Theodor Wolff
Spaziergänge
Theodor Wolff

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Die Byzantiner

(Ravenna)

Man fährt von Bologna bis Castel Bolognese mit dem Schnellzug. Dieser angenehme Zug dampft nach Ancona weiter, und der Ravenna-Reisende steigt in einen Lokalzug, der von fünf zu fünf Minuten ohne ersichtliche Veranlassung halt macht. Das Land zu beiden Seiten der Bahngeleise scheint sehr fruchtbar. Durch die Getreidefelder sind in Abständen von etwa zwanzig Schritt Reihen von Obstbäumen gezogen, und die einzelnen Obstbäume sind miteinander durch grüne Weinranken verbunden, die sich träge vom Luftzug schaukeln lassen. Die jüngeren Landfrauen, die man auf den kleinen Bahnhöfen sieht, haben alle eine gewisse Nettigkeit, und in einigen gesund gebauten, blonden Frauen aus Bagnacavallo oder Godo fand ich – mit nicht geringem Enthusiasmus – den Typ von Correggios unkirchlichsten Madonnen deutlich wieder.

Es wurde Nacht, ehe der Zug nach Ravenna kam. In den Gärten rechts und links vom Bahndamm schwirrten und irrten Tausende von Glühwürmchen. Durch die geöffneten Fenster des Wagens hörte man 169 ein Summen, wie das Stimmen vor einem großen Nachtkonzert. Ein warmer, kräftiger Duft kam in den Wagen. Und die Nacht war wunderbar, so übersät mit diesen unzähligen kleinen unstäten Lichtfunken. . . .

Ravenna ist, wie jeder weiß, eine ungeheuerlich alte Stadt. Und alles in Ravenna ist alt – die Kirchen, die Mosaikbilder, die ganz jungen Mädchen und der Hammelbraten. Die Stadt ist nicht lange nach dem Tode des großen Ostgotenkönigs Theoderich eingeschlafen, und auch der eherne Schritt des hierher verbannten Dante konnte sie nicht aufwecken.

Betritt man diese Straßen, wo rechts und links die niedrigen Häuserreihen furchtsam verwundert den Fremden anstarren, so lebt man plötzlich im Zeitalter der Kaiserin Theodora. Man hat vergessen, daß man mit einer Eisenbahn hier angekommen ist, daß man Telegraphenstangen und ein Postbureau gesehen hat. Alle Wege zu einem modernen Leben sind verrammelt, und keine Brücke geht zu jener florentinischen Kultur hinüber, die irgendwo, jenseits großer Meere, zu liegen scheint.

In den Straßen, auf den Plätzen wächst das Gras, und auf den Oberlippen und am Kinn der Frauen wachsen Bärte. Die Kirchtürme, die über den Häusern emportauchen, sehen so morsch und greisenhaft aus, daß man sich wundert, wie sie unter dem Ton der Glocken nicht zusammenfallen. Es gibt keine Läden mit modernen Schaufenstern, es gibt keine Äußerung eines Vorwärts-Wollens, einer Strebsamkeit. Die einzige Tat, durch die man auch hier der Neuzeit gehuldigt zu haben scheint, besteht darin, daß man auch hier einem alten Platz, der früher Piazza Maggiore hieß, den Namen 170 Piazza Vittorio Emmanuele gegeben, und daß man hier ein Kriegerdenkmal errichtet hat. Es ist, als sei es die einzige Beschäftigung der Bewohner von Ravenna, die Geschichtszahlen ihrer großen Vergangenheit zu lernen.

Schienen sie mir nur alle so gedrückt, so verdrießlich, unfroh und noch über das kleinstädtische Mittelmaß hinaus vermuckert – oder sind sie's? Einen Augenblick lang glaubte ich die Lösung des Rätsels gefunden zu haben. An den Straßenecken hing das Plakat eines reisenden Zahnarzts, der »heute, Sonnabend« in Ravenna weilte und sich dem geehrten Publikum warm empfahl. Vielleicht, daß heute nur die Leute mit Zahnschmerzen unterwegs waren.

