vorrath zu Tage gefördert und beleuchtet.
Diese Anzeigen theilen sich in solche, welche vor, bei und nach der That einwirken.
Erstens: die vor der That:
Tinius, dessen antiquarischer Verkehr ihn sehr oft aus dem fünf Stunden entfernten Poserna nach Leipzig führte, kehrte jedesmal in der Schenkwirthschaft des Magister H… im Preußergäßchen zunächst dem neuen Neumarkte ein. Auch in der Woche vor dem 8. Februar, und an diesem selbst, war er in Leipzig und wohnte bei H…
Wenn gleich Widersprüche über den Tag seiner Ankunft obwalten, so steht doch aus seinem eigenen Eingeständniß fest, daß er schon am 5. Februar (Freitag) in Leipzig gewesen, und noch am Vormittag des 6. (Sonnabend) dort war, wo er am Morgen zwischen neun und zehn zu Fuß in seine Heimat zurückgekehrt sein will. Umstände erregten den Verdacht, daß er diese Zeit benutzt habe, um sich in den Häusern anerkannt reicher und bejahrter Personen ein Gewerbe zu machen und die Gelegenheit zu einem Verbrechen zu erspähen.
Hier kommen zwei Thatsachen zur Sprache:
1) Freitag am 5. Februar Vormittags gegen neun Uhr war Tinius im Hause der Demoiselle Junius, einer sehr bejahrten, aber anerkannt reichen Dame, hatte daselbst seine Verhältnisse falsch angegeben und nach einem Local gefragt, seine Bibliothek unterzubringen.
2) An demselben Freitag, den 5ten, und auch am folgenden Sonnabend, den 6ten, war er desgleichen im Hause der Dr. Kunitz gewesen, hatte nach der Kunhardt gefragt, und ob man ihm gleich die Wohnung derselben gezeigt, war er doch nicht hineingegangen, sondern hatte sich, wahrscheinlich, weil mehre Personen anwesend waren, sogleich wieder entfernt.
Erstere Thatsache wurde durch den Hausmann Stephan im Hause der Junius bekundet. Nach seiner Aussage war an jenem Freitage in der 9ten Stunde Vormittags ein Mann in einem Ueberrock, dessen Farbe ihm bräunlich geschienen, mit einem runden Hute auf dem Kopf, in die erste Etage des Junius'schen Hauses gekommen und hatte die Besitzerin des Hauses zu sprechen verlangt. Stephan lud ihn in die Gesindestube, erklärte ihm aber, daß er die Junius nicht sprechen könne, er solle nur sein Anliegen ihm und der Magd eröffnen. Hierauf sagte der Fremde, er sei ein Geistlicher, eine Viertelstunde von Rippach. Wegen der fremden Kriegsvölker, die das Land durchzögen, suche er ein Absteigequartier in der Stadt, wo er seine Bücher unterbringen könne, wolle aber zu Ostern ganz nach Leipzig ziehen. Der Magister St … habe ihn hierher gewiesen. Obgleich Stephan dem Fremden eröffnete, daß in diesem Hause kein Quartier offen sei, blieb er doch noch etwa eine halbe Stunde und unterhielt sich von gleichgültigen Dingen mit den Dienstleuten.
Das Junius'sche Haus liegt neben dem Kunitz'schen. Einen, diesem Fremden ganz ähnlichen Mann, nur mit einem blauen Matin, den er vorn zusammengehalten, mit einer schwarzen, wie eine Sackmütze gestalteten Sammetmütze und sehr kothigen Stiefeln, will Stephan drei Tage darauf, am 8. Februar, zwischen ½ und ¾ auf neun Uhr aus dem Kunitz'schen Hause herauskommen gesehen haben. Er theilte die auffallende Aehnlichkeit zwischen dem Mann im blauen Matin und dem Fremden von vorvorgestern der Jungemagd mit.
Tinius leugnete anfangs jenes Factum. Späterhin gab er zu, an dem Tage und um die Zeit im Hause der Junius gewesen zu sein und sich nach einem Quartier erkundigt zu haben. Der Magister St …, mit dem er in Büchercommissionsgeschäften stand, habe ihn dahin gewiesen, weil ein Quartier dort leer sei. Dies sei also die wahrhafte und keine vorgeschützte Ursach seines Besuches gewesen. Wirklich bezeugte auch der Magister St …, daß Tinius ihn um jene Zeit nach einem geräumigen Absteigequartier gefragt, welches er miethen wolle, worauf er ihm das leerstehende Leuthier'sche im Junius'schen Hause vorgeschlagen, ihm auch überhaupt gerathen habe, ganz nach Leipzig zu ziehen und sich um die Professur der orientalischen Sprachen zu bewerben.
Stände dieses Zeugniß in voller Kraft da, so fiele wenigstens der entfernte Verdachtsgrund, welcher aus diesem Versuch, bei der alten Demoiselle Junius einzudringen, geschöpft werden kann, weg. Allein des Magister St … Aussage erschien den Richtern höchst verdächtig; denn gegen ihn selbst war, als der Theilnahme an Tinius' Verbrechen und der genauesten Kunde von allen Verhältnissen desselben verdächtig, die Untersuchung ausdrücklich nur so lange vorbehalten, als bis gegen Tinius selbst erkannt worden sei.
Die zweite Thatsache: Tinius ist Freitag am 5ten im Kunitz'schen Hause gewesen. Er selbst räumt dies ein. Sobald er aus dem Junius'schen Hause getreten, sei er in das benachbarte Kunitz'sche gegangen, in der Absicht, sich auch hier nach einem Quartier zu erkundigen. Als er im Flur nach dem Besitzer des Hauses gefragt, trat Jemand hinter ihm zur Hausthür ein und ein Arbeiter im Hause wies ihn an denselben, als den Dr. Kunitz. Er fragte ihn nach einer leeren Wohnung in der ersten Etage. Als er die Antwort erhielt, sie sei zwar leer gewesen, jedoch schon wieder vermiethet, will er ohne mit Jemandem ein Wort gewechselt zu haben, wieder fortgegangen sein.
Dies stimmt so ziemlich mit dem Zeugniß des Dr. Kunitz selbst, welcher einen Fremden zur Vormittagszeit in seinem Flur angetroffen haben und von ihm nach einer Wohnung befragt sein will. Er habe dies verneint und ihn gefragt: wer er sei? worauf der Fremde halb stotternd blos erwidert: er suche es für einen Fremden, und sich sogleich entfernt habe. Darauf, daß der Dr. Kunitz auf dem Kopf des Fremden eine Schildmütze gesehen haben will, während der Hausmann Stephan im Nebenhause ihn einige Minuten zuvor mit einem runden Hute sah, kommt weniger an, da die Identität des Quartiersuchers im Junius'schen Hause und des Fremden im Kunitz'schen durch Tinius' eigne Aussage feststeht.
Aber die Dienstmagd Rau, eine unverdächtige Zeugin, welche in der zweiten Etage des Hauses beim Kaufmann Hänel diente, bekundete eidlich, daß ihr am Vormittage dieses Freitags (5ten) gegen 10 Uhr eine Mannsperson begegnet mit dunkelblauem Matin und rundem Filzhut ohne Ueberzug, welcher die Treppe von oben heruntergekommen und sie gefragt habe: »ob eine gewisse Kunhardt hier wohne?« Sie konnte ihm, da sie erst vor Kurzem in dies Haus gekommen, keine Auskunft geben. Bei der Confrontation fand sie aber die größte Aehnlichkeit zwischen dem ihr vorgestellten Inculpaten und dem Fremden auf der Treppe; glaubte auch in dem ihr vorgelegten blauen Matin denjenigen zu erkennen, welchen der Fremde anhatte.
Der Widerspruch hinsichts der Kleidung zwischen den drei Zeugen – Stephan sah ihn mit Oberrock und Hut, Dr. Kunitz mit Oberrock und Schildmütze, die Rau im blauen Matin mit rundem Hut ohne Ueberzug und Stock – wird durch die eigne Angabe des Inquisiten nicht gelöst, indem er sich selbst in den verschiedenen Verhören über seine Kleidung an jenem Freitage widerspricht. Zuerst wollte er einen dunkelblauen Matin über seiner gewöhnlichen Kleidung angehabt und auf dem Kopfe eine schwarze Sammetmütze mit einem Schirm getragen haben; dann einen Hut mit Wachsleinwand überzogen; nach der dritten Aussage eine schwarze, glänzende, lederne Kappe mit Schirm; nach der vierten wollte er einen Filzhut nach Leipzig gebracht, ihn aber am Freitage nicht mehr getragen haben, da er ihn einem Schneider vom Donnerstag bis Sonnabend zum Ueberziehen gegeben.
Wiewol sein Auftreten im Junius'schen und Kunitz'schen Hause ein Continuum ist und sich nicht wohl denken laßt, daß er dazwischen die Kleider gewechselt, so erscheinen diese Abweichungen in den Angaben doch von keiner besondern Erheblichkeit, da die Thatsache, daß Tinius am Morgen des 5. Februar im Hause, wo die Kunhardt wohnte, gewesen, durch Zeugenaussagen und aus seinem eignen Geständnisse feststeht.
Verdächtiger wird er noch durch das Zeugniß der Rau. Sie sah ihn auf der Treppe, von oben herunterkommend, er erkundigte sich nach der Wohnung der Kunhardt. War dies der Begegnung mit dem Dr. Kunitz auf dem Flur vorangegangen? So spielte er unten mit dem Hauswirth Komödie. Oder war er, nachdem er hinausgegangen, am nämlichen Vormittage noch einmal wiedergekommen? Es lag ihm alsdann außerordentlich viel daran, die Wohnung der Kunhardt zu erfahren, und doch hatte er Gründe, dies dem Hauswirth nicht zu sagen. Die Möglichkeit bleibt freilich, daß das Dienstmädchen sich in der Angabe des Tages geirrt und den folgenden Sonnabend (6ten) mit dem Freitag (5ten) verwechselt habe. Auch an diesem folgenden Tage, Sonnabend den 6ten, im Kunitz'schen Hause gewesen zu sein, bestreitet Tinius auf das hartnäckigste. Sein Alibi, daß er nämlich zur Zeit, wo er am Sonnabend dort gesehen worden, schon aus Leipzig fortgereist gewesen sei, hat er nicht darzuthun vermocht. Zwar sagt die Ehefrau des Schenkwirths und Magister H…, er sei schon um 8 Uhr Morgens an jenem Tage fortgereist, ihre Dienstmagd Meyer aber behauptet, seine Abreise sei erst um zwei Uhr Nachmittags erfolgt. Indessen hatte er selbst die Zeit seines Fortgehens gegen neun oder zehn angegeben, und um diese Zeit ungefähr fällt seine verdächtige Anwesenheit im Kunitz'schen Hause.
Diese wird von zweien Zeuginnen bekundet, von der Kutscherfrau Vetterlein, welche unten im Hause wohnte, und von der Dienstmagd der Ermordeten. Die Zeugenaussage der Erstern ist schon oben im Wesentlichen angeführt; die Vetterlein verharrte bei derselben auch in den nachfolgenden Verhören, nämlich: daß sie Sonnabends am 6ten die so und so gekleidete Person, die nach der Kunhardt gefragt, die vier Treppen hinaufgewiesen, auch da sie auf der Bodenkammer zu thun gehabt, selbst bis dahin begleitet und alsdann an die Dienstmagd Schmidt verwiesen habe. Da der Mensch im blauen Matin und der schwarzen Mütze plötzlich umgekehrt, und, obschon er gesagt, daß er zur Dr. Kunitz wolle, doch nicht zu dieser gegangen, sei ihr das sogleich aufgefallen, und ein Verdacht, daß er stehlen wolle, aufgestiegen, was sie auch sogleich ihrem Manne mitgetheilt. Als ihr aber der Verhaftete vorgestellt wurde, wollte sie denselben nicht mit Sicherheit recognosciren.
Die Dienstmagd Schmidt bekundete, damit fast übereinstimmend: Vormittags am 6. Februar, als sie die Vorsaalthüre der Kunhardt'schen Wohnung geöffnet, um Wasser zu holen, kam der Magister – mit der Vetterlein die Treppe herauf. Diese wies ihn zurecht und sie lud ihn herein. Als der Magister aber nur von einer Frau Dr. Kunhardt geredet, zu der er wolle, und an die er einen Brief abzugeben habe, wobei er immer unter den Matin, als wenn er den Brief hervornehmen wollte, griff, sagte sie ihm: »wenn er zur Frau Dr. Kunitz wolle, so müsse er eine Treppe tiefer gehen; ihre Dienstfrau sei keine Doctorin.« Der Magister ging weder zu ihrer Dienstfrau, noch zur Dr. Kunitz, sondern mit ihr die Treppe hinunter und zum Hause hinaus. Er sah sehr blaß aus und schien zu zittern; auch sprach er hier schon zu ihr, wie sie sich später erinnerte: »das ist ja die Köchin, die bei Herrn Magister H… gedient hat« und fragte sie, wohin sie gehe, und ob sie lange wegbleibe? Bei dieser Aussage blieb sie in allen Verhören und recognoscirte den Tinius als den Magister, der am 6ten Vormittags nach der Kunhardt gefragt.
Als Resultat dieser Aussagen und Zugeständnisse stellt sich heraus, daß Tinius nicht allein am Freitag (5ten), sondern auch am Sonnabend (6ten) im Kunitz'schen Hause gewesen und unter Umständen, die den Verdacht des Ausspürens der Gelegenheit begründen; denn eine Person, von der zwei Zeugen eine und dieselbe Thatsache übereinstimmend in Ansehung der Zeit und des Ortes bekunden, kann nur eine und dieselbe gewesen sein, wenn gleich nur der eine Zeuge dies eidlich zu erhärten sich getraut. Diese zweimalige Erkundigung Seitens Tinius nach der Kunhardt, die er nie gekannt haben will, wird aber um so verdächtiger, als er jene allüberall, die Anwesenheit im Hause am Sonnabend aber hartnäckig leugnet, obgleich seine Anwesenheit erwiesen ist. Noch wird der Verdacht aber auch dadurch geschärft, daß er schon Vorbereitungen zu dem Verbrechen gemacht zu haben scheint, indem er, nach Aussagen der Schmidt, nach dem Briefe unter dem Mantel griff.
