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Es ist der erste Sonntag nach Ostern, am frühen vormittag. Sidsel sitzt in der Gangkammer auf Hoël an ihrem kleinen Tisch, den einen Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hand unter dem Kinn, und starrt in ein großes schwarzes Buch, das aufgeschlagen vor ihr liegt, das neue Testament; sie bewegt langsam die Lippen und liest, heute morgen ist sie nicht mit im Kuhstall gewesen – seit vielen Jahren das erste Mal – Kjersti Hoël hat gesagt, sie solle ein paar Stunden für sich allein sein; niemand darf sie stören.
Hier sitzt sie nun im langen, schwarzen Kleide mit einer weißen Halskrause, ein wenig steif und unbeholfen; das neue Kleid zwängt etwas, und sie drückt die Ellbogen dicht an und wagt kaum den Rücken zu beugen; es ist das erste Mal, daß sie ein richtiges langes Kleid anhat, früher trug sie bloß einen Rock und eine Jacke. Das lichte Haar ist glatt zurückgestrichen und im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt; sie sieht heute auch etwas blasser aus als gewöhnlich, und die Lippen, die sich fortgesetzt bewegen, sind auffallend rot und feucht, aber ihre Augen blicken ruhig und klar; im ganzen ist sie wirklich hübsch, wie sie hier in ihrem Kämmerchen sitzt und darauf wartet, bis es Zeit zum Kirchgang ist. Heute soll sie konfirmiert werden.
Es klopft, und herein tritt Kjersti Hoël; auch sie ist im vollen Staat, im altmodischen schwarzen Kleid mit faltenreichem Leibchen, frisch geplätteter Faltenhaube auf dem Kopfe, und in der Hand trägt sie das große Gesangbuch – das mit dem großen Druck, das sie bloß an besonderen Feiertagen benutzt – und auf dem Buche das zusammengelegte Taschentuch.
Sie bleibt eine Weile stehen, betrachtet Sidsel mit ernsthafter Miene und sagt:
Fühlst du dich nun vorbereitet, Sidsel?
Sidsel antwortet bescheiden:
Ich glaube, ja.
Dann ist es wohl Zeit, daß wir gehen. Komm, ich will dir das Kopftuch knüpfen, damit du dir die Haare nicht einreißt.
Sie knüpft ihr das Kopftuch, sie gehen langsam hinaus und durch den Flur. Draußen vor der Tür steht der Wagen mit dem Soldatenpferd.
Setz dich neben mich, Sidsel.
Sie steigen ein und fahren von dannen; keines sagt unterwegs ein Wort. Während sie zum Hofe hinaus auf die Landstraße fahren, umgibt sie das Brausen des jungen Frühlings. Bäche und Flüsse rauschen an ihnen vorüber, Vögel singen und zwitschern zu Tausenden, Insekten summen, die sprossenden Bäume und Kräuter duften über das ganze Tal hinweg, und hoch oben am Himmel steht die Sonne und wirft ihr glitzerndes Licht auf die Erde nieder. Aber das alles macht heute nicht solchen Eindruck auf Sidsel wie sonst; es wirkt auf sie wie Geschrei und wüster Lärm, wie etwas Unharmonisches, das sie in Unbehagen erzittern läßt – unwillkürlich schmiegt sie sich im Wagen dichter an Kjersti an – sie hat einzig das Bedürfnis nach Stille. So fahren sie eine Weile.
Da schlägt es ihnen plötzlich wie eine mächtige, breite Woge entgegen und spült allen Lärm hinweg – es sind die Kirchenglocken, die nun so breit, ruhig und sicher einsetzen. Sie übertäuben zwar das Frühlingsbrausen nicht, aber sie nehmen es gewissermaßen in ihr Geläute auf, bringen förmlich Harmonie hinein, nehmen es als Begleitung, das Ganze wirkt wie Orgelbrausen zu Kirchengesang.
Da wird es ringsum auf einmal so friedlich und festlich, wie Sidsel es nie zuvor empfunden hat. Nun ist Feiertag auch in ihr, und alles um sie herum ist wie verwandelt, wird lichter, mächtiger, festlicher; sie fühlt sich unsäglich froh.
Von dem Augenblick an weiß sie nicht mehr recht, was um sie vorgeht.
Als sie zur Kirche kommt, erscheint ihr die Menge, die dort steht und wartet, so groß und so festtäglich, und ihr ist, als hätte sie nie bemerkt, daß die Kirche so hoch und so hell ist.
Wie sie in der Kirche durch den Mittelgang geht, fühlt sie sich so frank und so frei; auch hier ist es so wunderbar licht, und als sie zu ihren Mitkonfirmanden hinsieht, die zu beiden Seiten des Mittelgangs in langer Reihe mit gesenkten Köpfen stehen, kommt es ihr vor, als ob alle Gesichter förmlich strahlten.
