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9.

Gleißendes Licht, lautes Stimmengewirr, ab und zu übertönt von einem hellen Auflachen, und ein buntes Durcheinander von Männern in Smokings und Frauen in kostbaren Samt- oder Seidenkleidern, geschmückt mit echten oder falschen Halsketten, Armbändern und Ohranhängern empfing die beiden im Speisesaal. Die meisten Gäste trugen verwegen ein Papierhütchen in grellem Rot oder Grün, was ihren Gesichtern einen abenteuerlich grotesken Ausdruck verlieh. Am Klavier saß Professor Berwick und spielte, unbekümmert darum, ob man ihm zuhörte oder nicht, englische und irische Volksweisen, wobei er hin und wieder einige Worte mit Baßstimme sang.

Diersch wunderte sich, wie sehr sich das Bild in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit verändert hatte. Schon kümmerte sich niemand mehr um das Treiben der anderen; jeder war nur noch darum besorgt, wie er sich am besten unterhalten könne, und die ganze Gesellschaft, vor einer Stunde noch das Bild einer einmütigen, großen Familie, hatte sich in kleine Gruppen von drei und vier Menschen aufgelöst. Im ersten Augenblick erschrak Diersch, denn er glaubte nicht anders, als diese Menschen seien alle schon betrunken – die vielen leeren Flaschen auf den Tischen schienen ihm recht zu geben. Bald aber erkannte er, daß die Leute ihre Sinne durchaus noch beisammen hatten und sich nur etwas gehen ließen. Nun gut. Das sollten sie ja.

In der Ecke, unter dem breiten Fenster, das heute durch ein farbenprächtiges Bild völlig verdeckt war, fand Diersch für Erika und sich einen hübschen Platz. Auf seinen Wink hin räumte der Steward die herumstehenden Flaschen und Gläser vom Tisch und brachte neue Gläser.

»Was möchten Sie trinken?« fragte Diersch. Er fragte es ein wenig erstaunt. Nach dem, was er eben gehört hatte, war er darauf gefaßt gewesen, Erika ermutigen und aufheitern zu müssen. So, wie sie jetzt auf der samtüberzogenen Sofaecke saß, den Kopf zurückgelehnt, die Augen halb geschlossen, um die Lippen ein Lächeln, machte sie nicht den Eindruck einer Frau, die man ermutigen und aufheitern müßte.

»Sekt«, sagte sie und lächelte. »Aber nur, wenn Sie mir gestatten, ihn selbst zu bezahlen ...«

»Also Sekt«, entschied Diersch und nickte dem Steward zu. »Auf Ihre Bedingung kann ich leider nicht eingehen: Sie sind jetzt mein Gast, das heißt der Gast eines recht altmodisch erzogenen jungen Mannes. Solange ich Geld habe, werde ich bezahlen ...«

»Aber, wenn ich Sie sehr bitte, Herr Diersch ...«

»Auch dann. Wir brauchen ja nicht viel zu trinken ...«

»Ich möchte aber viel trinken!«

Er sah sie forschend von der Seite an.

»Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte er fest. »Was ist schließlich schon Geld ...«

»Ja, was ist schließlich schon Geld! Ach, Herr Diersch, es kommt mir vor, als sei das alles ein Traum. Wissen Sie, ich möchte heute so richtig lustig sein, lustig und glücklich ...«

Der Steward war wieder erschienen und schenkte ihre Gläser voll.

»Lustig und glücklich ist zweierlei«, widersprach Diersch, als der Steward sich entfernt hatte. »Manchmal sind die Menschen kreuzfidel und dabei sehr unglücklich ... Frau Meißner ...« Sein Ton wurde plötzlich ernst. »Wollen Sie mir nicht sagen, was Ihnen fehlt? Sie sind gar nicht glücklich ... im Gegenteil ... Warum spielen Sie mir und vielleicht auch sich selbst Theater vor?«

Immer noch lächelnd, beugte sie sich ein wenig vor und wischte ein Stäubchen von seinem Rockaufschlag.

»Sie sehen im Smoking prachtvoll aus«, sagte sie anerkennend. »So richtig feierlich ...«

»Der Erste Offizier hat ihn mir geliehen, da er selbst heute nacht Dienst hat«, erwiderte er trocken. »Wollen Sie mir nicht antworten?«

Sie sah ihn an und schüttelte leise den Kopf.

