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Jean Calas.

1761.

In einer Sammlung der berühmtesten Criminalfälle darf auch der von Jean Calas nicht fehlen, obwol er mehr in die Geschichte der menschlichen Irrthümer, als der menschlichen Rechtspflege gehört. Er ist nur ein schwarzes Blatt in dem großen Buche von den Verbrechen des Wahns, auch da nicht gräßlicher als tausend ähnliche Verbrechen, nicht himmelschreiender wegen des begangenen Unrechts; aber weil ein berühmter Schriftsteller, unter dessen Augen er sich ereignete, für den Leidenden Partei nahm, und sein Genie und seinen ganzen Einfluß daran setzte, das hier begangene Unrecht durch die Welt leuchten zu lassen, leuchtete es denn auch von Languedoc bis an die sibirischen Steppen; Jean Calas' Name ward jenseit des atlantischen Oceans das Symbol, das Warnungszeichen vor der Intoleranz und der Grausamkeit religiöser Verfolgung. Die Künste, die Dichtkunst, schwelgten lange Zeit, die Erinnerungen an den Märtyrer zur Erbauung der Gemüther auszubreiten, und so gewaltig war die Macht der öffentlichen Meinung, die Voltaire in Bewegung setzte, daß die Blitze davon selbst in die Feuerstätten des bigottesten Ultramontanismus drangen, und in Spanien, Rom und den Niederlanden das Erblassen des in seinen Höhlen aufgeschreckten, getroffenen Fanatismus verriethen. Hätte Voltaire sich nicht für die Familie Calas interessirt, wäre er nicht der gefeierte Modeschriftsteller gewesen, oder die französische Sprache und Literatur hätte nicht die ganze Welt siegreich durchzogen, so wäre der Justizmord, an Jean Calas verübt, nur ein Fall unter vielen geblieben. Das Unrecht wäre, dieses Vertrauens sind wir, auch ohne ihn zu Tage gekommen; aber es ruhte, historisch reponirt, unter der fortlaufenden Geschichte der menschlichen Ungerechtigkeiten. Auch die reichen Spenden aus ganz Europa, Balsamtropfen auf die Wunden der Familie Calas, wären wahrscheinlich unterblieben. Fern sei es, Voltaire's Verdienste in diesem Falle herabsetzen zu wollen; er war das Symbol und ein mächtiges Organ der Krisis, welche der Humanitätsgeschichte bevorstand, und seine Appellation an die öffentliche Meinung, an den Urthelsspruch der Vernunft eine segensreiche. Der Wahn in jener damals schon abgetragenen crassen Hülle wurde besiegt, aber er ist nicht todt, er ist so unsterblich als das Menschengeschlecht, und in immer neuen feineren Verkörperungen erhebt er sein Haupt. Darum ist es gut, auch die Fälle aus der Vergangenheit, zur Warnung für die Gegenwart, zu gelegener Zeit ans Licht zu ziehen.

Aber als Criminalfall steht die Geschichte Jean Calas' an Interesse hinter der Mehrzahl derer, die wir unsern Lesern mittheilten, zurück. Die französischen Parlamente haben viele ungeschickte, schändliche und grausame Verurtheilungen ausgesprochen und vollzogen; aber verglichen nur mit den beiden Fällen des Herrn von Anglade und des Jaques Lebrun im vorigen Bande, hat die Calas' allein den Vorzug der plumpen Unbegreiflichkeit. Diese liegt so zu Tage, daß es, nach unserm heutigen Dafürhalten, nicht der scharfen Feder eines Voltaire bedurfte, um sie für jeden Unbefangenen anschaulich zu machen. Die Richter in Toulouse waren nicht unbefangen; sie wurden vom blinden Wahn des erhitzten Pöbels geleitet. Vielleicht hätte auch eine Jury, aus Bürgern von Toulouse zusammengesetzt, in diesem Fall ein ähnliches Urtheil gesprochen. Somit scheidet es eigentlich aus dem Kreise unserer Aufgabe, und wir können einen Proceß, der nur ein Act der Verblendung, in richterliche Formen gebracht, ist, kürzer abmachen, unserer Pflicht, die berühmtesten Criminalfälle zu sammeln, dadurch genügend, um den Raum für die Entwickelung verwickelterer und zweifelhafterer Fälle zu sparen.

