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Sidsel Langröckchen erwachte in der kleinen Gangkammer, die unter der großen Treppe draußen auf dem Flur in Hoël eingebaut war. Sie schlug die Augen mit einem Mal weit auf und versuchte, sich zurechtzufinden. Sie fühlte ein wohliges, erwartungsvolles Erbeben im ganzen Körper, fühlte, daß sie zu etwas Großem, Wichtigem, etwas Neuem erwacht war, auf das sie sich ganz unvernünftig gefreut hatte; aber sie konnte nicht sofort darauf kommen, was es war.
Es war ganz hell in der kleinen Kammer, in der bloß ein Bett und ein Stuhl standen und sonst nur noch ein kleines Wandbrett hing mit einem Spiegel darüber.
Die Sonne schien quer in die Stube herein durch ein paar Fensterscheiben, die hoch oben in der Wand gerade über ihrem Bett angebracht waren, und zeichnete die Scheiben als zwei leuchtende gelbe Vierecke auf der Diele bei dem kleinen Ofen ab; die eine Ecke reichte weit bis zum Ofen hinauf. Sie folgte den Sonnenstrahlen mit den Augen, da traf die eine Ecke gerade auf etwas hellgrünes, und gleichzeitig schlug ihr ein wunderlich feiner Duft entgegen. Sie sog den Duft ein – ja richtig – nun besann sie sich, es waren die feinen Birkenzweige, mit denen sie gestern ihr Kämmerchen geputzt hatte; draußen war keimender, sprossender Frühling, und heute sollte das Vieh auf die Weide gelassen werden, und die Kälber sollten Namen kriegen; heute sollte sie erst im Ernst ihren Dienst antreten, etwas für sich selbst werden, Hirtin auf Hoël.
Sie war nun schon einen ganzen Monat auf Hoël.
Aber bisher war sie gewissermaßen bloß zum Staate herumgegangen, hatte im Hause mit Kjersti herumgebastelt, Kleinholz für sie geholt, den Kaffee gemahlen und mit ihr geplaudert.
Die Schafe und Ziegen waren zwar bereits ins Freie gelassen, aber die durften noch überall hin, bloß in den Garten durften sie nicht hinein; aber den bewachte Bär. Im Kuhstall war auch nichts für sie zu tun; dort war außer der Sennerin noch die Stallmagd, und die zwei besorgten alle Arbeit. Eigentlich sollte eine Hirtin ja freilich melken können; aber sie meinten, Sidsel solle damit noch ein Jahr warten; sie habe noch zu kleine Hände, um Kühe zu melken. Und gar oft saß sie und maß ihre Hand und zog an den Fingern und fragte die Sennerin, ob sie nicht ihre Hände schon sehr groß fände; die Sennerin aber hatte gewiß schlechte Augen, denn sie konnte das gar nicht finden.
Krummhorn hätte sie ja eigentlich selber warten sollen, das meinte auch Kjersti, aber daraus wurde auch nichts. Denn die Ziege war so ganz unlenksam geworden, daß sie mitunter meinten, sie wäre geradezu verrückt. Im Ziegenstall ging sie von der einen Wand zur andern, sprang auf die andern Ziegen und die Schafe ein, daß es bloß so in deren Hinterbeinen krachte – zu guterletzt mußten sie Krummhorn an der Wand festbinden und auch dann noch die Leine ganz kurz machen. Und im Stall wollte sie sich überhaupt nicht melken lassen. Bis Sidsel es das erste Mal versuchte, machte die Ziege einen mächtigen Satz und schlug so heftig mit den Hinterbeinen aus, daß Sidsel nach der einen und der Melkeimer nach der andern Seite rollten. Daraufhin mußte die Sennerin selber die Ziege melken; aber auch da konnte es bloß mit Anwendung von Gewalt geschehen, und ein Zweites mußte Krummhorn an den Hörnern festhalten.
Und kam sie vollends ins Freie, so war sie nicht zu bewegen, den andern Ziegen auf den Anger hinauf zu folgen, um Futter zu suchen, frech stellte sie sich an der Tür zum Kuhstall auf, und hier stand si unbeweglich den ganzen, geschlagnen Tag – und brüllen tat sie, wie eine Kuh, sagte der Knecht – so daß sie am Abend, wenn die andern satt und vollgefressen heimkehrten, mager und hungrig wie ein Wolf war.
