Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Dort, wo die Schiffe vorbeifahren

(Mölle-Kullen)

Acht Tage lang hatte ich in Warnemünde die reinen Sitten und die reinen Waschkleider von Mecklenburg betrachtet. Und oftmals in diesen acht Tagen hatte ich die strenge Ordnung bewundert, mit der auf dieser reinlichen Küste die Adeligen von den Bürgerlichen, die geheimen Räte von den ordinären, die Christen von den Juden und die Ritter des Roten Adlerordens mit Eichenlaub von denen ohne Eichenlaub geschieden sind. Ein fast spanisches Zeremoniell, das um so wohltuender wirkt, wenn man aus diesem unordentlichen und respektlosen Frankreich kommt, wo alle Wände und alle Mauern mit den drei diabolischen Worten »liberté, égalité, fraternité« bedeckt sind.

In Kopenhagen regnete es zumeist, und im Pavillon auf »Lange Linie« – dieser berühmten und wunderhübschen Promenade am Hafen – saßen nur ein paar mehr oder minder ältliche Fräuleins bei Apfelkuchen mit Schlagsahne. Wie viele andere Leute, die öfters schon in Kopenhagen waren, machte auch ich die 97 Beobachtung, daß die Ostergade mit jedem Jahre schmaler wird. Die Bilder der alten dänischen Schule, die früher in Schloß Charlottenburg hingen und in diesen finsteren, strengen Räumen wie eine angemessene Wanddekoration wirkten, sehen jetzt, wo man sie in die weiten und lichten Hallen des neuen Nationalmuseums gehängt hat, etwas verlegen drein. Und nur die jungen Kopenhagenerinnen, die nachmittags in der Ostergade ihre Einkäufe machen, bei gutem Wetter auf »Lange Linie« promenieren oder in hellen, luftigen Kleidern im Walde von Skodsborg und Klampenborg radeln, sind so hübsch, so frisch und so wenig verlegen wie früher.

Wenn man von Kopenhagen mit der Bahn nach Helsingör, dann mit dem Schiff hinüber nach dem schwedischen Helsingborg, dann wieder mit der Bahn bis Kattarp und von dort mit der Sekundärbahn bis Högenäs gefahren ist, und wenn man sich dann schließlich noch anderthalb Stunden in einem kleinen Wagen hat durchschütteln und rütteln lassen, so ist man in Mölle-Kullen angelangt. Auf deutschen Karten ist die schmale Halbinsel, die an der Südwestecke Skandinaviens – am Ausgang des Oeresund – sich in das Kattegat vorschiebt, gewöhnlich schlechtweg nach ihrer größten Ortschaft als »Högenäs« bezeichnet. Die Schweden aber nennen sie »Skaane«, und ihre äußerste Spitze nennen sie »Kullen«. Dieser letzte Teil der Halbinsel ist gebirgig – ein von Heidekraut und Kiefern bestandenes, breitmassiges Hügelplateau, dessen einzelne Gipfel bis zu 650 Fuß ansteigen. Dort, wo der »Kullen« beginnt, liegt an einer Bucht der kleine Flecken Mölle.

98 Der vornehmste Teil von Mölle liegt unten am Wasser, auf flachem, durch eine Steinmole geschütztem Ufer. Dieser vornehmste Teil ist ein viereckiger, ungepflasterter Platz, dessen Lehmboden bei Regenwetter ein einziger weicher, von kleinen Wasserbächen durchrieselter Brei ist. Nach dem Meere zu ist der Platz offen. Rechts und links erhebt sich je ein »Hotel« oder »Pensionat« – das»Hotel« rechts wird mehr von Dänen, das links mehr von Schweden aufgesucht. Denn es gibt hier mehrere Dutzend Badegäste von beiderlei Nationalität und von beiderlei Geschlecht. In den Häusern gegenüber der Meerseite und in den Häusern an der Hügelwand stehen Liebhabern gleichfalls billige Zimmer zur Verfügung.