Zweitens, die Anzeigen, welche bei der That mitwirken. Aber diese sind dreierlei Art. Erstens: Tinius war am Tage des Mordes im Kunitz'schen Hause. Zweitens: der vorgefundene blutige Brief rührt von ihm her, und drittens: verdächtigt ihn der Besitz zweier bei ihm aufgefundener Hämmer.
Die wichtige erste Frage: War Tinius am Tage, oder in der Stunde des Mordes im Kunitz'schen Hause? ist mit einer bis ins kleinste Detail gehenden Umständlichkeit untersucht und erschöpft worden, und diese Untersuchung hat trotz der versuchten Gegenbeweise, den überzeugenden Beweis von seiner Anwesenheit geliefert.
Vier Zeugen geben darüber directe Auskunft, die Dienstmagd Schmidt, die Dr. Kunitz, der Kutscher Vetterlein und der Hausmann Stephan.
Was die Schmidt darüber wußte, ist im Allgemeinen schon oben bei der Geschichtserzählung aufgeführt. Nach Schlag acht Uhr, Morgens am 8. Februar, ging sie, für ihre Frau aus dem Fürstenhause Wein zu holen. Nach einer Viertelstunde kehrt sie zurück und trifft im Hausflur den Magister, der im Herausgehen begriffen ist. Er ruft ihr zu: »Ei schönen, guten Morgen, Köchin,« und dann sagt er, gleichlautend wie am 6. Februar, als sie mit ihm die Treppe hinunterging: »Ei das ist ja die Köchin, die bei Magister H… gedient hat.« Er trug einen Matin, der ihr blau geschienen, eine Mütze, wenn sie nicht irre, in der Hand. Aufs Bestimmteste recognoscirte sie den ihr vorgestellten Magister Tinius als den Magister, der ihr am Mordtage im Flur begegnete.
Die Ehefrau des Dr. Kunitz erinnert sich genau aller Umstände am Morgen des Mordtages. Zwei Minuten nach ½ auf neun trat sie aus ihrer Schlafstube in die Wohnstube; sie sah es an ihrer Wanduhr. Acht Minuten nachher, also zehn Minuten nach halb, erscholl das Geschrei der Schmidt im Hause. Während dieser acht Minuten war sie ans Fenster getreten und sah einen Mann aus der Hausthür treten. Er war mittler Größe und trug einen dunkelblauen Matin, den er vorn mit beiden Händen zusammenhielt. Auf dem Kopfe hatte er, wie ihr schien, eine ganz schwarze Mütze. Er ging langsam, mit vorgebeugtem Kopfe. Am linken Aermel und am Rücken hatte er einen sehr weißen Fleck, den stäubte er unterwegs ab, wobei eine Wolke Staub herauskam, und wandte sich dann nach dem Gewandgäßchen.
Anfänglich getraute sich die Kunitz, als ihr Tinius vorgestellt wurde, nicht fest zu behaupten, daß er und jener Mann ein und derselbe sei. Später erklärte sie sich für überzeugt. Diese Ueberzeugung sei schon bei der ersten Vernehmung in ihr lebendig gewesen, aber sie habe gefürchtet, wenn Tinius auf freien Fuß komme, so nehme er an ihr Rache! Um sich noch mehr zu überzeugen, beobachtete sie ihn, als er über die Straße ins Verhör geführt ward. Es war ganz der Gang des Mannes, der aus ihrem Hause an jenem Morgen über den Platz ging.
Der Kutscher Vetterlein erinnerte sich nur, daß an jenem Morgen zwischen acht und neun eine fremde Mannsperson, mit einem Mantel und einer Mütze auf dem Kopf ins Haus getreten und die Treppe hinaufgegangen sei. Bei der Dunkelheit im Hausflur habe er jedoch sein Gesicht nicht deutlich erkannt. Von einer Recognition war daher hier nicht die Rede.
Der Hausmann Stephan aus dem Nachbarhause der Demoiselle Junius sah, wie schon angeführt, am Morgen des Mordtages, zwischen 8½ und 8¾ aus dem Kunitz'schen Hause einen Mann fortgehen, der die größte Aehnlichkeit mit demjenigen hatte, welcher Freitag am 5ten bei ihm wegen eines Quartiers angefragt hatte. Nur trug er jetzt einen dunkelblauen Matin, der hinten mit Knöpfen versehen, und auf dem Kopfe eine schwarze Sammetmütze, die wie ein Sack gestaltet war. Der Matin war etwas mit Koth besprüht, die Stiefeln sehr beschmuzt. Der Mann ging mit gebücktem Kopfe nach dem Gewandgäßchen und der Grimmaischen Gasse zu. Stephan recognoscirte den ihm vorgestellten Tinius ohne Bedenken; nur die Mütze, die man ihm zeigte, schien ihm nicht dieselbe, da jener Fremde beim Herausgehen aus dem Kunitz'schen Hause eine Sackmütze aufgehabt.
Verstärkt werden diese Zeugnisse noch durch eine Wahrnehmung des Chirurgus Jung. Derselbe wohnte dem Kunitz'schen Hause gegenüber. Er sah an selben Tage, um die angegebene Stunde, einen Mann im blauen (doch schien er ihm lichtblau) Matin aus letzterm kommen. Er stäubte sich den Matin, der weiß angefärbt gewesen, vor dem Hause ab; eine Viertelstunde später sah er denselben Mann noch einmal vor dem Fürstenhause, wo er Dasselbe that. Doch konnte er ihn nicht mit Bestimmtheit recognosciren und fand nur eine Aehnlichkeit in der Statur. Auch war er nicht sicher, ob der Mann eine Mütze oder einen Hut aufgehabt.
Diese vier Zeugenaussagen, unterstützt durch eine fünfte, stimmen im Ganzen überein. Nur hinsichts der Zeit und der Kleidung finden sich einige Widersprüche. Hinsichts der Zeit mußte der Mordanfall, nach Angabe der Dienstmagd Schmidt, zwischen 8¼ und 8½, wo sie von ihrem Gange wiederkam, erfolgt sein. Nach Aussage der Dr. Kunitz und des Stephan wäre der Mörder aber erst nach ½ auf 9 fortgegangen. Auf die Differenz so weniger Minuten kann es natürlich nicht ankommen, da Zeugen selten sich so genau nach Minuten der Zeit erinnern, die Uhren verschieden gehen, auch denkbar ist, daß der Mörder, nachdem die Schmidt die Treppe hinaufging, noch unter dem Thorweg sich aufgehalten, um schon da die verdächtigen weißen Flecke auf dem Mantel abzuklopfen. Daß ihm darum sehr zu thun war, beweist der Umstand, daß er zwei Mal auf offener Straße an diese Operation ging.
Tinius hat die größte Anstrengung darauf verwandt, sein Alibi während dieser verhängnißvollen Stunde von 8 bis 9 zu beweisen. Aber schon der Umstand spricht nicht zu seinen Gunsten, daß er in drei verschiedenen Verhören seine Gänge und Besuche während dieser Stunde immer verschieden angab. In der ersten Vernehmung wollte er aus der H…'schen Gastwirthschaft zum Buchhändler Liebeskind in der Grimmaischen Gasse, dann zum Antiquar Rau auf der Petersstraße gegangen und bei Beiden eine Viertelstunde geblieben sein. Dann aufs Beygang'sche Museum, wo er eine Viertelstunde Zeitungen gelesen und darauf zu H… zurückgekehrt sein. Bei einer zweiten Vernehmung hatte er beim Ausgange zuerst einen ganz andern Weg genommen, und war von da plötzlich umgekehrt, um zu Liebeskind zu gehen, wohin ihn der Magister St … auch gehen gesehen. Unterweges habe er den Studenten Adami gesprochen. Im articulirten Verhöre endlich will er, nachdem er bei Liebeskind und Rau gewesen, noch beim Mützenhändler Asmus angesprochen haben, um mit Zurücklassung der Mütze, die er auf diesem Wege gehabt, eine neue schwarze Casimirmütze für seinen Sohn zu kaufen. Nachdem dies geschehen, habe er von dem Antiquar Rau eine kleine schwarze Bibel mitgenommen, und sei darauf erst ins Beygang'sche Museum gegangen und gegen 10 Uhr zu H… zurückgekehrt.
Der Beweis dieses Alibi ist ihm nicht gelungen. Der Student Adami, an den Tinius noch aus seinem Gefängnisse schrieb, war nicht auszumitteln. Die Aufwärter im Beygang'schen Museum, Antiquar Rau, der Buchhändler Liebeskind und der Mützenfabrikant Asmus bestätigten zwar, daß er einmal des Morgens bei ihnen angesprochen, keiner aber bezeugte, daß dies am Morgen des 8. Februar geschehen. Selbst der Magister St … hatte an jenem Morgen ihn nicht auf der Straße bemerkt. Dagegen sagte seine Wirthin, die Frau Magister H…, aus: sie habe ihn, als er von ihnen fortging, den Weg nach dem Neumarkt, wo das Kunitz'sche Haus liegt, einschlagen gesehen.
Die Aussagen der Zeugen über die Kleidung des verdächtigen Mannes, der nach dem Morde aus dem Hause ging, sind fast übereinstimmend. Nur über die Form der Mütze walten unerhebliche Widersprüche ob, die sich indeß, auch wenn er nicht gewechselt hätte, leicht erklären lassen aus der beweglichen Gestalt einer solchen Kopfbedeckung, und daß sie, von verschiedenen Seiten betrachtet, auch verschieden sich ausnimmt. Er war von zwei Zeugen in einem dunkelblauen, von den andern beiden ebenfalls in einem dunkeln Matin gesehen worden; überdem bekundete Stephan als ein charakteristisches Kennzeichen desselben, daß er hinten mit Knöpfen versehen gewesen, und – Tinius war im Besitz eines solchen dunkelblauen Matins, hinten am Schlitz mit Knöpfen versehen!
Sein Bestreben ging also dahin, sich wenigstens am Morgen des 8. Februar von diesem verhängnißvollen blauen Matin loszumachen. Er behauptete nun, ihn zwar in Leipzig mitgehabt, aber im Wirthshause zurückgelassen zu haben. Er sei an jenem Morgen im dunkelgrauen Frack, schwarzen Beinkleidern, und mit schwarzer Mütze ohne Schirm ausgegangen.
Wirklich bekunden zwei Zeugen, die Magister H…schen Eheleute: ihr Gast und Kunde, der Pfarrer Tinius, habe an jenem Morgen, als er ausging, den dunkelblauen Matin bei ihnen zurückgelassen und sei nur mit einem Frack bekleidet gewesen. Aber Beider Zeugniß ist verdächtig. Auch gegen sie war, wegen Verdachts eines verbrecherischen Einverständnisses mit dem Angeklagten, eine Untersuchung eingeleitet und die Entscheidung nur bis zum Urtel über Tinius ausgesetzt worden. Sie hatten also ein nächstes Interesse, daß Tinius freigesprochen würde. Aber auch für den Fall, daß sie die Wahrheit bekundeten, ließ sich denken, daß der Angeklagte, wie er an diesem Morgen die Kopfbedeckung selbst gewechselt haben will, auch die übrige Kleidung gewechselt haben könne. Tinius war übrigens schon lange vor seiner Arretirung durch einen Brief des Magister St … davon in Kenntniß gesetzt worden, daß der gegen ihn entstandene Verdacht sich mit darauf gründe, daß man den Fremden in einem blauen Mantel gesehen. Er war also deshalb präparirt.
Nimmt man hinzu, daß zwei der genannten Zeugen auch insbesondere den Gang des Fremden, langsam mit vorgebeugtem Kopfe, welches des Pfarrer Tinius gewöhnlicher Gang war, ins Auge gefaßt haben, daß er weder sein Alibi erwiesen, noch seine Anführungen, wodurch er die Glaubwürdigkeit einiger der Zeugen zu verdächtigen gesucht, irgend von Gewicht waren, so muß man als erwiesen annehmen, daß er am Morgen des 8ten im Hause war. Anwesenheit am Orte und zur Zeit der That wird aber zu den nahen Indicien gerechnet, wenn der Verdächtige sie entweder ganz leugnet, wie hier der Fall, oder hinreichende Gründe, sie unverdächtig zu machen, nicht angeben kann.
Die zweite Anzeige bei der That ist der vorgefundene blutige Brief. Wie angegeben, enthielt dieser das Gesuch eines gewissen Bröse zu Hohendorf an die Kunhardt um eine Anleihe von 1000 Thaler, datirt vom 24. Januar 1813. Eine Person dieses Namens ist, aller Bemühungen ungeachtet, in den sächsischen Orten, die Hohendorf heißen, nicht aufzufinden gewesen. Der Brief ist also ein fingirter, es ist aber fast zur Evidenz erwiesen, daß Tinius denselben geschrieben hat.