Jean Calas, zu Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts in Languedoc geboren, hatte sich in Toulouse als Kaufmann nach seiner Verheirathung niedergelassen. Sein Geschäft war klein, nährte ihn aber anständig. Er stand in dem Rufe eines rechtlichen, wohlwollenden, ordentlichen Mannes. Seine Frau hatte ihm fünf Kinder geboren, von denen einige nicht gerade misrathen waren, aber dem alten Mann doch einigen Kummer machten.

Jean Calas, wie seine Frau, waren Protestanten, eine misliche Stellung für sie in dem damaligen Frankreich, besonders in den bigotten südlichen Provinzen, wo die Erinnerungen an die Dragonaden Ludwig XIV. noch lebten, und die Wenigen, welche den Muth hatten, sich wieder zum Calvinismus zu bekennen, nur auf Duldung Anspruch machen durften. Wir sahen, wie nach Napoleon's Sturz die religiöse Verfolgungssucht dort unter der Restauration wieder ihr Haupt erhob, welche neue Greuel die Missionspredigten verursachten; wir sehen, daß noch heute dort ein Feuer unter der Asche glimmt, welches nur unter der politischen Färbung sich zu verbergen sucht.

Jean Calas erzog seine Kinder in der kalvinistischen Lehre. Aber sein zweiter Sohn, Louis, hatte eine andere Geistesrichtung. Im Jahre 1761, wenige Monate vor der Katastrophe, hatte er den protestantischen Glauben aufgegeben und war zur katholischen Kirche übergetreten, zum großen Schmerz seiner Aeltern. Man war der Meinung, daß eine alte Magd, eine strenge Katholikin, welche durch viele Jahre treu der Familie gedient und einst Louis' Amme gewesen, durch ihre Ueberredungen sehr viel zu diesem Schritte des jungen Mannes beigetragen habe. Die Aeltern waren tiefbetrübt über diesen Abfall ihres Sohnes, aber sie verstießen ihn nicht, sie ließen es ihm nicht entgelten, sobald sie von der Aufrichtigkeit seiner Sinnesänderung überzeugt waren. Auch die alte Magd blieb nach wie vor in ihren Diensten. Louis erhielt noch ein Jahrgeld von seinem alten Vater.

Mehr Kummer verursachte ihnen der Gemüthszustand ihres ältesten Sohnes Antoine. Er hatte die Rechte studirt, sah aber mit Schmerzen, daß seine Religion ein unübersteigliches Hinderniß für ihn wurde, um irgend eine Anstellung oder Beschäftigung zu erhalten. Er wurde verdrießlich, tiefsinnig und zog sich immer mehr in die Einsamkeit zurück. Er las gefährliche Bücher irreligiösen Inhalts und citirte öfter Andern Stellen daraus, welche den Selbstmord vertheidigten. Auch seine Gesundheit hatte schon gelitten.

Am 31. October 1761 kam ein ehemaliger Schulfreund Antoines, der junge Lavaisse, nach Toulouse. Er war einige Zeit in Bordeaux gewesen und wollte seine Familie besuchen. Aber sein Vater, der Advocat, war gerade auf einer kleinen Villa, einige Meilen von der Stadt, wo er des Sommers oft Tage lang verweilte. Er wollte noch heute hinaus und suchte deshalb bei mehren Pferdeverleihern umher, um ein Reitpferd zu miethen; doch überall fand er sie schon ausgeliehen.

Als er aus dem Stallhofe eines der Verleiher heraustrat, begegneten ihm Jean Calas und sein Sohn Antoine. Beide freuten sich herzlich, ihn zu sehen, und luden ihn ein, da er doch keinen seiner Familie im Orte treffe, den Abend mit ihnen zuzubringen. Er nahm die Einladung dankbar an, und ging mit ihnen in die Calas'sche Wohnung. Madame Calas empfing den Freund ihres Sohnes mit herzlicher Zuvorkommenheit. Nachdem sie eine halbe Stunde zusammengesessen und geplaudert, wurde Antoine ausgeschickt, um zum Abendbrot Käse zu kaufen.

Auch Lavaisse ging bald nach ihm fort, in Ungeduld nach einem Reitpferde. Er wollte bei dem einen Verleiher wieder nachsehen, ob nicht eins seiner Pferde inzwischen zurückgekehrt wäre und schlimmsten Falles sich eines für den nächsten Morgen versichern.

Beide Freunde kehrten nach kurzer Zeit zugleich zurück. Um sieben Uhr setzten sich Alle zum Familienmahl in dem obern Zimmer nieder. Die Gesellschaft bestand aus Herrn und Madame Calas, ihren Söhnen Antoine und Pierre und dem Gaste Lavaisse.

