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19.

Inspektor Leith stand bereitwillig auf.

»Ja? Bitte sehr.« Er sah sich suchend um. »Unter vier Augen?«

Diersch verneigte sich knapp.

»Wenn ich darum bitten darf – ja.«

»Gut.« Leith schritt, gefolgt von Diersch, auf einen Ecktisch zu, an dem, wie überall, Matrosen saßen. Ein paar Worte des Inspektors genügten, und die Matrosen standen auf und setzten sich an andere Tische. »Hier sind wir ungestört, Herr Diersch.« Er blies die verstreute Asche vom Tisch und stützte die Arme darauf. »Was wünschen Sie denn von mir?«

Diersch wollte antworten, doch in diesem Augenblick kamen – auf dem schwankenden Boden um das Gleichgewicht kämpfend – zwei Stewards und der Koch mit großen Tabletts herein, auf denen dampfende Schüsseln standen. Mit einer Verspätung von zwei Stunden wurde das Mittagessen verabreicht. Jeder – ob Passagier oder Matrose – erhielt eine Schüssel und einen Löffel. Das Essen, eine dicke Erbsensuppe, roch etwas verbrannt, schmeckte aber ganz gut.

»Also wollen wir essen«, meinte Leith zufrieden und tauchte den Löffel in die Brühe. »Dabei können wir ja in aller Gemütlichkeit das Nötige besprechen.«

Diersch konnte keinen Bissen hinunterbringen und rührte nur mit seinem Löffel herum.

»Ich habe einen Plan, Inspektor Leith«, begann er stockend. »Es scheint ein guter Plan zu sein. Kurz und gut: ich könnte diesen Dampfer retten, denke ich. Ich meine: erreichen, daß hier wieder geordnete Verhältnisse herrschen.«

»Das wäre ja ausgezeichnet«, brummte Leith und aß mit großem Appetit. »Und ich soll Ihnen dabei helfen?«

»Nein – das heißt: ja – man könnte es auch so betrachten. Sehen Sie, jetzt eben – wie die Dinge nun liegen – haben Sie hier genau so wenig zu bestimmen wie ich oder ein anderer Passagier. Wenn nun aber der Dampfer wieder unter der Leitung Kapitän Gradys steht, so üben auch Sie wieder die – die Funktion eines Inspektors von Scotland Yard aus?«

»Gewiß. Und? – Holla! Halten Sie Ihre Schüssel fest! Wir werden ja schon ganz tüchtig hin und her geworfen! Ja ... Und –?«

»Da wollte ich Sie fragen ... und ich hoffe, Sie werden mir antworten: Haben Sie die Absicht, irgendeinen der Passagiere am Verlassen des Dampfers zu hindern, ihn zu verhaften?«

Leith legte den Löffel nieder und sah auf.

»Aha!« sagte er sinnend. »Sie denken an Frau Meißner?«

Diersch zögerte.

»Ja!« antwortete er endlich aufatmend und sah Leith fest in die Augen.

Der Inspektor nahm seinen Löffel wieder auf und aß eifriger als vorher weiter.

»Eigentlich dürfte ich diese Frage gar nicht beantworten. Aber schließlich ist das schon kein Geheimnis mehr: ja, Herr Diersch, ich muß es tun.«

»Sie werden es nicht tun«, sagte Diersch schnell.

»Ich muß es tun«, wiederholte Leith.

Diersch lehnte sich bleich in seinem Sessel zurück.

