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15.

Erika saß bleich, mit einem starren Ausdruck im Gesicht, auf ihrem Platz und beobachtete stumm das Vorrücken des Minutenzeigers an der runden Wanduhr. Neben ihr saß Professor Berwick und sprach beruhigend auf sie ein; aber sie achtete kaum darauf.

»Er müßte doch schon längst wieder hier sein«, sagte sie plötzlich und sah Berwick aus schreckhaft geöffneten Augen an.

»Es kommt doch ganz darauf an«, begann Berwick aufs neue. Der Eintritt Gonors unterbrach ihn.

Erika war aufgesprungen und ging dem Malaien entgegen.

»Tuwan Murphy ist beschäftigt«, sagte Gonor.

»Aber ich muß ihn jetzt sprechen, sofort sprechen«, versetzte sie aufgeregt. »Was will er denn von Mr. Diersch? Mr. Diersch hat ihm doch nichts getan.«

»Tuwan Murphy will nichts von Tuwan Diersch«, widersprach Gonor. »Tuwan Diersch ist bei Tuwan Toole. Tuwan Murphy ist auf Kommandobrücke.«

Erika fand nicht gleich eine Antwort, so sehr wunderte sie sich über die Worte des Malaien. Sie war überzeugt gewesen, daß Murphy und kein anderer Diersch hatte vorführen lassen. Toole? Was wollte denn der von Diersch?

Gonor war inzwischen weggegangen. Eine Weile stand Erika wie überlegend mitten im Raum, dann riß sie hastig ihren Mantel vom Haken und lief hinaus, ohne Berwicks Rufe zu beachten.

Wind und ein leichter Sprühregen empfingen sie draußen. Der Nebel begann sich zu verziehen. Über das glatte, schlüpfrige Deck lief Erika, kletterte behend eine und nach eine Treppe hinauf, rannte an einem Matrosen, der sie festhalten wollte, vorbei und stand plötzlich auf der Kommandobrücke neben Murphy.

Der Offizier ließ die Hand mit dem Feldstecher sinken und wandte langsam den erstaunten Blick der Frau zu, die mit blassem Gesicht, kleine Tropfen in dem blonden Haar, vor ihm stand.

»Warum sind Sie hierhergekommen?« fragte er leise und vorwurfsvoll.

»Weil ich Sie sprechen muß. Sofort«, antwortete sie entschieden.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich kann jetzt nicht abkommen. Und hier ist es zu kalt und zu windig für Sie.«

»Das ist jetzt ganz und gar bedeutungslos. Wollen Sie mir sagen, was mit Wolfgang Diersch geschieht oder nicht?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich es nicht weiß. Toole hat ihn vorführen lassen und verhört ihn.«

»Das haben Sie angeordnet!«

»Nein!«

»Sie verlangen doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen das glaube? Sie sind der einzige, der etwas gegen Diersch hat, und Sie sind der Befehlshaber dieser Meutererbande.«

»Einen Augenblick Geduld, bitte«, unterbrach er sie. »Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu glauben, aber ich habe die Wahrheit gesagt. Und der Befehlshaber dieser – Leute bin ich nicht.«

»Sie lügen! Professor Berwick hat mir erzählt, wie Sie diesen Toole vor zwei Stunden behandelt haben.«

»Vor zwei Stunden – ja. Da war ich Befehlshaber, wie Sie es nennen. Jetzt ist es Toole. Ich habe nur noch dafür zu sorgen, daß unser Schiff seinen Kurs einhält. Ja, sagen Sie das auch den übrigen Fahrgästen, damit – damit sie etwas vorsichtiger sind.«

»Aber wie ist denn das möglich?« Erika war dem Weinen nahe. »Sie können also gar nichts für Herrn Diersch tun, gar nichts?«

Murphy nahm den Feldstecher wieder auf und streifte mit den Blicken den Horizont ab. Dort, wo bis vor kurzem alles vom Nebel verhüllt war, konnte man jetzt schon weit sehen.

»Das Barometer fällt«, sprach Murphy langsam. »Es gibt wahrscheinlich Sturm. Sie glauben an Gott? Dann beten Sie um einen schönen Sturm!«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Dann brauchen die Kerle mich nämlich«, sagte Murphy düster. »Den Kapitän haben sie abgesetzt, der Erste Offizier ist tot, der Zweite schwer verwundet. Im Sturm ist das Schiff ohne mich verloren.«

»Und Sie würden Wolfgang helfen? Sie würden ...«

Er nickte.

»Ich würde alles für ihn tun, wenn Sie mir versprechen, meine Frau zu werden.«

»Das ist unmöglich! Ich liebe ihn doch! Herr Murphy, begreifen Sie denn nicht?«

Er wandte sich heftig nach ihr um.

»Nein!« rief er laut und unbeherrscht. »Ich begreife nichts, ich will nichts begreifen, ich kann nichts begreifen. Ich habe alles für Sie geopfert, was bisher mein Lebensinhalt war; ich habe es weggeworfen, als sei es nichts. Ich bin zum ehrlosen Schuft geworden, dem der Kapitän den Händedruck verweigert ... Und da glauben Sie, nachdem ich für Sie dieses Opfer gebracht habe, werde ich Sie dem Diersch überlassen?!«

Sie wich zurück, einen Schritt und noch einen.

»Opfer? Opfer nennen Sie das?« fragte sie fassungslos.

»Ist es vielleicht kein Opfer? Ich habe meinen Beruf geliebt, meine Offiziersehre war mir alles.«

»Nein, Herr Murphy.« Sie bewegte leise den Kopf hin und her. »Ein Opfer wäre es nur, wenn Sie damit dem geliebten Menschen etwas Gutes getan hätten. Und jetzt gehe ich zu Toole. Jeder wildfremde Mensch wird mir eher helfen als der Mann, der vorgibt, mich zu lieben und für mich alles geopfert zu haben.«

Murphy wollte etwas sagen, doch dann wandte er sich ab und rief mit kalter Stimme einen Befehl durchs Sprachrohr.


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