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16.

Vor der Kapitänskajüte hielt ein weißer Matrose Wache. Er befahl Erika zu warten und ging hinein, die Tür sorgfältig hinter sich schließend. Eine knappe Minute nur dauerte es, bis er wieder erschien.

»Mr. Toole hat keine Zeit«, sagte er achselzuckend.

»Aber ich muß ihn unbedingt sprechen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Geht nicht, er ist beschäftigt.«

»Ist – ist Mr. Diersch noch bei ihm?«

»Nein, Mr. Diersch ist vor einigen Minuten nach achtern gegangen.«

Erika dankte. Sie knöpfte den Kragen bis oben hinaus zu und lief zum Hinterdeck. Der Wind zauste an ihrem Haar, zerrte an ihrem Mantel; die heftigen Bewegungen des Dampfers warfen sie hin und her, und sie mußte sich bald an der Reling, bald an einem Tau oder am Treppengeländer festklammern und warten, bis die Stöße weniger heftig wurden. Der Weg führte eine eiserne Treppe hinunter, dann an sorgfältig in Segeltuch gehüllten und verschnürten Ladegütern vorbei und wieder eine eiserne schmale Treppe hinauf.

Da sah sie Diersch. Er stand allein zwischen Tauen und allerlei eisernen Geräten, ganz in den Anblick des zischenden, schäumenden Kielwassers versunken. Sie rief ihn, und da schrak er auf. Hastig kam er ihr entgegen, faßte sie fest beim Arm, wobei er vorwurfsvoll den Kopf schüttelte.

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte er, als er sie an einen vom Winde etwas geschützten Platz geführt hatte. »Die Windstärke nimmt immer mehr zu. Es ist hier an Deck nicht mehr ungefährlich.«

Sie tat Windstärke und Gefahren mit einer Handbewegung ab.

»Was wollte Toole von dir?« fragte sie besorgt.

Er überlegte erst eine Weile, ehe er sich zu einer Antwort entschloß:

»Er wollte mich zu einer Gemeinheit überreden. Nun, ich kann es dir ja sagen: ich sollte im Vertrauen aus Maud Kassala herausbekommen, wer von den Passagieren der gesuchte Inspektor ist.«

Sie atmete erleichtert auf.

»Das war alles? Und er hat begriffen, daß du der letzte bist, der sich für so etwas hergeben würde?«

»Ja. Ich denke, ja.« Er schwieg. Dann, plötzlich, umfaßte er mit dem einen Arm ihre Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Ist es wahr, Erika, daß dieser Inspektor dich verhaften kann – weil dein Paß nicht – in Ordnung ist – und weil ...«

»Ja, Wolfgang, es ist wahr«, sagte sie und sah an ihm vorbei. »Wenn der Inspektor es weiß, kann er mich verhaften und – nach England oder zurück nach Ägypten bringen. Und ich fürchte, er weiß es schon. Ich bin schuldlos. Du hast nicht daran gezweifelt?«

»Nicht eine Sekunde. Aber warum hast du mir bis jetzt von alledem nichts gesagt?«

Sie legte den Kopf an seine Schulter und strich mehrmals leise über seine nasse Hand.

»Weil du mir nicht helfen kannst. Es ist mein Schicksal, und ich wollte diese Tage noch glücklich sein – mit dir. Du wärest vielleicht nicht sehr glücklich gewesen, wenn du gewußt hättest, wie kurz dieses Glück sein wird.«

»Doch, Erika, sehr. Aber ich hätte alles darangesetzt, um dir zu helfen, damit wir immer beisammen bleiben können. Höre, Erika ...« Er sah sich scheu um, ob niemand in der Nähe sei. Die Vorsicht war unnötig, denn in dem Lärm der anprallenden Wogen, des pfeifenden Windes und der dröhnenden Maschine hätte ihn auf zwei Schritte Entfernung niemand mehr verstanden. »Ich weiß, wie das Schiff zu retten ist.« Er sprach sehr aufgeregt. »Ein Matrose hat mir vorhin gesagt, warum die Meuterei eigentlich angezettelt wurde: wegen der Steine Prochorows. Er hat sie der Mannschaft versprochen! Begreifst du? Als ich das hörte, wußte ich sofort was ich zu tun habe.«

»Was?« unterbrach sie ihn, als er zögerte.

»Die Steine sind nämlich noch in Prochorows Kajüte. Sie müssen verschwinden. Sobald die Mannschaft erfährt, daß es keine Steine mehr gibt, wird sie nur noch den Wunsch haben, die zwecklos gewordene Meuterei irgendwie wieder rückgängig zu machen. Verstehst du?«

»Ja, aber wenn sie dich erwischen?«

»Daran wollen wir nicht denken. Es ist ein Wagnis wie jedes andere. Gelingt es, so habe ich das Leben vieler rechtschaffener Menschen gerettet; gelingt es nicht, so geht es mir wohl an den Kragen. Ich glaube aber, wenn wir nichts unternehmen, geht es sowieso uns allen an den Kragen. Das ist alles ganz klar. Das Entsetzliche dabei ist nur, daß nach Beendigung der Meuterei der Inspektor wieder seine Herrschaft hier antritt und – und dich verhaften kann. Ich muß daher unbedingt erst herausbekommen, wer von den Passagieren dieser Inspektor Leith ist. Dann werde ich mit ihm sprechen, und wenn er mir zusichert, nichts gegen dich zu unternehmen, dann werde ich es tun. Sonst –« Er zögerte.