»Dann werde ich mich hüten, etwas gegen die jetzigen Beherrscher des Schiffes zu unternehmen.«

»Bedauerlich, aber nicht zu ändern«, versetzte Leith kühl. »Sie vergessen ganz Ihre Suppe.«

»Ach, Suppe!« rief Diersch ungeduldig. Dann beugte er sich vor und sprach etwas ruhiger weiter: »Sehen Sie, ich wende mich jetzt an Sie als Menschen, nicht als Inspektor.«

»Tun Sie das nicht«, unterbrach ihn Leith ruhig. »Ich bin in erster Linie Inspektor. Mensch? Du liebe Güte! – soviel Sie wollen – aber nur dort, wo ich nicht Inspektor zu sein brauche.«

»Eine Frage, Herr Leith: halten Sie die Frau für schuldig?«

»Ihr Paß ist nicht in Ordnung«, wich Leith aus. »Und daher allein schon bin ich gezwungen ...«

»Paß? Ich spreche von dem Verbrechen, dessen man sie beschuldigt. Sie soll ihrem Mann beim Opiumschmuggel geholfen haben! Wer wie Sie Gelegenheit hatte, diese Frau tagelang auf diesem Dampfer zu beobachten, der weiß, daß sie grundlos verdächtigt wird!«

»Scotland Yard irrt selten, Herr Diersch«, bemerkte Leith bedächtig. »Und was meine private Meinung betrifft – nun, die ist hier nicht maßgebend. Ich bin nur ein Arm Scotland Yards. Der Arm hat nicht zu denken, sondern nur zu gehorchen.«

»Herr Inspektor«, fuhr Diersch fort. »Sie kennen die Erika belastenden Momente sicherlich viel besser als ich. Soweit Frau Erika mir ihren Fall in der Eile schildern konnte, ist doch an einer Verurteilung kaum zu zweifeln – es sei denn, ein Zeuge meldet sich, ein bestimmter Zeuge, der aber nicht aussagen will.«

»Wenn der Zeuge Engländer ist, werden wir seine Aussage erzwingen.«

»Er ist Engländer«, sagte Diersch. »Murphy ist es, unser neuer Kapitän! Glauben Sie, daß dieser Mann etwas aussagt, was er nicht will?«

»Das glaube ich nicht. Um so hoffnungsloser liegt Frau Meißners Fall.«

»Obwohl Sie also im Innern von ihrer Unschuld überzeugt sind, wollen Sie sie doch festnehmen und damit dem sicheren Verderben aussetzen? Ich weiß nicht, ob Sie an Gott glauben, aber mit Gott oder Ihrem Gewissen werden Sie sich wegen dieser Tat auseinanderzusetzen haben.«

»Herr Diersch, meine Pflicht.«

»Was heißt hier: Pflicht? Es gibt andere Pflichten, viel höhere – man nennt sie einfach: Menschenpflicht.«

Leith runzelte die Stirn und brannte sich umständlich eine Zigarre an.

»Menschenpflicht?« knurrte er. »Na ja. Aber sagten Sie nicht vorhin, Sie könnten dieses Schiff retten?«

»Gewiß, ich – –«

»Sie würden es aber nicht tun, sofern ich die Frau nachher verhaften will?«

»Nein.«

»Mir scheint der Begriff von Menschenpflicht recht dehnbar zu sein. Lieber Herr Diersch, machen Sie es mit Ihrem Gott aus, wenn alle diese hier elend ersaufen – und das tun wir, wenn hier nicht bald Ordnung wird; ich aber werde es mit meinem Gewissen abmachen, wenn ich pflichtgemäß eine Frau verhafte, nach der Scotland Yard fahndet. Ob mir das leicht fällt oder schwer, ist eine Sache, die nur mich angeht. Dieser Teil der Angelegenheit dürfte für Sie ja auch nicht von Belang sein. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muß versuchen, den dummen Kerlen da ein wenig die Köpfe zurechtzurücken. Vielleicht hilft's.«

Er stand aus und ging wieder ans Klavier.