Zwei Sachverständige gaben eidlich ihr wohlmotivirtes Gutachten dahin ab, daß sie den blutigen Brief als von der Hand des Tinius geschrieben achteten. Tinius schrieb früh am 8ten, ehe er ausging, in der Stube seiner Wirthsleute einen Brief, wozu ihm der 13jährige Sohn des Magister H… das Papier aus einem seiner Schreibebücher gegeben haben will. Das Wasserzeichen in dem Briefpapier stimmte mit dem in einem der Schreibebücher des Knaben. Dies sind zwar keine untrüglichen Beweise, sie unterstützen aber das Gutachten der Sachverständigen. Außerdem wurden bei Tinius mehre pseudonyme Briefe, offenbar von seiner Hand, über die weiter unten mehr gesprochen werden wird, gefunden; er war also der Mann, zu dem man sich dieses Mittels versehen konnte. Endlich war das Siegel auf dem blutigen Briefe, nach dem Gutachten zweier sachverständigen Graveure, ein Abdruck des Magister H…'schen Petschafts und identisch mit dem Siegel des geständigerweise von Tinius unter erdichtetem Namen an einen Cantor Müller geschriebenen und versiegelten Briefes. Nach Aussagen unbeeidet gebliebener Zeugen hat er aber im H…'schen Zimmer auch Briefe versiegelt.
Verstärkt wird der Verdacht noch durch einen Umstand. Aus dem Gefängnisse schrieb Tinius in einem Briefe, welcher aufgefangen wurde, an den Hofrath Schreiber in Leipzig: er möchte doch ein Petschaft wie das H…'sche nachstechen und einen anonymen, damit versiegelten Brief dem Untersuchungsgericht zusenden lassen, damit es zur Ueberzeugung käme, daß dergleichen Petschafte mehre im Umlauf wären. Tinius fürchtete also diesen Umstand und fühlte, wie er ihn gravire.
Die dritte Anzeige bei der That sind die bei Tinius vorgefundenen verdächtigen Hämmer.
Ehe man an die Existenz dieser Hämmer dachte, sagten die Obducenten in ihrem Gutachten aus: daß das Instrument, womit die Verletzungen zugefügt worden, »mit großer Gewalt geführt worden, eine runde scharfe Kante gehabt haben und sehr hart gewesen sein müsse«.
In der Tinius'schen Wohnung zu Poserna fand man zwei Hämmer, auf beide paßt im Allgemeinen der obige Ausdruck. Der eine hatte einen mit Papier umwundenen kurzen Stiel. Er erregte besonders Verdacht, da er gerade in die Seitentasche des blauen verdächtigen Mantels paßte, und absichtlich dazu gekürzt zu sein schien, also zum bequemen Gebrauch für mörderische Angriffe zubereitet.
Blutflecke fanden sich daran nicht. Sollte das Eisen wirklich blutig geworden sein, so konnte Tinius leicht in der Zwischenzeit von der That zur Verhaftung den Hammer vollständig gereinigt haben. Daß er den Hammer je in der Manteltasche getragen, bestritt er durchaus; auch wollte er den Stiel nicht selbst gekürzt haben, sondern hätte dies durch einen Schlosser thun lassen, um ihn bequemer zum Nageleinschlagen in seiner Bibliothek gebrauchen zu können. Jenes hat er nicht bewiesen; zum Nageleinschlagen hätte aber ein Hammer mit längerm Stil bessere Dienste gethan. Er behauptete, den kleinen Hammer, den er zu Michaeli 1812 gekauft, noch gar nicht gebraucht zu haben, da er in dem furchtbaren Winter in der unheizbaren obern Stube, wo er sich selbst die Repositorien einrichtete, nicht arbeiten können. Darum habe er emballirt dort gelegen. Das äußere Ansehen sprach aber dafür, daß der Hammer wol gebraucht worden. Weshalb ein Papierumschlag, blieb Räthsel.
Tinius' Frau ließ sich nach Eröffnung des Criminalprocesses von ihm scheiden. In dem Scheidungsprozesse kam Folgendes zur Sprache. Tinius war um Weihnachten 1812 von Leipzig zurückgekehrt und hatte oben den blauen Matin an der Treppe hängen lassen. Seine Frau wollte ihn herunternehmen und entdeckte dabei in der Seitentasche einen Hammer. Bei einer spätern Gelegenheit, als sie von Tinius den andern Hammer zum Wirthschaftsgebrauch zurückfoderte, erwähnte sie: »Du hast ja auch noch einen Hammer.« Der Ehemann war darüber äußerst aufgebracht, und fragte sie hitzig: woher sie denn das wisse? Als sie es sagte, warf er ihr vor, daß sie Alles ausstänkere, und würde sie geschlagen haben, wenn sie nicht schnell fortgelaufen wäre. Diese Aussage konnte übrigens keine volle rechtliche Berücksichtigung verdienen, da sie von einer Ehefrau herrührt, deren Gemüth eben mit Haß und Abscheu gegen einen Mann erfüllt war, von dem sie sich scheiden ließ.
Statt am Hammer fand man aber an einem T. S. B. gezeichneten Tuche im Tinius'schen Hause einige braune Flecke, die von Blut herrühren konnten. Auf dieses Tuch wurde man erst durch einen aus dem Gefängniß geschriebenen Brief aufmerksam. Tinius bat darin den Magister St …, er solle sich in Poserna bei seiner Ehefrau in Geheim erkundigen, ob sie wegen des Tuches befragt worden sei? Tinius will dies damit erklären, daß er gehört, wie ein der Kunhardt weggekommenes Tuch ihn verdächtig mache. Aber von einem solchen der Kunhardt fortgekommenen Tuche war keine Notiz zu den Acten gekommen, es sprach daher in dem Auftrage wahrscheinlich nur das böse Gewissen des Angeklagten, und es entspringt der Verdacht, daß dieses Tuch bei dem Verbrechen eine nicht ermittelte Rolle gespielt habe.
Die eine Ecke des kleinen Hammers paßte vollkommen in das Loch in der Schädeldecke. Daß der vollständige Abdruck des Hammers in derselben nicht mehr nachzuweisen war, erklärt sich daraus, daß die Verletzung durch drei bis fünf aufeinander folgende heftige Schläge verursacht worden, durch welche Erschütterungen die zerschlagene Stelle bei der leisesten Veränderung der Mörderhand während des Schlagens eine andere Gestalt erhalten konnte. Es erscheint daher die Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit gesteigert, daß die Wunden der Kunhardt durch einen dieser Hämmer beigebracht wurden.
Drittens endlich die Anzeigen, welche nach der That zum Vorschein kamen, und die psychologisch von der größten Wichtigkeit sind, weil sie den deutlichsten Hinweis auf das Schuldbewußtsein des Angeklagten liefern. Dies sind vor Allem die Briefe, welche er heimlich von seinem Gefängnisse aus schrieb, zuvörderst um sein Alibi zu beweisen, dann um mit Hülfe Anderer alle den Verdacht der That erregenden Gegenstände zu entfernen.
So erhielt der Buchhändler Liebeskind mehre dergleichen Briefe, mit Auffoderungen, so und so zu zeugen, die er indessen im Unmuth sogleich vernichtete. Andere wurden aufgefangen und der Inculpat mußte sie recognosciren.
In einem, an den Studenten Adami gerichtet, heißt es wörtlich:
»Es könnte sein, daß ich mich auf Ihr Zeugniß beriefe und Sie von dem Kreisamte zur Aussage vorgefodert würden. Wollten Sie also wol Folgendes bezeugen: daß Sie den Montag früh den 8. Februar gleich nach acht Uhr vom schwarzen Brete herausgekommen, wo Sie hatten sehen wollen, was Neues angeschlagen sei. Es sei an dem Tage gewesen, wo die Kunhardt'sche Mordgeschichte bekannt geworden, und Ihnen deshalb der Tag gewiß erinnerlich.«
Dann ersucht er ihn, zu bezeugen, daß er, Tinius, die Grimmaische Gasse her, von der Ritterstraße herunter gekommen und etwa ¼ auf neun Uhr nach dem Hause des Cantor Hübel hingegangen sei. Wegen der Kleidung solle er sich bei Hübel erkundigen, ob er im dunkeln Frack oder im blauen Matin mit großem Kragen bekleidet gewesen, und alsdann aussagen: er wisse nicht, ob er, Tinius, da eine Mütze aufgehabt oder nicht. Er solle sich auch durch nichts von der Commission irre machen lassen; er wolle es ihm vergelten und für ihn bezahlen!
In einem andern Briefe ersucht er den Hofrath Schreiber, unter dem Versprechen einer bedeutenden, jährlich zu wiederholenden Belohnung(!), ihm zu bezeugen: »daß er ihm auf der Ritterstraße, in der Gegend der Nicolaikirche, als er nach der Grimmaischen Gasse hinaufgegangen, kurz vor dem Schlage ½9 Uhr, früh am Montage den 8. Februar begegnet sei.« Schwarze Weste und Beinkleider – mit oder ohne dunkelblauem Matin und großem Kragen solle er erst den Ueberbringer fragen!
Wer Andern so etwas zumuthen kann, und von ihnen erwartet, was darf man von ihm vermuthen? Mit Anstrengung seiner ganzen Thätigkeit geht er an dies Täuschungssystem, und seine Seele scheint im Gefängniß von nichts Anderm erfüllt als dem Plane, es künstlich immer weiter auszubilden. Ein Unschuldiger, belastet von der Wucht eines solchen Verdachtes, ein Geistlicher von reinem Charakter, wie ihn die Zeugnisse schildern, würde darunter erliegen, oder im reinen Bewußtsein sich darüber erheben. Ein gewöhnlicher Mensch würde vielleicht stumpfsinnig oder vielleicht zum begeisterten Redner, nimmermehr aber zu dem fein raffinirtesten Lügensystem schreiten, weil ihm das das einzige Mittel dünkt, sich aus den Schlingen zu retten.
Noch andere Briefe, wiewol dem Wesen nach nur Wiederholungen der schon angeführten und als Beweise einer damit bereits erwiesenen Thatsache überflüssig, verbreiten doch über Tinius' Charakter ein nur zu deutliches Licht, und wir stehen um so weniger an, sie hier mit aufzunehmen, als des Persönlichen uns in diesem Criminalfall so wenig geboten wird.
An den erwähnten Cantor Hübel schreibt er: »Sie werden wissen, wie ich durch das boshafte Angeben einer Dirne, als hätte ich ihre Frau erschlagen, in Untersuchung gekommen bin. Ich sehe nun, daß Alles auf Zeugen ankommt, bitte Sie also, auf Befragen auszusagen: daß ich am 8ten früh gegen ¼ auf acht durch Ihre Thür in Ihre Stube gekommen und nach einem Lotterieloose gefragt – daß ich mich eine Viertelstunde aufgehalten und sodann fortgegangen – daß ich mit einem modischen Frack bekleidet gewesen, ohne Mantel. – Mein Vorrath von Dank soll groß sein!«
Später scheint ihm die Angabe einer andern Stunde angemessener und er erblödet sich nicht, an denselben Cantor Hübel abermals zu schreiben: »Ich bin durch ein gottloses Mensch als Missethäter angegeben worden, und habe zwar für die erste Hälfte der neunten Stunde einen Zeugen, aber ich brauche noch einen, der gültig ist. Lassen Sie mich und meine Familie nicht unglücklich werden, und – bezeugen Sie: daß ich gegen ¼ auf neun an Ihre Thür gepocht und hineingetreten und nach einem Aufenthalte von einer Viertelstunde, kurz vor halb neun Uhr, wieder zu Ihrer Thür hinausgegangen sei. – – Kleidung: schwarze Weste und Beinkleider und einen modischen, schwarz dunkeln Frack. Eine schwarze Mütze, die Sie sich nicht gemerkt. Ob Sie sagen sollen, mit oder ohne Matin, hängt davon ab, was Herr Buchhändler Liebeskind ausgesagt hat.« Demnächst fodert er ihn auf, zu Letzterm zu gehen und sich nach dessen Aussage zu erkundigen, um immer conform mit ihm zu bleiben.
Ein eingelegter Zettel in diesem Briefe enthielt noch folgende mysteriöse Weisung:
»Es müßte unter so viel vertrauten Freunden Ihnen nicht schwer fallen, einen zu finden, auf dessen Zeugniß Sie sich beriefen, daß er zu Ihnen gekommen, als ich dort gewesen, und ich deshalb so bald weggegangen. – Dadurch würde Ihr Zeugniß völlig außer Zweifel gesetzt, und Sie desto sicherer.
– Wissen Sie so einen (!) auf den Sie sich verlassen können, so würde ich Ihnen sogleich durch meinen Sohn sechs Louisdor auszahlen lassen, und noch mehr, wenn Sie es für gut befinden. Ich müßte aber Nachricht haben, um in diesem Falle meine Aussage darnach einrichten zu können. An meinen Sohn schreiben Sie, daß er sogleich 60 Thlr. in Gold schafft und zu Ihnen bringt, theils auf die jetzt genannte Person, theils sechs Louisdor, die Sie sogleich Herrn Hofrath Schreiber bringen, als Verlag zu den nöthigsten Vorbereitungen und als Versäumniß. Mehr soll nachfolgen, besonders zu Ihrer Disposition.«
An den Magister St…, den Magister und Wirth H… und den Antiquar Rau ergingen ähnliche Zettel, alle mit der bestimmten Weisung, auszusagen, daß er an jenem Morgen mit einem modernen Frack bekleidet gewesen » quod me videris – – moderno vestitu indutum« schreibt er lateinisch an den Erstern.
Tinius wußte, als ihm diese Schreiben vorgehalten wurden, keine andere Ausrede, als daß er zur Zeit, wo er sie geschrieben, krank gewesen und Wahres vom Falschen nicht zu unterscheiden vermocht habe. Die Anschuldigung des Mordes habe seine Ideen so in Confusion gebracht, daß er sich Dinge als wahr vorgestellt, die er selbst nicht mehr dafür annehme. Es bedarf keiner Erwähnung, daß Inhalt und Abfassung der Briefe von nichts weniger als einem zerstörten Gemüthszustande Spuren tragen.
