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Die Tür von Halles Arbeitszimmer sprang auf. Des Oberinspektors hochroter Kopf wurde sichtbar.
»Herr von Gorny, bitte!« rief er kurz.
Der Angeredete erhob sich. Sein Gesicht war blaß, und um die Augen lagen tiefe, dunkle Schatten. Wortlos trat er in das Zimmer Halles ein und schloß hinter sich behutsam die Tür.
Im Nebengemach blieben jetzt Nuber und Muratow allein. Es war noch frühmorgens, aber im Kriminalamt hatte sich schon recht viel ereignet. Als erster mußte Nuber Bericht erstatten, dann war Muratow an die Reihe gekommen. Er hatte seinem Vorgesetzten genau die Vorfälle der vergangenen Nacht geschildert, insbesondere auch das niederträchtige Benehmen von Gornys. Nur seine Mutmaßungen über Nuber hatte er verschwiegen. Er war in diesem Punkte seiner Sache durchaus nicht sicher. Auch war das, was er hätte vorbringen können, kein Beweis.
»Was ist denn heute in den Alten gefahren?« erkundigte sich Nuber harmlos. »Er ist doch sonst immer gegen diesen Engländer die Freundlichkeit selbst. Haben etwa Sie ihm einen Floh ins Ohr gesetzt?«
Muratow brummte etwas Unverständliches. Dann besann er sich aber und erzählte Nuber in kurzen Worten von seinen Erlebnissen. Auch diesmal verschwieg er natürlich seinen häßlichen Verdacht.
»Ich habe Halle darauf aufmerksam gemacht«, schloß er seinen Bericht, »daß von Gornys Worte mir bestimmt das Leben gekostet hätten, wenn nicht unbegreiflicherweise der Große Unbarmherzige eingegriffen hätte. Halle wurde ganz wild. Ich glaube, von Gorny wird es jetzt nicht zum Besten gehen!«
Nuber lächelte nachsichtig.
»Das glaube ich nicht. Sie unterschätzen von Gornys Gerissenheit und Sie überschätzen Halles Klugheit. Von Gorny wird dem Alten weismachen, daß er nur zum Schein so gehandelt habe, daß in Wirklichkeit dies die einzige Möglichkeit war, Sie vor dem Tode zu retten. Und Halle wird das selbstverständlich gläubig in sich aufnehmen. Verlassen Sie sich darauf!«
»Das wäre doch ...« knurrte Muratow. Dann erzählte er hastig von der Verhaftung Wang Ho's. Nuber hörte ihm aufmerksam zu und unterbrach ihn mit keinem Worte.
»Eine Nacht der Ereignisse«, meinte er sinnend, als Muratow schwieg. »Ich habe ebenfalls die Verhaftung eines Unbarmherzigen vorgenommen.«
»Sie auch?« fragte Muratow ungläubig. »Wann?«
»Heute nacht oder vielmehr in den frühen Morgenstunden. Lu Isheim, die Frau des Hehlers der Unbarmherzigen war unter Vergiftungserscheinungen erkrankt. Es war ein sehr einfacher Fall. James, ein Diener des Hauses, der mir übrigens den Hehler Isheim seinerzeit ans Messer geliefert hatte, brachte gestern abend seiner Herrin eine Limonade. Lu trank aber nur etwa ein Drittel des Glases aus. Ihr wurde daraufhin sehr schlecht, und sie ließ sofort einen Arzt holen. Dieser Arzt nun hat gesehen, wie James die vergiftete Limonade beiseitezuschaffen versuchte. Sie enthielt ein starkes orientalisches Gift, dessen Zusammensetzung bis jetzt noch nicht völlig geklärt werden konnte. Der Arzt rief mich sofort an, und ich nahm mir den Diener vor, der nach kurzem Leugnen gestand. Er hatte, was ich ihm auch glaube, von den Unbarmherzigen die Weisung erhalten, Lu zu ermorden.«
»Das ist ja gräßlich!« rief Muratow schaudernd. »Der arme Isheim! Erst das Unglück seiner Verhaftung ...« »Unglück?« unterbrach ihn Nuber rasch. »Wenn ein Mensch für seine Verbrechen bestraft wird, so ist das kein Unglück, sondern gerechte Vergeltung!«
»Ich glaube aber nicht an Isheims Schuld! Er hat bis jetzt nichts gestanden!«
»Aber erlauben Sie mal! Sind wir denn in diesem Fall überhaupt auf ein Geständnis angewiesen? Sie vergessen, daß wir in seiner Wohnung Diebesgut gefunden haben. Es ist bereits gelungen, die Herkunft jedes der bei ihm versteckten Gegenstände nachzuweisen. Jedes Stück erwies sich als gestohlen.«
»Und dennoch! Ich kann es nicht glauben. Solange er nicht gestanden hat, zweifle ich an seiner Schuld.«
Nuber zuckte die Achseln. Er war aufgestanden und ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab. Muratow überlief es plötzlich kalt. Er sah, daß die linke Hand Nubers in einem Handschuh aus gelbem Leder steckte.