Während des Essens stand Antoine plötzlich auf, ohne allen Grund und ging hinaus, aber, wie Alle nachher versicherten, offenbar in einem Zustande von Geistesabwesenheit oder Aufregung. Sie waren so etwas an ihm gewohnt, und beachteten es nicht weiter.

Er ging durch die Küche, welche auf demselben Flur lag. Die Magd fragte ihn: ob er sich erkältet hätte? Er antwortete: »Gerade das Gegentheil, ich koche vor Hitze.« Dann ging er die Treppe hinunter.

Das ganze Erdgeschoß des Hauses bestand nur aus zwei Räumen, vorn der Laden, hinten das Waarenlager. Eine Flügelthüre führte aus dem einen in den andern.

Die Gesellschaft oben unterhielt sich noch ganz munter bis gegen halb zehn Uhr. Dann nahm Lavaisse seinen Abschied. Pierre, der eine Sohn, welcher den ganzen Tag über im Laden gestanden, war vor Müdigkeit eingeschlafen. Man weckte ihn, damit er mit der Laterne den Gast nach seiner Wohnung leuchte.

Lavaisse und Pierre gingen die Treppe hinunter. Auf der letzten Stufe sahen sie etwas, was ihr Blut erstarren machte. Zwischen den beiden halb geöffneten Flügelthüren hing, ausgekleidet bis aufs Hemde, an einer über beide Thürflügel gelegten Stange, der unglückliche Antoine.

Beide schrien aus Leibeskräften. Der alte Calas stürzte sogleich die Treppe hinab. Als auch er das schreckliche Schauspiel sah, schrie er nicht, sondern stürzte auf den Körper, umfaßte ihn mit beiden Armen und rüttelte, bis die Stange herabfiel.

Die beiden jungen Leute halfen ihm nicht. Sie waren vom Schreck des Anblicks so ergriffen, daß sie alle Geisteskräfte verloren hatten, und wie Bildsäulen dastanden.

Der unglückliche Vater, vor Schmerz außer sich, behielt doch die Gegenwart des Geistes. Er legte den Körper des Sohnes auf die Diele und befahl Pierre, daß er augenblicklich fortstürze, um den Wundarzt Lenoire, der in der Nähe wohnte, zu holen. Er rief ihm noch nach: »Aber, wenn es möglich ist, laß uns Alles anwenden, daß wir die unselige That geheim halten. Du brauchst ihm nicht zu sagen, wie dein Bruder starb.«

Zu gleicher Zeit lief Lavaisse wieder die Treppe hinauf, um wo möglich Madame Calas das schreckliche Ereigniß zu verbergen. Sie hatte aber schon das Geschrei, die Stimme ihres Gatten, das Jammergestöhne der alten Magd gehört. Sie ließ sich nicht zurückhalten, sie mußte hinunter, und der Jammer der unglücklichen Mutter vervollständigte die herzzerreißende Scene.

Der Wundarzt war nicht zu Hause. Statt seiner kam sein Famulus, ein Herr Grasse. Bei der Untersuchung fand er, daß Antoine schon todt war. Als er Kragen und Halstuch losmachte und die dunkeln Strangulationsnarben des Strickes sah, rief er aus: »Der ist erdrosselt worden.«

Eine Menge Volks, von dem Geschrei der Familie und eigener Neugier angelockt, hatte sich vor der Thüre versammelt. Als sie des Arztes Worte hörten, bildete sich bei ihnen sofort eine Meinung. Der Ermordete hatte wollen Katholik werden, wie sein Bruder Louis, und um das zu verhindern, hatte die protestantische Familie den Antoine erdrosselt.

