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In der weiten Halle des Stettiner Bahnhofs saß auf einer Bank ein kleiner, wohlbeleibter Mann. Seine Kleidung war schäbig, der schwarze Überzieher, der einst bessere Tage gesehen haben mochte, glänzte speckig, und aus den zerrissenen Handschuhen schauten die groben, blaugefrorenen Finger hervor. Vor sich hielt er eine Zeitung ausgebreitet und schien darin emsig zu lesen. Der wachthabende Polizist beobachtete ihn jedoch schon seit mehreren Stunden, und einige fingergroße Löcher in der ausgebreiteten Zeitung ließen ihn vermuten, daß der Mann sich hier mit allem anderen, nur nicht mit Zeitunglesen beschäftigte.
In der Tat, der behäbige Kriminalwachtmeister Gould hätte zu diesem Zwecke sicherlich einen angenehmeren und vor allen Dingen wärmeren Ort aufgesucht. Innerlich verdammte er alle Vorgesetzten und alle Verbrecher, die ihn zwangen, Stunde um Stunde in solch ungemütlicher Umgebung zu verharren. Er gehörte nicht zu den jungen, nach Ruhm und Ehren jagenden Kriminalbeamten, die sich nur wohl fühlten, wenn sie irgendeinem gefährlichen Verbrecher auf den Fersen waren. Nein, er mit seinen achtundvierzig Jahren wünschte sich nichts sehnlicher, als daß die Verbrecher einmal für ein bis zwei Monate ihre Tätigkeit einstellen und sich ihren häuslichen Pflichten widmen wollten, damit auch er dasselbe tun könnte. Zu Hause, im warmen, gemütlichen Zimmer bei Frau und Kindern – das war doch etwas ganz anderes!
Wütend ballte Gould das Zeitungsblatt zusammen. Immer, wenn er an Frau und Kinder dachte, ärgerte er sich blau und grün über die Verbrecher. Was machte diese Frau Schmidt-Lindner, die er heute zu beobachten hatte, nur so lange? Würde heute überhaupt etwas passieren? Natürlich würde etwas passieren! Es war noch kein Tag ergebnislos verlaufen, wenn er hinter dieser Person her war.
Plötzlich weiteten sich die kleinen Äuglein des Kriminalbeamten. Sein verschlafenes, ausdrucksloses Gesicht veränderte sich auffallend. Etwas Hartes und Rücksichtsloses kennzeichnete seine Züge, als er sich jetzt rasch erhob und schnell auf eine kleine Gruppe aufgeregter Menschen zusteuerte.
»Ich bin bestohlen worden!« schrie ein älterer, weißbärtiger Herr. »Mein Brieftasche ist weg! Polizei! Wo bleibt die Polizei?!«
Gould stieß die Neugierigen hastig auseinander.
»Mein Herr!« sagte er ruhig. »Ich bin Beamter der Kriminalabteilung. Sie sind bestohlen worden?« Die Augen des Wachtmeisters streiften prüfend über die Anwesenden hinweg.
»Ja, eben, als ich zahlte – die Brieftasche lag hier – plötzlich – wie ich wieder hinschaue, ist sie weg!« erklärte der Beraubte erregt.
»Wer befand sich denn gerade neben Ihnen?« erkundigte sich Gould.
»Ein fremder Herr und die Dame hier. Die Dame wird es aber nicht gewesen sein. Bestimmt der Herr! Er ist ja auch bereits verschwunden.«
Um die Mundwinkel Goulds zuckte es.
»Wollen Sie es nicht lieber uns überlassen, herauszufinden, wer es war?« Dann wandte er sich an die Dame, die ohne ein Wort zu verlieren, mit lebhaften, klugen Augen dem Streit gefolgt war. »Frau Schmidt-Lindner, ich bedauere es unendlich, daß Sie schon wieder in eine peinliche Diebstahlssache verwickelt sind! ›Verwickelt‹ – nicht wahr – so lautet doch Ihr Lieblingsausdruck?«
Die Dame, eine volle, elegante Dreißigerin, warf dem Beamten einen vernichtenden Blick zu.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, mein Herr«, sagte sie hochmütig, um dann leidenschaftlich fortzufahren: »Ist denn hier niemand, der eine alleinstehende Dame vor den Beleidigungen dieses Menschen schützt?«
Der Beraubte legte sich sogleich ins Mittel.
»Herr Wachtmeister, nichts für ungut, aber Sie irren sich. Die Dame ist vollkommen unschuldig. Dafür bürge ich mit meinem Kopf!«
»Sie haben Ihren Kopf bereits verloren!« meinte Gould trocken. »Bitte, mein Herr, und Sie ebenfalls, Frau Schmidt-Lindner – folgen Sie mir!«
Einige Minuten darauf saßen sie im geschlossenen Wagen und fuhren zur Hauptwache. Der Bestohlene bemühte sich eifrig, dem Beamten klarzumachen, daß als Dieb nur der verschwundene Herr in Frage kommen konnte. Er ließ aber bald davon ab, da er merkte, daß Gould ihm gar nicht zuhörte, sondern vollkommen teilnahmslos vor sich hinstarrte.