Sidsel meinte zwar, wenn sie einen Stand im Kuhstall kriegte, so würde sie schon wieder vernünftig werden; aber dazu sagten Kjersti wie die Sennerin nein – eine Ziege dürfe nicht solche schlechte Ungewohnheit gelehrt bekommen.
Sidsel hatte deshalb nicht weiter viel zu tun gehabt; das Einzige, wozu Kjersti sie angestellt hatte, war, ihr Kämmerchen hübsch in Ordnung zu halten, und das hatte sie auch immer getan. Jeden Morgen machte sie selbst ihr Bett, und jeden Sonnabend scheuerte sie den Fußboden und das Wandbrett und streute Wachholder. Und letzten Sonnabend war denn auch Kjersti gekommen, hatte zu ihr hereingeguckt und gesagt, sie hielte ihre Schlafkammer ordentlicher und sauberer als die erwachsnen Mägde; und das war nicht gelogen, das hatte sie selber gesehen.
Nun sollte es aber anders werden. Gestern abend war Kjersti zu ihr gekommen und hatte gesagt, heute früh sollte das Vieh auf die Weide gelassen werden, und da müsse sie mit dabei sein; späterhin am Tage sollten die Kälber zum ersten Mal ins Freie kommen, und die müsse sie wenigstens den ersten halben Tag hüten, und weiterhin solle sie ihnen Namen geben, Namen, die sie auch für später behalten sollten, bis sie große, alte Kühe würden. Am nächsten Tage dann sollte sie den Ranzen aufgeschnallt kriegen und mit den Schafen und Ziegen in den Wald ziehen. Denn nun ging es nicht länger an, die Tiere noch auf dem Anger grasen zu lassen.
Jetzt besann sie sich auch; diese Namen waren es gewesen, über die sie gestern abend im Bett nachgedacht hatte; aber noch war sie damit nicht weiter gekommen, als darüber nachzudenken, ob nicht die feine rotbraune, die mit dem großen, weißen Fleck am Kopfe und mit den sanften, gutmütigen Augen, Bliros heißen sollte.
Aber sie hatte den Gedanken bald aufgegeben. Es war doch nur eine einzige Kuh, die Bliros heißen konnte. Ach, sie mochte am liebsten gar nicht daran denken. Und darüber war sie eingeschlummert.
Wenn sie es nur nicht verschliefe! Denn sie hatte Kjersti sagen hören, sie könne es nicht ausstehen, wenn die Mägde am Morgen so lange liegen blieben und die Zeit vertrödelten – und es wäre ja auch keine Art gewesen, wenn sie gerade heute, wo sie im vollen Ernst den Dienst beginnen sollte, nicht ebenso früh zur Stelle gewesen wäre wie die andern.
Sie kam rasch aus den Federn und schlüpfte in ihren langen Rock. Dann machte sie schnell ihr Bett, öffnete die Tür, ging in den Flur und auf die Treppe hinaus.
Die Sonne war eben im Osten über den obersten Tannenwipfeln auf der Halde emporgekommen und brauste nun wie ein schäumender Wasserfall über die Talränder nieder; die Sonnenstrahlen zitterten im Tau auf den Wiesen und Halden; es blinkte im Gelben, es glitzerte im Grünen, es blitzte in den Bächen, die talabwärts rauschten. Aus jedem Gebüsch kam ein lustiges Zwitschern und Piepsen, ein unaufhörliches Schwätzen und Flügelschlagen, von allerorten kam die frohe Runde keimenden Lebens und Treibens.
Alles vermischte sich zu einem einzigen, mächtigen Morgenbrausen, in dem der einzelne Laut verschwand, nur der Kuckuck rief hoch oben im Birkenwäldchen auf der Halde so laut, daß man ihn über alles hinweg hörte, und in jedem blanken Fenster stand ein großes, ruhiges Sonnenauge.
