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Es war am frühen Morgen. Auf einem Hügel dem Gutshof gerade gegenüber saß Klein-Marthe, ein kleines achtjähriges Mädel, und sah nach der großen Birkenaue hinüber, die sich den Hang hinauf bis ins Unendliche erstreckte, ganz oben von einem dunklern Streifen unterbrochen, wo die Tannen sich zwischen die Birken hineinzudrängen begannen. Ab und zu schob Klein-Marthe das gemusterte Kopftuch vom Ohre zurück und lauschte gespannt.
Nein! Sie konnte nichts hören, wie lange es heuer doch dauerte, bis es richtig Frühling wurde! Zur Mittagszeit war es zwar schon so warm, daß der Schnee auf der Sonnenseite weggeschmolzen war, aber hinten am Abhang lagen die weißen Streifen noch immer längs der Talgründe und Bachläufe und sandten eisigkalte Luftwellen übers Tal, sobald die Sonne untergegangen war. Wie heute hatte Klein-Marthe nun schon acht Tage lang jeden Morgen hier gesessen, aber gestern erst war die milde Wärme gekommen, die sich über alles ausbreitete, ob die Sonne nun schien oder nicht. Und da hatte sie auch gesehen, wie mit einem Mal die Bäche anschwollen und das Tal mit ihrem Brausen erfüllten; auch die Knospen an den Birken schwollen plötzlich an und begannen aufzubrechen, und heute konnte sie gar sehen, wie bereits hellgrünes Laub hie und da in der milden Morgensonne hervorguckte, die sich über die Hänge wie ein mächtiger Lichtstrom ergoß.
Ihr Herz klopfte: Nun konnte es nicht mehr lange dauern!
Sie drehte sich um und sah nach dem Hof hinunter, der scheinbar so friedlich dalag mit seinen glitzernden Fensterscheiben, während der Rauch senkrecht aus dem Schornstein aufstieg; bloß ein großer fremder Hund, der sich auf den Steinfliesen vor der Tür streckte, störte gewissermaßen das gewohnte ruhige Bild.
Wenns nur nicht zu spät wurde!
Es war der Kuckuck, auf den Klein-Marthe hier so ängstlich wartete, und zwar aus guten Gründen. Im Elternhaus herrschte nämlich nicht solcher Friede wie draußen auf dem Hofe. In der Kammer lag die Mutter und kämpfte mit dem Tode.
Vor etwa acht Tagen war sie plötzlich krank geworden, hatte sich in der scharfen Frühlingsluft eine schwere Lungenentzündung geholt. Der Doktor war schon mehrmals dagewesen, und die ganze letzte Nacht hatte er an ihrem Bett gesessen; daher auch der große fremde Hund vor der Tür.
Am ersten Tage war Klein-Marthe drin bei der Mutter gewesen; die lag im Bett und jammerte. Klein-Marthe weinte und fand es wohl schlimm, daß die Mutter solche Schmerzen hatte; wie ernst es war, verstand sie aber erst am Abend, als der Vater zu ihr ans Bett kam und sagte, sie solle zu Gott beten, daß sie die Mutter behielten. Niemals war ihr der Gedanke gekommen, daß sie sie überhaupt verlieren könnten. Da betete sie so innig und war überzeugt, das müsse helfen. Der liebe Gott war vergangnes Jahr so gut gegen sie gewesen, als sie ihn um einen Rutschschlitten bat. Ein paar Tage darauf brachte ihr der Vater den Schlitten, obwohl er doch gar nicht wissen konnte, daß sie Gott darum gebeten hatte.
Als sie aber am folgenden Tag in die Kammer zur Mutter kam, war die so wunderlich. Die andern weinten, und die Mutter selbst lag da, hatte einen sonderbar fremden Ausdruck auf den lächelnden Lippen, redete so merkwürdige Dinge, die Marthe gar nicht verstehen konnte, und sprach davon, daß sie und die alte Frau Pastorin Rutschschlitten führen. Schließlich aber hatte sie davon geredet, daß der Herr Pastor mit einer ganzen Fuhre Schokoladeplätzchen ihnen nachkäme. Das schnitt Klein-Marthe durchs Herz. Es war mit einem Mal, als trüge sie an allem Schuld.