Auf der Hauptwache angelangt, wechselte Gould mit einem der Beamten im Flüsterton einige Worte, bedeutete seinen Schützlingen, auf einer Bank Platz zu nehmen, und stellte sich, ohne von ihnen weiter Notiz zu nehmen, mit dem Rücken an den warmen Ofen.
»Es wird noch einen Augenblick dauern, Herr Gould«, sagte der Beamte halblaut, nachdem er sich mit einem Kollegen beraten hatte.
»Kann ruhig dauern!« schmunzelte Gould und turnte freudig neben dem Ofen herum. »Hier ist's ja warm und auch sonst ganz gemütlich!«
»Entschuldigen Sie bitte«, wandte sich der Beraubte an seine Nachbarin, »wie kommt es, daß der Mann Sie kennt? Oder täuscht er sich?«
Die Dame warf ihm einen dankerfüllten Blick zu.
»Sie glauben an mich?« flüsterte sie und wischte mit einem feinen Batisttuch eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Gewiß, gewiß!« beeilte sich der andere zu versichern. »Es war natürlich der Herr, der es plötzlich so eilig hatte. Natürlich war er der Dieb!«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und zwei Herren schritten hastig durch den Raum. Kaum waren sie im Nebenzimmer verschwunden, als der Bestohlene erregt aufsprang und auf Gould zueilte.
»Aber ... Aber«, stotterte er. »Das war doch eben der Dieb. Ich meine – der Herr, der so plötzlich verschwunden war!«
Der Wachtmeister stand immer noch am Ofen und lachte vergnügt in sich hinein.
»Sie kennen die beiden Herren nicht? Habe ich mir ja gleich gedacht! Nun, der eine ist Oberinspektor Halle, der andere – Inspektor Muratow. Dieser war bei dem Diebstahl in allernächster Nähe und wird jetzt jedenfalls Herrn Halle darüber berichten.«
Der Beraubte machte große Augen. Als sein Blick zufällig auf die Nachbarin fiel, merkte er, daß diese mit einer leichten Verwirrung kämpfte.
Inzwischen hatte sich Halle im Nebenzimmer in einen Sessel sinken lassen.
»Also, mein lieber Muratow«, sagte er, »erzählen Sie mal, was Sie beobachtet haben?«
Der Detektiv blickte nachdenklich vor sich hin.
»Ich werde Sie enttäuschen müssen, Herr Halle«, knurrte er. »Zwar habe ich einige wichtige Entdeckungen gemacht, aber zum Besten der Sache muß ich sie einstweilen geheim halten.«
Halle lächelte nachsichtig.
»Ich kenne Ihre Sucht zur Geheimniskrämerei nun schon zur Genüge, Muratow! Aber diesmal gehen Sie hierin entschieden zu weit. Der Fall dieser Diebesbande ist in erster Linie mir und nicht Ihnen übertragen worden, und wenn Sie als mein Untergebener etwas von Belang entdecken, sind Sie verpflichtet, es mir, wenigstens mir zu sagen!«
Muratow schüttelte den Kopf.
»Nein, Herr Halle, ich verrate vorläufig nichts. Niemandem! Auch Ihnen nicht.«
Halle runzelte ärgerlich die Stirn.
»Sie wollen nichts sagen? Gut, dann befehle ich es Ihnen! Als Ihr Vorgesetzter!«
Muratow sprang mit einem Ruck auf, so daß der Stuhl polternd zu Boden fiel. Mit hastigen Schritten durchmaß er einigemal das Zimmer und blieb endlich beim Fenster stehen. Nervös trommelte er mit den Fingern an den Scheiben. Nach einer Weile sagte er dumpf, ohne sich umzuwenden:
»Ich bitte um meine Entlassung!«
Halle fuhr wütend herum.
»Sie sind wohl verrückt geworden?!«
Muratow zuckte die Achseln.
»Ich weiß genau, was ich tue!«
»Das scheint mir durchaus nicht so!« Halle zwang sich zur Ruhe. »Muratow, bedenken Sie doch – Ihre ganze Zukunft steht auf dem Spiele!«
»Ich weiß genau, was ich tue!« wiederholte der andere eigensinnig.
Halle erhob sich langsam. Einen Augenblick schwieg er, wie überlegend. Dann sagte er traurig:
»Ihre Bitte um Entlassung ist bewilligt! Für die Erledigung aller nötigen Formalitäten werde ich selbst sorgen. Sie sind frei und können sofort gehen. Es ... es tut mir leid.«
Muratow verneigte sich steif und verließ das Zimmer.
Der Kriminalwachtmann Gould war über alle Maßen erstaunt, als Halle ihm einige Minuten später mißmutig erklärte: »Lassen Sie diese Frau Schmidt-Lindner wieder gehen. Es liegt nichts gegen sie vor!«
»Aber ...« stammelte Gould verblüfft, »Muratow muß doch gesehen haben ... Er stand doch dicht daneben ...«
»Sie hören wohl schwer!« brüllte Halle plötzlich, krebsrot vor Zorn. »Tun Sie, was ich Ihnen sage, ohne lange herumzufackeln! Basta!«