Die einzigen Menschen, die ich im Laufe von etwa dreißig Stunden lachen sah, waren die Offiziere der Garnison. Der italienische Offizier, besonders der, welcher aus kleinen Verhältnissen hervorgegangen ist, hat oft etwas Derbes, Bäuerisches, Gesundes, das durchaus unelegant und unschneidig erscheint, aber sehr angenehm und herzlich anmutet. Jedenfalls repräsentierten in dem Kaffeehause von Ravenna, wo an den Wänden die Ankündigungen der »WSocietà velocipedistica Ravennate« hingen – selbst hier! – die Offiziere die Lebensfreudigkeit. Daß sich diese Lebensfreudigkeit in der kleinen Garnison Ravenna nicht viel anders als in Spielen und Trinken äußern kann, ist klar.

Vielleicht ist es ganz gut, daß die Menschen hier alle so aussehen, als hätten sie die herben Mosaiken der alten Kirchen zu lange betrachtet, daß in den Straßen das Gras wächst, daß keine Läden moderne Schätze 171 ausbreiten, daß kein Vorwärtsstreben sich regt. Jede moderne Regung würde einen Riß in diesem Bilde bedeuten, in dem Bilde des alten Ravenna.

Aber vielleicht ist auch das eine die Folge des andern. Unwillkürlich fragt man sich: ist auf solch einem Hintergrund, in der Umgebung dieser Kirchen, dieser Mosaiken, aus denen der gequälte, unfreie, gequetschte Geist von Byzanz spricht, ein modernes Leben, ein Aufschwung überhaupt möglich? Liegt das sonnenlose, kranke, welke, grausame Byzanz nicht heute noch wie ein finsterer Riese mitten in dieser Stadt, keinem ein Lächeln erlaubend, jede freie Regung, jeden Fortschritt niederdrückend?

Wäre das Schicksal dieser Stadt dann nicht von einer ungeheuren Tragik: sie ist die Hüterin der Kostbarkeiten ihrer Vergangenheit und stirbt an dem eigenen Anblick dieser Kostbarkeiten? Und alle schönen Sätze von der Einwirkung des Milieus auf die Entwicklung müßten doch trügen, wenn dem nicht so wäre.

Viel mehr als in Konstantinopel, dem alten Byzanz selber, wo der moslemitische Eroberer die herben Bilder mit weißer Farbe zugedeckt hat, sieht man hier, was Byzanz eigentlich war, was byzantinischer Geist bedeutete. Man kann auch in Palermo den byzantinischen Stil in den Kirchenmosaiken noch sehen. Aber das heitere Normannentum hat gut gelüftet. Nur in den Kirchen und Kapellen von Ravenna ist der echte volle Dunst geblieben.

S. Apollinare Nuovo und S. Apollinare in Classe sind hohe, geräumige, dreischiffige Basiliken; S. Vitale 172 ist ein weit und schön angelegter Kuppelbau; der Baumeister hat an den Vorbildern in Byzanz, die heute den Türken als Moscheen dienen, gelernt, und hat dann wieder das Vorbild für den Dom zu Aachen geliefert. Aber obgleich diese drei Kirchen in großen, freien Verhältnissen gehalten scheinen, hat man den Eindruck des Finsteren, Unfreien. Man denkt an harte Kasteiung, an Fleischabtötung, an Unduldsamkeit und grausame Verfolgung. Wie viel mehr ist das alles erst der Fall in jenen kleineren Bauwerken, wo schon die Verhältnisse enger sind, in S. Mazario e Celso, wo die Sarkophage der Galla plucidia, des Kaisers Honorius und des Konstantius III. stehen, und in S. Maria in Cosmedia!

Ist es nur der Name »Byzanz«, der hier die Vorstellungen von Zwang und Dunkelheit erweckt? Kein Zweifel, daß man schon mit einem gewissen Vorgefühl hier eintritt. Byzanz ist schließlich kein Vergnügen. Aber der Eindruck, den man im Innern dieser Kirchen empfängt, schwächt die gruselige Scheu vor dem byzantinischen Geist nicht ab. Und fragt man sich, was einen solchen Eindruck bewirkt, so sind das doch nur die Mosaiken, welche die Wände und Kuppeln bedecken.