Es war der Pöbel von Toulouse, nicht dem Toulouse, unter dessen Mauern Simon von Montfort gefallen war, Blut, Feuer, Aechtung hatten die alte Bevölkerung und ihre Nachkommenschaft, ja selbst die Erinnerung daran vertilgt; es war die Nachkommenschaft Simon von Montfort's, ein fanatisirter Pöbel. Man hatte hier Jahre lang die Erinnerung an die Bartholomäusnacht durch Processionen gefeiert! Die Wuth blitzte in ihren glühenden Augen. Dumpfes Gemurmel ging durch die Massen, die sich immer mehr erhitzten und anwuchsen. Die Vermuthung wurde zur Ueberzeugung: »die Calas, die Ketzer, haben ihren Sohn ermordet!« Wildes Geschrei, drohende Stimmen, erhobene Arme. Um Calas und seine Familie von dem Schicksal zu erretten, daß er von dem Pöbel gesteinigt und zerrissen werde, schickten seine Freunde nach dem Policeilieutenant. Dieser erschien. Statt aber die Menge zu beruhigen und die vorliegenden Thatsachen genau zu prüfen, ging er von derselben Meinung aus und ließ die ganze Familie mit Lavaisse verhaften. Die unwürdige Art, wie es geschah, konnte nur den allgemeinen Glauben nähren und bestärken.

Zwei geistliche Brüderschaften, die in Toulouse viel Ansehen hatten, thaten das Ihre, die Wuth der Menge noch in hellere Flammen zu setzen. Die Franziskaner und die weißen Büßer liefen durch die Straßen und erzählten und predigten von den Kanzeln, daß Antoine im Begriff gestanden, am folgenden Tage in ihren Orden zu treten. Um dem zuvorzukommen, hätten ihn die unmenschlichen Aeltern erdrosselt. Lavaisse aber wäre diesmal, wie auch in andern Fällen schon geschehen sei, der allgemeine Executor der Calvinisten.

Auf diese vaguen, durch nichts erwiesenen Reden, – auch nicht eine Spur ließ sich davon auffinden, daß der melancholische Antoine die Absicht gehabt, seine Religion zu ändern und Mönch zu werden – ordnete man ein feierliches Begräbniß des Leichnams an. In langer, festlicher Procession ward er nach St. Estephe getragen, hier die Messe gelesen und ein Todtenamt abgehalten. In einem Theile der Kirche, der von allen Seiten gesehen werden konnte, ward ein Katafalk errichtet, und darauf ein wirkliches menschliches Todtengerippe gestellt. In der einen Hand hielt es ein Papier, worauf die Worte standen? »Ich schwöre der Ketzerei ab,« in der andern einen Palmenzweig, das Zeichen des Märtyrthums.

Mehr bedurfte es nicht, die Volksmasse gegen die Calas zu fanatisiren. Durch einen öffentlichen Act in der heiligen Kirche selbst war Das, was bis da Gerücht war, als Thatsache anerkannt. Wer wagte noch zu zweifeln? Wer hielt, es nicht vielmehr für Pflicht, selbst seine Vermuthungen, seine Wahrnehmungen hinzuzutragen, um das schimpflichste aller Verbrechen zu bestätigen? Der hatte den Todten traurig gesehen, Der bittere Reden von seiner Seite gegen die Aeltern, Der drohende Worte der Aeltern gegen den Sohn gehört. Jeder kleine, unschuldige Umstand, der in der Haushaltung vorgefallen, diente als Beweis der innern Zerwürfniß in der Familie. Einige hatten sogar das Opfer schreien gehört – an Geschrei hatte es freilich im Hause nicht gefehlt – und was Jeder gesehen, gehört oder vermuthet, ward bald darauf Gemeingut in der Stadt. Die Thatsache war ja wahr, des Märtyrers Leichnam hatte in der Kirche sichtlich vor Aller Augen ausgestanden.

Die obrigkeitlichen Personen erhoben sich nicht an Urtheilskraft oder Unbefangenheit über dem Pöbel. Der Capitoul, oder Gerichtsschöppe, von Toulouse, David, ein wilder, bigotter Mensch, erklärte gegen Jeden, es sei ganz unmöglich, daß sich Jemand über den zwei offenen Flügeln einer Thür, die bei jeder starken Bewegung auf- und zugehen müßten, aufhängen könne, ohne daß durch den Act selbst die Thüren sich bewegten und er herunterfiele, ehe er seinen Zweck erreicht hätte. Desgleichen sei es eine ausgemachte Sache, daß die protestantischen Aeltern diejenigen ihrer Kinder aufzuhängen pflegten, die ihre Religion ändern wollten.