Als der Pastor aus der Sakristei kommt, erscheint auch er ihr viel größer als sonst, und sein Gesicht ist mild, und als er anfängt zu sprechen, versteht oder hört sie eigentlich nicht, was er sagt, aber sie fühlt doch, es ist etwas Großes, Gutes, das sie rührt wie Musik.
Beim Gemeindegesang singt sie lauter als sonst; ihre Brust weitet sich unwillkürlich, und als sie abgefragt wird, weiß sie nicht, ob sie recht gehört hat, antwortet aber laut und unverzagt und ist dessen sicher, daß sie richtig antwortet; und als sie niederkniet und dem Pastor die Hand reicht, da ist ihr, als lächelten die steifen Altarbilder.
Ganz zu sich selbst kommt sie erst wieder, als die feierliche Handlung vorüber ist, und sie zu Kjersti Hoël in den Kirchenstuhl kommt.
Diese erfaßt ihre Hand und sagt halblaut:
Glück und Segen, Sidsel!
Sidsel steht ein wenig, sieht dann auf mit großen Augen, als ob sie aus einem Traume erwache, lächelt und flüstert leise: Danke, Kjersti Hoël.
Dann ist die Feier zu Ende, und sie verlassen die Kirche.
Draußen vor der Kirche stehen Jakob und Peter. Sie nehmen ihre Mützen ab und begrüßen erst Kjersti Hoël; dann kommen sie zu Sidsel, einer nach dem andern, nehmen wieder ihre Mützen ab und reichen ihr die Hand und sagen:
Glück und Segen, Sidsel!
Darauf gehen sie langsam über den Kirchanger – so viele müssen die Kjersti Hoël begrüßen und sie fragen, was das für ein Mädel ist, das heute mit ihr zur Konfirmation gekommen ist – endlich sind sie an ihrem Wagen, der Braune ist bereits vorgespannt, sie steigen ein und fahren heimwärts. Sie reden nicht zusammen; erst als sie nach Hause gekommen sind, sagt Kjersti:
Du willst gewiß gern auch heute nachmittag noch eine Weile für dich allein sein, gelt?
Ja, danke.
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Am Nachmittag sitzt Sidsel wieder allein in ihrer kleinen Gangkammer. Bär, der nun ganz erblindet ist, liegt draußen vor der Tür – die wenigen Male, die er aus der Küche, wo er jetzt meist im Winkel beim Herde liegt, herauskommt, wählte er diesen Platz an Stelle des früheren draußen auf der Steinplatte, dort gingen so viele aus und ein, und die waren so rücksichtslos und traten ihm immer auf die Pfoten; Sidsel dagegen ging immer vorsichtig um ihn herum.
Jetzt liest sie nicht in einem Buch; sie hat ihren alten Unterrock vor sich auf dem Bett ausgebreitet, den sie übrigens den letzten Winter nicht mehr getragen hat, und der nun so merkwürdig klein und geflickt aussieht.
Als sie heute nachmittag in ihr Kämmerchen gekommen war, wo die Abendsonne quer durch das kleine Fenster hereinschien und dieses auf der Bettdecke abzeichnete, da fühlte sie sich wunderbar ruhig und zufrieden; sie verspürte nicht die geringste Lust, sich niederzusetzen und an ernsthafte Dinge zu denken oder zu lesen; es schien ihr ganz natürlich, herumzubasteln und froh zu sein, ohne sich weiter Gedanken zu machen. Sie besaß keine Reichtümer auf dieser Welt, aber immerhin hatte sie ein kleines Kästchen, das sie im zweiten Dienstjahre geschenkt bekommen hatte, und in dem waren nicht bloß kleine Seitenfächer, sondern auch ein Fach im Deckel, und in dem Kästchen hatte sie das wenige gesammelt, was sie besaß und was ihr des Aufbewahrens wert erschien. Nun holte sie es herbei und öffnete es; es war so unterhaltend, jedes einzelne kleine Ding herauszunehmen und dabei alten Erinnerungen nachzuhängen.
Hier lag ein altes, zerbrechliches Taschenmesser, dasselbe, das sie den ersten Sommer im Gebirge von Jon bekommen hatte, und da war ein Brief von ihm, den sie letzten Herbst erhalten und von dem niemand etwas wußte und in dem er sie fragte, ob er ihr und Jakob Fahrkarten nach Amerika schicken dürfe, wenn sie erst konfirmiert wäre. Sie hatte ihm noch nicht geantwortet, aber nun wollte sie es bald tun und ihm danken; denn sie wußte, sie würde niemals reisen. Und dort hatte sie die Ziegenhornpfeife, die sie von Peter bekommen hatte – sie bekam auf einmal unbändige Lust, sie wieder zu probieren, aber sie wagte es doch nicht, es hätte sich zu sonderbar angehört – und neben der Pfeife lag ein seidenes Halstuch, das ihr Jakob zu Weihnachten von ihm mitgebracht hatte; sie selbst hatte Peter seit jenem Tage oben im Gebirge im vergangenen Jahre weder gesprochen noch gesehen.