Auch Diersch war aufgestanden. Er machte eine Bewegung, als wolle er dem Mann nacheilen, doch dann zuckte er mutlos die Achseln und ging langsam zu den übrigen Passagieren zurück. Wie hatte er sich in diesem Mann getäuscht! In dem Augenblick, als er erfuhr, daß der angebliche Professor der Inspektor war, hatte er geglaubt, nun mit Sicherheit auf dessen Beistand rechnen zu dürfen. Er hatte diesen Mann für einen hochanständigen Menschen gehalten, und begriff nicht, daß jener es fertigbrachte, mit soviel Selbstverständlichkeit von einer so empörenden Tat zu sprechen, wie es die Festnahme eines Menschen war, von dessen Unschuld er überzeugt war. Und doch mußte er sich sagen, daß der Mann recht hatte: war denn seine eigene Absicht, alle diese Menschen dem Verderben preiszugeben, nicht genau so empörend? Nein, es war ja gar nicht seine Absicht! Er hatte Leith damit nur gedroht! Nein, nein, es brauchte nicht erst ein englischer Inspektor zu kommen und ihm zu sagen, was seine Pflicht sei.

»Er weigert sich?« fragte Erika traurig. An dem mutlosen Gesicht Dierschs hatte sie das Ergebnis der Unterredung mühelos abgelesen. Sie nahm seine Hand und preßte sie heftig. »Nicht traurig sein«, bat sie. »Es kann noch manches geschehen ... Wir sind ja noch nicht in Bremen. Und – und vielleicht wird es mit mir gar nicht so schlimm. Sicherlich! Ich komme in Untersuchungshaft, und nachher werde ich freigesprochen. Und dann komme ich zu dir. Du wirst auf mich warten. Und dann bleiben wir für immer beieinander. Und wenn du dann Sorgen hast und ein so finsteres Gesicht machst wie jetzt, dann streiche ich dir – so – mit der Hand über die Stirn, und du lächelst – ja, so – – Aber Wolfgang!«

Er war aufgesprungen.

»Das ist ja zum Wahnsinnigwerden!« stöhnte er. »Wenn ich daran denke, wenn ich mir das vorstelle, daß sie dich mir wegnehmen, und ich soll dastehen und zusehen ... nichts tun als dastehen und zusehen – nein, nein, laß mich ... ich muß hinaus, ich muß etwas tun! Ich glaube, ich könnte den Menschen umbringen, der versucht, dich – –«

»Herr Diersch!« beschwichtigte Scott. Diersch hatte so laut gesprochen, daß Scott jedes Wort verstehen konnte.

»Nehmen Sie sich zusammen! Ich begreife ja, daß es für Sie schwer ist ... Aber es ist ja noch nicht so weit. Bleiben Sie ...«

Aber Diersch schüttelte den Griff Scotts ab und stürzte hinaus.

Eisige Windstöße fielen über ihn her, bliesen ihm das Haar ins Gesicht, zerrten an seinen Kleidern. Er achtete nicht darauf. So, gerade so war ihm das Wetter recht. Mit beiden Händen hielt er die Reling umklammert und ließ sich vom Wind zerren und zausen. Obwohl es erst gegen halb vier Uhr war, herrschte schon völlige Finsternis. In schweren Tropfen klatschte ihm der Regen ins Gesicht und auf die Hände und durchnäßte seinen Rock. Aber er stand da, die Zähne zusammengebissen, den Blick geradeaus, in die Dunkelheit gerichtet, in der nur noch schwach die schneeweißen Kämme der gewaltigen Wellen zu erkennen waren. Erst als eine Sturzsee ihn über und über begoß, kam er etwas zur Besinnung.

Jetzt werde ich die Steine holen, sagte er sich. Jetzt gleich. Und dann, wenn das geschehen ist, werde ich – werde ich –. Oder bin ich zu feige dazu? Nein, nein, ich muß nur daran denken, daß dieser Kerl mir Erika wegnehmen will, dann wird es ganz leicht sein. Und er soll sich wehren. Er ist stark wie ein Bär. Ich will kämpfen! Er oder ich – einer bleibt auf der Strecke. Gleiche Chancen, Herr Inspektor. Sie oder ich!

Da war die Luke. Sie führte zu Prochorows Kabine. Diersch zitterte vor Frost und Erregung, als er die schmale Treppe hinunterkletterte. Bin ich verrückt, durchfuhr es ihn. Wenn ein Mensch an Mord denkt, ist er doch verrückt, muß er ja verrückt sein. Aber ich bin gar nicht verrückt, nicht ein bißchen. Ich weiß nur, daß es nicht sein darf. Diese Frau – im Gefängnis, in einer Zelle von ein paar Quadratmeter, mit einem vergitterten Guckloch, durch das man ein Stück blauen Himmels sehen kann?! Nein, nein! Und wenn man mich als Mörder einsperrt, aber sie soll nicht ins Gefängnis!

