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Fünf Sommer sind vergangen, seit Sidsel das erste Mal ins Gebirge gekommen ist, und niemand, der es nicht weiß, könnte erraten, daß das Sidsel ist, dies lange Mädel, das am heutigen Sonntag ganz allein auf dem Steine sitzt, der, so lange irgend ein Hirte zurückdenken kann, der Klininggrautstein geheißen hat und der so einsam und verborgen weit weg in den Bergen liegt. Sie ist lang aufgeschossen; der lange, weite Rock, den sie nun als Unterrock gebraucht, reicht ihr nicht einmal bis an die Kniee, und sie hat keinen Birkenhut mehr und keine Schuhe aus Birkenrinde, dafür hat sie ihr Sonntagshalstuch umgeschlungen und sitzt mit einem Buche im Schoße da; denn im Winter soll sie in den Vorbereitungsunterricht zum Pfarrer gehen, und im Frühjahr soll sie konfirmiert werden.
Aus dem Lesen wird nichts, das Buch ist ihr in den Schoß gesunken, und ihre ruhigen blauen Augen, die nun so ernsthaft und erwachsen dreinschauen, gleiten über alle diese ihr so lieben und bekannten Plätze hin. Rings um den Stein herum hat sich die Herde gelagert, die Tiere ruhen aus und kauen wieder. Es ist bereits Spätsommer, der Himmel ist so hoch und die Luft klar und kühl; soweit das Auge reicht, zeichnet sich alles mit den schärfsten Umrissen ab, und Höhen und Gründe erstrahlen schon in den bunten Farben des Herbstes, die hier oben bereits ihren Einzug gehalten haben, die Sonne scheint so ruhig und auch gleichsam kühl. Es ist ganz still ringsumher, man hört nicht einmal den Klang der Schellen – das Vieh hält Mittagsruhe – nichts rührt sich, nur weit, weit weg in der Ferne sieht sie einen Falken von der Herspitze aufsteigen.
Sidsel hat all dies genau ebenso schon jeden Sommer gesehen, es ist ihr wohlbekannt und lieb geworden; sie muß unwillkürlich daran denken, wie beständig, wie unveränderlich doch dies alles hier trotz des ewigen Wechsels ist, während sonst so vieles wechselt, um nie wiederzukehren; denn manches hat sich verändert, seit sie hier zum ersten Mal saß und dasselbe Schauspiel genoß. Das Vieh ist verändert, die ältesten Tiere sind weg, neue an ihre Stelle gekommen, die unglückliche »Mutters Hornlose« ist nun eine erwachsene Kuh geworden mit ganz ungewöhnlich prächtigen Hörnern; die Sennerin hat ihren Platz verlassen, eine andre ist an ihre Stelle gekommen; ihre Hirtenkameraden Jon und Peter sind ebenfalls weg, schon die letzten zwei Sommer sind sie nicht mehr hier gewesen, nachdem sie vor zwei Jahren zusammen mit Jakob konfirmiert worden sind. Jon ist sogar nach Amerika ausgewandert. Sie hat sie sehr vermißt, manchmal hat sie in diesen zwei Sommern sich einsam gefühlt; denn weder nach Hogseth noch Lunde sind neue Hirten gekommen. Daheim auf Hoël hat ebenfalls ein Teil der Leute gewechselt, Bär ist blind geworden, und sie selbst hat nun an den Winterabenden nicht länger ihren Platz beim Holzhaufen, sondern am Spinnrocken neben Kjersti, außer wenn sie ihre Sprüche und Gesangbuchslieder lernen muß.
Und nun wird wohl wieder alles anders; nun ist wohl auch sie den letzten Sommer hier oben. Und was soll dann mit ihr werden? Kjersti Hoël hat bisher nichts hierüber geäußert, vielleicht will sie sie nicht einmal länger im Dienst behalten. Aber sie jagt diese Gedanken von sich; sie will jetzt nicht daran denken, jetzt, wo alles um sie herum so herrlich, friedlich und schön ist; wie sich auch alles gestalten, wohin sie auch kommen mag, so viel ist sicher, diese Plätze wird sie nie vergessen können und vor allem niemals diesen Stein, der immer ihr Lieblingsplatz gewesen ist, und vollends nun, nachdem es hier oben in den Bergen so einsam um sie geworden ist. Und von neuem schaut sie umher.
Da erblickt sie weit draußen im Moor die Gestalt eines Mannes, der auf sie zu gewandert kommt; ab und zu beugt er sich nieder, offenbar, um eine Multbeere zu pflücken, die nun bereits zu reifen anfangen. Da nehmen ihre Gedanken eine andre Richtung.