Eben so voreingenommen waren die inquirirenden Richter. Der Vorsitzende, Laborde, wollte durchaus von den Zeugen eine bejahende Antwort auf die Frage haben: ob sie Antoine Calas nicht auf den Knieen vor seinem Vater liegen gesehen, ehe er ihn erdrosselt? Als er keine genügende Antwort darauf erhielt, bemerkte er: daß man ja das Geschrei des ermordeten Märtyrers in verschiedenen Theilen der Stadt gehört hätte. Mehr als einmal wiederholte er bei seinem Resumé, daß es durchaus nothwendig sei, an Jean Calas ein Exempel zu statuiren, zur Erbauung der wahren Gläubigen und zur Verbreitung des richtigen Glaubens, indem die Ketzer in letzter Zeit in unerlaubter Weise sich verwegen und unverbesserlich gezeigt hätten.

So dachte der Pöbel, so die große von den Mönchen bearbeitete Menge, so die Obrigkeiten, so die Richter in Toulouse. Ein glühendes, südfranzösisches Blut rinnt durch ihre Adern. Brauchen wir an Das zu erinnern, was später in Rhodez und Alby beim Proceß Fualdes geschah? Alle waren von der Strömung ergriffen; es war gefährlich, nicht zu glauben, es war gefährlich, seine entgegengesetzte Meinung auszusprechen, und die Entlastungszeugen wurden zurückgescheucht oder bedroht mit der Untersuchung wegen Meineid. Und dieser Fall ereignete sich sechzig Jahre früher!

Calas entgegen stand der allgemeine Glaube, daß er seinen Sohn ermordet. Dieser Glaube, abgesehen vom Fanatismus, wurde allerdings durch die seltsamen Umstände von Antoine's Tode unterstützt. War es wahrscheinlich, daß Jemand, der nicht durchaus wahnsinnig war, wenn er den Entschluß gefaßt, sich ums Leben zu bringen, ihn in dieser Art ausführen würde? Statt sich in den Wald, auf den Boden des Hauses, in sein einsames Zimmer zu schleichen, statt die Nacht oder eine Zeit zu wählen, wo die Aufmerksamkeit der andern Bewohner sonst beschäftigt ist, ersieht er sich den ungewöhnlichsten Ort und die ungeeignetste Stunde. Abgesehen davon, daß der Hängeapparat über den zwei Flügeln einer Thür allerdings ein mislicher war und die Ausführung leicht verunglücken konnte, wenn der eine Flügel sich bewegte, oder er im Todeskrampf mit dem Beine ihn an sich zog, so war die Stelle selbst, der allgemeine Durchgang Aller, die ins obere Geschoß oder von dort hinauswollten, recht geeignet, eine Entdeckung und Störung herbeizuführen. Und weshalb gerade den Abend, wo ein Gast der Familie, ein Freund, oben sitzt, wo so leicht Jemand vom Tisch aufstehen und ihm nachgehen kann, wo die Magd in der Küche beschäftigt ist, wo das leiseste Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregen kann? War es ihm Ernst mit der That, so hätte er nach allen vernünftigen Gründen eine andere Gelegenheit sich suchen müssen. Besondere Motive, warum er gerade diese gewählt, konnten die Angeklagten nicht nachweisen. Mochten sie es vielleicht auch nicht? War vielleicht ein Wortwechsel vorgefallen, der Antoine plötzlich verstimmt hatte, eine empfindliche Kränkung, welche sie, der Reputation der Familie wegen, nicht vor Gericht wiederholen wollten? Nach unsern Vorstellungen ist das allerdings seltsam, daß der Sohn der Familie, ein Jurist, ein angehender Advocat, ausgeschickt wird, um Käse zum Abendbrot einzukaufen. Indessen heißt es, daß Antoine diese Einkaufsgeschäfte immer für das Hauswesen besorgte.

Wenn Antoine's Geist völlig gestört war, wenn er an Anfällen von Wahnsinn litt, so war Alles dadurch erklärt, nur ein Verrückter würde sich auch bis aufs Hemde unter diesen Umständen ausgezogen und so zur That vorbereitet haben. Aber diesen Nachweis konnten die Angeklagten nicht führen. Er war nur verdrießlich, tiefsinnig. Von einem Tiefsinnigen kann man glauben, daß er sich in raschem Entschluß das Leben nehmen wird, aber schwerlich auf diese seltsame, barocke Weise, von der er sich sagen mußte, daß sie auf eine oder die andere Weise seiner Familie, außer dem Schmerz, zu mannichfachem Verdruß gereichen würde. Und er murrte nur mit seinem Schicksal, nicht mit seiner Familie.