Zwar hat der Amtsfrohn Dietze am 12. April 1815 allerdings angezeigt, daß Tinius Aeußerungen gethan, welche von Verwirrung des Verstandes zeugten, und sein Vertheidiger hat darauf großes Gewicht gelegt. Das Gefängniß sei für ihn, bei seiner ausgebreiteten Geschäftsverbindung, zur drückendsten Last geworden, daß diese Briefe wol füglich aus dem Bestreben, der Sache so schnell als möglich ein Ende zu machen, erklärt werden könnten. Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich; im ersten Fall höchstens nur eine Entschuldigung für die Absicht, nicht eine Rechtfertigung von Mitteln, die wieder zum Verbrechen werden; und endlich hat diese gestörte Gemüthsstimmung, in welcher Tinius so exacte Anweisungen zu falschen Zeugnissen ertheilte, nicht angehalten, sondern Tinius hat sich bis zur Beendigung seines Processes, ja auch nachher als der ruhigste und besonnenste Mann gezeigt.
Im Gegentheil geht aus diesen Briefen ein Beweis dafür hervor, daß der Angeklagte von großer Verdorbenheit des Charakters war, daß es ihm auf die Mittel zum Zweck nicht ankam; sie zeugen dafür, daß ein böses Gewissen ihn drückte, und stellen ihn als einen Mann dar, zu welchem man sich auch anderer verbrecherischer Intentionen versehen darf.
Ferner liegen Thatsachen und Briefe in großer Zahl vor, aus denen hervorgeht, daß er mit einer raffinirten Besonnenheit sich bemühte, alle Verdacht erregende Gegenstände zu entfernen.
Geständlich tauschte er seine schwarze Sammetmütze ohne Schirm gegen eine schwarze Tuchmütze von fast gleicher Form bei dem Mützenhändler Asmus um. Er schreibt darüber in einem aufgefangenen Briefe, der ihn allein schon aufs höchste verdächtigen müßte, an den Magister S …:
»Gehe doch hin (zum Mützenhändler) und frage, ob ein Geistlicher am Montage vor vier Wochen – den 8. Februar, an dem Tage, wo die Kunhardt gestorben – er würde sich vielleicht dieses Tages erinnern, – mit schwarzer Weste, Hosen und Frack bekleidet, gegen halb neun Uhr hingekommen und die neue Mütze gekauft, eine alte sammetne aber, die er anfänglich habe einhandeln wollen – er aber, weil sie abgetragen, dies nicht habe thun wollen – da gelassen. Er wird sie Dir zeigen, unterdessen – zupfe an dem alten Flecke, wo sie schon dünne, und suche sie hie und da noch mehr zu beschädigen, ohne daß er es merkt, und lenke seine Augen auf Mützen hinten hin, als wollest Du kaufen, hernach gib sie ihm wieder, wenn Du ihn nur so weit zum Geständnisse gebracht hast, daß es gegen halb 9 Uhr gewesen, und ich in dieser Sammetmütze zu ihm gekommen, und so leicht ohne Ueberrock und Matin gekleidet gewesen bin, und daß er sich gewiß erinnere, daß es denselben Montag um halb 9 Uhr gewesen.«
Als Grund, warum er dem St… diesen seltsamen Auftrag gegeben, sagte Tinius, es sei geschehen, um dem Asmus die an sich wahre Thatsache mehr ins Gedächtniß zu rufen. Die Mütze aber habe er zu verschlechtern gewünscht, damit man Grund gehabt, zu glauben, daß er sie vertauschen mußte. Aber man zeigte ihm, daß die Mütze noch von ganz guter Beschaffenheit sei. Auf die Frage: warum er denn eine andere kaufen wollen? antwortete er, »weil das Futter beschmiert und der Deckel abgetragen gewesen«. Er wollte sie anfangs für seinen Sohn gekauft haben, dann ging er auf die eben angeführte Aussage über, kehrte aber später, im articulirten Verhör, zu der ersten wieder zurück. Anfangs wollte er dies Tauschgeschäft am 6ten oder 8ten vorgenommen haben; dann aber bestimmt am 8ten. Der Verdacht, daß dies Geschäft in der Absicht geschehen, die Kennzeichen des Thäters zu verwischen und sich Denen, die ihn beobachtet, unkenntlich zu machen, wird durch jenen Brief und seine schwankenden Aussagen nur vermehrt.
Als corpus delicti lag den Acten der vielbesprochene blaue Matin bei. Aber die auch erwähnten Knöpfe, deren Zweck war, den hintern Einschnitt des ursprünglich zum Reiten bestimmten Mantels zusammenzuhalten, waren abgeschnitten.
In einem seiner verdächtigen Briefe aus dem Gefängniß ertheilte Tinius dem Magister St… außer andern Aufträgen, verdächtige Sachen bei Seite zu schaffen, auch den:
von diesen Knöpfen zwei wegzunehmen, die übrigen aber liegen zu lassen.
Tinius hat bestimmt eingestanden, er selbst habe diese Knöpfe abgeschnitten; anfangs räumte er ein, es sei nach dem Mordtage geschehen, später, er könne sich des Zeitpunktes nicht mehr bestimmt erinnern. Erstere Angabe hat um so mehr Wahrscheinlichkeit für sich, als er, geständlich am 17. Februar 1813, von St … einen Brief erhielt, der ihn von den Aussagen der Magd und daß auf ihm der Verdacht ruhe, benachrichtigte. Merkwürdiger Weise stehen unter dem Briefe die Worte: deleatur et igni tradatur! Der Brief kann nicht damit gemeint sein, denn er existirte noch. Die vielen Knöpfe, welche die Magd und der Hausmann Stephan hinten am Mantel des verdächtigen Mannes gesehen, waren aber davon abgeschnitten, und fanden sich, zehn Stück, in der Tinius'schen Bibliothek.
Seine Angabe, warum er die Knöpfe abgeschnitten, zuerst: weil es ihm zu commis- und reitermäßig ausgesehen, später: weil sie ihn bei der Zuknöpfung am Gehen gehindert, würde, ohne die andern aggravirenden Umstände, vielleicht Glauben verdienen; nach der Sachlage und verbunden mit andern Widersprüchen, verstärkt sie nur den dringenden Verdacht, daß er den seltsamen Auftrag gegeben, um auch hier die Spuren seiner Identität mit dem im Kunitz'schen Hause bemerkten Fremden zu vertilgen. Ein Mann, der seiner Unschuld bewußt ist, braucht den Umstand nicht zu fürchten, daß der Urheber jener Mordthat ihm hinsichts eines Mantels und der Knöpfe auf demselben ähnlich war, und um so weniger, als Tinius zur Zeit der That in dem blauen Mantel gar nicht ausgegangen sein will.
Zu diesen Indicien gehört auch der schon erwähnte Auftrag an den Hofrath Schreiber: das H…'sche Petschaft nachstechen zu lassen und damit gesiegelte Briefe an die Commission zu schicken, um – glauben zu machen, daß mit diesem Petschaft von Andern gesiegelt worden, als von ihm! – An den Magister St … schrieb er: »Nimm Alles weg, was nicht unschuldig ist.« Also das Eingeständniß, daß unter seinen Sachen etwas war, was nicht unschuldig war. Er schreibt von seiner Angst, wenn er gedacht, daß gewisse Briefe nicht hinfortgenommen worden, und wieder von seiner Freude, und daß er einer ruhigen Nacht entgegensehe, wenn er denke, daß es geschehen. Wenn er in einem andern Briefe sagt: »die Untersuchung geht weit, aber fehl,« so gibt er zu, daß er einen Weg kennt, auf dem sie etwas entdecken konnte.
Noch wird als eine entfernte Anzeige erwähnt: der Sohn des Magister H… kehrte aus der Wohnung der ermordeten Kunhardt zurück, wohin er auf das Gerücht geeilt war, und äußerte bei der umständlichen Erzählung: Die alte Frau müsse sich desperat gewehrt haben. Tinius gab ihm einen Verweis und sagte: »in solche Dinge müsse man sich nicht mischen.« Dies ist freilich an und für sich nur eine gewöhnliche Klugheitsmaßregel, wofür er es ausgab; die Aeußerung des Knaben erscheint aber so unschuldig, daß der Verdacht eines schuldbewußten Gewissens Den trifft, welcher sie rügte.
Ungewissere Anzeigen sind in seinem ängstlichen Benehmen zu erblicken, mehr freilich für den Psychologen, als für den Juristen. Die Magd Schmidt sah ihn, wie wir wissen, zitternd und blaß aus dem Hausflur gehen. Bei seiner Rückkehr zu H…'s sprach er zur Magd, die dort diente, ebenfalls blaß und unstätt: »Köchin, was hat's denn gegeben?« Nachdem sie ihm die Stube aufgeschlossen, blieb er noch einige Zeit stehen und hielt mit zitternden Händen die Bibel. Bei Tisch bemerkte Letztere, daß er fortwährend zittere, aber er gab sich Mühe, zu scherzen und unbefangen zu scheinen. Wiewol er mit einer bewunderungswürdigen Consequenz durch so lange Jahre das Verbrechen ableugnete, und in diesem hartnäckigen Vertheidigungssystem über die gleichgültigsten Thatsachen einen Schleier zu ziehen versuchte, bemerkten die Inquirenten doch oft an ihm eine Gemüthsbewegung und Verlegenheit, wenn von dem Morde an der Kunhardt die Rede war; er gab stockende Antworten und brauchte nie das Wort »Mordthat,« sondern nannte sie der »Vorfall«. Oft verfiel er bei den Fragen in ein unnatürliches Gähnen, womit er seine Aengstlichkeit verbergen zu wollen schien.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Tinius ein Mann sei, zu dem man sich böser Thaten und verbrecherischer Intentionen versehen können, so lieferten mehre Briefe, offenbar von seiner Hand, aber mit falschen Namensunterschriften, die man in seiner Wohnung auffand, diese Beweise. Auf die möglichen verbrecherischen Intentionen bei Abfassung derselben werden wir weiterhin zu sprechen kommen. Hier kann nur auf ein seltsames Zusammentreffen zweier Namen aufmerksam gemacht werden. Der Brief an die Kunhardt war mit dem fingirten Namen Bröse unterzeichnet. Ein anderer pseudonymer Brief von Tinius, adressirt an den Amtmann Hoffmann zu Suhl, führte die Unterschrift Gröbel. Auf beide Namen kann freilich jeder Intrigant, ohne besondere Phantasiegabe, verfallen, um den seinen zu verbergen, da sie zu den alltäglichen gehören. Es ist aber auffällig, daß diese beiden Namen im Zusammenhang in der nicht lange vor Anfang der Untersuchung im Druck erschienenen Autobiographie des Tinius vorkommen. In Wittenberg ward er nach derselben durch einen gewissen Gröbel in Bröse's Garten aus einer dringenden Verlegenheit gerissen. Das mögliche Spiel des Zufalls mußte vor den Augen menschlicher Richter wenigstens der Wahrscheinlichkeit eines unwillkürlichen Connexes in der Conception des Briefstellers weichen.
Weitere Beweise, mehre Anzeigen hinsichts der Thäterschaft des Kunhardt'schen Mordes kamen, nicht zu den Acten. Aber fast zugleich mit der Untersuchung über denselben war ein schwerer Verdacht gegen den Angeschuldigten erwachsen, daß noch ein anderer Mord auf ihm laste, der vor Jahresfrist an dem Kaufmann Schmidt in der Grimmaschen Gasse verübte, und die Untersuchung ward zugleich auf diesen ausgedehnt.
Die Geschichte und der Thatbestand des an dem Kaufmann Schmidt verübten Raubmordes sind in der Einleitung zu diesem Criminalfall erzählt.
Die Untersuchung hatte bei der Abwesenheit aller leitenden Spuren ein Jahr hindurch geruht, als einer jener Briefe, welche Tinius aus dem Gefängnisse schrieb, um Zeugen seiner Unschuld zu gewinnen, den Verdacht auf ihn lenkte, daß er auch bei diesem Verbrechen, und schwer, betheiligt sei.
Er schrieb nämlich an den schon oft erwähnten Magister St …, der in Folge davon auch zur Untersuchung gezogen wurde, unter Anderm Folgendes:
»Es ergibt sich aus verschiedenen Aussagen (?), daß es zwei Kerle gewesen sind, wenn anders Magister K… nicht der Thäter ist, da die Magd in der Morgenstunde unten im Dunkeln wol zwei ähnliche Personen verwechseln konnte, und, wie mir die Herren selbst sagten, K… mit mir viel Aehnlichkeit habe.
»Denn der müßte wirklich dumm sein, der zu dem Mädel sagte:
»»sie sei die Köchin von dem Magister H…«« Oder es muß noch ein Bösewicht sein, welcher eine frappante Aehnlichkeit mit K… oder mir hat, und also dadurch, daß er von jener Bekanntschaft sprach, den Verdacht auf Solche ziehen wollte, die bei dem Magister H… ein- und ausgehen.
»Aber ich zweifle noch an der Aufrichtigkeit, des Mädchens; ist es aber ihr Ernst, dann muß auch Der mir ähnlich gesehen haben, der schon mehr solche Dinge verübt, und sich sogar in das Gewand eines Geistlichen gekleidet hat, um sich zu decken. Denn wer man ist, so kleidet man sich gewiß nicht.
» Sollte etwa die Schmidt'sche Geschichte mit hineingezogen werden – welches man aber jetzt gar nicht äußern darf und mag – sollte Magister H… darüber befragt werden, so soll er sagen, wie ich ihm im eingeschlossenen Zettelchen geschrieben habe, denn so war es, wie ich mich erinnere, und so müssen wir conform bleiben.«
Dieser Zettel enthielt den Auftrag: den Pachter Schmuhl zu Poserna zu informiren, wie er aussagen solle.