Es war wohl nicht zu erwarten, daß der liebe Gott ihr auch diesmal helfen würde. Denn er wußte natürlich von dem Stück Schokolade, das die Mutter im Schranke aufbewahrt hatte und das Klein-Marthe aufgegessen, ohne zu fragen. Eigentlich hatte sie es auch gar nicht aufessen, nur ansehen wollen, aber zufällig hatte sie ein Stückchen abgebrochen, nicht einmal so groß, daß sie es hätten sehen können, und sie hatte auch nicht mehr davon gegessen, an dem Tage. Aber jeden Tag nahm sie ein Stückchen, und ehe sie sichs versah, war die Schokolade verschwunden. Erst da fiel ihr ein, wie unrecht sie getan, und sie hatte es auch wirklich der Mutter sagen wollen; aber sie wartete und wartete damit, bis die Mutter plötzlich krank geworden war.
Wäre die Mutter nur wenigstens so weit bei Sinnen gewesen, daß sie es ihr nun hätte sagen können, ja dann – vielleicht –?
Ach nein, es war nicht zu erwarten, daß der liebe Gott ihr helfen würde; vielleicht gefiel es ihm gar nicht einmal, daß sie davon anfing!
Nicht einmal weinen konnte sie, fühlte sich nur so unruhig zu Mute, so arm, so furchtbar einsam und verlassen und so hilflos! Sie wußte sich keinen Rat.
Wäre ihr bloß etwas eingefallen, womit sie dem lieben Gott hätte zu verstehen geben können, daß sie es wirklich ernst meinte. Sie wollte gern alles tun, was er verlangte!
Im selben Augenblick ertönte ein hoher, klarer Flötenton oben vom Bach der Scheune herab. Es war ein Star, der erste Frühlingsbote.
Der Kuckuck?! Sie hatte gehört: wenn man unter den Baum kommt, auf dem der Kuckuck sitzt und ruft, dann braucht man sich bloß etwas recht innig zu wünschen, und es geht auch in Erfüllung.
Ach, wenn er bloß käme! Gern wollte sie bis ans Ende der Welt laufen, um nur unter den Baum zu kommen.
Von dem Augenblick an erschien ihr dies die einzige Rettung, und deshalb hatte Klein-Marthe nun schon viele Tage hier oben gesessen und gewartet und gelauscht, wie sie es auch heute tat.
Ach wenn's nur nicht zu spät wurde! Sie hatte den Doktor von etwas sprechen hören, was er Krisis nannte und auf das er warten wollte, vielleicht müsse er die Mutter zur Ader lassen. Aber noch konnte nichts besonderes los sein, alles war so still unten im Hofe; bloß die Hühner liefen herum und scharrten im Sande bei der Stalltür, und das Starenpärchen schwatzte oben auf dem Dache der Scheune, es hatte sich dort wohl ein Nest gebaut.
Auf einmal sprang sie aus, zog das Kopftuch zur Seite und lauschte in atemloser Spannung.
Das bekannte Ku – ku ertönte plötzlich so klar, voll und taktfest dort vom Hange her, – weit, weit weg.
Das Blut stieg ihr in die Wangen, und ihr Herz hämmerte. Unbeweglich blieb sie einen Augenblick stehen, dann lief sie davon, dem Tone nach, wieder machte sie Halt, hielt den Atem an und lauschte – sie konnte ihn noch hören – nun flog er noch weiter weg. Und wieder lief sie. So ging es lange – es war so unglaublich weit, und immer wieder konnte sie hören, daß er weiter und weiter wegflog; jetzt war er ganz oben auf der Halde. Sie lief und lief – bloß ein Gedanke beherrschte sie, sie mußte, mußte ihn einholen.
Endlich war sie oben auf der Höhe; hier schien der Vogel sich niederlassen zu wollen, er blieb nun länger an einem Fleck. Jetzt war sie ihm ganz nahe. Dort in der großen Birke konnte sie ihn sitzen sehen! Sie lief hin. Nein, da flog er auf einen andern Baum hinüber. Sie nach, wieder flog er davon. Eine förmliche Jagd war es die ganze Anhöhe hin. Sie versuchte, den Stern anzuhalten und sich heranzuschleichen, sie versuchte, in raschem Sprung ihn einzuholen, aber jedes Mal, wenn sie ihm ganz nahe war und ihr Herz in der Erwartung förmlich hüpfte, war er wieder auf und davon. Nun waren sie wieder bei der großen Birke angekommen; sie konnte ihn deutlich sehen, wie er den Schwanz zu einem Fächer ausbreitete und damit eifrig schlug, so oft er ku – ku rief. Jetzt war sie dicht bei ihm. Wenn er bloß die zwei, drei Schritt, die sie noch entfernt war, sitzen bleiben wollte! Sie hielt den Stern an, sammelte alle Kräfte zu einem letzten Sprung. Es schimmerte ihr vor den Augen, in ihren Schläfen hämmerte es – bloß – bloß diesmal noch. Da schwang er sich auf.
