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Der Fernsprecher klingelte. Einmal, und noch einmal. Und dann immer wieder – lange und unaufhörlich.
Mit einem Satz sprang Inspektor Muratow aus dem Bett. Was mochte das bedeuten? Dieser Anruf mitten in der Nacht? Das konnte doch nur die Polizei sein! Nur dort war seine zweite Rufnummer bekannt. Den anderen Apparat hatte Muratow, wie er sich genau entsinnen konnte, wie immer am Abend vor dem Schlafengehen, abgestellt.
Suchend tastete er nach dem Lichtschalter.
»Was ist?« riß er den Hörer vom Apparat. »Hier Kriminalinspektor Muratow!«
»Kommen Sie sofort nach Pankow, Borkumstraße 3! Mord!« Es war eine tiefe, Muratow unbekannte Stimme, die diese Worte hastig und erregt hervorstieß.
»Wer ist dort?« rief er rasch.
Keine Antwort.
»Wer da?« brüllte er noch einmal.
Wieder keine Antwort. Der Sprecher mußte bereits eingehängt haben.
»Verdammt!« murmelte Muratow wütend. Dann setzte er sich mit dem Amt in Verbindung und bat, die Nummer festzustellen, mit der er soeben gesprochen hatte. Es dauerte lange, bis das Fräulein vom Amt ihm die gewünschte Auskunft geben konnte. Nachdem er sie vernommen, stand er eine Weile unschlüssig da und starrte grübelnd vor sich hin.
»Borkumstraße 3, II. Stock«, murmelte er halblaut und kritzelte die Adresse auf einen Streifen Papier. »Sollte das eine Falle sein?«
Er blätterte im Adreßbuch nach und hatte bald das Gesuchte gefunden. Als er gleich darauf den Kopf hob, waren seine Mienen ernst und sorgenvoll. Er glaubte, nun die Bedeutung des Anrufs erraten zu haben, denn in der Borkumstraße 3, II. Stock, wohnte sein Kollege – Inspektor Olbrig.
»Da stimmt etwas nicht!« Voller Hast fuhr er in seine Kleider, steckte den geladenen Revolver ein und trat auf die Straße. Vor dem Hause hielt ein leerer Wagen. Muratow schwang sich hinein.
»Borkumstraße 3! Fahren Sie, so schnell Sie können!«
Der Fahrer nickte. »Ich weiß!« Dann versuchte er seinem klapperigen Wagen etliche 70 Stundenkilometer zu entlocken.
»Woher wollen Sie das wissen?« schrie Muratow, bemüht, das Rattern des Wagens zu übertönen.
»Sie haben es mir doch selbst am Fernsprecher gesagt, als Sie mich herbestellten.«
Muratow faßte sich an den Kopf.
»Ich hätte Sie ...« er brach ab, zog sein Notizbuch und schrieb sich die Nummer des Wagens auf.
Der Wagen hielt vor einem großen Hause. Die Zahl 3 leuchtete matt über dem Eingangstor. Muratow riß an der Klingel. Als sich nichts rührte, läutete er Sturm.
Endlich bewegte sich das Tor kreischend in seinen Angeln. Ein verstörtes, schlaftrunkenes Männerantlitz wurde sichtbar.
»Sie sind wohl verrückt geworden ...«
»Kriminalpolizei!« schnitt Muratow ab. »öffnen Sie! Sind Sie der Portier?«
Der andere nickte erschrocken. Dann öffnete er das Tor vollends.
»Folgen Sie mir!« befahl Muratow kurz und stürmte die Treppen empor. Atemlos keuchte der Portier hinterher.
Die Tür mit der Aufschrift »O. Olbrig« stand weit offen, aber die Zimmer lagen im Dunkel. Muratow trat ein und knipste das Licht an.
Er erblickte das, was er seit einer halben Stunde ahnte und fürchtete. Am Boden lag in einer großen Blutlache mit verzerrtem Mund und verkrampften Gliedern sein Kollege Olbrig. Muratow preßte die Lippen fest aufeinander. Der Portier stöhnte vor Angst und Grauen.