Matt erleuchtet war der Gang. Jetzt stand Diersch vor der Tür mit der Nummer 14. Das war Prochorows Kabine. Vorsichtig sah er sich um. Niemand in der Nähe! Jetzt schnell!

Und leise, kaum hörbar, öffnete er die Tür und schloß sie wieder hinter sich.

Licht durchstrahlte den Raum. Da standen Koffer. Schnell! Diese großen? Kaum. Da, der kleine. Verschlossen? Ein Messer klappt auf. Das Schloß gibt nicht nach? Keine Zeit! Ein Lederkoffer? Leder kann man schneiden. Und schon fuhr das Messer mit scharfen Schnitten über die glatte Fläche des Deckels. Ah, und da lagen sie, die Steine, der Lohn für die tolle Meuterei! In die Taschen damit! So – so! Wenn man ihn jetzt faßte, galt er als Dieb. Wie das funkelte und flimmerte! So, jetzt waren sie alle in den Taschen. Schnell noch den Koffer umgedreht, damit man nicht gleich die beschädigte Stelle sah, und jetzt – –. Plötzlich sah er, daß der Türgriff sich bewegte.

In dem Augenblick, als die Tür geöffnet wurde, sauste auch schon Dierschs Faust vor. Mit aller Wucht traf sie den Kopf eines Mannes. Der Mann brach lautlos zusammen. Einen Blick nur warf Diersch in sein Gesicht: es war Ignatjew, Prochorows Sekretär.

Wenn er mich gesehen hat, bin ich verloren, dachte Diersch, während er hastig an Deck kletterte. Wohin mit den Steinen? Am besten ins Meer damit. Unheil genug hatten sie angerichtet. Aber nein, vielleicht konnten sie auch noch jemandem von Nutzen sein. Es waren ja Werte, große Werte, die man gegen alles eintauschen konnte, was es an Schönem und Nützlichem auf der Welt gab. Wohin damit?

Dunkel und groß ragten dort die Rettungsboote über das Deck. Dahin? Ja! Und schon kletterte Diersch mit der Gewandtheit einer Katze nach oben. Mit einer Hand mußte er sich festhalten, mit der anderen entleerte er nach und nach seine Taschen. Der Wind heulte und riß so gewaltig an seinen Kleidern, als wolle er das Gelingen dieser Tat verhindern. So, jetzt ruhten alle diese Steine unter der Schutzleinwand. Hoffentlich wurde das Boot nicht vom Sturm abgerissen.

Mit einem Sprung war Diersch wieder auf dem Deck und fuhr sich mit beiden Händen glättend durch die nassen Haare. Aber dann mußte er sich sofort wieder festhalten, so heftig blies der Wind.

Jetzt war es völlig finster geworden. Langsam, von der Anstrengung noch schwer atmend, tastete sich Diersch an der Reling entlang zum Rauchzimmer zurück. Plötzlich sah er Licht aufblitzen. Ah, das war ja schon das Rauchzimmer! Jemand war herausgekommen. Gegen den Wind ankämpfend, schloß dieser Jemand die Tür. Diersch spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen: es war Leith!

Blitzschnell, in der Dunkelheit unsichtbar, sprang er beiseite. Leith wäre sonst auf ihn gestoßen.

So stand er da und lauschte. Tapp, tapp, kamen die schweren Schritte näher. Diersch Zähne schlugen hörbar aufeinander. Jetzt würde es sich entscheiden! War es nicht, als habe das Schicksal selbst ihm diesen Mann hierhergetrieben? Jetzt war Leith an ihm vorbei. Er nahm den Weg nach seiner Kabine.

Unhörbar folgte ihm Diersch.


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