»Sonst?« fragte sie und sah zu ihm auf.

»Ich weiß nicht, ob ich es dann tun werde«, sagte er langsam.

»Natürlich wirst du es auch dann tun!« rief sie. »Ich liebte dich vom ersten Augenblick an, weil ich meinte, daß du nicht einer von den heutigen rechnenden und abwägenden Menschen bist, sondern einer von denen, die bedenkenlos das tun, was ein inneres Gesetz ihnen befiehlt ...«

»Vielleicht hast du recht: Ich bin einer von gestern.«

»Von gestern?« Sie schüttelte den Kopf. »Von morgen, Wolfgang!«

»Hast du denn gar keine Angst davor, nach Ägypten gebracht und dort vielleicht unschuldig verurteilt zu werden?«

»Doch. Ich habe Angst davor. Aber wenn ich daran denke, daß es um das Leben von fünfundzwanzig Passagieren und einigen tüchtigen Seemännern geht – wie könnte ich da schwanken?«

Er seufzte.

»Ich werde diesen Inspektor ausfindig machen, und er muß mir versprechen, daß er dich unbehelligt läßt. Er muß! Ich bringe ihn dazu, und wenn ich den Kerl mit Gewalt –«

Einer der weißen Matrosen war in ihrer Nähe aufgetaucht. Sie sahen, daß er ihnen winkte, und sie gingen ihm entgegen. Sie hatten ihn aber noch nicht erreicht, als der Mann plötzlich auf dem nassen, schlüpfrigen Boden ausglitt und der Länge nach hinfiel. Sonderbarerweise kam er nicht gleich wieder hoch. Erst als Diersch ihm half, gelang es ihm, sich wieder aufzuraffen.

»Betrunken!« flüsterte Diersch Erika zu.

Der Matrose hatte das leise Wort gehört, aber es schien ihn nicht zu ärgern. Er lächelte gutmütig.

»Ja, ein bißchen«, murmelte er, wie um Entschuldigung bittend. »Haben den Sieg gefeiert. Danke, danke, Sie brauchen mich nicht zu halten. Es geht schon.«

»Sie haben uns gesucht?« fragte Erika.

Er nickte eifrig.

»Ja, alle sollen ins Rauchzimmer kommen. Alle Passagiere. Mr. Toole macht ein Verhör.«

»Ein Verhör?« Diersch warf Erika einen besorgten Blick zu.

»Ja.« Der Matrose klammerte sich an die Reling. Er schien sich recht unbehaglich zu fühlen. »Mr. Toole ... will ... – jetzt ist mir schon wieder besser – will diesen verdammten Inspektor finden ... Nein, mir ist doch nicht gut ... geht – geht allein.«

Schweigend kletterten Erika und Diersch die eisernen Treppen hinunter und hinauf. Worte waren überflüssig, denn am Gesicht des anderen erkannte jeder, daß jener begriffen hatte, wie sehr sich die Lage zuspitzte.

Unterwegs begegneten sie Murphy.

»Da drüben«, sagte Diersch und wies nach hinten, »ist ein Matrose m schwer betrunkenem Zustand. Es soll keine Beschwerde sein, Herr Murphy, aber die Lage des Matrosen ist lebensgefährlich. Bei dem Wellengang kann er über Bord gespült werden. Übrigens finde ich es merkwürdig, daß Sie soviel Alkohol zulassen!«

»Sie verkennen die Sachlage, Herr Diersch«, versetzte Murphy kühl. »Herr Toole befiehlt hier, nicht ich. Nebenbei bemerkt, ist die Hälfte der Mannschaft schwer bezecht, die andere Hälfte – leicht. In drei Stunden – schätze ich – gibt's Sturm. Dann trete ich das Kommando an – mit einer betrunkenen Mannschaft. Was das heißt, kann nur ein Seemann richtig beurteilen.«

»Möglich, aber der Laie hat den Eindruck, als seien Sie an dieser Entwicklung der Dinge nicht ganz unschuldig.«

»Ich werde meine Pflicht tun.«

Diersch, schon im Weggehen, wandte sich um.

»Pflicht? Glauben Sie im Ernst, ich traue Ihnen noch so etwas wie Pflichtbewußtsein zu?«

Murphy preßte die Lippen fest aufeinander. Dann warf er Diersch einen finsteren Blick zu und ging eilig davon.


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