»Warum nehmen Sie denn den Handschuh nicht ab?« fragte er geradeheraus.
Nuber kniff die Augen zusammen und blieb stehen.
»Hm ...« brummte er nachdenklich. Dann fuhr er lebhaft fort: »Mir ist gestern was Dummes passiert! Irgendein Tölpel warf ein Tintenfaß um. Die Tinte lief mir über die Finger. Ich habe alles versucht, diese wieder sauber zu kriegen – Zitrone, Bimsstein und ähnliches Zeug – es nützt nichts! Die Flecken sind nicht wegzubringen.«
»Ihre Offenheit ist verblüffend!« sagte Muratow langsam.
»Wieso?« fragte Nuber schnell und blickte dem Kollegen fest in die Augen. »Finden Sie etwas Besonderes dabei, wenn man mal Tintenfinger hat?«
»Das nicht!« erwiderte der andere mit immer derselben Langsamkeit. »Aber es ist doch ein merkwürdiges Zusammentreffen von Zufällen! Ich schüttete nämlich gestern auch ein Tintenfaß um. Ausgerechnet dem Großen Unbarmherzigen auf die Finger.«
»Ach so«, lächelte Nuber. »Jetzt verstehe ich. Wissen Sie, das ist die bekannte Duplizität der Ereignisse! Haben Sie schon davon gehört? Wenn Sie zum Beispiel heute in der Morgenzeitung lesen, daß in Hinterpommern ein furchtbares Eisenbahnunglück durch Zusammenprallen zweier D-Züge passiert ist, so können Sie Gift darauf nehmen, daß bereits die Mittagsblätter von einer ganz ähnlichen Katastrophe in Mexiko oder Turkestan berichten.«
»Man kann von Ihnen wirklich was lernen, Nuber«, meinte Muratow trocken. »Sie sind nie um eine Erklärung verlegen. Wo Sie das alles nur her haben?!«
»Ich lese viel«, wehrte Nuber bescheiden ab. »Anfangs war ich viel dümmer. Sie werden es kaum glauben, aber als ich auf die Welt kam, konnte ich nicht einmal das kleine Einmaleins!«
Muratow wußte nicht, sollte er lachen oder sollte er sich ärgern. Er wurde einer Antwort enthoben, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Halle sowie von Gorny betraten das Zimmer. Die Laune Halles war auffallend verändert. Sein Gesicht strahlte förmlich vor Zufriedenheit.
»Also, mein lieber Muratow«, rief er lärmend und klopfte dem Detektiv auf die Schulter, »da waren Sie wieder mal ganz auf dem Holzweg! Wunderbar, wie Sie mir das schilderten! Von Gorny jagt Sie in den Tod! Wirklich, ich wurde selbst einen Augenblick irre, hahaha ... Von Gorny hat natürlich ganz genau gewußt, daß der Große Unbarmherzige eingreifen würde. Alles, was er dort sagte, geschah doch nur zum Schein, um die Brüder zu täuschen! Daß Sie dies nicht gemerkt haben, Muratow ... Na ja, von Gorny ist eben eine Klasse für sich. Es ist nicht so einfach, seine Pläne zu durchschauen!«
»Bestimmt nicht!« rief Muratow wütend. »In Zukunft möge er sich aber einen anderen für seine nächtlichen Abenteuer und schwer zu durchschauenden Pläne suchen ...«
»Ich möchte mir doch diesen Ton verbitten!« sagte von Gorny scharf.
»Lassen Sie doch!« meinte Halle gutmütig. »Es ist ja nur allzu menschlich, wenn Muratow sich ein wenig ärgert. Er dachte, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben, vielleicht in Ihnen einen großen Verbrecher zu entlarven, und nun ist es damit Essig. Übrigens, meine Herren, ist von Gorny dem Großen Unbarmherzigen dicht auf den Fersen! Er hat mir versprochen, den Kerl in ein paar Tagen zu verhaften und zu überführen. Das ist doch fabelhaft! Da können Sie beide was lernen!«
Sogar Nuber schien sich jetzt zu ärgern.
»Ich muß weg!« erklärte er kurz. »Ich will den verhafteten James verhören. Vielleicht bringe ich einige Namen aus ihm heraus.«
»Nein, nein, Nuber!« rief Halle heiter. »Ich habe es mir überlegt. Dieses Verhör muß ganz besonders klug angepackt werden. Ich will es darum lieber selbst vornehmen.«
Nuber betrachtete aufmerksam seine Stiefelspitzen.
»Selbstverständlich«, versetzte er ernst. »Wenn es besonders klug angepackt werden muß ... Natürlich müssen Sie es dann selbst vornehmen!«