Wenn man bedenkt, daß die Künstler, die diese Mosaikbilder verfertigten, fortwährend die freien Schöpfungen der hellenischen und römischen Kunst vor Augen hatten, daß sie an hunderttausend Säulen und Statuen am Wege ihren Blick bilden konnten, so erscheint das, was sie zustande gebracht, doppelt seltsam. Es mag ihnen nicht an Kunstfertigkeit gefehlt haben. Aber die griechische Aphrodite und die römischen Grazien waren ihnen fremd, unverständlich, und so verhaßt, wie 173 dem Regenwurm der Schmetterling verhaßt ist. Die Regenwurmgeister suchten nach einem künstlerischen Ausdruck und fanden ihn in diesen Mosaiken.

In unzähligen, über Tempel und Wohnstätten mit Verschwendersinn ausgestreuten Reliefs hatten die Griechen und ihre fleißigen Schüler, die Römer, ein wechselndes, heiteres, selbst im Kampf noch glückliches Leben geschildert. Adlige Menschen mit wohlgestalteten Körpern, mit unversiegbarem Lebenstrotz und ewiger Kampfesfreudigkeit hatten sich in diesen Bildern zusammengefunden, und wir hatten sie gesehen, wie sie ihren Göttern die bekränzten Opferstiere zuführten, wie sie auf ihren Streitwagen in die Heerschlacht rasselten, wie sie zechend beim Mahle lagen oder den Liedern eines alten Sängers oder einer schönen Sklavin lauschten. Aber plötzlich, wie auf einem Theater, eine Verwandlung. Die alte Kunst verschwindet, stirbt für ein Jahrtausend, für dieses Jahrtausend, das man »Mittelalter« nennt, und eine neue Kunst taucht auf, erfunden zu Byzanz, für die Nachwelt konserviert zu Ravenna.

Wieder bedecken Bilder die Wände. Aber man sieht dort nicht mehr heitere Adelsmenschen, die sich zu einem gemeinsamen Tun vereinen. Die Menschen der byzantinischen Mosaiken haben nichts gemein miteinander. Die Verbindung zwischen den einzelnen fehlt. Es ist, als sei auch die Fähigkeit, größere Figurenreihen zu einem Ganzen zu gruppieren, verloren gegangen. In der einen Kirche sieht man auf der linken Wand des Winkelschiffs einen feierlichen Aufmarsch von zweiundzwanzig Jungfrauen, auf der rechten Wand einen ebensolchen Aufmarsch von fünfundzwanzig Heiligen. In der Kuppel 174 des Baptisteriums marschieren die zwölf Apostel. In San Vitale sieht man die Kaiserin Theodora, ein Opfer darbringend, umgeben von ihren Frauen; hier ist wenigstens der Versuch gemacht, eine Art Zusammenhang zwischen den Figuren herzustellen – man sieht sogar, wie eine der Dienerinnen den Tempelvorhang zurückzieht, während die Kaiserin auf den Eingang zuschreitet. Aber auch hier zwischen den einzelnen Frauen kein gesellschaftliches Band; jede bleibt ein starres Einzelwesen.

Es scheint, daß die Kirche allen diesen Menschen das Gebot des Schweigens erteilt hat. Sie gehen, ohne zum Nebenmenschen hinzuschielen, mit aufeinandergepreßten, blutlosen Lippen. Ihre Gesichtsfarbe ist gelb und krank, ihre Stirn ist klein. Dennoch glaubt man, daß bei einigen ein gewisser Stolz sich ausdrückt . . . besonders in der Art, wie sie dahinschreiten. Aber es ist nicht mehr der eigene Stolz – es ist das letzte Restchen eines ererbten, in diesem degenerierten Geschlecht doch noch nicht ganz unterdrückten Stolzes. Alle sind sie wie Leute, die an schlechten Träumen leiden. Sie sind gequält und erbittert. Die Augen sind groß, aber sie haben nicht mehr den schimmernden Glanz der alten Heidenaugen, nichts Edles, nichts Frohes, nichts Geistiges spricht aus ihnen.

Es ist die Malerei der Orthodoxie. Nicht nur der Leib ist getötet, auch von dem, was der Nicht-Byzantiner Geist nennt, ist nichts übrig geblieben.