»Ich möchte nicht, wirklich nicht«, sagte sie. »Ich will jetzt an nichts denken ... Verstehen Sie denn das nicht? Alles ist heute so schön, so bunt, so festlich ... Morgen ... ja, morgen will ich Ihnen antworten.«

Er beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Ohne daß er es merkte, strich er einige Male über diese schmale Hand. Sie sah ihn erstaunt, mit einer stummen Frage an, aber er war so in Gedanken, daß er auch das nicht beachtete.

»Ich weiß, ich habe kein Recht, in Sie zu dringen«, sagte er. »Und doch muß ich Sie bitten, mir wenigstens eine oder zwei Fragen zu beantworten. Ich verspreche Ihnen, es soll nachher von alldem nicht mehr die Rede sein. Wir wollen dieses Fest mitfeiern und alles vergessen ...«

»Gut«, antwortete sie. »Fragen Sie.«

»Sagen Sie, hat ein Mann, irgendein Mann ein Anrecht auf Sie?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Ich war zwei Jahre lang verheiratet. Dann starb mein Mann ... Seitdem bin ich allein ... Ein Anrecht ...« Sie sah nachdenklich an Diersch vorbei. »Nein, kein Mann hat ein Anrecht auf mich«, sagte sie dann fest.

Er hatte jetzt die Rechte von ihrer Hand genommen und hob den Blick nicht von seinen zusammengepreßten Händen.

»Ich habe vielleicht nicht die rechten Worte gewählt ...« sagte er stockend. »Ich meine ... es ist kein Mann da, den Sie lieben und der daher ...«

»Doch, doch ...« unterbrach sie ihn, und über ihr Gesicht ging ein Leuchten.

»Also doch«, sagte er und sah sie mutlos an. »Ich hatte es nicht glauben wollen, da es mir am ersten Tage schien, als fürchteten sie ihn. Ich muß mich geirrt haben. Seien Sie mir nicht böse ...« Er lehnte sich zurück und holte aus der Tasche seine Zigarettendose. Er brannte sich eine Zigarette an, ohne Erika eine anzubieten, da sie nicht rauchte. Seine Blicke, ratlos und enttäuscht, gingen an ihr vorbei, schweiften durch den Raum, als suchten sie nach einem Anhaltspunkt, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Wirklich lustig – diese Beleuchtung ... Ein bißchen seltsam sehen ja alle die Laternen aus ... Sehen Sie zum Beispiel den Zeppelin ... Oder soll es eine Wurst sein ...«

»Nein, ein Zeppelin«, antwortete sie ernsthaft, aber mit glänzenden Augen. »Ich weiß es aus bester Quelle ... Und dort, die große, gelbe Lampe ... sieht beinahe viereckig aus ... Das ist der Mond.«

»Das hätte ich nicht gedacht«, sprach er weiter, ebenso eifrig wie bisher ihren Blick meidend. »Schauen Sie, sieht Mr. Scott mit seinem Hütchen nicht aus wie ein Clown ...«

»Gewiß! Aber warum haben Sie mich nicht gefragt, welchen Mann ich liebe und welcher Mann daher ...?«

Sein Blick kehrte von weither zu der Frau zurück. Plötzlich versank alles um ihn her ins Nichts. Es gab keinen Zeppelin und keinen viereckigen Mond mehr für ihn, und es war ihm vollkommen gleichgültig, welchen Eindruck Mr. Scott in seinem Hütchen machte.

»Ich war überzeugt ... ich dachte ...« stammelte er hilflos. »Herr Murphy hatte so bestimmt gesprochen, daß ich ... ich habe daher angenommen ...«

»Herr Murphy hat mir erklärt, er liebe mich, aber er ist mir ganz und gar gleichgültig«, sagte sie leise. »Der Mann aber, der mir nicht gleichgültig ist, hat mir nicht erklärt, er liebe mich ...«

»Frau Erika ...« Er stockte. Dann fuhr er aufgeregt fort: »Wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe ...«

»Jetzt endlich haben Sie mich richtig verstanden«, fiel sie ihm ins Wort.

Er atmete befreit auf.