Tinius hatte sich selbst angegeben. Es war Niemandem bis da in den Sinn gekommen, ihn mit der in den Hintergrund gedrängten Schmidt'schen Geschichte in Verbindung zu setzen. Der kaum angeregte Verdacht scheint aber sofort bei den Richtern und beim Publicum zur moralischen Ueberzeugung geworden zu sein, und es ward mit demselben Eifer, wenn gleich mit minder günstigem Erfolge die Untersuchung wieder aufgehoben.
Es fehlte an allen Zeugen und Beweisstücken, ja an Indicien über die That selbst. Der Einzige, der den Thäter gesehen, der Kaufmann Schmidt, war längst todt; auch die Vetter, seines Hausmanns Frau, welche den unbekannten Fremden zu Schmidt geführt, war unlängst gestorben. Wenn Tinius auch in dieser Mordgeschichte der Thäter war, so war doch kein Lebender, welcher ihn recognosciren konnte. Die übrigen Spuren waren im Lauf der Zeit verlöscht. Und dennoch war ein Jeder von der Ueberzeugung durchdrungen: er ist der Mörder, und da man keine Anzeigen, die mit der That concurrirten, fand, ging man auf andere zurück, die ihr vorangingen und ihr folgten.
Am 28. Januar 1812 in der Morgenstunde war Schmidt raubmörderisch von dem Unbekannten angefallen worden, – an diesem Tage war auch Tinius in Leipzig gewesen. An und für sich war dies nichts Verdächtiges. Er hatte oft Geschäfte in Leipzig, so auch an diesem Tage. Er gab diese Geschäfte speciell an, desgleichen alle seine Gänge, welche er vorgenommen, fast nach Stunde und Minute. Und dies möchte für den Psychologen das einzig Verdächtige sein: daß ein in so vielfältigen Geschäften verwickelter Mann, noch nach Jahresfrist und darüber, sich aller Geschäftsgänge, kleiner Verrichtungen, ja sogar seiner Kleidung an einem Tage erinnert, der für ihn selbst wenig Besonderes vor andern Tagen voraus haben konnte, insofern er ihm nicht durch eine besondere Erinnerung merkwürdig geworden. Für den Richter kann diese auffällige Erinnerung auch nicht als ein entferntes Indicium gelten. Daß von den von Tinius angeführten Personen, bei denen er am 28. Januar gewesen sein wollte, die wenigsten sich dessen entsannen, daß seine Reisegefährten, mit denen er zu Schlitten von Poserna in die Stadt gekommen, – darunter der Pachter Schmuhl – über die Kleidung, welche er angehabt, unter sich und mit seiner eigenen Angabe nicht vollkommen stimmten, ist ebenso wenig auffällig. Es wäre im Gegentheil zu verwundern, wenn sie nach anderthalb Jahren sich der Kleidung des Pfarrers in allen Stücken genau entsännen. Nach seiner eigenen Angabe trug er entweder eine grüne Wildschur, oder wahrscheinlicher einen grünlichen Matin; auch glaubte er eher einen Hut als eine Mütze aufgehabt zu haben. Es constirt also nichts, als daß Tinius an jenem Tage in Leipzig gewesen, was, wie gesagt, für sich genommen, keinen Verdachtsgrund abgibt.
Dem Kaufmann Schmidt waren 3000 Thaler leipziger Stadtobligationen geraubt worden, und diese selben Obligationen wurden in der Stunde noch, wo der Raub- und Mordanfall erfolgt, von einem Fremden im Frege'schen Comtoir in Gold und etwas Silbergeld umgewechselt.
Nach der Aussage, des Cassirer Witzendorf im Frege'schen Comtoir war Morgens zwischen zehn und elf Uhr am 28. Februar 1812 ein Mann in dasselbe getreten, der sich Siegel nannte und vorgab, aus Elsterberg zu sein. Er bot elf leipziger Stadtobligationen im obigen Betrage zum Verkauf an. Nach Anfrage bei seinem Principal bezahlte ihm der Cassirer die Nominalsumme al pari mit 2725 in Goldstücken (für 1325 Thlr. preußische, sächsische, braunschweigische und französische Louisdors, 1400 Thlr. aber rein in Preußischen Friedrichsdors) und einer Kleinigkeit in Silbergeld. Der Fremde, ein Mann von etwa 40 Jahren, mittler Größe, blasser Gesichtsfarbe, mit etwas großer Nase, starkem, schwarzem, glatt auf die Seite herabhangendem und gar nicht gelocktem Haare, trug einen schwarzen Frack, gleiche Weste und Beinkleider, darüber aber einen bräunlichen oder grünlichen, auf Pekeschenart gemachten Oberrock. Als Kopfbedeckung hatte er einen vorn sehr eingebogenen sogenannten Schifferhut, wie überhaupt das Ansehen eines modernen Geistlichen. Er benahm sich sehr ruhig und unbefangen, zählte das Geld selbst durch, schob zehn halbe Louisdor zurück und foderte dafür ganze. Er unterhielt sich über die Curse, benahm sich wie ein gebildeter Geschäftsmann und blieb wol eine halbe Stunde ohne die geringste Eile merken zu lassen; ja er kam noch ein Mal zurück, weil er die über den Handel empfangene Note vergessen hatte.
Diese Personsbeschreibung, welche der Cassirer gegeben, paßte insofern auf Tinius, als dieser etwa 70 Zoll groß, von dem Alter war, schwarzes Haar, lange Nase und ein blasses, eingefallenes Gesicht hatte. Auch fand man unter seinen in Beschlag genommenen Sachen einen grünlichen Kalmuckmatin und einen sogenannten Schifferhut. Beide Effecten hatte er, in den an H… und St… aufgefangenen Briefen, diesen, aufs Schleunigste wegzunehmen und zu verbergen, aufgetragen.
Die Recognition zwischen dem Cassirer Witzendorf und Tinius war ohne positives Resultat. Jener fand rücksichts der Gesichtsbildung und der Haare eine auffallende Aehnlichkeit zwischen dem Pfarrer und jenem Fremden, getraute sich jedoch nicht zu beschwören, daß es ein und dieselbe Person wäre. Hinsichts des ihm vorgezeigten Hutes sagte er aus, daß der Fremde einen von derselben Form getragen; was die Pekesche anbetrifft, so schwankte er in seiner Erinnerung. Des Cassirers Aussage würde übrigens, auch wenn er die Identität beschwören wollen, schon um deshalb an Glaubwürdigkeit verloren haben, da er früher einen andern Unschuldigen, den v. Bürger, für den Verkäufer der Obligationen mit fast völliger Gewißheit erkennen wollen.
Die andern im Frege'schen Comtoir Anwesenden sagten ungefähr das Nämliche in Bezug auf Kleidung und Figur des Fremden und des ihnen vorgestellten Tinius aus. Einer davon hatte aber nur vom Nebenzimmer aus den Fremden beobachtet, und als es zur Beeidigung kam, beschränkten die Andern ihre erste Angabe, die auf eine »auffallende Aehnlichkeit« lautete, darauf, daß sie »Aehnlichkeit zwischen Beiden fänden«.
Die öffentliche Stimme sagte: Tinius wäre als Mörder verurtheilt worden, wenn die Leute im Frege'schen Comtoir ihre Aussage beschwören wollen; aber Gewissensscrupel ihrerseits, da doch eine Verwechselung denkbar war, retteten ihn vom Schaffot. Die Sache verhält sich anders. Die Wahrnehmungen der drei Zeugen aus dem Frege'schen Hause waren, wie sicher sie auch darüber gesprächsweise sich mögen ausgelassen haben, nicht von der Art, daß ein Richter, auch wenn sie gewollt, sie so ohne Weiteres zum Beschwören der Identität hätte zulassen dürfen. Ihre Wahrnehmungen waren von über Jahresfrist her, daher verwischt und gefärbt, zum Theil sich widersprechend in Einzelheiten; der Eine hatte nur von fern aus der Nebenstube gesehen, der Andere sich schon früher einmal so versehen, daß er beinahe einen Unschuldigen der peinlichen Strafe überliefert hätte. Juridisch steht demnach nichts weiter, was Tinius verdächtigt, fest, als: daß er zur Zeit der Mordthat in Leipzig anwesend war; daß die Leute im Frege'schen Comtoir eine Aehnlichkeit zwischen ihm und dem Verkäufer der geraubten Stadtobligationen fanden; daß die Kleidung, welche Letzterer trug, einen Landgeistlichen verrieth; daß der Verkäufer über seiner schwarzen Kleidung eine grünliche oder graue Pekesche oder einen Matin trug, etwa wie Tinius' Reisegefährten an ihm an dem Tage bemerkt haben, und – ein Schifferhut, den der Verkäufer in der Hand hatte, und einer von derselben Form, den man beim Angeschuldigten vorfand. Solche Hüte, werden von mehren Einwohnern Leipzigs und der Umgegend getragen worden sein; aber das Verdächtigende ist, daß Tinius seinen Vertrauten den geheimen Auftrag gab, diesen Hut nebst andern Sachen bei Seite zu schaffen.
Verdachtsgründe wurden aber von einer andern Seite her geschöpft. Tinius zeigte um jene Zeit viel Geld und war zu derselben Zeit, oder kurz vorher in der dringenden Verlegenheit, bedeutende Geldzahlungen zu leisten, die ihn sehr drückten.
Er hatte die große Bibliothek des Professor Nösselt in Halle gekauft und zahlte um die Zeit des 28. Januar 1812
1) an die Nösselt'schen Erben 300 Louisdor am 10. und 11. Februar 1812;
2) zahlte und verwechselte in dem Zeitraum vom 1. Februar bis 21. April an Verschiedene die Summe von 311 Louisdor.
Dies ist erwiesen; möglicherweise hat er um diese Zeit auch noch 1800 Thlr. in Louisdor in Breslau ausgezahlt.
Gewiß ist also, daß er in den nächsten Wochen nach der Mordthat 611 Stück Louisdor ausgezahlt hat, eine Summe, die noch über jene 3000 Thlr. beträgt.
Wie kam er in den Besitz einer so bedeutenden Summe? Und zwar so in den Besitz, daß er dieses viele Geld für angekaufte Bücher verausgaben konnte? – Dieser Punkt ist im Processe im Dunkel geblieben. Tinius behauptete, das Geld zu den benöthigten Zahlungen bereits im Jahre 1811 gesammelt zu haben. Er will es theils aus seinen Pfarreinkünften erspart, theils darlehnsweise, theils als Vorschuß erhalten, theils auch von seinen Schuldnern eingezogen haben. Erwiesen ist darüber nichts; zugleich geht aber auch, ihm zu Gunsten, aus seinem Capitalienbuche hervor, daß er nicht unbedeutende Capitalien ausstehen hatte, von denen mehre gestrichen sind mit der Bemerkung: ist abgetragen, ohne daß das Datum der Rückzahlung dabei notirt wäre. Es fanden sich Schuldbriefe bekannter Personen, welche das Versprechen enthielten, gewisse Capitalien zu bestimmter Zeit zurückzuzahlen. Auch liquidirte die zweite Frau des Angeschuldigten, in dem über sein Vermögen ausgebrochenen Concurse, 10,000 Thaler, als Eingebrachtes, woran sie einen bedeutenden Ausfall erlitt. Es erwächst aber daraus ihm zu Gunsten die Vermuthung, daß er Capitalien derselben eingezogen und sie zu seinen Büchereinkäufen verwendet habe.
So verdächtigend daher auch der Besitz so großer Geldsummen bei einem Landprediger und nach der Mordthat in Leipzig erscheint, und zumal die Auszahlung derselben in Goldstücken, so wird das Indicium doch wieder dadurch entkräftet, daß die Möglichkeit da ist, daß solche Summen ihm zur Disposition gestanden haben.
Weit verdächtiger sind, auch in Bezug auf dieses Verbrechen, die Briefe, welche von ihm aus dem Gefängniß geschrieben und von dem Richter aufgefangen wurden. Sie wörtlich hier aufzuführen, ist überflüssig, nachdem man Form und Tendenz dieser Briefe aus der vorgehenden Untersuchung kennt. So gibt er Auftrag: wie der Pachter Schmuhl zu unterrichten sei, daß er über die Fahrt nach Leipzig und Tinius' Anwesenheit am 28. Januar daselbst aussagen solle. Andere Anweisungen für die übrigen Reisegefährten, an den Magister H…, an den Besitzer von Poserna, Herrn von Raschow, und den Cantor Hübel. Dem Hofrath Schreiber muthet er zu, zu bezeugen, daß er, Tinius, am 28. Januar Morgens von 10¼ bis gegen 11 Uhr bei ihm gewesen und ein Geldgeschäft besprochen habe u. s. w. Wenn auch nicht mehr dadurch ermittelt ist, als der Versuch, zwei allenfalls verdächtige Gegenstände, nämlich den Schifferhut und einen grünen Matin, fortzuschaffen, so erhellt doch auch hier das Bestreben daraus, die Wahrheit zu verdunkeln, was allein aus einem Schuldbewußtsein erklärt werden kann. Desgleichen ist es, wie schon angedeutet, noch auffallender, daß Tinius nach Verlauf von mehr als einem Jahre sich so genau aller Gänge an einem bestimmten Tage zu erinnern weiß, da er fast wöchentlich nach Leipzig kam und die Zeit daselbst mit Geschäftsgängen verbrachte.
Weiter wurde hinsichts dieses Verbrechens nichts gegen ihn ermittelt. Dagegen kamen noch mehre Anzeigen zur Sprache, wenn auch in kein volles Licht, welche den verbrecherischen Charakter des Angeschuldigten immer mehr herausstellten.