Und diese Kunst konnte bis zum Ende des dreizehnten Jahrhunderts Italien beherrschen. Leise rüttelten schon Cimabue und Duccio an ihrem Throne – und dann 175 kam Giotto, der Entdecker, der Erneuerer, der Befreier, von dem heute noch jeder Kunstliebende nur mit fast religiöser Ehrfurcht spricht – wie von einem alten, großen Propheten, der die Ahnen aus dem Lande der Knechtschaft in das gelobte Land der Freiheit führte. Noch blieb der Kunst zunächst eine herbe Strenge. Aber wie groß, wie feierlich, wie schön ist diese Strenge in den Fresken, in denen Giotto in der Kirche S. Croce in Florenz das Leben des heiligen Franziskus schildert! In ernstem, stilltraurigem Zug schreiten die Franziskaner zu dem Totenlager ihres Ordensstifters. Aber es ist nicht mehr ein Aufzug starrer Einzelwesen, intime, innige Bande vereinigen die Geister. Und es sind nicht mehr die Knechte der Orthodoxie, es sind freie Männer, die dort trauern. Wohl möglich, daß Giotto (wenn wirklich er und nicht ein Späterer der Maler der Fresken ist) diesen Franziskanerbrüdern hier mehr freie Größe, man möchte sagen, mehr Hellenentum gab, als sie in Wahrheit besaßen. Schon warf die Renaissance nicht ihre Schatten, sondern ihr Sonnenleuchten voraus.

Via Mazzini Nr. 295 in Ravenna wohnte, wie noch heute eine Gedenktafel besagt, vom Juni 1819 bis zum Oktober 1821 Lord Byron. Die schöne Gräfin Guiccioli, die, wie man weiß, sein letzter Trost war, hatte ihn nach Ravenna gezogen. Heute hat sich in dem Hause ein »Hotel Byron« etabliert. Magere Misses lesen dort den göttlichen »Don Juan«.

»Qu'est-ce que le pauvre Byron, même avec la Guiccioli, pouvait faire ici?« . . . Mit vielem Vergnügen habe ich diese Frage in Taines »Voyage en Italie« gefunden. In der Tat, wie zum Teufel hat er es hier 176 zwei Jahre lang ausgehalten? Denn wenn man ihn sich denkt, diesen über jeden Zwang fortspottenden Phantasten, dann erscheint diese Umgebung, in welcher der kleinlich-grausame, beschränkte und pedantische Despot Justinian und die giftgeschwollene Theodora noch zu residieren scheinen, doppelt beängstigend.

Byron, bei all seiner Fessellosigkeit, hat sich doch vom Engländertum sicherlich nicht ganz emanzipieren können. Und man sehe diese Engländer, die man überall findet, in den verborgensten Klöstern, in den heimlichsten Dörfern, auf unbekannten Bergen, in Städten, wo scheinbar nicht das mindeste von Bedeutung zu notieren ist. Sie sitzen dort, Wochen, Monate lang, mutterseelenallein, mit ein paar Tauchnitz-Bänden, einem Skizzenbuch oder einem Photographierapparat. Überall, in jedem Nest Italiens, findet man solch einen Engländer oder – noch häufiger – eine Engländerin. Das wird oft als englische Schrullenhaftigkeit verspottet. In Wahrheit aber deutet es doch etwas viel Besseres an. Es spricht daraus eine große Selbständigkeit, die Bedürfnislosigkeit selbständiger Naturen. Und in einer gewissen Sentimentalität, die auf dem Grunde ihrer Seele lauert und die den weniger Gebildeten die aus wirklichem Kunstverständnis hervorgehende Begeisterung ersetzt, ergrübeln sie sich Schönheiten und eine Poesie, die vielleicht niemand außer ihnen bemerken würde.

Ein wenig von diesem »Englischen« – natürlich ohne diese Sorte der Sentimentalität – mag auch in Byron gesteckt haben. Aber dann war ja auch wirklich die schöne Gräfin da. . . . Und Taine ist ein Barbar . . . wie kann man es nicht verstehen wollen, daß ein Mann, 177 ein Dichter noch dazu, zwei Jahre lang um einer Frau willen dem Dante in die ravennatische Verbannung folgt? Byron war sein Leben lang in Freuden und Schmerzen ein Freund der Frauen, er hat ihre Liebe gefordert, und sie haben ihm für diese Liebe eine grausame Rechnung überreicht. Ist es nun gar so wunderbar, daß ihn diese Liebe schließlich bis zum Byzantinismus getrieben hat? 178

 


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