Und wie es Tausenderlei verschiedene Arten Laute gab, so gab es tausend verschiedene Düfte, von der dampfenden Erde, von sprossendem Gras, von Knospen und Blüten, und durch das Ganze drang wie der Ruf des Kuckucks in dem großen Gebrause – der feine, scharfe, betäubende Brodem des eben aufgesprungenen Birkenlaubs.
Sidsel Langröckchen blieb eine Weile stehen, holte tief Atem und ließ den Duft und das Brausen auf sich eindringen. Dann sah sie sich auf dem Hofe um. Es war noch ganz still, alle Türen waren noch geschlossen; von lebenden Wesen, die zum Hof gehörten, war nur Bär zu sehen, der sich langsam von den Steinfliesen erhob, wo er sichs in der Sonne bequem gemacht hatte; er kam heran, sah zu ihr auf und wedelte mit dem Schwanze.
Ja wahrhaftig, sie war heute die Erste, die auf dem Hofe auf war!
Nun, da mußte sie eben warten. Sie setzte sich auf die Treppe.
Aber nein, das hätte sie sich doch denken können – natürlich war Kjersti schon auf; sie hörte sie aus ihrer Kammer in die Küche gehen und mit dem Stecken dreimal an die Decke zur Südkammer pochen, in der die andern Mägde schliefen.
Gleich darauf hörte sie plumps, plumps, wie eine nach der andern aus dem Bette sprang, und das Klappern der Holzschuhe, die sie anzogen.
Dann kam Kjersti heraus – sie wollte nach der Knechtekammer hinüber, um die Burschen zu wecken.
Als sie Sidsel sah, sagte sie:
Nein, da ist ja Sidsel schon auf den Beinen. Du bist mir ein flinkes Mädel, ich meine, ich muß dich zur Großmagd machen.
Sidsel wurde auf einmal so verlegen, daß sie sich gar nicht getraute, Kjersti in die Augen zu sehen. Als aber endlich die Sennerin und die andern Mägde die Treppe herabkamen, hob sie unwillkürlich ihr Stumpfnäschen noch ein bißchen höher als sonst.
Bald herrschte überall auf dem Hofe emsiges Leben und Treiben; aber es war doch nicht wie gewöhnlich. Jedes hatte heute Eile, und es war, als ob alles die Richtung auf den Kuhstall hin nähme; die Türen standen weit offen an beiden Seiten des Stalles, und alle nahmen ihren Weg durch den Stall hindurch. Die Frühlingsluft strömte ungehindert hinein, und die Kühe drehten sich in ihren Ständen um, bliesen die Nüstern auf und schauten hinaus.
Als Kjersti selber hineinging, mit den Kühen redete und der Schellenkuh die Backen klopfte, während die Mägde dasaßen und molken, da begriffen auch die Tiere sofort, was für ein Tag heute war. Die Schellenkuh hob den Kopf und brüllte, daß es weit hinausschallte, und das war für alle andern das Zeichen; sie rissen an den Ketten, schlugen mit den Schwänzen und begannen ebenfalls zu brüllen, eine nach der andern, die ganze Reihe abwärts, so daß der Stall förmlich erbebte, ein vielstimmiger, erwartungsvoller Jubelruf, der gar kein Ende nehmen wollte.
Und über das Ganze hinweg hörte man den Bullen, der so tief, gleichmäßig und gutmütig brüllte – er brauchte sich gar nicht anzustrengen, um gehört zu werden.
Obwohl heute alles rascher vor sich ging als sonst, schien es Sidsel Langröckchen doch, als dauerte es lange. Sie konnte nicht begreifen, wo die andern die Ruhe hernahmen, dazusitzen und gelassen ihr Frühstück zu verzehren. Sie war lange vor den andern fertig und fragte, ob sie nicht das Kleinvieh herauslassen dürfe, die Schafe und die Ziegen. Das dürfe sie schon, wurde ihr geantwortet. Im Handumdrehen hatte sie die Tiere ins Freie gebracht, und wie gewöhnlich zerstreuten sie sich rasch mit mutwilligen Sprüngen und langen Sätzen über die Wiesen hin – nur Krummhorn nahm die Gelegenheit wahr und schlüpfte durch die offne Tür in den Kuhstall hinein. Aber Sidsel hatte keine Zeit, das zu beachten.