In dem oben erwähnten Briefe an den Magister St … trug er diesem auf, eiligst nach Poserna zu reisen, um alle von ihm, Tinius, geschriebene, aber mit fremden Namen unterschriebene Briefe, ingleichen, alle Mahnbriefe sorgfältig aufzusuchen und fortzunehmen.
Der Brief, der die Spuren großer Angst und Eile an sich trägt, ward aufgefangen. Auch ein anderer an den Magister H…, der eine ähnliche Auffoderung enthielt. In einem darauf folgenden Zettel schrieb er: »Ist meine gestrige Bitte nicht erfüllt, zuvorzukommen, so ist es nicht gut.« Als ihm darauf mit verstellter Hand und unter St … 's Namen geantwortet wurde: es sei geschehen, schrieb er wieder: »Ich war in einer rechten Angst.«
Man fand nun mehre seltsame Briefe, in Geschäftssachen geschrieben, von seiner Hand, aber mit fremden Namen unterzeichnet.
1) Einer des Schulmeisters Bark zu Hohenecken vom 4. Nov. 1812, an den Kantor Müller in Jeßnitz, die Bitte enthaltend, ihm Auskunft über die Abkunft eines gewissen Steinmüller zu ertheilen, der in Philadelphia ein großes Vermögen hinterlassen, und dessen Erben im Amsterdamer Courier aufgefodert werden, sich in Amsterdam zu melden.
2) Den Brief eines C. F. Müller an den Kantor Trebernitz in Colwitz d. d. Schönewalde 15. November 1812, dieselbe Angelegenheit wegen des Steinmüller aber einen ganz unbestimmten Auftrag enthaltend.
3) Eines Bayer im Auctionsbureau zu Stendal vom 4. Januar 1813 an den Cantor Müller zu Könitz, die Nachricht und Bitte enthaltend, sich nach einer Frau Linkin in Leipzig zu erkundigen, die eines in Amerika verstorbenen sehr reichen Linke Anverwandte sein solle.
4) Ein Brief an die Demoiselle Bose, von einem gewissen Stöckel in Cöthen vom 4. Januar 1813, mit dem Gesuch, dem Schreiber ihre Familienverhältnisse zu melden, indem er beauftragt sei, einen Stammbaum für die Familie Bose zu entwerfen, welche desselben, nach einem von dem Consul Schmidt aus Amsterdam an die Adr. Bose in Mecklenburg gelangten Nachricht, zur Hebung der von dem Coloniebesitzer Bose zu Bengalen hinterlassenen Erbschaft benöthigt sei.
5) Einer, Appellationsrath Gröber unterzeichnet, an den Amtmann Hoffmann in Suhl; von einer besondern Bedeutung, wird später erwähnt werden.
6) Endlich ein Zettel ohne Datum und Namen, der die Nachricht enthält, daß ein Landmann 10,000 Thaler in Louisdor liegen habe und solche gegen sichern Schein vertauschen wolle; der Zettel war unorthographisch und in unbeholfenem Styl geschrieben.
Tinius mußte diese Briefe, als von seiner Hand geschrieben, recognosciren. Sein Vorgeben, daß er sie auf Ansuchen bekannter oder unbekannter Personen abgefaßt, würde, auch wenn er es zu erweisen vermocht, den Verdacht nicht entfernen, welchen man nach Abschluß der Acten allein daraus gegen ihn formiren kann: nämlich, daß er fähig und vertraut damit war, Briefe in fremden Namen zu schreiben. Daß ein Landgeistlicher sich zum Brief- oder Bittschreiben seiner Parochialen oder Bekannten hergibt, ist in der Ordnung, auch wenn es rein weltliche Angelegenheiten betrifft. Aber für die Anliegen fremder Personen, die er zum Theil nicht kennt, und die solche intricate Geschäfts- und Geldsachen betreffen, wird er Die, welche sich an ihn wenden, an Advocaten und Commissionarien verweisen; ja auch, wenn er sich zu ihrem Concipienten hergäbe, wird er es doch mit seiner Amtspflicht für unverträglich halten, die Briefe, die er allein geschrieben, mit einem fremden Namen zu unterzeichnen. Endlich ist auch die Menge dieser seltsamen Briefe auffällig, die an und für sich schon den Verdacht begründen, daß ein derartiger Geschäftsbetrieb ihn in einen Kreis von Thätigkeit entrückt habe, welche sich wenig mit der eines Geistlichen verträgt, und ihm wichtiger geworden zu sein scheint, als sein Amt.
Aber Tinius hat auch jenes Vorgeben, daß er die Briefe für fremde, zum Theil ihm unbekannte Personen abgefaßt, nicht zu beweisen vermocht. Im Gegentheil räumte er von einigen dieser Briefe später ein, daß er weder wisse, ob die Personen, die als Verfasser bezeichnet sind, existirten, noch die darauf genannten Empfänger; er habe die Briefe nach Angabe einer ihm unbekannten Frau verfaßt, die so und so geheißen und selbst deshalb von einem andern Verwandten einen Auftrag gehabt, um gewisse Erbschaftsangelegenheiten auszuforschen.
Wie eine solche Handlungsweise, auch wenn nichts weiter vorläge, den Charakter eines Geistlichen verdächtigt, bedarf nicht der Anführung; eben desgleichen verschärft es für den ersten Mordanfall den Verdacht, daß Tinius der Verfasser des blutigen Briefes gewesen. Was aber bezweckte er speciell mit diesen Briefen? – Die Acten lassen darüber nur der Vermuthung Spielraum. Eine Thatsache ist, daß die Demoiselle Bose, an welche einer der Briefe gerichtet ist, eine anerkannt wohlhabende Person war, welche allein wohnte und eine eigene Oekonomie führte.
Tinius ward auch des Versuchs, noch andere Verbrechen zu begehen, verdächtig. Die Ermittelungen darüber haben zu keinem Resultat geführt, welches eine Bestrafung begründete. Ja ohne die vorliegenden Thaten würden sie kaum Anlaß zu einer Untersuchung gegeben haben. Aber sie sind von Wichtigkeit bei der Beurtheilung des gefährlichen Charakters dieses Mannes, und verstärken den Verdacht hinsichts der Motive und Intentionen, welche ihn zu jenen antrieben.
Einige Wochen vor dem Mordanfall auf die Kunhardt, am 19. Januar 1813, kam Abends um sieben Uhr ein Fremder in das Haus des Amtmann Hoffmann in Suhl, und wünschte ihn zu sprechen. Er nannte sich Lange. Nach Aussage des Hoffmann gab er sich für den Amanuensis des Appellationsrath Gröbel in Dresden aus. Nach Aussage der übrigen Hausgenossen nannte er Leipzig als seinen Wohnort.
Da der Amtmann nicht allein war, – sein Schwiegersohn, der Bürgermeister Spangenberg befand sich bei ihm – so wurde der Fremde in die Gesindestube genöthigt. Als er eintrat, erkannten ein Mann, Namens Schlegel, der in der Stube war, dessen Ehefrau und die Witwe Heym beim Scheine des auf ihn fallenden Lichtes in dem Fremden sofort den Magister Tinius, wiewol er eine Brille trug, was ihnen an dem Letztern fremd war. Man sprach es aus; der Fremde leugnete es jedoch, und fragte, wer denn der Tinius sei? Er setzte sich an den Tisch zu den Andern, bat jedoch, daß man das Licht, welches die verehelichte Schlegel vor ihn hinsetzte, wieder fortnehme, weil er schlimme Augen habe. Nach einer kleinen Weile ging der Fremde wieder fort, kehrte aber nach einer Viertelstunde zurück und nahm seinen alten Platz ein. Er erkundigte sich, wann wol der Mann fortginge, verbot aber, ihn früher zu melden, bis der Besuch wirklich fortgegangen und Hoffmann allein sei.
Der Bürgermeister blieb bis nach acht Uhr. Eben so lange hielt sich der Fremde in der Gesindestube auf. Gelegentlich erkundigte er sich: ob Wache im Hause oder in der Nähe sei? ob mehr Leute im Hause wohnten? ob der Amtmann einen Hund habe? Man antwortete ihm, daß Wache genug und sehr munter und der Hund sehr böse sei. Wer seinem Herrn etwas anthun wolle, dem beiße er wohl Nase und Ohren ab. Er bat nur, man möge den Hund, während er beim Amtmann sei, nicht hineinlassen, weil er die Hunde nicht riechen könne. Als aber später der Hund in die Gesindestube kam und um ihn herum schnupperte, nahm er keine Notiz von ihm.
Nach acht Uhr endlich ward der Fremde zum Amtmann vorgelassen. Er nannte sich auch hier Lange und übergab dem Amtmann einen Brief, unterzeichnet vom Appellationsrath Gröbel, Dresden den 4. Januar 1813, worin der Aussteller den Empfänger ersuchte, dem Vorzeiger des Briefes, seinem Amanuensis Lange, einen Rechtskonsulenten zu empfehlen; derselbe sei nämlich beauftragt, für einen Kaufmann in Hamburg ein Gut in Theres in Franken zu erkaufen, und vorläufig den Anschlag zu revidiren.
Es ist dieser Brief, welcher, unter Tinius' Papieren mit jenen andern vorgefunden, und ebenfalls von seiner Hand, zuerst die Aufmerksamkeit der Richter auf dieses dunkle Factum richtete.
Nachdem der Fremde den Amtmann gebeten, ihm bei Abschluß des Kaufgeschäftes über jenes Gut, welches er für den Rath Gröbel selbst kaufen solle, an die Hand zu gehen, gab ihm Hoffmann zu erkennen, daß auch er, wie sein Bedienter Schlegel, ihn für den ehemaligen Pfarrer zu Heinrichs, den Magister Tinius, zu halten geneigt sei. Der Fremde mußte es, nach einigem Leugnen, einräumen. Hoffmann eröffnete ihm, daß wegen des vielen Schnees eine Gutsbesichtigung jetzt nicht vorgenommen werden könne; er behielt ihn aber zu Tische und bot ihm auch ein Nachtlager an. Tinius lehnte es aber ab, da eine Gelegenheit auf ihn warte, und ging gegen ½11 fort. Vorher ließ er sich aber den Brief zurückgeben und ersuchte seinen Wirth, gegen Niemand von seiner Anwesenheit in Suhl etwas zu erwähnen.
Hoffmann hielt das Versprechen, was er Tinius damals gegeben; ihm jedoch, wie Allen seinen Hausgenossen, kam der Besuch schon damals äußerst verdächtig vor.
Tinius mußte bei der Untersuchung Alles einräumen, den nächtlichen Besuch, die Uebergabe des Briefes, daß er diesen selbst geschrieben, und was die Hausgenossen in Suhl über sein Benehmen daselbst bekundet haben. Aber die Absicht seiner Reise und sein Besuch seien ehrlich gemeint gewesen. Nur widersprach er sich darin. Zuerst hatte er sich nach dem Gute Theres nur deshalb erkundigt, weil er Willens gewesen, dasselbe nach dem Tode seiner Schwiegermutter für sich selbst zu kaufen. Später erklärte er, seine Absicht sei gewesen, sich mit dem Amtmann Hoffmann auszusöhnen, der, wie er gehört, krank und ihm früher abgeneigt gewesen. Weil er gefürchtet, abgewiesen zu werden, und doch erst Hoffmann's Gesinnungen erforschen wollen, habe er sich unter fremdem Namen melden lassen.
Diese Erklärung erscheint sehr unwahrscheinlich, und wenn man die Zeit und die ganze Art und Weise des Besuchs ins Auge faßt, so berechtigt es zum Verdachte, daß Tinius auch hier ein Verbrechen begehen wollen, und unter dem Schleier der Nacht einen Raub und Mord zum Ziel hatte.
Noch ein zweiter verdächtiger Fall, der indessen noch weniger durch die Untersuchung ins Licht gestellt worden.
Sein Stiefsohn warf unter Anderm in einem an das Gericht geschriebenen Briefe die Worte hin: »Aber er hat meine Großmutter –« worauf ein langer Gedankenstrich folgte. Aufgefodert, was er damit meine, gab er Folgendes zu Protokoll.
Im Jahre 1812, die Zeit ist nicht näher bestimmt, kam Tinius spät in der Nacht, in seinen Matin eingehüllt, zu seiner, des Angebenden, Großmutter, der alten Witwe Kind, Tinius' Schwiegermutter. Er rief mehre Male: »Stille! Stille!« Vergebens fragte ihn die Großmutter: »Wer ist Er denn? Was will Er noch so spät?« Da sie keine Antwort erhielt, rief sie ihre Magd, und jetzt erst gab Tinius sich zu erkennen.
Der junge Mann wußte die Sache nur von Hörensagen; seine Großmutter, die alte Kind, konnte nicht vernommen werden. Verdächtigend ist die Nachricht jedoch, da sie mit seiner Art in andern Vorfällen stimmt und er geständlich um jene Zeit seine Schwiegermutter inkognito besucht hat.
Im Publicum erzählt man sich von noch mehren Besuchen, die Tinius hie und da gemacht, und daß die Besuchten sich Glück gewünscht, daß ihr Finger nicht in die ihnen dargebotene Tabacksdose griff. Davon besagen die Acten nichts; es ist aber damit nicht gesagt, daß andere gefährliche Versuche, die nicht zur Sprache kamen, deshalb nicht ins Reich der Möglichkeit gehören. Ja es ist eher wahrscheinlich, daß ein Mann, der zu wiederholten Malen und mit so eiserner Entschlossenheit auf das Verbrechen ausging, in der Vollendung eine solche Geschicklichkeit, in der Consequenz des Ableugnens eine solche Fertigkeit zeigte, daß ein solcher Mann eine Schule durchgemacht hat, die wir zu verfolgen nicht im Stande sind. War er der Mörder der alten Kunhardt, des alten Kaufmann Schmidt; schlich er, in mörderischer Absicht, Nachts in das Haus seiner alten Schwiegermutter, in das des Amtmann Hoffmann; war es in verbrecherischer Absicht, daß er sich nach dem Vermögen der begüterten Demoiselle Bose erkundigte, und in dem Hause der reichen Demoiselle Junius sich nach Gelegenheit umsah, alsdann können noch andere Unthaten, die im Stillen begangen wurden oder unter dem Kriegslärm jener unruhigen Zeit verborgen blieben, auf seine Rechnung kommen. Die Gerechtigkeit erfaßte ihn erst in der Blüte seiner Kraft; ihr ist es nicht gelungen, nur einen einzigen Lichtblick zurück zu werfen, auf welche Art er geworden, was er war.