»Seien Sie doch still!« herrschte ihn der Inspektor an. Ein langanhaltendes Klingeln ließ ihn aufhorchen.
»Öffnen Sie!« ordnete er an. »Wer es auch sei – führen Sie ihn unter irgendeinem Vorwand hierher!«
Der Portier hastete davon. Muratow hatte sich in einen Stuhl sinken lassen, und seine Augen wanderten langsam im Zimmer umher. Auf den ersten Blick hatte er erkannt, daß hier jede Hilfe zu spät kam, und versuchte jetzt, sich beim Betrachten der einzelnen Gegenstände die Vorgänge der letzten Stunden zu vergegenwärtigen. Ein Tisch, für zwei Personen gedeckt, mit den Überresten einer bescheidenen Mahlzeit, rief seine besondere Aufmerksamkeit hervor. Anscheinend hatte der Mörder hier mit seinem Opfer gespeist. Demnach mußte es ein Bekannter oder eine Olbrig sonstwie nahestehende Person sein.
Lautes Stimmengewirr riß ihn aus seinen Sinnen.
»Einen Arzt hat er auch bestellt! Nein, so was ist mir doch noch nicht vorgekommen! ...«
Muratow hob betroffen den Kopf. Die Stimme kannte er doch ... Teufel noch mal! Das war doch ...
Die Tür wurde stürmisch aufgerissen, und der Detektiv sah mehrere Herren eintreten. Allen voran, mit hochrotem Kopf, sein behäbiger Vorgesetzter, Oberinspektor Halle.
»Wie finden Sie das?« rief der Eintretende mit gedämpfter Stimme. »Wenn der Anlaß unseres Erscheinens nicht so ernst wäre, möchte man lachen ... Morgen, Muratow!«
Der junge Inspektor blickte verwirrt um sich. Hinter Halle sah er Inspektor Nuber, neben der Leiche kniete bereits ein älterer Herr, allem Anschein nach ein Arzt. Außerdem waren noch einige Männer eingetreten, die jetzt schweigend mit düsteren Mienen im Raum Umschau hielten.
»Was ist denn los?« erkundigte sich Muratow ratlos.
»Wir sind alle herbestellt worden!« erklärte Halle. »Durchs Telephon! Auto vor dem Haus! Ein Oberinspektor, ein Arzt, zwei Inspektoren und die Mordkommission!«
Muratow kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Halle deutete auf den leblosen Körper Olbrigs: »Tot?«
Der Inspektor nickte stumm.
»Entschuldigen Sie, bitte, Herr Halle«, drängte sich jetzt Nuber vor. »Wir sind hier entschieden zu viel Leute! Einer stört den anderen. Wer soll den Fall übernehmen?«
Inspektor Nuber war mittelgroß, fast klein von Wuchs, hatte ein feines, beinahe frauenhaftes Gesicht und war der einzige unter den Anwesenden, dessen Toilette makellos war. Bei seinem Anblick hätte man eher vermuten können, daß er sich mit Bedacht und Sorgfalt zu einem wichtigen Besuch zurechtgemacht, als daß er gleich allen plötzlich aus dem nächtlichen Schlaf gerissen worden war.
Halle bejahte knurrend.
»Sie haben recht, Nuber. In der Tat ...«
»Ich würde gern dabei bleiben«, unterbrach ihn Muratow. »Da ich als erster hier war ...«
»Nein, nein!« fiel ihm Halle ins Wort. »Sie nicht! Sie haben mit der Diebesbande ohnehin genug zu tun. Inspektor Nuber wird diesen Fall übernehmen.«
»Dann bitte ich die Herren Halle und Muratow, sich gefälligst ins Nebenzimmer zu begeben!« erklärte Nuber mit bedauerndem Achselzucken. »Sie trampeln hier auf meinen Spuren herum ... wie der Elefant im Porzellanladen!« Er machte vor den beiden eine steife Verbeugung und drehte sich kurz auf dem Absatz um.