Auf einmal wurde es einen Augenblick ganz still; man hörte ein paar tiefe, volltönende Schläge einer groben Schelle. Aber es war nur ein Augenblick; dann antwortete vom Kuhstall her ein Jubelgebrüll, Brummen, Schnauben, Schweben und Kettenklirren, als ginge ein schweres Gewitter über den Hof nieder. Jetzt verstanden die Tiere, daß es wirklich Ernst war, als sie die Schelle hörten, die sie, seitdem sie im Herbst in den Stall gekommen waren, nicht wieder gehört hatten.
Und da kamen sie in feierlichem Zuge, Kjersti selbst an der Spitze, die Schelle mit dem eisenbeschlagenen Kloben in der Hand, hinter ihr die Sennerin, dann die Untersennerin, die Stallmagd und darauf die beiden Knechte, die dicke Knüppel austeilten, – auch Sidsel bekam einen – und zu allerletzt Bär, der heute auch mit dabei war.
Sie gingen in den Stall hinein. Da wurde es mit einem Mal wieder still; alle Kühe drehten die Köpfe nach der Seite, von wo der Zug hereinkam, und sahen mit großen, erwartungsvollen Augen drein.
Dann wurde das Vieh verteilt. Die Sennerin sollte die Ketten lösen. Sidsel, die Untersennerin und die Stallmagd sollten es mit ihrem Stecken durch die Tür hinausleiten; draußen im Viehgatter sollten die Knechte bereitstehen, um die Tiere in Empfang zu nehmen und auf den rechten Weg zu bringen – das Vieh sollte heute auf den Nordanger – und diejenigen, die zusammengerieten, trennen, und draußen wollten Kjersti und Bär stehen und sich das Schauspiel durch das Gatter ansehen.
Der große Augenblick war gekommen.
Kjersti ging zur Schellenkuh in den Stand hinein. Die richtete sich auf, hob stolz den Kopf, so hoch sie vermochte, und stand bumsstille, wie eine Mauer. Sie wußte genau, daß sie die vornehmste hier war, die als erste durch die Stalltür aus- und eingehen durfte; sie mußte aber auch zeigen, daß sie die Ehre wohl zu würdigen verstand, von Kjersti selbst das Ehren- und Machtzeichen, die Schelle, an- und abgeschnallt zu bekommen. Kjersti band ihr die Schelle um den Hals und löste ihr die Kette, die klirrend zu Boden fiel. Da schwenkte die Kuh langsam und bedächtig, wie ein großes, schweres Schiff, aus dem Stande heraus; feierlich und ernst nahm sie die Richtung auf die Tür zu, den Kopf hoch haltend und so ruhig, daß man kaum die Hörner sich bewegen sah, und die Schelle gab bloß einen kurzen, bestimmten Ton bei jedem Schritte.
Der nächste war der Bulle; dem löste die Sennerin die Kette; der ging ebenso ruhig und schwerfällig, und seine Hörner ragten so hoch, daß sie beinahe das Dachgebälk streiften, und waren so breit, daß es aussah, als füllten sie den ganzen Mittelgang aus. Sidsel hatte noch nie bemerkt, daß er so groß war. Und dann kamen der Reihe nach die andern, Brandros und Morlik, Kranslin und Reindrople, Svartsi und Drive, Farskol und Litago, Sommerlöv und Spasergang, Mörkei und Guldros, die ganze, lange Reihe abwärts bis zu den Färsen, deren Namen keines richtig behalten konnte, und die jungen Ochsen, die überhaupt keine Namen hatten. Und je weiter sie den Gang hinunterkamen, um so schneller ging es; sie streckten die Hälse und zerrten an den Ketten, sie stürzten auf die Kniee, wenn die Kloben an den Ketten nachgaben, sprangen wieder auf, daß es in den Gelenken krachte, liefen geradeswegs gegen die Wand oder oben in den Futtergang hinauf, scharten sich dann alle bei der Tür zusammen, kamen zwei und zwei nebeneinander her, liefen sich so fest, daß ihre dicken Bäuche wackelten, und bereits kamen neue von hinten nach und drängten vorwärts, schlugen mit den Hörnern, stießen und brüllten; plötzlich gab dann der Widerstand vorn nach, und der ganze Klumpen stürzte ins Freie.