»Erika ...!«

»Wir wollen tanzen ...« sagte sie plötzlich und stand schnell auf. Durch Radio wurde ein langsamer Walzer übertragen. Die ersten Schritte der beiden waren unsicher, von einer zitternden Erregtheit. Doch dann wurden sie ruhiger, der Händedruck wurde fester. Sie sprachen kein Wort, aber sobald ihre Blicke sich begegneten, lasen sie jeder in den Augen des anderen alles das, was ihre Lippen verschwiegen.

Sie sahen nur einander, alles um sie her war verschwunden. Sie sahen nicht die bewundernden Blicke der übrigen Gäste, und sie merkten nicht, wie ein Paar nach dem anderen aufhörte zu tanzen und still beiseite trat, um ihnen zuzusehen. Sie kamen erst zu sich, als die Musik abbrach und sie plötzlich merkten, daß sie ganz allein auf der Tanzfläche standen.

Als der begeisterte Beifall losbrach, wurde Erika rot vor Verwirrung und eilte so schnell an ihren Platz zurück, daß Diersch ihr kaum folgen konnte. Kaum hatten die beiden sich gesetzt, da stand Dr. Pembroke vor ihnen, in der Hand ein schwarzes Kästchen. Und noch immer sahen alle im Raume zu ihnen hinüber.

»Sie haben bekommen das Preis!« erklärte Dr. Pembroke strahlend auf deutsch und öffnete das Kästchen. Auf einer samtenen Unterlage schimmerte matt der Smaragd Prochorows.

»Aber wieso ... Wir haben doch gar nicht gewußt ...« widersprach Diersch verlegen.

»Das war der große Tanzkonkurrenz, und Sie haben bekommen das Preis ...« erläuterte der Arzt.

Diersch stand auf.

»Es ist mir sehr unangenehm, aber wir hätten uns an dem Wettbewerb nicht beteiligt, wenn uns bekannt gewesen wäre ... Leider können wir den Preis nicht annehmen ...«

»Aber warum nicht?« fragte Dr. Pembroke verblüfft.

»Weil dieser Smaragd mit dem Gelde bezahlt ist, das auf verbrecherischem Wege aus Deutschland ausgeführt wurde. Wir sind Deutsche, Herr Doktor. Den Preis müssen Sie schon Angehörigen anderer Nationen zusprechen ...«

»Mr. Diersch hat vollkommen recht«, sagte Mr. Scott laut. »Nur glaube ich, daß auch Angehörige anderer Nationen unter solchen Umständen auf den Preis verzichten werden. Das Tanzpaar, das diesen Preis erringen möchte, möge sich melden.«

Es meldete sich kein Paar. Prochorow, der sich nur schwer von seinem Smaragd getrennt hatte, erhielt ihn zurück. Aber er hatte so wenig Freude an dem Stein, daß er es vorzog, das Fest nicht mehr weiter mitzumachen.

Mr. Scott sorgte dafür, daß der Zwischenfall bald vergessen wurde. Fünf Minuten später dachte niemand mehr daran, und es schien fast, als hätte die Anwesenheit Prochorows doch alle irgendwie bedrückt, denn jetzt wurde die Stimmung im Saal noch ausgelassener.

Langsam rückten die Zeiger der Uhren vor. Im Saal hing eine runde Wanduhr, aber Erika sah sie nicht. Auf Dierschs Armbanduhr verfolgte sie das stetige Vorrücken der Zeiger. Nur noch fünfzehn Teilstriche waren es, bis der große Zeiger die Zahl zwölf erreichte. Nur noch fünfzehn Minuten ...! Aber dieser Augenblick, in dem beide Zeiger auf zwölf stehen würden, der Augenblick, der Erika noch vor einer Stunde als etwas Entsetzliches erschienen war, verlor immer mehr seine Schrecken. War es das Bewußtsein, von diesem Mann an ihrer Seite geliebt zu werden, das Bewußtsein, nicht mehr allein zu stehen; oder war der Sekt daran schuld? Erika hätte es nicht sagen können. Aber sie fürchtete sich jetzt nicht mehr vor Murphy.