Unbefriedigt scheiden wir von diesem räthselhaften Falle, nicht um deswillen, weil die Thäterschaft nicht streng bewiesen ist, sondern weil uns das tiefere psychologische Motiv im Dunkeln bleibt. Für den erkennenden Richter konnte darüber kein Bedenken obwalten; denn es ist ermittelt, daß Tinius um die Zeit des 8. Februar 1813 in einem großen Geldbedürfniß war zur Befriedigung seiner andringenden Gläubiger. Er hatte mehre große Büchersammlungen gekauft und die Verkäufer drangen auf Zahlung. So schreibt er am 28. December 1812 an seinen Vertrauten, den Magister St …: »Nichts kann mich retten, als 400 Thlr. Geld, die du mir schaffen mußt.« Am 13. November 1812: »Schaffe Rath, schaffe Rath, ich bitte um Gottes willen, damit ich nicht unglücklich werde.« Und am 9. Februar 1813: (dem Tage nach der Ermordung der Kunhardt, bei welcher der Mörder keine Schätze gefunden, wenigstens nicht mitgenommen haben kann) »Schaffe Rath, laß mich nicht ins Unglück stürzen, was ich doch nicht verschuldet habe.« Zwar behauptete Tinius, daß er um jene Zeit fast alle seine Capitalien gekündigt gehabt, daß einige derselben eingegangen und er nöthigenfalls Hülfe von seiner begüterten Schwiegermutter erwarten können; er hat jenes aber nicht zu beweisen vermocht, anderntheils waren dies blos Hoffnungen und endlich reichten selbst alle diese von ihm angegebenen Summen nicht hin, um die Capitalien voll zu machen, welche er verschuldete, und um die er dazumal gedrängt wurde. Hiezu kommt, daß Tinius auch der Unterschlagung von Kirchengeldern nicht allein bezüchtigt, sondern überwiesen wurde, worüber die Untersuchung neben der über den Mordfall, ordnungsmäßig geführt ist. Es kommt uns auf dieses Nebenverbrechen bei unserer Darstellung nicht an. Das ermittelte Factum bestärkt aber hier die Vermuthung, nicht nur daß er ein Mann war, zu dem man sich einer verbrecherischen That versehen konnte, sondern auch, daß pecuniaire Bedrängnisse ihn zum Verbrechen antrieben.
Tinius wurde von mehren Sachwaltern vor den sächsischen und später vor den preußischen Gerichten vertheidigt. Namentlich war die letzte Vertheidigung vor dem erkennenden Richter in erster Instanz eine vorzügliche. Vor der Gewalt der zum ausreichenden Beweise gesteigerten Indicien mußten indessen die Gründe weichen, welche der Defensor mit großem Geschick aus der Sachlage entwickelt hatte.
Allerdings bleibt uns auch in der Handlungsweise des Inquisiten, abgesehen von seinen Motiven, Vieles unklar. Wie ein Mann von dieser Besonnenheit, mit diesen festen Planen, diesem sichern Arme, so unbesonnen verfahren konnte? Gesetzt, er vermuthete, daß bei der alten Kunhardt Geld und Geldeswerth zu finden war, wie wagte er sich in der kurzen Zwischenzeit, daß das Mädchen nach einer Flasche Wein ausging, in dem stark bewohnten Hause, in die Wohnung der Witwe, und zu einem Vorhaben, das zu seiner Ausführung längerer Zeit bedurfte, als die Tödtung und Beraubung eines alten Kaufmanns, in dessen Comtoir die Geldkasten wenn nicht offen, doch bekannt sind. Bei einer ängstlichen alten Witwe, die, wenn sie Geld und Pretiosen hat, dieselben in Winkel und Lumpen zu verstecken pflegt, foderte das Aufsuchen allein Zeit, und man darf annehmen, daß er, bei den vorangegangenen Erkundigungen im Hause, sich davon unterrichtet hatte, daß ein Dienstmädchen eine so alte Frau nicht lange verlassen kann. Wie erfuhr er überhaupt, ob es sich bei der Kunhardt einzubrechen lohnte? Endlich, weshalb, nachdem er den Mord vollbracht, ging er fort, ohne seinen Zweck, d. h. ohne Geld, und ohne daß ein äußerer Grund, der ihn zur Flucht bewogen, aus den Acten erhellt? Die zerschlagene Frau schrie zwar, aber Tinius war schon die vier Treppen herunter und auf dem Flur, als ihm erst die Dienstmagd Schmidt begegnete. Und nicht während des kurzen Gesprächs, das Beide mit einander pflogen, sondern erst, als sie die Treppe hinaufging, hörte die Schmidt das klägliche Geschrei ihrer Dienstfrau.
Tinius hatte einige Tage früher schon die Dienstmagd Schmidt im Hause gesehen; er hatte sie erkannt und begrüßt, als die Magd, welche früher beim Magister H… gedient. Dieser selben Dienstmagd, die ihn kannte, begegnete er wieder beim Hinausgehen nach der Mordthat, und doch redete er sie, ungefähr wie vorhin, in der oben angegebenen Art an. Wäre es nicht an einem Mörder gewesen, sich tief zu verhüllen, daß ihn Niemand erkenne, und rasch fortzustürzen?
Noch aber ging er (aller Wahrscheinlichkeit nach, gleich nach der That) zum Mützenhändler Asmus und verweilte daselbst.
Im Besitz einer Menge Kleider, welche ihn unkenntlich gemacht hätten, sollte er die That in derjenigen Kleidung verübt haben, in welcher er in seinem Wirthshause gesehen worden?
Tinius blieb, am Tage der Mordthat, auch nachdem sie ihm zu Ohren gekommen, und nachdem die Schmidt schon den Verdacht auf einen bei H… einkehrenden Magister durch Nachfrage nach dem Namen desselben gewälzt, noch bis gegen 2 Uhr in Leipzig. Er setzte sich dadurch der Gefahr aus, daß die Magd jeden Augenblick wiederkommen und ihn sofort erkennen möchte.
Sein Vertrauter, Magister St …, hatte ihn noch vor seiner Verhaftung von dem gegen ihn erwachsenen Verdacht unterrichtet, und doch war er weder entflohen, noch hatte er die Sachen, die ihn verdächtig machen konnten, vernichtet, oder so verborgen und entfernt, daß sie den Augen des Richters entgehen konnten.
Diese und noch andere Gründe könnten aber die That nur um deshalb unwahrscheinlich machen, weil man Tinius nicht zutraut, daß er mit so wenig Vorsicht und Besonnenheit gehandelt haben sollte. Wenn diese Unwahrscheinlichkeit aber auch noch stärker wäre, so wird dadurch die Stärke der positiven Anzeigen nicht geschwächt. Daß es unwahrscheinlich ist, daß Tinius so gehandelt, schließt nicht die Möglichkeit aus, daß er so handelte. Nur das absolut Vernunftwidrige und Absurde kann einen Beweis umstoßen, der sonst formell richtig geführt ist. Aber auch der kaltblütigste, raffinirteste Bösewicht bleibt ein Mensch und der Schwäche, die ihn verrathen kann, unterthan. Trotz aller bei seiner Vernehmung gezeigten Besonnenheit, verrieth er bei mehren Gelegenheiten Mangel an Vorsicht. Dies beweist sein Besuch beim Amtmann Hoffmann und dies beweisen mehre seiner aus dem Gefängniß geschriebenen Briefe, durch deren einen allein er auch den Verdacht der Schmid'schen Mordthat auf sich zog.
Wenn Tinius bei Begehung des Mordes an der alten Kunhardt eine besondere Frechheit an den Tag legte, so dachte er an die große, volkreiche Stadt, an den Nimbus, mit dem sein Stand ihn umgab. Auch hatte er die Erfahrung hinter sich, daß der Mord, am Kaufmann Schmidt verübt, am hellen Tage begangen, nicht herausgekommen war. Hätte er sich früher aus dem H…schen Hause entfernt, oder wäre er gar nicht dahin zurückgekehrt, alsdann hätte er fürchten müssen, daß sofort der Verdacht ihn treffe. Uebrigens hielt er sich, von elf Uhr an, meist in seinem Zimmer auf, aß nur wenig und reiste früher als gewöhnlich ab, unter dem Vorgeben, daß er wegen der fremden Truppen früher nach Hause eilen müsse. Daß er zum Mützenhändler Asmus gegangen, um seine Mütze umzutauschen, spricht mehr gegen als für ihn. Aber allerdings bleibt es merkwürdig, daß er in Vorbedacht oder eingewiegt vom Gefühl seiner Unangreifbarkeit, Briefe, Hämmer und Kleidungsstücke unverändert bei sich behielt, und auch noch da, als ihm die zweite Warnung durch St… kam.
Hinsichts des Kunhardt'schen Mordanfalles fand der Richter erster Instanz, daß, wo die allerdringendsten Verdachtsgründe vorhanden wären, so viele Anzeigen zusammenträfen, miteinander übereinstimmten, durch den schlimmen Charakter des Verdächtigen unterstützt, durch Gegengründe nicht entkräftet und gehoben, und die Gewißheit der Thäterschaft nur in Folge beharrlichen Leugnens und des Mangels an vollständigen Beweismitteln nicht erlangt werden können, derjenige Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, welcher nach preußischen Gesetzen eine außerordentliche Strafe erfordere, die er aus den Strafbestimmungen über den Raubmord arbitrirte.
In Betreff des ältern Raubmordes, an dem Kaufmann Schmidt begangen, so lagen nur entfernte Anzeigen vor, wo der Zusammenhang zwischen Thäterschaft und Thäter äußerst locker war; der Richter konnte daher nur auf vorläufige Freisprechung erkennen.
Das dritte Verbrechen, die Unterschlagung von Kirchengeldern, das uns hier nicht näher interessirt und von dem es genügt, zu wissen, das es constatirt und vollständig erwiesen worden, berechtigte die Zuerkennung der ordentlichen Strafe.
Das Erkenntniß erster Instanz, vom 12. Februar 1820 verurtheilte daher den Tinius: wegen des an der Witwe Kunhardt verübten Raubmordes außerordentlich zu achtzehnjähriger Zuchthausstrafe; wegen des Raubmordes an dem Kaufmann Schmidt erkannte es auf vorläufige Freisprechung; wegen Unterschlagung von Kirchengeldern aber auf zweijährige Zuchthausstrafe. Zusammen also wurde er auf zwanzigjährige Zuchthausstrafe und zum Verlust der Nationalcocarde verurtheilt.
Bei Arbitrirung dieses Strafmaßes kamen die Bestimmungen des preußischen Landrechts, wiewol das Verbrechen noch zur sächsischen Zeit begangen worden, zur Sprache, weil sie verhältnißmäßig die milderen waren.
Tinius appellirte. Das Urtel zweiter Instanz kam erst nach drei Jahren, am 23. Januar 1823, heraus. Neue Beweismittel waren nicht zur Sprache gekommen. Die Hypothese, welche der Verurtheilte aufzustellen sich nicht gescheut, daß die Kunhardt nicht an den Schlägen, sondern an der vorgenommenen Trepanation gestorben, ward als ganz unbegründet verworfen, aber das Urtel erster Instanz, in Rücksicht auf das vorgerückte Alter des Inquisiten und die lange Dauer seines Arrestes dahin abgeändert, daß die außerordentliche Strafe wegen des an der Kunhardt verübten Raubmordes von 18 Jahren auf 10 Jahre herabgesetzt ward.