Das Letzte, was Sidsel sah, war Krummhorn, die hinten ausschlug und mit einem langen Satz durch die Stalltür den andern nachsetzte.
Draußen war Lärm und Leben. Sie hoben die Köpfe, schnauften nach der Halde hinauf, und dann wurden sie wie besessen; alte, steifbeinige Kühe schlugen übermütig wie die Kälber mit den Hinterbeinen aus, machten mutwillige Sätze über den Hof hin, gerieten in ihrer Ausgelassenheit aneinander, daß die Hörner nur so krachten, stießen ein kurzes, wildes Gebrüll aus, wenn sie den kürzeren zogen, und fuhren auf eine zweite und dritte los – das Ganze ward ein einziger großer Wirrwarr von Schnaufen und Brüllen, Krachen der Hörner und Knacken der Gartenzäune, Aufklatschen und Knallen der Stecken, Hufen und Schreien von Menschenstimmen; und durch den Wirrwarr hindurch bahnte sich der Bulle, auf und abschreitend, die Hörner hoch über dem Ganzen, den Weg wie ein gewaltiger Schneepflug.
Nur die Schellenkuh stand ruhig ein Stück abseits und sah zu; ihr wagte keines zu nahe zu kommen.
Endlich war die Sennerin an die Spitze des Zugs gekommen und begann zu locken; da hob die Schellenkuh den Kopf, brüllte, daß es weit über den Hof schallte, und sprang hinterdrein. Ihr nach kam Brandros, die immer noch voller Wut schnaubte; nun hatte sie alle gezüchtigt, die es überhaupt der Mühe wert waren, und hatte sie auch nicht die Schelle bekommen, wollte sie doch wenigstens die nächste nach der Schellenkuh sein. Ihr wieder dicht auf den Fersen kam Krummhorn angesetzt, den Kopf hoch und mit wichtiger Miene; aber Brandros verstand heute keinen Spaß, schlug mit dem einen Hinterbeine aus und traf sie so mitten auf den Kopf, daß es Krummhorn vor den Augen flimmerte. Aber die Ziege schüttelte bloß den harten Schädel – tat, als wenn gar nichts geschehen wäre – das war wohl so Sitte unter Kühen.
Das Locken der Sennerin wurde immer lauter, eine nach der andern wurde aufmerksam, kam nachgesetzt, und bald lief der ganze Haufen unter lautem Schnaufen und Brüllen, Rufen und Schellenklang, Locken und klatschenden Schlägen hastig zum Nordanger hinauf.
Dort oben war das Gelände flach und weit weniger gefährlich; das Jungvieh tänzelte in wildem Spiele herum, und hier fand der letzte Kampf statt zwischen denen, die die Kräfte noch nicht gemessen hatten; denn dieser erste Kampf war für den ganzen Sommer entscheidend. Aber bald beruhigten sie sich, und ein paar Stunden später grasten sie friedlich Seite an Seite.
Die Knechte fingen an, heimzugehen. Bloß die Sennerin und Sidsel sollten noch eine Weile zurückbleiben, um aufzupassen, daß nichts geschah. Und richtig, es geschah etwas.
Brandros war die einzige, die sich nicht beruhigen konnte, schnaufend schritt sie hin und her – eigentlich hätte sie die sein sollen, die die Schelle trug – und mit einem Mal fuhr sie wie toll auf die Schellenkuh los. Es entstand ein Ringkampf, daß die Rasenstücke nur so in der Luft herumflogen; dann hörte man ein Krachen und ein kurzes, wildes Brüllen – Brandrosens eines Horn hing gebrochen herab und schlenkerte hin und her. Sie schüttelte den Kopf, daß das Blut weit herumspritzte, stieß von neuem ein lautes Brüllen aus, kehrte um und setzte in langen Sprüngen geradeswegs nach dem Hof zurück, auf die Stalltür zu, und dort begann sie zu brüllen, als ob sie den ganzen Gutshof niederreißen wollte.