Die Spannung war zu groß gewesen, laut aufschluchzend sank sie unter der großen Birke zusammen.
* * *
Es war wie eine Erlösung für den ganzen Hof gewesen, als der Doktor gegen Mittag endlich erklären konnte, die Krisis sei nun vorüber. Die Kranke hatte die Augen aufgeschlagen und war wieder bei Besinnung. Das erste, wonach sie fragte, war Klein-Marthe. Sie wollten sie holen – sie war nirgends zu finden. Jetzt erst dachten sie daran, daß das Kind in diesen Tagen, wo niemand Zeit gehabt hatte, sich mit ihm zu beschäftigen, so wunderlich einsam und still und ganz sich selbst überlassen gewesen war; das Kind dauerte sie, aber nun sollte es schon anders werden. Sie suchten sie überall, oben auf dem Boden, in den Kellern, drinnen und draußen, aber nirgends war eine Spur von ihr zu entdecken. Sie fingen an, ängstlich zu werden, alle auf dem Hof nahmen den regsten Anteil am Schicksal des Kindes. Die Angst drang schon bis zur Kranken, die immer von neuem fragte. Da wurde der Doktor besorgt für seine Patientin, sie mußten eine Ausrede erfinden – die Kranke durfte nicht der geringsten Aufregung ausgesetzt werden – sie mußten zusehen, daß sie das Kind so rasch wie nur möglich fanden.
Da kam dem Doktor ein Gedanke – sein Hund! Wo hatten sie sie zuletzt gesehen? Oben auf dem Hügel. Ob sie nicht ein Kleidungsstück hätten, das das Kind getragen? Das bekam er, und er ging zum Hügel hinauf und rief seinen Hund. Der kam in raschen Sprüngen herbeigelaufen und wedelte fröhlich mit dem Schwanze. Der Doktor hielt ihm das Tuch hin; der Hund roch und sah zu seinem Herrn auf. Da zeigte der Doktor auf eine Stelle unten am Hügel, wo, wie er sehen konnte, jemand gesessen hatte. Der Hund schnoberte auch hier und sah wieder zu seinem Herrn auf mit klugen fragenden Augen.
Jawohl! – der Doktor machte ein paar Schritte. Der Hund verstand, folgte der Spur, während er mit dem Schwanze eifrig wedelte, und sprang einige Sätze davon, blieb stehen und sah sich fragend um.
Jawohl! – und der Doktor winkte den andern unten zu: Ihr braucht nicht mitzugehen, jetzt werde ich sie schon finden, und er folgte rasch dem Hunde, der schweifwedelnd ein langes Stück voran sprang, die Birkenaue hinauf.
* * *
Die Müdigkeit und Erregung hatten Klein-Marthe überwältigt, sie war eingeschlummert. Sie lag da und träumte, sie sehe den alten Pfarrer mit einer gewaltigen Fuhre Schokoladenplätzchen angefahren kommen, und auch einen Kuckuck hatte er mit auf dem Wagen – sie hörte ihn ganz deutlich, obwohl sie ihn nicht sehen konnte.
Da fühlte sie auf einmal etwas Warmes im Gesichts sie erwachte und schlug die Augen auf. Vor ihr stand ein großer Hund, wedelte mit dem Schwanze und leckte ihr das Gesicht – und dort oben, gerade über ihr, saß der Kuckuck und rief laut und klar. Sie sammelte bald ihre Gedanken und bekam gerade noch soviel Zeit, um den brennenden Wunsch zu ihm hinauf zu senden, daß die Mutter wieder gesund werden möchte – da flog er davon; denn der Hund hatte sich umgedreht und laut und fröhlich zu bellen angefangen, während er jemand, der den Hang heraufkam, entgegenlief.
Es war der Doktor. Er nahm sie auf den Arm:
Ich soll dich von deiner Mutter grüßen; nun wird sie bald wieder gesund werden.
Klein-Marthe schlug ihre beiden Ärmchen um seinen Hals und weinte vor stillem Glück.