Wer das wohl sein mag? Es kann wohl kaum einer sein, der nach seinen Pferden ausschaut; denn die pflegen nie an Sonntagen zu gehen. Ein Beerensammler kanns aber auch nicht gut sein; denn die Multbeeren sind noch nicht so reif, daß das Sammeln sich lohnte. Es muß einer sein, der zu seinem Vergnügen im Gebirge wandert. Wenn es Jakob wäre! Den hat sie seit letztem Herbst nicht wiedergesehen, und damals sagte er ja, er wolle sie im Sommer aufsuchen; die Gestalt glich aber auch Jakob nicht, außerdem kannte der sich wohl kaum hier im Westgebirge genügend aus, um sich allein zum Klininggrautstein hinauf zu finden, und es sah so aus, als ob der dort gerade hierher wollte, und offenbar kannte er auch das Moor und wußte, wo Multbeeren wuchsen, und wo es gangbar war. Es war doch nicht etwa gar …? Sie wurde rot beim bloßen Gedanken, aber gerade da war er unten am Abhange verschwunden, und sie konnte ihn nicht mehr sehen.
Unwillkürlich band sie ihr Kopftuch fester, strich ihr lichtes Haar unter das Tuch zurück und glättete die Falten ihres Rockes. Darauf setzte sie sich, mit dem Rücken halb nach der Richtung gewandt, von wo er kommen mußte, nahm ihr Buch, beugte den Kopf darüber und tat, als ob sie läse.
Bald darauf kam hinter ihr ein junger Mann die Anhöhe herauf. Er hatte funkelnagelneue Frieskleider an, einen neuen Schal um den Hals gebunden und trug hohe Schaftstiefeln; er war nicht gerade groß, eher untersetzt, und in dem jugendlichen Gesicht mit dem kaum bemerkbaren Schatten eines Flaums unter der Nase saßen ein paar braune, gutherzige und treue Augen. Er blieb eine Weile stehen und sah auf die Ebene herab, wo Sidsel auf dem Steine saß und die Herde um sie rastete; es war deutlich zu sehen, daß dies Bild in ihm eine Erinnerung wachrief, daß er das Bild schon früher gesehen hatte. Sidsel sah nicht auf, aber sie fühlte, daß der andre dort war, fühlte es förmlich im Rücken, daß er dastand und sie betrachtete. Er lächelte; dann machte er einen Umweg, um von der Seite her zu ihr hinunter zu kommen, damit das Vieh Zeit hätte, seiner rechtzeitig gewahr zu werden, und nicht erschreckt aufführe. Er ging ruhig gerade auf sie zu, so daß sein Schatten über das Buch hinglitt; da blickte sie auf, und ihre Augen begegneten sich; beide erröteten leicht, aber da sagte er rasch:
Guten Tag, Sidsel!
Guten Tag! Nein, du bist's Peter? Was bringt denn dich hierher?
Sie gaben sich die Hand.
Ja, ich dachte, es müßte nett sein, die alten Plätze wieder zu sehen, und da Jakob dich hier oben besuchen wollte, schloß ich mich ihm an.
Ist Jakob auch mit?
Ja, aber er ist unten auf der Senne geblieben, er war müde; wir sind nämlich heute schon in aller Frühe aufgebrochen, und dann hatten wir auch dem Hogseth versprochen, morgen ein paar seiner Gäule mit nach Hause zu bringen. Ich soll dich von ihm grüßen.
Warst du denn so sicher, mich hier zu finden?
O ja, ich konnte es mir ungefähr denken, wo du bei solchem Wetter sein würdest. Und für mich ist es ja auch unterhaltend, hier mich umzusehen, da ich hier bekannt bin.
Er setzte sich neben sie auf den Stein und schaute bedächtig ringsum.
Findest du dich wieder zurecht?
Ja, alles ist ganz unverändert, als ob ich erst gestern hier gehütet hätte. Aber dich hätte ich beinahe nicht wiedererkannt, du bist so groß geworden.
Findest du?
Es ist ja aber auch zwei Jahre her, seit ich dich gesehen habe.
Es entstand eine kleine Pause; dann fuhr Peter fort:
Ich ging über das Skraamoor, an unserm Badeteich vorbei, der ist ausgetreten.
Ja.
Ich habe schon daran gemacht, ob ich ihn nicht wieder für dich aufdämmen sollte.
Ach nein, das brauchst du nicht; ich habe meinen Badeteich an einer andern Stelle, die niemand kennt.
