Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Bei Andris Isaksen Gröttum

(Gröttum, Nordmarken)

Vier Uhr nachmittags – das ist sehr spät, wenn man mit dem Schlitten nach Nordmarken hineinfahren will. Da verdichtet sich schon der graue Christianianebel, der vom Fjord aufsteigt, zu Dämmerungsschatten; in der Karl-Johans-Gade werden die Laternen angezündet, und das elektrische Licht fließt mit einem bläulichen, glanzlosen Schein über die weißen Schneehügel; eine Abendmüdigkeit kommt langsam in die Stadt. »Vier Uhr ist zu spät,« sagen alle Leute, aber man diniert nun einmal so ausgezeichnet gut im Grand Hotel. . . .

Der Schlitten fuhr schellenklingelnd durch die Straßen, wo die Christiania-Männer und -Frauen in zufriedener Beschaulichkeit, ohne Erregung, ohne Hast spazierten – denn die Leute von Christiania gehen viel in den Straßen spazieren, und in der langen, auf- und niedersteigenden Karl-Johans-Gade ganz besonders. Draußen träumten rechts und links die beschneiten Tannenwälder. Die Tannenzweige hingen herab wie tote, erfrorene Hände mit ausgespreizten starren Fingern, und der Schnee lag auf ihnen wie Handschuhe von 255 weißem Eisbärfell. Und dann sah man von Hügeln hinab auf weite, stille, schneebeladene Flächen, wo im Sommer Wiesen grünen, wo die Kornähren rauschen, über blaue Seen Sonnenstrahlen dahintanzen. Aber jetzt nur Schnee, eine Welt von Schnee, auf der die Abendschatten lagen. Die Wälder, die ganz fern auf den Bergen in den Himmel hineinstiegen, schienen weiß gestreift. Zwischen dem Schnee sah immer das tiefe Dunkel hervor.

Die beiden Pferde hatten starke Arbeit im Schnee. Aber es waren kräftige Tiere, aus Nyquists schönem Gestüt, hoch gebaut, nicht von der kleinen, zottigen norwegischen Rasse. Das ging die Hügel hinauf und hinunter.

Keine Menschenseele war zu erblicken. Niemand kam uns entgegen. Das Schweigen der Nacht war da. Aber nichts hat so viel Leben als dieses Schweigen.

Wie schön, wenn weit vorn dort aus dem einsamen hölzernen Bauernhaus auf dem Hügel ein Licht durch das Fenster hinausirrt auf den blassen Schnee – ein einziges Zeichen von Leben in der großen Stille, eine einzige Spur von Wärme in dieser großen Schneewüste! Der Schlitten klingelt vorüber – pst – hat nicht ein Mädchen hinter dem Fenster die Stirn gegen die Scheiben gedrückt und gelacht?

Dann fuhren wir durch Baron Wedels großen Gutshof. Es gibt kein norwegisches Adelsgeschlecht mehr als dieses eine, und auch das wird den Titel ablegen, wenn der alte Baron einst mit Kerzen und Kränzen in die Familiengruft getragen wird, in der es nach 256 Vergangenheit duftet. Der letzte Baron! Andere Völker, andere Sitten.

Nach zweistündiger Fahrt hätten wir eigentlich in Gröttum sein sollen, aber der Schnee hinderte die Fahrt, und als die zwei Stunden vergangen waren, konnte der Schlitten nicht weiter, und wir mußten den letzten Teil des Weges zu Fuß zurücklegen. Das klingt einfacher und leichter, als es in Wirklichkeit war, denn der Weg ging noch gut dreiviertel Stunden bergauf, mit einem weichen, widerstandslosen Schnee bedeckt, und wir waren mit Lebensmitteln beladen wie Bauern, die zum Markt fahren. Und als wir zehn Minuten so vorwärtsgestapft waren, ohne eigentlich vorwärts zu kommen, und alle Augenblicke bis fast zur Brust im Schnee versanken, der hier viele Fuß hoch lag, band sich der blonde Olaf Thessen, mein prächtiger Begleiter, die langen Schneeschuhe unter, und auch ich bekam eine gewaltige Lust, so mein Heil zu probieren. Schneeschuhe und alle Ausrüstung hatten wir mitgenommen – lernen hatte ich die Kunst auf alle Fälle wollen – nun wurden sie angeschnallt, und wirklich, die Sache ging. Es war ja kein sportlich schönes Laufen, aber man hatte doch sogleich die Empfindung, ein sehr praktisches Beförderungsmittel unter den Füßen zu haben. Es gibt kein Versinken mehr, die Schneedecke trägt, man kann sich vorwärtsschieben.