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Nach dem Mittagessen wurden die Kälber herausgelassen. Sidsel taufte sie Gulddrople, Rödsi und Morskol – der Ochse sollte noch keinen Namen bekommen –; sie sah wohl, daß Kjersti sich darüber wunderte, daß sie kein Tier Bliros genannt hatte, aber sie ließ sich nichts merken.
Sie trieben sie aus dem Verschlage heraus und über den Boden des Stalles hin in der Weise, daß jede von den Mägden ihnen einen Bottich mit etwas Dünnmilch vorhielt; die Kälber fuhren mit den Köpfen in die Eimer bis auf den Boden, die Mägde liefen dann mit den Kübeln voran, und die Kälber, die auch den letzten Tropfen mitnehmen wollten, ihnen nach, den Eimer wie große Hauben über den Köpfen tragend. Draußen vor der Stalltür schnappten die Mägde ihnen die Kübel wieder weg – und da standen sie, die noch niemals zuvor außerhalb des Verschlags gewesen waren, auf einmal inmitten der großen, wunderlichen, neuen Welt.
Sie sahen nieder und stelzten rückwärts, als ständen sie auf einer Treppe. Aber bald wagten sie, vorsichtig den einen Fuß vorzusetzen, dann den andern.
Es ging langsam, Schritt für Schritt, aber dann – dann begriffen sie, daß sie auch hier festen Grund unter den Füßen hatten; dies war bloß ein größerer, aber so herrlich heller Verschlag, wo es gewiß weit bis zur Wand war – schwupp! reckten sie die Schwänze gerade in die Höhe und setzten davon wie die wildesten Waldtiere.
Das war ein Gelaufe von Zaun zu Zaun, der Kreuz und Quer und rund im Kreise über die weiten Felder hin, und jedes Mal, wenn sie über einen Erdhaufen wegliefen, sahen Kjersti und Sidsel die aufgerichteten Schwänze sich wie Steuer gegen den Himmel abzeichnen. Sidsel fand, sie habe noch nie so etwas Lustiges gesehen. Aber lange blieben sie nicht beisammen; bald lief jedes in andrer Richtung, und am Abend mußte Sidsel sie einzeln aus den entlegensten Winkeln auf dem Felde zusammensuchen und eins nach dem andern wieder mit einem Eimer heimlocken; denn begreiflicherweise hatten sie noch nicht genügenden Verstand, um zu wissen, daß sie auch wieder nach Hause müßten, sie, die zum ersten Male im Freien waren.
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Sidsel lag wieder in ihrer kleinen Gangkammer. Es war am Abend des ersten Tages.
Erst sprach sie das kurze Nachtgebet, wie sie zu tun pflegte, streckte sich und fühlte sich wundervoll wohlig und müde im ganzen Körper.
Was das für ein Tag gewesen war! Sie wußte er war lang gewesen; aber wie schnell war er ihr vergangen. Sie mußte wirklich alles noch einmal überdenken.
Aber der Schlummer überraschte sie und warf die Bilder bunt durcheinander.
Dort sah sie ein paar große Hörner, die wie ein Schneepflug durch ein unentwirrbares Gewimmel hindurchpflügten, und dort wieder sah sie Brandros in ihrem Stande stehen; den Kopf zur Seite geneigt und einen großen Lappen um das eine Horn gewickelt, glich sie genau einem alten Weibe, das sich Kopfschmerzen wegen ein Tuch um die Stirn gebunden hat; und dort – ihr war, als sähe sie deutlich einen Vers geschrieben, den sie einmal gehört hatte:
Kälbchen springen, Schwänzchen schwingen
hoch in der Luft.
Und dann schlummerte Sidsel Langröckchen ein.
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Am nächsten Tage bekam Sidsel Langröckchen den Hirtenranzen aufgeschnallt und zog mit dem Kleinvieh in den Wald – Krummhorn bekam sie nicht mit; die trabte spornstreichs nach dem Nordanger hinauf zu den Kühen.
Dieser Tag wurde ihr lang; es war so wunderlich einsam und still im Walde; sie mußte unwillkürlich an so vielerlei denken, an die Mutter, an Jakob und an Schloß Guckaus, und da konnte es wohl geschehen, daß ihr die Tränen kamen.