Diese Unwahrscheinlichkeit, daß auf die Art ein Selbstmord verübt worden, hätte freilich vor keinem andern Richter als Beweis eines Mordes, und eines Mordes von Seiten einer rechtlichen Familie an ihrem geliebten Sohn verübt, gegolten. Aber Volk und Richter glaubten und zahllose Zeugen bekräftigten die Vermuthung. Es waren Zeugen über Thatsachen, die wir oben in den Gerüchten erwähnten. Die Zeugen glaubten und versicherten im besten Glauben, auch was sie nicht gesehen und gehört hatten, wie im Proceß Fualdes.

Calas und seine Familie war auf die unglückliche Position gedrängt, den Beweis seiner Unschuld führen zu müssen. Hätte er Das beweisen können, was wir in der Geschichtserzählung voranschickten, so wäre damit seine Unschuld auch vor diesen Richtern dargethan gewesen; denn wenn er den ganzen Abend mit den Seinen und dem Gaste bei Tische gesessen, so konnte er nicht unten im Flur seinen Sohn erdrosseln. Daß er die That aber durch Andere während dessen vollführen lassen, dafür fehlte jede Anzeige und Anschuldigung. Aber Alle, die es bezeugen konnten, waren seine Familie, seine Hausgenossen, sein Gast, Alle mitverwickelt in die Sache, Alle mitverhaftet, also unglaubwürdig im Sinne des Gesetzes.

Er sollte eine Negative beweisen! Und auch diesen schwierigen Beweis hätte er vor andern Richtern zur Genüge geführt. Er berief sich auf seine anerkannte Rechtlichkeit, sein tadelloses Leben, seine und seiner Gattin innige Liebe und Zärtlichkeit für ihre Kinder. Wenn er diesen Sohn umbringen wollen um deshalb, weil er zur katholischen Kirche übertreten wollen, weshalb hatte er nicht schon den andern, Louis, umgebracht, der wirklich katholisch geworden? Wie konnte er ihm eine anständige Ausstattung zu einem besondern Geschäft schenken und ihn überdies noch durch ein Jahrgehalt unterstützen? Er hätte, wenn er so fanatisch gesinnt war, die Hand mit Abscheu von ihm abziehen müssen. Konnte er so unnatürlichen Groll gegen die Katholiken hegen und eine eifrig katholische Magd im Hause dulden? Konnte diese endlich eine solche Mordthat, und um dieses Grundes willen zugeben? Und endlich, wie sollte er, ein fast siebenzigjähriger, altersschwacher Greis, eine solche Gewaltthat an einem kraftvollen Jünglinge verüben?

Umsonst! – Das Endurtheil des Parlaments von Toulouse, mit acht Stimmen gegen fünf, sprach die Todesstrafe durch das Rad nach vorangegangener Folter gegen den unglücklichen Greis aus. Mit einer merkwürdigen Inconsequenz, da nach der Anklage Alle gleich betheiligt schienen, wurden die übrigen Angeschuldigten freigesprochen, mit Ausnahme seines Sohnes Pierre, der auf Lebenszeit außer Landes verwiesen ward.

Der Abschied des Jean Calas von seiner Familie ist durch die ganze Welt durch ein Bild bekannt, das früher in keinem Hause fehlen durfte. Zwei rechtliche Dominicaner, Bourges und Caldagues, begleiteten ihn auf seinem letzten Gange. Sie erklärten, daß sie ihn nicht allein für unschuldig an dem Verbrechen hielten, sondern auch für ein seltenes Beispiel von christlicher Geduld, Güte, Sanftmuth und Geistesstärke. In seinen letzten Gebeten flehte er den Allmächtigen an, seinen Feinden ihre Irrthümer zu vergeben. Die beiden Mönche wünschten sich, daß auch ihre letzten Stunden ähnlich werden möchten der seinen.

Unter den Qualen der Folter benahm er sich mit einer seltenen Festigkeit und betheuerte seine und der Seinigen Unschuld. Die Hinrichtung erfolgte am 9. März 1762. Auch hier noch mußte der unglückliche Märtyrer vom Fanatismus seiner Feinde leiden. Noch auf dem Schaffot, in den letzten Todeszückungen, rief ihm der grausame Capitoul David zu: »Elender, bekenne dein Verbrechen! Sieh die Flammenbrände, die deinen Körper zu Asche verbrennen werden.«


