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Muratow war ein Mensch von raschen Entschlüssen. Es waren noch keine vierundzwanzig Stunden seit seiner plötzlichen Entlassung vergangen, als er im Büro des Fabrikbesitzers Isheim seine Karte mit dem Vermerk »privat und dringend« abgab. Er wurde gleich vorgelassen, und der Fabrikant eilte ihm mit leuchtenden Augen entgegen.
»Mein lieber Freund!« rief er fröhlich. »Was führt dich zu mir?«
Muratow schüttelte die ihm gebotene Rechte Isheims.
»Um gleich zur Sache zu kommen«, begann er in seiner geraden Art. »Vor einigen Jahren versprachst du, mir immer behilflich zu sein, wenn ich einmal in Verlegenheit kommen sollte. Willst du heute dein Wort einlösen?«
»Aber selbstverständlich! Verfüge nach Belieben über mich!«
Muratow nickte.
»Danke! Ich habe mich also in dir nicht getäuscht. Kurz und gut: ich habe gestern meinen Dienst beim Kriminalamt aufgegeben und suche eine neue Stellung.«
»Nichts leichter als das!« rief Isheim heiter. »Ich mache dich zum stellvertretenden Direktor, du kannst auch mein Teilhaber werden ...«
»Unsinn!« unterbrach ihn Muratow und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich suche Arbeit und nicht Almosen! Nein, deine Vorschläge sind unannehmbar. Ich möchte einen Posten – zum Beispiel in der Versandabteilung, als Verlader oder so etwas ähnliches.«
»Aber lieber Freund!« Der Fabrikant schien ehrlich betrübt. »Bei deinen Fähigkeiten ist das ja der reinste Selbstmord!«
»Selbstmord? Pah! Laß das nur meine Sorge sein! Also, wie ist es, hast du einen anständigen Posten für mich?«
Der Fabrikant seufzte.
»Gut. Wie du willst. Du kannst dich morgen in der Versandabteilung melden. Arbeit gibt's genug.«
»Danke. Nun noch eine Bitte! Hast du eine Stellung für ein gebildetes, junges Mädchen?«
»Wie alt?«
»Einundzwanzig Jahre.«
»Kann sie Stenographie und Schreibmaschine?«
»Ich glaube ja.«
»Hm ... Bei mir selbst ist nichts zu machen. Aber – wart' einmal – na, ja – komm in drei Tagen mal vorbei! Ich werde bis dahin vielleicht etwas Passendes finden.«
»Danke!« Muratow erhob sich und schüttelte seinem Freunde bewegt die Hand. »Also, ich bin morgen früh auf dem Posten! Du sollst keinen Grund haben, mit deinem neuen Verlader unzufrieden zu sein.«
Muratow trat auf die Straße. Sein Gesicht zeigte jetzt nichts mehr von der Sorglosigkeit, die er im Gespräch mit Isheim zur Schau getragen hatte. Eine finstere Falte lag zwischen seinen Brauen, und die Augen blickten stumpf ins Leere. Als er eine Viertelstunde später vor der morschen Tür eines baufälligen Hauses die Klingel zog, war in seinem Gesicht noch deutlicher der Ausdruck von Gram und Sorge zu erkennen, der auch nicht schwand, als ihm ein hübsches, junges Mädchen öffnete und ihn mit aufrichtiger Freude begrüßte.
Er erwiderte kurz den Gruß und trat in ein ziemlich großes und kahles Gemach mit schrägen Seitenwänden, das trotz der peinlichen Sauberkeit und einiger geschmackvoller, hier und dort herumstehender Möbelstücke einen unfreundlichen und nüchternen Anblick bot.
»Was ist Ihnen, Herr Inspektor?« fragte das Mädchen, und ihre dunklen Augen unter der schmalen, von kastanienbraunem Haar umrahmten Stirn blitzten ihn munter an.
»Ich bin kein Inspektor mehr!« fuhr Muratow auf. »Sagen Sie ruhig – Herr Verlader zu mir.«
Mit großen Augen starrte ihn das Mädchen an.
»Sie sind nicht mehr im Dienst? Warum?«
»Warum?!« Muratow lachte bitter auf. »Rausgeschmissen haben sie mich! Weggejagt, wie einen Hund, der nicht gehorchen will ...«
»Sie waren wieder einmal eigensinnig, nicht wahr?« meinte sie zögernd.
»Ich war eigensinnig, natürlich!« bestätigte er. »Ich bin immer eigensinnig. Aber wozu darüber lange nachgrübeln? Ich hatte meine Gründe. Es mußte sein. Schlußpunkt!«
Muratow hatte die Hände tief in den weiten Jacketttaschen vergraben, die Schultern hochgezogen und ging mit schweren Schritten auf und ab. Das Mädchen hatte sich aufs Sofa gesetzt und folgte mit ihren Augen gespannt jeder seiner Bewegungen. Plötzlich blieb er neben ihr stehen, setzte sich und faßte nach ihrer Hand.
»Nina, ich will Ihnen heute ein Märchen erzählen!« Die Stimme des Mannes klang jetzt weich und etwas belegt. »Sie wundern sich? Sie hätten mir nie zugetraut, daß ich Märchen erzählen kann?«
»Erzählen Sie!« sagte das Mädchen freundlich.