»Ich habe einen Schwips«, sagte sie und schüttelte lachend den Kopf. »Wolfgang ... ich habe einen ganz gehörigen Schwips ...«

»Aber das macht doch nichts«, widersprach er lachend. »Wir feiern doch heute unsere Verlobung. Jeder anständige Mensch hat bei seiner Verlobung einen Schwips ...«

Sie lehnte ihren Kopf müde gegen seine Schulter. »Wirklich?« Sie seufzte. »Ganz bestimmt – jeder?«

»Jeder«, entschied er.

Sie schloß die Augen.

»Erzähl mir noch etwas, wie alles sein wird, wie alles kommen soll ...«

Er sah nicht, wie ein Schatten über ihr Gesicht ging. Es ist ein Märchen, dachte sie, während er eifrig Zukunftspläne schmiedete. Märchen sind schön, aber sie sind eben Märchen. Nie würde das Wahrheit werden, was dieser große blonde Junge ihr erzählte. Noch fünfzehn, nein, nur noch zehn Minuten, und sie würde zu einem anderen Mann gehen, den sie nicht liebte und der ihr nie solche Märchen erzählen würde. Und diesem anderen Mann würde sie sagen, daß sie seine Frau ... Aber vielleicht würde sie es nicht sagen und sich lieber einsperren lassen? Aber sie hatte solche Angst vor dem Gefängnis! Niemand ahnte, was für Angst sie hatte ...

»... und wir werden alle vier in dem Häuschen meines Vaters leben«, sagte Diersch. »Dein Vater, mein Vater, du und ich ... Ich werde bald Arbeit finden und jeden Morgen mit dem Rad – später kaufen wir dann einen Wagen – nach der Stadt fahren ... Und wenn ich am Abend zurückkomme, etwas abgespannt und verärgert, dann stehst du am Gartenzaun und wartest auf mich ... Und Tyras – das ist ein Hund, der mir gehören wird – springt an mir hoch, und ich lege den Arm um deine Schulter, und da fällt dir plötzlich ein, daß die Ziege noch nicht gemolken ist, und du willst schnell in den Stall, aber ich halte dich fest ... Und da erscheinen auch unsere beiden Väter ... Sie zanken sich wegen irgend etwas, nein, nicht zanken, sie streiten nur ein wenig ...«

»Warum gehört der Tyras dir allein?«, fragte sie langsam und träge. Es schien, als müsse sie im nächsten Augenblick einschlafen.

»Weil das ein richtiger Männerhund sein soll«, erklärte er. »Du kannst dir ja auch ein Tier halten, das allein dir gehört. Vielleicht eine Katze ...«

»Ich will – keine – Katze ...« widersprach sie mühsam.

»Was dann?«

»Ich will einen Maulesel haben.«

»Einen Maulesel? Aber liebes Kind, einen Maulesel kannst du doch nicht ins Zimmer mitnehmen ...«

»Ich will aber doch einen Maulesel«, sagte sie eigensinnig.

Er lachte.

»Na gut, ich will versuchen, einen Zimmermaulesel zu kaufen ...«

»Du bist – sehr – edel«, sagte sie. Sie richtete sich langsam auf und starrte lange auf das Zifferblatt seiner Uhr. »Wie spät ist es denn?« fragte sie.

»Es ist vier Minuten vor zwölf.«

»Dann – – – dann muß ich gehen«, sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme nicht mehr träge und müde. »Ich habe etwas zu besprechen ... Geschäftliches ... Ja, Geschäftliches ...«

Er wurde plötzlich ernst.

»Mit wem? Mit diesem Murphy?«

Sie nickte.

»Das lasse ich nicht zu!« rief er heftig. »Ich will dabei sein, und ich werde ihm die Knochen kaputtschlagen, wenn er auch nur ein Wort sagt, das dich kränkt ...«

Sie stand auf. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren.

»Ich liebe dich, Wolfgang«, sagte sie traurig. »Und ich werde es dir sagen, wenn du mir einmal helfen könntest. Heute nicht. Das muß ich allein abmachen. Willst du hier auf mich warten?«

Er wollte widersprechen, doch als er in ihre Augen sah, wußte er, daß es nutzlos sein würde. Da nickte er nur.

Ihr Blick suchte Murphy. Er war nicht im Saal. Hastig, denn die Uhr zeigte bereits zwölf, eilte sie hinaus.


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