So kamen wir über Hügel und durch Wälder, an einsamen Häusern vorbei, zu dem Bergplateau von Gröttum. Da liegt das Gehöft, das Andris Isaksen, der nach dem Orte, wie üblich, den Zunamen Gröttum führt, vom Baron Wedel gepachtet hat. In Isaksens 257 Wohnhaus sollten wir logieren: in einem Nebenhaus, das zwischen dem Wohnhaus und den Scheunen lag, hatten die Schneeschuhläufer ihr von Jahr zu Jahr gemietetes Stammquartier. Alle Häuser sind aus rotgefärbtem Holz gezimmert – das Baronsschloß ist das einzige Steingebäude, das ich bisher in Christianias Umgebung gesehen.

Andris Isaksen hat einen blonden Lockenkopf und kleine, dunkle, schlaue Augen. Seine Eltern leben bei ihm auf dem Gehöft und man sah sie durch das Fenster in ihrer Stube sitzen – ein alter, weißbärtiger Bauer und ein rundliches, bewegliches Weibchen. Andris Isaksen hat Frau und Kinder; Marie mit den roten Wangen, ein dickes, stumpfnäsiges Bauernmädel, seine Verwandte, hilft in der Wirtschaft. Andris Isaksen ist wohlhabend, wie die meisten Bauern in der Christianiagegend.

In den Stuben nichts National-Absonderliches. Nicht die derben, geräumigen Urvätermöbel, an denen so viel Behagen und Wärme und Gemütlichkeit hängt – moderner Zimmertrödel, Mahagonischränke mit Bronzeverzierung und Tische und Stuhle, die nach den Möbelmagazinen riechen. Nichts wirkt so erkältend, als diese Triumphe des Kunstgewerbes in den Bauernstuben.

Seltsam ist nur das Durcheinander von Bildern in der Wohnstube. An der rechten Wand die großen Bilder von Luther und Melanchthon – den lutherischen Glauben der Gehöftpächter verkündend – an der linken Wand bunte Bildlein der katholischen Heiligen und schlechte Öldrucke nach Carlo Dolces Christus und da Vincis Abendmahl. Die Psychologen mögen daraus 258 ihre Schlüsse auf Andris Isaksens Glaubenskraft und inneres Verständnis ziehen. . . .

Nach dem Abendessen machten wir den Schneeschuhläufern Visite. Ein blaugrauer Tabaksdampf kam aus der halboffenen Tür. Und nur allmählich sah man durch den Dampf in der erleuchteten kleinen Stube ein Dutzend Männer, die da lagen, saßen und standen. Rings an den Wänden waren roh gezimmerte, ungestrichene hölzerne Laden aufgerichtet, acht zu ebener Erde, acht darüber, wie in Schiffskajüten. Betten und Decken lagen darin . . . das waren die Lagerstätten für die Schneeschuhläufer, die am Abend hier heraufkamen und übernachten wollten. Heute war alles überfüllt, denn am anderen Tage begann der große Schneeschuhwettlauf, der alljährlich einmal stattfindet und zwei Tage dauert; die Wettlaufenden des ersten Tages mußten auf ihrer siebzehn Kilometer langen Tour nahe bei Gröttum vorüber.