Muratow sah mit leeren Augen in die Ferne und begann leise, ohne ihre Hand loszulassen:
»Es war einmal ... Alle Märchen fangen so an, nicht wahr? Es war einmal ein kleines, dummes Mädchen von etwa zwanzig Jahren. Sie war arm wie alle kleinen, dummen Mädchen, die in Märchen vorkommen. Und um sie herum lebten lauter Bösewichter. Diese bösen Menschen lehrten das kleine Mädchen, wie man leicht Geld verdienen konnte. Und das kleine Mädchen war so grenzenlos dumm, daß es alles glaubte, was man ihm sagte, und alles tat, was man von ihm verlangte.«
Muratow schwieg einen Augenblick. Umständlich zog er eine Pfeife aus der Tasche, schüttete aus einer kleinen Papiertüte Tabak hinein, den er mit dem Daumen fest stopfte. Dann setzte er die Pfeife in Brand und machte einige tiefe Züge. Mit keinem Blick streifte er Nina, die plötzlich auffallend still geworden war.
»Es ging alles gut – Monate ... nun, sagen wir, ein Jahr lang. Aber eines Tages ... Es war irgendwo, an irgendeinem Schalter irgendeines Bahnhofs. Drei Minuten vor Abgang des Zuges. Alles eilt und hastet. Eine Frau, die Verbündete unseres kleinen, dummen Mädchens, nutzt die Gelegenheit und stiehlt im Gedränge eine Brieftasche. Geräuschlos läßt sie das gestohlene Gut an ihrem langen Kleide zu Boden gleiten. Nun tritt unser Mädchen in Aktion! Sie fährt mit dem einen Fuß aus dem Schuh, greift mit den bloßen Zehen die Brieftasche und bringt es fertig, das Bein derart abzubiegen und den Fuß hochzuheben, daß sie die Brieftasche durch Zusammendrücken der Schenkel festzuhalten vermag. In dieser Lage konnte sie sogar ziemlich rasch und ungezwungen gehen, bis sie in einem Augenblick, als sie sich unbeobachtet glaubte, das gestohlene Gut aus dem Versteck hervorholte. Alles wäre auch dieses Mal, wie schon so oft, gut abgelaufen, aber unter dem umherstehenden Publikum befanden sich zwei Kriminalbeamte, welche die Diebin längst beobachteten. Der eine hatte trotzdem nichts gesehen, der andere aber – alles. Das Ende des Märchens ist schnell erzählt! Das Mädchen wurde verhaftet, ins Gefängnis gesperrt. Als es dann später herausgelassen wurde, fand es trotz eifrigen Bemühens keine Gelegenheit mehr, den einmal eingeschlagenen Weg des Verbrechens zu verlassen. Sie führte ein elendes Leben und endete als lebenslängliche Zuchthäuslerin. So, Nina! Das war mein Märchen! Ist es nicht spannend?«
Nina hatte den Kopf gesenkt. Zwei Tränen glänzten an ihren Wimpern.
»Es ist spannend, Muratow!« sagte sie leise. »Das also war es ... Ich weiß jetzt, warum Sie aus dem Dienst ausschieden!«
»Unsinn!« rief er unwillig. »Das hat mit meinem Märchen nichts zu tun!«
Nina blickte ihn aus traurigen Augen an.
»Sie wollen meinen Dank nicht? Warum, wozu erzählten Sie mir dann aber dieses ... Märchen?«
»Wozu?« Mit einem Sprung war Muratow emporgeschnellt, hastete zweimal durchs Zimmer und blieb schließlich breitspurig, beide Hände in den Hosentaschen, dicht vor ihr stehen. »Wozu? Weil Sie übermorgen oder spätestens in drei Tagen eine Stellung antreten sollen!«
Nina schüttelte wehmütig den Kopf.
»Auch als Verladerin? Oder so etwas ...«
»Nein«, rief Muratow stirnrunzelnd. »Ich weiß noch nicht, was es sein wird, aber natürlich etwas Anständiges ... »Wie sagt man doch gleich – Ihrem Bildungsgrad Entsprechendes.«
»Ich kann diese Stellung nicht annehmen!«
»Warum nicht?!«
»Weil – ach, quälen Sie mich doch nicht ... Ich kann es einfach nicht!«
Muratow stand einen Augenblick grübelnd da. Plötzlich packte er sie bei den Schultern und riß sie hoch.
»Du wirst diese Stellung annehmen, Nina! Verstehst du?!« schrie er auf sie ein. »Ich weiß ganz genau, warum ich das verlange!«
»Ich kann nicht«, sagte sie und klammerte sich an seine Hand.
»So? Du kannst nicht?! Gut! Dann werde ich eine ganz andere Stellung für dich finden! Eine Stellung, die man dich zwingen wird, anzunehmen!«
»Was wollen Sie tun?«
»Ich werde das Märchen von dem dummen Mädchen der Kriminalpolizei erzählen! Sehr einfach.«
»Ah!« Nina war aufgesprungen und starrte ihn mit blitzenden Augen an. »Jetzt verstehe ich erst! Für Ihre Zwecke wollen Sie mich benutzen! Ein Erpresser sind Sie! Ein ganz gewöhnlicher Erpresser!«
Muratow zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Es ist mir ganz gleich, mit welchen Namen Sie meine Handlungsweise zu bezeichnen belieben«, sagte er kalt. »Ich will nur wissen – nehmen Sie die Stellung an? Oder?!«
Die Finger Ninas verkrampften sich in ihrem Kleide.
»Ich nehme die Stellung an ...« murmelte sie tonlos. »Aber bitte, gehn Sie jetzt! Bitte!«
Muratow stand unschlüssig neben ihr. Dann stieß er einen knurrenden Laut hervor, war mit einem Satz bei der Tür und warf sie dröhnend hinter sich ins Schloß.