»Kommen Sie! Mit Nuber ist nicht zu spaßen! Wenn der seinen Berufskoller hat ...« Halle nahm Muratow lächelnd unter den Arm und schleppte den Widerstrebenden ins Nebenzimmer.
»Olbrig war ein Freund von mir«, sagte Muratow. »Ich hätte wirklich gern den Fall übernommen.«
»Ein Freund ...« widersprach Halle lebhaft. »Dann gerade nicht! Dies könnte Sie doch nur ungünstig beeinflussen. Lassen Sie den kleinen Nuber nur machen. Der hat's in sich! Wenn der Mörder überhaupt zu erwischen ist, erwischt er ihn. Ich bin ja mit seinen Methoden nicht einverstanden. Durch ein logische Gedankenkette zum Beispiel läßt sich mehr machen ...«
»Warum ist Olbrig ermordet worden?« unterbrach ihn der junge Detektiv. Er kannte das Lieblingsthema seines Vorgesetzten zur Genüge und war nicht in der Stimmung, sich eine Abhandlung über logische Gedankenketten anzuhören. »Warum, was meinen Sie wohl?«
»Da muß man natürlich die näheren Umstände kennen.«
Muratow schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist gar nicht nötig«, meinte er düster. »Inspektor Olbrig wurde aus Rache von den ›Unbarmherzigen Brüdern‹ getötet. Er ist der dritte, innerhalb eines einzigen Jahres ermordete Inspektor!«
»Vielleicht haben Sie recht«, versetzte Halle stirnrunzelnd. »Wir wollen aber lieber mit unseren Vermutungen warten, bis wir von Nuber Näheres erfahren.« Er griff nach einer Zeitschrift und begann zu lesen. Muratow rauchte schweigend.
Es mochte etwa eine Stunde vergangen sein, als Nuber hastig den Raum betrat. Er ging auf den Waschtisch zu und säuberte seine Hände. Dann erst kam er, mit dem Handtuch fuchtelnd, auf die Herren zu.
»Ohne Zweifel Mord!« meldete er gelassen. »Tatbefund folgender: Große offene Wunde am Hinterkopf, von einem Schlag mit einem stumpfen Gegenstand herrührend. Ofenhaken weist Blutspuren auf. Augenscheinlich wurde Olbrig mit diesem Haken von hinten erschlagen. Ein Kampf hat jedenfalls nicht stattgefunden. Laut ärztlichem Befund war er sofort tot. Olbrig hatte vordem mit seinem Mörder gespeist. Nach den vorgefundenen Zigarrenstummeln zu urteilen, müssen die beiden, wie ich vermute, nach dem Mahl noch zwei bis drei Stunden in gemütlicher Unterhaltung beieinander gesessen haben. Der Mord wurde um etwa zwei Uhr nachts verübt. Das ist die Meinung des Arztes. Demnach hat der Mörder eine halbe Stunde dazu gebraucht, seine Spuren zu verwischen. Dann tat er das, was ich nicht verstehen kann. Er suchte in Olbrigs Notizbuch die Rufnummern verschiedener Kriminalbeamter heraus und berief diese hierher. Ebenso sorgte er dafür, daß ein Arzt zur Stelle war, sowie daß jeder der Gerufenen ein Auto vor seiner Tür fand. Jedenfalls eine seltene Kühnheit! Spuren, die auf den Täter hinweisen, waren nicht zu entdecken. Keiner von den Hausbewohnern hat Lärm oder sonst ein verdächtiges Geräusch gehört. Niemand kann mit einem Fingerzeig dienen.«
»Haben Sie den Portier vernommen?« erkundigte sich Muratow mutlos.
»Nein. In diesem Hause gibt es keinen Portier.«
»Sie irren sich, Kollege! Der Portier hat mir ja das Tor geöffnet.«
»Ich irre mich nicht, Kollege!« sagte Nuber mit einem feinen Lächeln. »Es war nicht der Portier, der Ihnen öffnete. Es war der Mörder!«
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