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Die arme Spitzenklöpplerin.

An einem prächtigen Sommermorgen wanderten, wie gewöhnlich unter den alten, schattigen Pappeln und Platanen des Marienbader Curplatzes, zahlreiche Badegäste, mannigfaltig an Stand, Alter und Aussehen. Alle waren theils von Nah, theils von weiter Ferne herbeigeeilt, um ihre Zuflucht zu den dortigen Heilquellen zu nehmen, von denen sie Linderung oder Befreiung ihrer Leiden hofften. Die ausgezeichnete österreichische Militärmusik stimmte das Walhallalied an, darauf folgte ein Siegesmarsch, der alle Zuhörer mit Begeisterung erfüllte und in fröhliche Stimmung versetzte. In den Lüften verbreitete sich der süße Wohlgeruch von Rosen, Lilien und der kleinen Reseda nebst andern Blüthen, welche in Sträuße gebunden von den Blumenverkäuferinnen mit einladenden Worten feil geboten wurden.

Unter den vielen Curgästen wanderte auch eine junge, schöne Witwe die Allee auf und nieder. Sie war in reiche Seidenstoffe gekleidet, und ihr zartes Antlitz zeigte keine Spuren des Verblühens; dennoch lag in dem schönen Auge eine tiefe Schwermuth. Alles, was die andern Gäste so fröhlich stimmte, Musik, Sonnenschein und Blüthenduft, schien keine Macht über sie zu üben; mechanisch, theilnahmslos wanderte sie dahin, füllte den Becher aus der Heilquelle und leerte ihn; aber ihre traurigen Mienen schienen zu sagen: »Für meine Leiden gibt es keine Heilung!« –

Jetzt näherte sich eine blasse, kleine Spitzenklöpplerin derselben mit der schüchternen Bitte, ihre mühevolle Handarbeit zu beachten und ihr einen Erlös zu geben. Aber die Dame war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um die flehenden Blicke zu beachten, und wandte sich unbarmherzig zur Seite. Die bescheidene Kleine wagte keine zweite Bitte mehr und begab sich stillschweigend zu einer hölzernen Bank, wo sie ihre Waare sorgfältig ordnete.

Nach einer Weile kam die Witwe in der Absicht, ihren Trinkbecher mit dem heilsamen Wasser füllen zu lassen, wieder an dem Mädchen vorüber. Dasselbe blickte sie mit ihren müden, gerötheten Augen so flehentlich an, daß sich im Gesichte der reichen Witwe ein Gefühl des Mitleids zeigte; aber leider folgte sie nicht diesem Winke von Oben, sondern setzte ihren Weg fort, indem sie die Blicke der Flehenden absichtlich mied.

Diese kleine Scene hatten zwei Damen bemerkt, wovon die Eine zu ihrer Begleiterin nun sprach:

»Wie beklagenswerth ist doch diese reiche Frau seit dem Tode ihres Gatten, der vor zwei Jahren plötzlich von ihrer Seite gerissen wurde. Von diesem Augenblicke an verlor das Leben für sie allen Reiz; die Musik scheint für sie ohne Klang, die Blumen ohne Duft zu sein. Alles bietet ihr nur eine traurige Mahnung an das entschwundene Glück. Beim Anblicke des Versammlungssaales, wo sie früher mit ihrem Gatten so frohe Stunden bei kleinen Bällen und Concerten zubrachte, wird sie stets von einer peinlichen Aufregung ergriffen.

Ja, sie, die einst die Mutter der Armen war, welche jeder Schmerz der Mitmenschen tief bewegte, ist nun vom eignen Schmerze so ganz und gar beherrscht, daß sie keine Freude am Wohlthun mehr findet, worin für sie doch eine heilsame Quelle des Trostes läge, heilsamer, als der Mineralquell; denn ihr Leiden kommt aus der Seele.« –

Die Dame hatte eben ihre Betrachtungen vollendet, als die Witwe wieder an der Spitzenklöpplerin vorüberging. Abermals begegneten die mißvergnügten Augen jenen traurigen, aber friedlichen der armen Spitzenklöpplerin und abermals vernahm die Dame in ihrem Innern die zur Barmherzigkeit mahnende Stimme.

Diesesmal gehorchte sie derselben und näherte sich freundlich der jugendlichen Bedrängten. Aufmerksam beschaute sie die geklöppelten Spitzen und kaufte den ganzen Vorrath unter freundlichen Worten. Bereits war sie im Begriffe, ihren gewohnten Gang durch die prächtigen Alleen fortzusetzen, als sie in der Hand des dürftig gekleideten Mädchens ein Stücklein hartes, außergewöhnlich schwarzes Brod erblickte.

Theilnehmend frug sie:

»Besteht darin Dein ganzes Mittagsmahl, armes Mädchen?«

Dieses entgegnete mit ungekünstelter Zufriedenheit:

»Freilich, muß ich damit bis zum Abend ausreichen; aber es giebt Tage, wo es mir nicht so gut wie heute geht.« Dann fügte sie mit einem leisen Seufzer hinzu: »Einstens, als ich noch ein Kind war, da kannte man in unserem Hause nichts von Hunger und Noth; da loderte stets zur Winterszeit ein lustiges Feuer im Ofen und es verging kein Weihnachtsfest, wo mir nicht von den guten Eltern ein buntgeschmückter Christbaum angezündet ward. Aber seit dem Tode des Vaters hörte das Alles auf; da kehrte bei uns die Noth ein und die Mutter bezog mit dem alten Großvater und mir zwei Dachstübchen. Bald ward sie von einer schweren Krankheit heimgesucht, an der sie noch darniederliegt, und der zurückgelegte Nothpfennig mußte für den Arzt und die Apotheke verwendet werden. Zum Glück kann ich doch meine Mutter mit Pflege und Handarbeit unterstützen, obwohl leider nicht so viel, als ich gern möchte; denn mit Spitzenklöppeln verdient man sich ohnedem nur sehr wenig und ich habe nebenbei alle häuslichen Geschäfte zu besorgen. O wenn nur meine Augen aushielten! aber ich fürchte, nicht mehr lange in der Nacht arbeiten zu können. Als Kind war ich auf dem linken Auge ein paar Jahre hindurch fast blind und nun fängt es wieder an mich heftig zu schmerzen.« –