Nein, was du sagst.
Ja, den habe ich schon das letzte Jahr gehabt, als ihr noch hier wart.
Also da stecktest du an den Tagen, wo wir dich nirgends finden konnten?
Das Vieh fing an, aufzustehen und davon zu trippeln, und da mußte Peter sich die alten Ziegen anschauen und sehen, ob er sie noch kannte, und wirklich kannte er sie alle noch ganz gut, und Sidsel erzählte ihm von den neuen; aber bald war die Herde ihren Blicken entschwunden, und da hatten sie auch nichts mehr mit einander zu reden. Sie saßen immer noch nebeneinander auf dem Steine. Darauf sagte Peter:
Du hast deinen Birkenhut nicht mehr, Sidsel?
Nein, der ist schon lange abgetragen.
Aber was hast du denn da an der Schnur?
Er griff behutsam nach einer Schnur, die sie um den Hals trug, und zog daran. Aus ihrem Busen zog er die Hornpfeife, die er ihr einst geschenkt hatte.
Ich glaube gar, du hast die Hornpfeife noch?
Sidsel wurde über und über rot, sie schämte sich, daß er sah, wie kindlich sie noch war, und beeilte sich zu sagen:
Ja, ich trage sie – bisweilen.
Ich habe meine auch noch, sie ist das einzige Andenken an meine Hirtenzeit, das ich noch habe, und er zog aus der Brusttasche die Pfeife hervor, die aus dem einen Horn Krummhorns angefertigt war.
Wollen wir mal versuchen?
Da lachten sie beide und bliesen zusammen eine lustige Hirtenweise, wie sie das früher so oft getan hatten – keines hatte das Stück vergessen. Als sie damit fertig waren, entstand wieder eine Pause. Endlich sagte Sidsel:
Nun muß ich aber wohl nach meiner Herde sehen, sonst könnte es mir passieren, daß ich ohne Herde nach Hause komme.
Laß sie nur ziehen, die finden sich schon von allein nach Haus, und da können wir zusammen nach der Senne gehen, nicht wahr?
Ja, lassen wir sie laufen.
Wieder wurde es eine Weile still. Dann stand Sidsel auf und sagte:
Nun müssen wir aber wohl gehen.
Peter blieb sitzen und sagte bloß ganz ruhig und bescheiden:
Kannst du nicht noch ein Weilchen sitzen bleiben? Ich möchte dich gern was fragen.
Sidsel senkte den Kopf und setzte sich wieder, ohne etwas zu erwidern.
Ich habe dir Grüße auszurichten – von Jon. Er hat mir vor vierzehn Tagen geschrieben aus Amerika. Er bittet mich ausdrücklich, dich zu grüßen.
Danke. Geht's ihm gut?
Ja, es geht ihm gut; er hat einen guten Platz bekommen und verdient viel Geld.
Jon verdient's aber auch; er ist sicher ein flinker Bursch geworden.
Ja, das ist er. – Er fragt, ob ich nicht zum Frühling nachkommen will. Er will mir das Billet schicken.
Da blickte Sidsel auf und sah ihn einen Augenblick an, darauf senkte sie wieder den Kopf und sagte kein Wort. Peter fuhr fort:
Und da wollte ich dich nun fragen, ob du willst, daß ich das tue?
Es wurde ganz still, und er saß da und sah sie fragend an. Sie saß lange mit niedergeschlagenen Augen; dann sah sie plötzlich auf, richtete die blauen Augen auf ihn und sagte rasch und bestimmt:
Nein, das will ich nicht.
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Es wurde nicht weiter über die Sache gesprochen, und bald darauf waren sie auf dem Weg nach der Senne. Sie gingen an allen den bekannten Plätzen vorüber, die am Wege lagen, dem Badeteich und dem Pegesteig, und überall hatten sie viele gemeinschaftliche Erinnerungen aus der Seit, als sie hier zusammen ihre Herden gehütet hatten, und mehr als einmal sagten sie, es wäre doch schade, daß Jon vielleicht nie wieder hierher zurückkommen würde. Der Himmel wölbte sich hoch und klar über ihnen, und das Gebirge lag mit seinen unendlichen stillen Höhenzügen vor ihnen, und sie fühlten sich wunderbar leicht und froh. Obwohl sie nichts mit einander ausgemacht hatten, war es doch beiden, als bestände zwischen ihnen eine heimliche Verabredung, ein wunderliches Geheimnis, von dem niemand, nicht einmal Jakob, etwas erfahren durfte.