Die Familie des Ermordeten wanderte aus Frankreich aus und nach Genf. Ihr Schicksal nahm die Theilnahme aller Edlen und Freigesinnten in Anspruch. Voltaire, der sich zu Ferney aufhielt, lernte sie kennen und unternahm es, der Vertheidiger der Ehre des unschuldig Hingerichteten und der überlebenden Glieder der Familie zu werden. Was seine Feder vermocht, ist weltkundig. Gegen den Fanatismus kämpfend, machte er Calas' Sache zur Sache aller Nationen. Von allen Seiten ward er unterstützt, belobt, aufgemuntert; die einflußreichsten Männer und Frauen wurden durch den siegenden Strom ferner Beredtsamkeit gewonnen. Er ebnete Calas' Witwe und ihren Kindern den Weg zum Throne. Sie warfen sich dem Monarchen zu Füßen und die Revision des Protestes ward angeordnet. Funfzig Richter prüften die Verhandlungen, das Urtheil des Parlaments von Toulouse ward umgestoßen, und Calas und seine ganze Familie für unschuldig erklärt. Der Generalprocurator von Languedoc ward angewiesen, den Capitoul David gerichtlich zu belangen.

Von Seiten des Königs, des Hofes und des Publicums geschah was möglich war, um die Lage der unglücklichen Familie zu erleichtern. Gaben strömten von allen Seiten zu, die auch dem damals unschuldig mit angeklagten Lavaisse für seine ausgestandene Angst und Unbill zu Gute kamen. Calas' Ehre ging strahlend aus seinem Grabe hervor, und der kleine bescheidene Kramer von Toulouse erkaufte mit seinem schmerzenvollen Tode einen Namen in der Weltgeschichte.

Durch Voltaire's Vermittelung! Auch dieser erntete reichen Lohn durch die Theilnahme und Bewunderung, die ihm dafür aus allen Theilen Europas wurde. Kaiserin Katharina von Rußland schrieb ihm folgenden Brief:

»Mein Herr! Der Glanz des Sterns im Norden ist nur eine Aurora borealis; aber der Privatmann, der zum Advocaten wird für die Rechte der Natur und zum Vertheidiger der unterdrückten Unschuld, macht seinen Namen unsterblich. Sie haben die großen Feinde der wahren Religion und Wissenschaft – den Fanatismus, die Dummheit und die Chicane angegriffen; möge Ihr Sieg ein vollkommener werden! Sie wünschen eine kleine Beisteuer für die Familie. Es würde mir lieber sein, wenn die kleine Papiernote, die ich beilege, ohne Namen bei Ihnen einliefe; wenn Sie aber der Meinung sind, daß mein Name, so unharmonisch er klingt, für die Sache selbst von Nutzen sei, so überlasse ich Ihnen denselben ganz zu Ihrem Gebrauch.

Katharina.«


Wenn von religiösen Verfolgungen und Justizmorden in Frankreich die Rede ist, so wird gewöhnlich der Name Sirven mit dem Namen Jean Calas in einem Athem genannt. Die Schicksale der Familie Sirven sind freilich kaum minder traurig als die der Calas, und stehen, der Zeit, dem Orte und dem endlichen Ausgang nach, in naher Verwandtschaft zu jenem Criminalproceß, ohne daß hier eigentlich ein solcher selbst vorliegt.

Auf einem kleinen Gütchen bei Castres in Südfrankreich lebte die Familie Sirven. Sie bestand aus dem Familienvater Sirven selbst, seiner Frau und drei Töchtern, von denen die eine verheirathet und schwanger war. Ihr Mann war durch seine Geschäfte in einer entfernten Provinz gefesselt. Die Familie bewirtschaftete und bebaute selbst ihr Gut.

Die Familie war protestantischer Religion. Aber man hatte dennoch die jüngste von den Töchtern aus dem väterlichen Hause gelockt und sie mit Gewalt in ein Kloster gesperrt, wo man ihr sagte, sie müsse sich durchaus zum katholischen Glauben bekennen, was die einzige wahre Religion sei.

Aber das arme Kind hing mit mehr Treue, als sie erwartet hatten, an dem Glauben, in welchem sie auferzogen war. Ihre Lehrer sagten ihr umsonst, daß es der gerade Weg in die Hölle sei. Um nun die unsterbliche Seele zu retten, hielten sie es fürs beste, ihren Leib zu kasteien. Sie ward heftig gepeitscht und gegeißelt und in eine einsame Zelle gesperrt.

Bei dieser, wie sie es nannten, heilsamen Disciplin verharrten sie einige Wochen, bis das arme Geschöpf ihre Sinne verlor und sich eines Tages kopfüber in einen Brunnen stürzte.