Und hier fand sie auch den Brief, den ihr Jakob geschrieben hatte, als sie sich oben auf Guckausschloß treffen wollten, den einzigen Brief, den sie von ihm erhalten; Jakob schrieb höchst ungern, aber dafür hatte sie auch ein paar andre Kleinigkeiten, die sie von ihm bekommen hatte.
Und ganz unten aus dem Boden lag ein Tuch, das sie bisher noch nie herausgenommen hatte; es war noch von der Mutter; heute getraute sie sich eigentlich zum ersten Male, richtig an ihre Mutter zu denken; sie nahm das Tuch heraus und breitete es auf dem Bette aus, und da gleichzeitig ihr Blick auf ihren alten, an der Wand hängenden Rock fiel, nahm sie den herunter und breitete ihn auch aus; darauf setzte sie sich und besah sich diese ärmlichen Sachen; nun konnte sie erst richtig an vergangene Zeiten zurückdenken, ohne von hoffnungslos traurigen Gedanken überwältigt zu werden, zurückdenken an alle die teuern Erinnerungen, die diese unansehnlichen Dinge für sie bargen, besonders an die aus der Zeit von Schloß Guckaus. So blieb sie lange in Gedanken versunken sitzen; sie begann von Anfang an, soweit ihre Erinnerung zurückreichte, und ging vorwärts bis zum heutigen Tage, die Erinnerungen kamen wie von selbst und in bestimmter Reihenfolge, und alle waren gleichsam nur liebe, gute Erinnerungen, alles Schlimme war wie verschwunden oder erschien ihr nun in einem milderen, freundlicheren Lichte.
Plötzlich klopfte es an die Tür, und ehe sie noch Zeit gehabt hatte, alle ihre Siebensachen wegzuräumen oder nur ihre Gedanken soweit zu sammeln, um aufzustehen, kam Kjersti Hoël herein.
Sidsel sah, daß Kjersti gleich die Sachen bemerkt hatte, wurde aber doch nicht verlegen, denn Kjersti sagte lächelnd:
Ich sehe, du sitzt hier und denkst an deine Mutter, Sidsel, und das ist recht von dir. Nun komm aber mit in meine Kammer. Ich möchte etwas mit dir besprechen.
Sidsel wurde auf einmal ganz verwirrt, in so ernstem Ton hatte Kjersti noch nie zu ihr gesprochen. Sie stand still auf und ging mit.
Kjersti ging durch die Küche und geradeswegs auf die Kammertür zu, Sidsel dicht hinter ihr drein, und man kann sich denken, daß die andern von ihrer Arbeit aufsahen und sich fragten, was das wohl zu bedeuten haben könnte.
Als sie in die Kammer gekommen waren, setzte sich Kjersti an den Tisch und lud Sidsel ein, ihr gegenüber Platz zu nehmen.
Dann sagte sie:
Ja, Sidsel Langröckchen, nun bist du also erwachsen, und in Zukunft mußt du dein eigener Berater sein. Nun habe ich das Versprechen, das ich deiner Mutter gab, bis zum letzten Punkt erfüllt; und ich kann dir heute sagen, daß ich nur Freude an dir erlebt habe, du hast dich gut gehalten, wie es sich für ein braves Mädchen ziemt. Und wirst du dich auch in Zukunft so entwickeln, so glaube ich wohl, deine Mutter würde mit dir, wie auch mit mir zufrieden sein, von heute ab habe ich aber nicht mehr das Recht, über dich zu verfügen, nun mußt du selbst wählen, was du tun willst und für richtig findest. Ich will dich deshalb fragen – versteh mich recht, du sollst vollkommen frei wählen – ob du noch weiter hier bleiben willst, oder ob du nun, wo du für dich selbst sorgen sollst, lieber etwas andres versuchen willst. Ich kann hinzufügen, daß ich es gern sähe, wenn du bliebest.
Es wurde mäuschenstill in der Kammer. Dann sah Sidsel, große Tränen in den Augen, auf und sagte:
Ich will bei dir bleiben, Kjersti Hoël, so lange du mit mir zufrieden bist.
Ich dachte mir schon, daß du das wolltest. Und deshalb habe ich mir auch noch etwas andres ausgedacht. Du bist zwar noch sehr jung, aber es ist nicht immer falsch, zeitig mit etwas zu beginnen. Du hast dich als so zuverlässig und geschickt erwiesen, im Kuhstall wie auf der Senne, daß ich denke, ich kann dir das wohl anvertrauen, wenn du willst, so dinge ich dich gleich heute als Sennerin auf Hoël.