Diese einfache Erzählung machte sichtbaren Eindruck auf die reiche Witwe. Es war ein dem ihren verwandtes Unglück, und doch wieder, wie verschieden in Reichthum und Armuth. Freundlich ergriff sie die Hand des Mädchens und sagte: »Willst Du mich zu Deiner Mutter führen?«

Mit freudepochendem Herzen geleitete nun Johanna (so hieß die kleine Spitzenklöpplerin) die unbekannte Dame auf einen schmalen Wiesenpfad, der an ein ärmliches, aber mit einem kleinen Blumengarten umgebenes Häuschen führte. Sie stiegen eine leiterähnliche Treppe hinan und gelangten in eine Dachstube, wo die Kranke ihre abgezehrten Arme der eintretenden Tochter entgegenstreckte und ausrief:

»Mein Kind, mein gutes Kind! warum bliebst Du heute so lange aus?«

»Verzeih, Mutter, daß ich Dich warten ließ; aber Anfangs verkaufte ich lange nichts; dann hat jedoch Gott mein Tagewerk ungewöhnlich reich gesegnet«.

Mit diesen Worten zeigte ihr Johanna die glänzenden Guldenstücke und wies zugleich auf die Dame, indem sie beifügte:

»Sieh, diese gütige Frau hat mir alle vorräthigen Spitzen abgenommen.«

Die Leidende hatte bisher die Begleiterin ihrer Tochter nicht bemerkt und sagte nun:

»Gott vergelte es Ihnen hundertfältig!«

Die Dame setzte sich nun neben dem spärlichen Strohlager nieder.

Während sie sich nach den Bedürfnissen der armen Familie und nach dem alten, blödsinnigen Großvater, der in der Nebenkammer lag, erkundigte, ward die Kranke wieder von einem heftigen Schmerzanfalle ergriffen. Indessen die fromme Dulderin vor Schmerzen stöhnte, blickte sie doch vertrauungsvoll zum Himmel.

Nun legte die aufmerksame Tochter ein kleines Kruzifix in die gefalteten Hände ihrer Mutter. Diese küßte andächtig die Merkmale der fünf Wunden des Heilandes, indem sie mit matter Stimme sprach:

»Du hast für mich so viel gelitten und ich will für Dich so gar nichts leiden!«

Bei diesen frommen Worten regte sich plötzlich in dem Herzen der reichen Witwe eine tiefe Beschämung und sie sprach zu sich selbst: »Ach, wie trage ich dagegen das Kreuz, welches mir mein Heiland aufgelegt hat und das ich ihm freudig nachtragen sollte! Seit dem Tode meines geliebten Gatten versäumte ich sogar, ihm in den Armen und Leidenden, welche uns doch stets gleichsam ein Empfehlungsschreiben von Gott bringen, zu dienen!« –

Von Barmherzigkeit beseelt, entfernte sich nun leise die Dame; aber ihr Gang galt der Abhilfe jener Noth, die sie so eben gesehen hatte. Nach wenig Stunden wurden in die engen Dachstübchen zwei gute Betten und zweckmäßige Lebensmittel getragen. O, wie behaglich fühlte sich die Kranke auf dem neuen, weichen Lager! und sie empfand sogar ihre Schmerzen weniger.

Früh am andern Tage kam die reiche Dame wieder die schmale Stiege herauf, erkundigte sich nach dem Befinden der Kranken, brachte der augenleidenden Tochter ungebleichte Baumwolle, damit sie hievon der Mutter eine warme Bettjake stricken könne, und versprach, so lange für zweckmäßige Arbeit sorgen zu wollen, als ihre Augen Schonung bedürfen würden. Zugleich legte sie eine kleine Geldsumme in die Hände der verschämten Armen, wodurch der Noth gesteuert wurde; denn sie hatte vom dortigen Seelsorger, bei welchem sie Erkundigungen einzog, vernommen, wie sehr diese Menschen ihres Erbarmens würdig waren. –

Der letzte Tag vor der Abreise dieser reichen Witwe war angebrochen. Der Himmel war grau, die Luft naßkalt, ein rauher Wind schüttelte von den hohen Zweigen die unreifen Früchte zur Erde herab; die Blumen hatten vom heftigen Hagelschauer des Gewitters gelitten und die Musik ertönte in einer melancholischen Weise.

Zum letzten Male wandelte die reiche Witwe unter den Bäumen des Curplatzes. Aber wie gänzlich verändert erschien heute ihr Aussehen. Ihre Wangen waren sanft geröthet; ihr schönes, ehedem so düsteres Auge blickte klar, heiter und ruhig um sich.

Mit Freuden lauschte sie der Musik, mit Freuden betrachtete sie die Blumen, aber mit noch größerer Freude empfing sie die dankbare Spitzenklöpplerin, welche ihr aus herzlicher Erkenntlichkeit einen schön gewundenen Epheukranz überreichte.

Woher kam diese günstige Veränderung? – Die reiche Witwe hatte im Marienbade noch ein größeres Gut als die Gesundheit des Leibes, sie hatte die innerliche Genesung ihrer Seele wieder erlangt und zwar in der Heilquelle, die da heißt: »Barmherzigkeit«.


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