Es verlautet, die Stimmen der erkennenden Richter in der zweiten Instanz seien getheilter gewesen, als in der ersten. Ja eine Stimme soll sich geltend gemacht haben, daß die Indicien nicht von dem Gewicht wären, um über eine vorläufige Freisprechung hinaus zu gehen. Allerdings beruht die Verurteilung auf einem unvollständigen künstlichen Beweise, der von der moralischen Ueberzeugung der Richter getragen wird; sollte aber ein Strafurtel mathematische Gewißheit erfodern, bei welchem auch die Möglichkeit des Gegentheils undenkbar ist, so würde man ein solches niemals abfassen können. Mit Recht sagt der Urtelsfasser: »Die Möglichkeit des Gegentheils wird durch keinen Erfahrungsbeweis, auch nicht durch den nicht künstlichen aufgehoben. Auch die directen Beweismittel, namentlich das Geständniß des Angeschuldigten, gewähren keine apodictische Gewißheit, weil die Erfahrung lehrt, wie häufig ein Unschuldiger aus Lebensüberdruß, oder einer andern Ursache, sich selbst eines Verbrechens angeklagt hat, noch weniger die Aussagen von zwei Zeugen, bei denen ein Irrthum in der Person, böser Wille, vorgefaßte Meinung, unwillkürlich falsche Darstellung so leicht zu besorgen sind; sondern alle Beweisarten ohne Unterschied beruhen am Ende auf Probabilitäten, denen das Gesetz einen höhern oder geringern Zwangsglauben beigelegt hat. Es ist also an sich kein Grund vorhanden, dem natürlichen Beweise Recht beizulegen, als dem künstlichen.«
Aber wir bedauern, daß die Herstellung dieses künstlichen Beweises über die Thäterschaft die Aufmerksamkeit von dem ungleich wichtigern psychologischen Proceß über den Thäter selbst völlig abgelenkt zu haben scheint. Statt der Lösung eines Räthsels, statt eines Einblicks in die wunderbaren Irrgänge einer ursprünglich (so steht es in den Zeugnissen geschrieben) edlen Natur, die im Stillen, von Niemandem beobachtet, auf eine verbrecherische Bahn gerieth und bis zum äußersten Grade der Gemüthsverhärtung und der brutalsten Ruchlosigkeit vorschritt, erhalten wir nur das dürre Gerippe aneinandergereihter Indicien, um die Thäterschaft festzustellen. So scharfsinnig und kunstvoll diese Zusammenstellung und deren äußerliche Entwickelung verfolgt ist, hatte es doch auch in des Richters Aufgabe gelegen, nachdem er moralisch von der Schuld des Angeklagten überzeugt war, sich angelegentlicher um das innere Leben desselben und dessen Entwickelungsgang zu bekümmern. Die beigebrachten Atteste der Vorgesetzten genügten dazu nicht. Freilich überschreitet es die Facultas menschlicher Gerichte, den Thäter bei jedem Verbrechen psychologisch bis auf den Keim des ersten bösen Gedankens zu verfolgen, und die Gerichte haben andere Aufgaben, als Biographien der Verbrecher zu schreiben. Aber in diesem außerordentlichen Falle, der ähnlich in Deutschland noch nicht vorkam, der die allgemeinste Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, wäre eine solche außergewöhnliche Untersuchung zu rechtfertigen gewesen; sie konnte gefordert werden. Käme der Fall heute vor, so würde auch gewiß jedes deutsche Gericht sich dieser schwierigen Aufgabe willig unterziehen. Die damaligen unruhigen Zeiten, der Umschwung, welcher Deutschland und Europa eine andere Gestalt gab, ließen vielleicht, die Thäterschaft bei zwei Mordfällen, wo der Völkerkrieg so viele Leichen, und gerade um Leipzigs Feldern, aussäte, mit minder bewegtem Gemüthe betrachten. Wo um den Wahn der Herrschsucht, um das Gefühl der Freiheit und Nationalität Hunderttausende bluteten, mochte da nicht der Todtschlag zweier Menschen, um dem Wahn eines Bibliomanen zu genügen, an der Wichtigkeit verlieren, die jeder Criminalproceß in minder bewegten Zeiten hat?
Um seiner Bücherwuth zu fröhnen, ward Tinius ein Raubmörder. Dies ist die allgemeine Annahme; auch die Gerichte neigten sich zu derselben. Er erschien dem Publicum als ein anderer Eugen Aram (dessen That und Irrsinn freilich zur Zeit der vorliegenden Mordfälle in Deutschland noch nicht bekannt war); eine Monomanie hatte das Gemüth eines sonst ehrenwerthen Mannes zerstört, und im unersättlichen Durst nach dem Besitz von Büchern ward er ein Verbrecher, ein Mörder. Solche dämonische Einflüsse sind nicht unerhört; der Glaube daran war durch die politische und romantische Aufregung jener Zeit besonders genährt. Es war also ein plötzlicher Uebergang vom Guten zum Bösen; die übermächtige Leidenschaft, dunkle Mächte rissen ihn hin, und er fiel. Seltsam, daß in den Acten, ja in Allem, was uns von Tinius bekannt geworden, nichts vorkommt, was dieser Vermuthung nur einigermaßen Nahrung gibt. Wer, wie jener Eugen Aram (nämlich wie ihn das Publicum sich vorstellt), ursprünglich edel und gut, den Dämonen zum Opfer fiel, in Folge einer raschen That von der Unschuld und dem Seelenfrieden durch eine unübersteigliche Kluft getrennt, trägt den Stempel der Unruhe und des Unfriedens an der Stirn. Er verfällt in Trübsinn und Schwermuth; die Reue manifestirt sich in aufflackernden Blitzen düsterer Verzweiflung, in wildem Hohn, in Wehmuth, Menschenhaß und Bitterkeit. Von alle Dem hier keine Spur. Die Reue hat den Verbrecher nach den uns überkommenen Anzeigen auch nicht ein einziges Mal heimgesucht. Wo sie im Innern zehrt, wo sie den ganzen Menschen erschüttert, da wird auch der Verbrecher in einer zehnjährigen Untersuchung doch einmal einem scharfblickenden Richter etwas davon verrathen.
Tinius erscheint von Anbeginn als ein entschlossener, in sich fertiger Charakter. Daß ein Zeuge ihn einmal zittern, ihn blaß gesehen, war eine vorübergehende Regung des Grauens oder der Furcht, welche auch den verhärtetsten Verbrecher in Augenblicken beschleicht; in seinem übrigen Thun und Treiben ist er ruhig und überlegt. Er denkt weit zurück und vorwärts zugleich, und seine Berechnungen werden durch keine warmblütigen Aufwallungen der Phantasie gestört. Seine Blicke sind überall, wo mit Anstrengung ein verbrecherischer Gewinn zu machen ist. Ihn lockt nicht die Gelegenheit, welche sich unerwartet ihm darbietet; er sucht sie vielmehr mit der größten Besonnenheit auf, legt sich Personen und Gegenstände zurecht und geht systematisch in seinem Mordgeschäft zu Werke. Daß es ein solches bei ihm geworden, beweisen die Präparatschaften, die simulirten Briefe, die Mordwerkzeuge. Ein Mann von gelehrter Bildung, von großen Kenntnissen, von scharfem Verstande, nicht mehr im Jugendalter, ein Mann aus einem Stande, der, wenn kein heiliges Leben, doch weit mehr Rücksichten als jeder andere auf einen unbescholtenen Wandel fodert, im Rufe eines ausgezeichneten Kanzelredners, in dessen Kirche die Bauern strömen, um seine eindringlichen Predigten zu hören, ein solcher Mann hat in den vielen Rücksichten selbst eine Schutzwehr gegen dämonische Impulse, wenn der Keim des Bösen nicht in ihm aufwuchs und mit seinem äußern Scheinleben zugleich still und verborgen sich entfaltete.
Auf diese letztere Annahme sind wir durch Alles, was zwischen dem Thatsächlichen der Acten psychologisch vorblickt, hingewiesen. Schon bei der ersten That steht er fertig da. Sie ist die erste, die ans Licht kam, möglich auch die erste, welche ihm glückte, sie wird nicht die erste gewesen sein, die er versuchte. Er dringt, mit welcher Keckheit! am hellen Tage, in einer der besuchtesten Straßen Leipzigs in die Geschäftsstube eines Kaufmanns. Daß die Haushälterin ihn hineinführt, daß sie möglicherweise in der Nähe bei dem alten Mann geblieben sein kann, hindert und stört ihn nicht. Er fragt unter falschem Vorgeben, mit der ruhigsten Haltung ihn aus, läßt sich Papiere zeigen, spricht von gleichgültigen Dingen, bis der Augenblick gekommen, wo ein sicherer Schlag das arglose Opfer niederstreckt. In dem nächsten Augenblick hat er die Kasse erbrochen, hat sich der werthvollen Papiere bemächtigt und ist, ohne von Jemandem bemerkt zu werden, zur Thür und zum Hause hinaus. Noch in derselben Stunde steht er in dem ersten Wechselcomtoir Leipzigs, ohne Anzeigen von Furcht, Verwirrung, Zerstreutheit und verkauft mit der Ruhe und Gewandtheit eines geübten Geschäftsmannes die geraubten Papiere; ja spielt die feine Komödie, daß er noch einmal zurückkommt, um sich die ihm gleichgültige Note über den Verkauf geben zu lassen. So besonnen, so kunstfertig handelt kein Anfänger; so keiner, den eine dämonische Macht plötzlich unwiderstehlich zum Verbrechen hingerissen hat.
Wir finden in seiner Wohnung eine ganze Registratur von Briefen mit falschen Adressen und Unterschriften. Er erkundigt sich nach den Verhältnissen vermögender Personen. Was hat ein Landgeistlicher mit solchen Geldangelegenheiten zu thun, auch wenn seine Angaben über den Hergang dabei die richtigen wären? Alles deutet darauf, daß er mit Luchsaugen sich ungescheut Nachrichten aus den Zeitungen zusammengetragen hat, wo reiche Personen sind, wo bedeutende Erbschaften liegen. Sind es etwa Besitzer kostbarer Büchersammlungen, seltener Bibliotheksschätze? Nein, es sind Personen, mit denen er vermöge seiner gelehrten Bildung in keinerlei Art Verkehr stehen konnte, alte Kaufleute, Handwerker, Amtleute, besonders alte Witwen und Jungfrauen, die für sich leben, die leicht empfänglich sind für den Schreck, die vor einer Drohung zusammenfahren, wo ein Raubeinbruch nicht schwierig scheint, und Alle – begütert. Aus der reichen Sammlung wählt er, wo er am sichersten zu Werke gehen kann. Deutet dies auf eine Manie, auf eine rasche Aufwallung der Leidenschaft, oder auf kaltblütig reiflich überlegte Plane zum Verbrechen, die lange vor der Ausführung fertig waren?
Entwirft sich unsere Phantasie ein Bild von dem bläßlichen Manne, mit den schlichten schwarzen Haaren, herabgekämmt nach beiden Seiten, wie er in seinen blauen Mantel eingehüllt, den Mordhammer in der Tasche, umherschleicht und die Gelegenheit auskundschaftet, dort in der Winternacht beim Amtmann in Suhl, hier um Mitternacht bei seiner Schwiegermutter in Zelle, und da in Leipzig bei hellem Tage im Hause der alten Mamsell Junius; malt man sich seine umherspähenden unheimlichen Blicke; denkt man dazu, wie er die Tabacksdose hervorholt und, mit betäubendem Pulver angefüllt, seinen Opfern präsentirt, so mag uns allerdings der Gedanke an etwas Dämonisches beschleichen. Aber wenn wir ihn wieder aus dem Gefängniß heraus mit der ruhigsten Besonnenheit Defensionalzeugen anwerben, instruiren und bezahlen sehen, so hartnäckig und so kleinlich im Leugnen, dann macht dieser Eindruck der Ueberzeugung Platz, daß wir es mit einem durchgebildeten Verbrecher zu thun haben.
Wann, wo fingen seine Studien an? Was in der zehnjährigen Untersuchung nicht ermittelt worden, wie sollte man Hoffnung gewinnen, daß es noch jetzt entdeckt würde, wenn nicht etwa den Greis eine späte Reue mächtig ergriffen hätte und er am Rande des Grabes selbst ein Geständniß freiwillig abgäbe. Zu erwarten ist es nicht. In seinem Gefängniß, ja noch nachher, hat er die Rolle des Unschuldigen mit merkwürdiger Consequenz fortgeführt. Daß ihn in seinem Unglück der religiöse Trost aufrecht erhalten, wird bestritten, ja man spricht vom Gegentheil. Was erhielt ihn denn aufrecht? Das Gefühl seiner Unschuld oder die eiserne Stirn, die er den Gefühlen und den Stürmen des Geschicks entgegensetzte? Das spricht von keiner Manie, die wie jedes irre Feuer endlich sich selbst erschöpft, es spricht von einer Verhärtung des Gemüthes, die schon in der Jugend begonnen haben muß. Er war von dürftigen Aeltern, er erhielt und bildete sich durch die Wohlthaten guter Menschen. Ob da schon der Keim eines Ingrimms und des Neides gegen die Glücklichern und Reichern, die es ihn empfinden ließen, daß er von ihnen Almosen empfing, in ihm Wurzel faßte? Dann war sein äußeres Leben ein fortgesetztes Studium, diesen mächtigen Hebel seines innern Lebens zu verbergen.
Auf dem Zuchthause wurde Tinius, seinen Kenntnissen entsprechend, mit Schreibarbeiten beschäftigt. Seine frühere Gemeinde zu Poserna, welcher, nach seiner Entlassung, die Verpflegung des begreiflicherweise ganz Verarmten oblag, scheute sich, ihn wieder in ihre Mitte aufzunehmen und hatte ihm, wie verlautet, auswärts auf ihre Kosten ein Domicil verschafft.
Folgende merkwürdige Stelle aus seiner früher geschriebenen Autobiographie möge hier noch einen Platz finden.
»Daß es von Lebendigen keine Geschichte gibt, ist genug zu meiner Entschuldigung, wenn ich weder die Personen, noch die Beweggründe und nähern Verhältnisse noch zur Zeit öffentlich berühre. Die Nachwelt nach meinem Tode soll die Gemälde sehen, die ich jetzt male, aber noch nicht aufstelle. Die Farben werden gewiß lebhaft bleiben, und die Zeichnungen richtig sein. An mir werden jetzt schon vieler Menschen Gedanken offenbar und fällen über sie selbst das Urtheil durch Worte und That. Und wie lange wird es noch sein, so werden wir vor einem höhern Richter stehen, der Alles, was im Finstern verborgen ist, wird an das Licht bringen, und den Rath der Herzen offenbaren. Unterdessen harre ich geduldig meiner Rechtfertigung entgegen und bin durch die fortwährende Gewöhnung an Verleumdungen und Neckereien fast ganz fühllos dagegen worden, wenn ich besonders wahrnehme, daß meine Ehre durch den Druck immer fester, und die Schande der Bösen immer größer wird. Um Wohlthat willen leiden, erweckt in der That Gnade bei Gott und Menschen. Ich werde die Wahrheit Jesu Christi, die ich erkannt habe, als ein Streiter für meinen Herrn vertheidigen bis an meinen Tod, und an jene Verheißung des scheidenden Greises denken: ›So wird Gott der Herr für dich streiten.‹«