Gerade zwischen den beiden »Hotels« ist eine hohe Fahnenstange in den Lehm gerammt, und rund um die Fahnenstange herum stehen vier Bänke. Dort sitzen morgens und abends und vormittags und nachmittags die männlichen Eingeborenen von Mölle. Sie sitzen mit gekrümmtem Rücken, rauchen ihre Pfeifen und warten darauf, daß ein Badegast sie auffordern soll, ihn hinauszurudern oder zu segeln – was aber, da die Badegäste meist sparsamer Natur sind, nur selten geschieht. Sie nennen das ihre »Börse«. Es gibt dort den »Großvater«, der immer sein zweijähriges Enkelkind auf den Knien wiegt, »den Barbier«, mit Ringen in den Ohren, der den grausamen Sport betreibt, die Badegäste zu rasieren, und »den Amerikaner«, der natürlich nie in Amerika war.

Ich brauche nicht zu sagen, daß man auch die Badegäste alle oder doch so ziemlich alle kennt. Da ist der 99 »Sänger«, ein junger Mann aus Helsingborg, der am Klavier zu seiner Ergötzung Schubertsche Lieder singt, und da ist Fräulein Eriksen, die in Kopenhagen ihr Studentenexamen mit Auszeichnung bestanden hat. Da sind »das junge Mädchen im Nationalkostüm« und »die Dame, die von ihrem Manne geschieden ist«. Und »der Mäzen«, ein wohlhabender Kornhändler aus Y-sund, der jedem versichert, daß er »die größte Kunstsammlung in Y-sund« habe, – und seine Frau, welche erzählt, daß sie den Figuren auf den Bildern ihres Mannes Namen gegeben, und den Tieren auch, und daß sie sich an langen Winterabenden mit ihnen unterhalte wie mit wirklichen Menschen und Tieren. Und dann sind da »der deutsche Maler und seine dänische Frau« . . .

Dieser »deutsche Maler« aber ist mein lieber Freund Walter Leistikow, der hier den Bergen, dem Wasser und der Luft ihre Geheimnisse ablauscht, die Hügel im letzten gelben Abendlicht, die zitternden Reflexe der Masten im Wasserspiegel, den Tanz der Wellen um die roten Granitfelsen, die unter weichem Abendduft einschlummernden Ährenfelder malt. Er bannt das alles mit seiner einfachen und tiefen Naturauffassung auf die Leinwand.

Dieses kleine schwedische Nest, dieses »petit trou pas cher«, wie die Pariser sagen würden, ist ein rechter Künstlerwinkel. Primitiv, bescheiden und noch gar nicht »in der Mode«, klebt es auf seinem Lehm und an den Hügeln. Hier fahren die Schiffe achtlos vorüber – die Dampfer, die von Helsingborg nach Gotenborg fahren, legen hier nicht an. Und man ist fern von den großen Straßen, fern von dem großen Verkehr, man bekommt 100 seine Briefe – wenn man sie bekommt! – durch eine freundliche Frau, die sie abends um halb neun verteilt, liest und sieht keine Zeitung und weiß wenig oder nichts von dem, was in der Welt vorgeht. Welch ein entzückendes Gefühl der Ungewißheit – welch ein Genuß in all diesen Zweifeln: Hat Felix Faure eine Uniform bekommen, oder nicht? Hat Anton von Werner noch einmal die moderne Kunst niedergeschmettert? –

Hier ist man weit ab von all diesem kleinlichen, eintönigen Puppenspiel. Vielleicht erscheint es doppelt klein, weil die Natur hier so groß ist. Vielleicht erscheint es doppelt eintönig, weil die Natur hier so vieltönig, so reich, so voll wechselnder Überraschungen ist.

Ich kenne kaum einen Flecken Erde, wo auf ziemlich engem Raum so viel Gegensätze, so viel verschiedene Bilder vereinigt sind, wie auf diesem »Kullen«, diesem Bergplateau, das aus dem Meere aufsteigt. Man klettert die Steinpfade hinter den Häusern von Mölle hinan, und man kommt auf eine breite Fahrstraße, die an der Bergwand entlang läuft. Wie von einem hohen Balkon sieht man auf das Meer hinab, das schwarzblau und von weißen Wogen, wie von Heeren zottig prustender Eisbären, durchstürmt ist. Über schwarze und rote Granitklippen stürzt die Brandung. Und dann kommt man auf eine Höhe, von der man das Meer auf der anderen Seite, auf der Nordseite der Halbinsel, überschaut, – und dort sind die Wasser friedlich und ohne den Hauch einer Leidenschaft, perlen und rinnen träge im Sonnenlicht ans Ufer, durchzittert von den weißen 101 windlosen Streifen, wie der blaue Abendhimmel von seiner lichten Milchstraße durchstirnt ist.