Von Seiten der Geistlichen ward das Gerücht allgemein verbreitet und von den bigotten Katholiken der Umgegend geglaubt, die eigene Familie hätte das arme Mädchen umgebracht, da es ja eine bekannte Praxis der Protestanten sei, diejenigen ihrer Mitglieder umzubringen, die man einer Hinneigung zum katholischen Glauben für verdächtig halte.

Das Volk war im Zustande der Aufregung. Sirven wagte sich nirgend zu zeigen. Von den Vorfällen in Toulouse war auch nach Castres Nachricht gedrungen. Schon zwei Mal hatte der Pöbel Miene gemacht, sein Haus zu stürmen und drohte wiederzukommen.

Sirven fühlte keine Lust zum Märtyrthum. Er fürchtete von dem rasenden Pöbel in Stücke gerissen zu werden, oder daß man ihn, wie Jean Calas, vor nicht weisere Gerichte schleppe. Er nahm einen günstigen Augenblick wahr, wo das Volk, ermüdet von einem erfolglosen Anlauf, sich zur Ruhe begeben und zerstreut hatte, aber – um wiederzukommen. Bei einbrechender Nacht, im strengen Winter, zu Fuß, während der tiefe Schnee auf der Erde lag, entfloh die ganze Familie aus ihrem Besitzthum und richtete ihre Schritte nach der Schweiz, ob sie gleich kaum wußte, wohin sie sich wenden könne.

Während dieser furchtbaren Wanderung ward Sirven's schwangere Tochter von einem todten Kinde entbunden. Sichtlich war das arme Geschöpf von den Ueberanstrengungen und der Furcht, die den Leib der Mutter durchschütterte, umgebracht. Noch mehr des Grausenhaften. Das arme junge Weib ward von den gesteigerten Schrecken wirren Sinnes. Sie ließ sich nicht überreden, daß ihr Kind gestorben sei. Sie trüg das kleine kalte todte Geschöpf in ihren Armen weiter.

Der Pöbel und die Mönche in Castres geriethen in eine rasende Wuth, als sie am nächstes Morgen die Entdeckung machten, daß ihr Opfer ihnen entschlüpft war. Einer machte dem Andern Vorwürfe, daß er in der Nacht nicht sorgsamer Wache gehalten. Ihre Wuth aber foderte ein Opfer. Man stopfte Bilder aus von der ganzen Sirven'schen Familie, errichtete einen Scheiterhaufen und verbrannte sie. Ein ähnliches Loos hatte wahrscheinlich die Unglücklichen erwartet, wenn sie nicht die Flucht ergriffen.

Die Gerichte waren auch hier nicht minder bereitwillige Diener des Pöbelwahnes als in Toulouse. Ein Proceß ward gegen die Familie Sirven eröffnet. Man bemächtigte sich ihrer Habseligkeiten, confiscirte ihr Gut, und das Gedächtniß der harmlosen, fleißigen, schwer gekränkten Familie ward noch mit Schmach und den abscheulichsten Vorwürfen belastet.

Die Flüchtlinge hatten noch mancherlei Qualen auszustehen. Sie reisten nur bei Nacht und verbargen sich bei Tage; überall, wähnten sie, müsse die bigotte Wuth im Hintergründe lauern und auf sie losbrechen. Doch entkamen sie glücklich ihren Tigern, athmeten aber zuerst frei auf, als sie die Grenzen der Schweiz erreicht hatten.

Voltaire war noch im Vertheidigungseifer für die bedrängte Unschuld gegen die fanatische Verfolgungssucht begriffen, als die Sirvens nach der Schweiz kamen. Auch dieser Familie nahm er sich mit aller Kraft an. Man erwiderte auf seine Vorstellungen: die Sache solle noch ein Mal vorgenommen, und wo möglich sollten sie begnadigt werden. Voltaire erglühte vor Unwillen. Eine bescheidene, ehrbare, harmlose Familie, um eines Verbrechens angeklagt, das nur der hirnlose Pöbelwahn aussinnen konnte, darum flüchtig, des Ihrigen beraubt, Bettler, und zwei ihrer Mitglieder in Folge der Härte des Schicksals ermordet und – man versprach ihnen Begnadigung!

Voltaire ruhte nicht eher, als bis diese Antwort zurückgenommen wurde und der Familie Sirven dasselbe Recht, wie der, freilich noch unglücklichern, Familie Calas widerfuhr.


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