Es wurde gemütlich an dem großen Tisch, der den freien Raum zwischen den Lagerstätten fast ganz für sich in Anspruch nahm. Welch schöne, kräftige Menschen! Das Behagen an körperlichen Strapazen und eine ruhige Herzlichkeit dem Fremden gegenüber waren scheinbar die einzigen durchgehenden Züge. Stiller die einen, redseliger die anderen. Bis dann auch die Stillen auftauten und alles in den norwegischen Liedern sich zusammenfand, Reden und immer neue Reden gehalten wurden, auf Norwegen, Deutschland, Völkerverbrüderung, Jugend und Schneeschuhlaufen, und aus Bier und Punsch jene dummen und doch so guten himmelblauen Gedanken und Hoffnungen aufstiegen, die wir skeptischen Menschen 259 Phrasen nennen, weil wir an ihre Verwirklichung nicht mehr glauben.

Um zehn Uhr sprangen die Schneeschuhläufer auf, denn sie wollten auch eine Probe ihrer Kunst zeigen. Sie schnallten die langen Schneeschuhe, die bis dahin sauber an der Wand gelehnt hatten, unter und huschten hinaus. Draußen glitten sie mit Fackeln über den Schnee . . . riesige Irrlichter schienen auf der Wanderschaft zu sein . . . rote Gluten gingen über die weiße Decke, wie über die Wangen einer bleichen Schönheit.

In der halben Höhe des Berges war ein »Hop« aus Schnee errichtet. Das ist eine Art Absprung, ein künstlicher Aufbau mit schroffem Abfall, auf den man von oben her niedergleitet, um dann mit weitem Sprung durch die Luft abzuspringen. Nacheinander glitten die Läufer von der Höhe hernieder, auf der mit Fackeln so sonderlich erleuchteten Schneebahn. Und auf dem Hop ein Niedersinken, ein Absprung – dann einige Meter weiter unten die Berührung mit dem Boden. Die meisten fielen, der Schnee schlug hoch in weißen Puderwolken über ihnen zusammen. Vier oder fünf aber standen sehr wacker, und einer schwang sogar während Niederfahrt und Sprung eine brennende Fackel.

Als wir dann nach Mitternacht in Andris Isaksens Wohnstube zwischen Luther und Melanchthon und den bunten katholischen Heiligen in unsern Betten lagen – ich behaupte noch immer, lieber Olaf Thessen, daß es zwei Sarghälften waren und daß ich in Andris Isaksens Zukunftssarg und Sie im Deckel schliefen – wurde das Haus noch einmal lebendig. Eine ganze Bande von Schneeschuhläufern war noch erschienen, sie trugen uns 260 Sofa und Stühle aus der Stube und lärmten im Nebenzimmer. Und schon vor Morgen waren sie wieder wach, benutzten die Kaffeemühle als Leierkasten und sangen und schrien nach Marie und nach Kaffee.

An diesem Morgen aber lag grauer Nebel auf den tannenbedeckten Bergen ringsumher, so daß man die Spitzen der Bäume nicht sah, und der beschneite Tannenwald schien aus dem Himmel niederzuwachsen, wie der weiße Bart eines in den Wolken verborgenen unsichtbaren Gottes. Tief unten sieht man Ebenen voll Schnee mit sanft ansteigenden weißen Hügeln; und aus all diesem Weiß, das keinen Glanz hat, weil die Sonne nicht kommen will, steigen rote Bauernhäuser auf, hier und da und dort; die überhängenden schneebedeckten Schindeldächer haben weiße Schindelzacken am Rand, wie die blinkende Schürze eines Mädchens. Auf den Dächern der Scheunen ragen auf Stangen die gelben Garbenbündel in die Luft, die man zur Weihnachtszeit für die Vögel aufsteckt. Schneeschuhläufer arbeiten sich langsam überall an den Hügeln empor, oben, zwischen den Tannen, wo rote Bänder an den Zweigen die Bahn anzeigen, schießt eben der erste Wettläufer vorüber, der erste, der von dem zehn Kilometer fernen Startort abgelassen wurde. Alles, was am Wege steht, wünscht ihm fröhliche Fahrt. Der arme Kerl keucht mit krebsrotem Gesicht und fuchtelnden Armen und hat die Mütze verloren. Dort hinten kommt schon Nummer zwei.

Fröhliche Fahrt! Ich will die Schneeschuhe unterschnallen und, so gut es geht, die Berge von Gröttum hinabgleiten. 261

 


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