Aber auf beiden Seiten der Halbinsel gibt es Felsenbuchten, wie man sie in Norwegen nicht schöner findet, enge Buchten, zwischen zwei mächtigen, von Wind und Feuchtigkeit bald schwarz, bald grau, bald rot, bald rosa gefärbten Granitwänden. An den schräg übereinander geschichteten Granitplatten klebt grünes Moos, leuchten gelbe Königskerzen, biegen sich ängstlich runde Büschel von Heidekraut, zittern junge gelbgrüne Farren. Ganz oben, auf der Höhe, schütteln sich erbebend vollsaftige Eichen, Erlen und Eschen. Nur die herben, quäkerhaften Fichten stehen starr und unbeugsam in dem Wind, der leidenschaftlich verlangend über die Felsen streicht.

Und unten in den Buchten ragen, viele Meter hoch, seltsame zackige, phantastische Felsriesen aus dem Wasser auf, spitzig wie Hünenlanzen die einen, breit abgedacht wie Wachttürme die anderen. Das alles ist groß, prachtstrotzend, fabelschön und wikingerhaft.

Aber nicht weniger schön ist, was man im Inneren der Halbinsel, zwischen den zwei Meeren, antrifft. Da ist nahe dem Südrande ein Eichenwald, dessen Bäume im fortwährenden Kampf mit dem Sturmwind zu struppigen Ungeheuern und buckligen Zyklopen geworden sind. Mit jedem Ast hat der Sturm gerungen, und jeder Ast ist fratzenhaft gebogen, verschlungen und verwachsen. Und ein wenig weiter ins Land hinein schwingen sich in rhythmisch edlen Linien weiche Hügel mit grünen Wiesen und gelben Kornfeldern zum anderen 102 Strand. Wenn der seine Dunst des scheidenden Tages über dieser Hügellandschaft liegt, dann sind diese Linien wie Musik, und alles stimmt sich zu einem breiten und vollen Akkord, zu einer mächtig wogenden Symphonie zusammen. Aber Leistikow wird das weit schöner malen, als ich es sagen kann. . . .

»Ich gehe nicht mehr aus dem Haus,« hat uns neulich die Frau des »Mäzens« gesagt, »ich kann mich nicht alle Tage begeistern.« Die Worte dieser braven Frau lassen erraten, wie freigebig die Natur hier ihre Schönheiten angehäuft hat. Doch wenn ich unter allem zu wählen hätte, so wählte ich vielleicht den Sitz auf einem der zwei oder drei höchsten, vom ewigen Sturmwind kahl gemähten Berggipfel. Dort überschaut man das Bergplateau mit seinen weich gesenkten grünen Niederungen und seinen harten, blauschwarzen Höhen, und sieht rechts und links und vor sich, hinter dem runden Leuchtturm auf der Spitze der Landzunge das weitwandernde Meer. Rechts, ein wenig zurück, badet sich in der Sonnenluft die weißgrüne Küste Schwedens, links lassen dunkle Schattenränder Dänemark ahnen. Schiffe mit weißen Segeln, Dampfer mit lang nachziehendem Rauch durchschneiden die Flut. Alle fahren vorbei. Und das eben ist schön, und das eben ist der Reiz, denn nirgends fühlt man die Natur so warm und nirgends ist man ihr so nahe, wie dort, wo die Schiffe vorbeifahren.

Freilich, einen kleinen Haken hat die Sache auch. Denn als ich jetzt das Datum über diesen Reisebrief setzen wollte, stellte es sich heraus, daß niemand in Mölle so ganz genau wußte, den Wievielsten man gerade 103 hatte. Der »Mäzen« meinte, es sei der zwanzigste, Fräulein Eriksen, die in Kopenhagen ihr Studentenexamen mit Auszeichnung bestanden hatte, erklärte, es sei der einundzwanzigste, und auf der»Börse« brummte man: »Der zwanzigste oder der einundzwanzigste, das ist doch am Ende ganz gleich.« Man hat gesagt, die glücklichen Städte hätten keine Geschichte. Die glücklichen Menschen haben keine Daten. 104

 


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