Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel.
Im Notariatsbüro

Wenige Tage später empfing Irene einen überraschenden Brief. Er kam vom Büro eines Notars in Lincolns Inn, des Sachverwalters der Familie Eastchester, und enthielt die Bitte, sich wegen einer wichtigen Angelegenheit heute noch dorthin zu bemühen. Die Mitteilung bestand in einigen offiziellen Zeilen und der Unterschrift.

Irene, die in den letzten Tagen mit ihrer Verwandtschaft einen scharfen Schriftwechsel geführt hatte, legte den Bogen des Anwalts lächelnd zur Seite. Vielleicht wollte man Notar Cuthbert als Vermittler in Anspruch nehmen, um sich zu verteidigen und sie selbst zur Vernunft zu bringen. Anfänglich verspürte sie keine Lust, der Aufforderung Folge zu leisten, aber der Umstand, daß sie am Vormittag frei war, und ein gewisses Maß weiblicher Neugier trieben sie hin.

Sie wurde anscheinend erwartet; denn man ließ sie alsbald ins Privatbüro treten. Der bejahrte Herr, der sich bei ihrem Erscheinen erhob, sah sie fragend an.

»Ich bin Irene Wendermot«, erklärte sie. »Ich erhielt heute morgen eine Einladung von Ihnen.«

Der Anwalt ließ seinen Kneifer fallen und streckte herzlich die Hand aus. »Liebes Fräulein Wendermot, verzeihen Sie einem alten Mann seine Kurzsichtigkeit! Ich erkenne Sie jetzt. Nehmen Sie, bitte, Platz! Himmel, diese Ähnlichkeit!«

»Mit meinem Vater?« fragte sie leise.

»Sie gleichen ihm frappant. Der arme Kerl! Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, aber Ihr Vater und ich waren Schulfreunde, und ich darf wohl behaupten, daß wir uns näher standen als Rechtsanwalt und Klient im allgemeinen. Im Grunde seines Herzens war er ein lieber Mensch – ein sehr lieber Mensch.«

»Wie freundlich von Ihnen, so von ihm zu sprechen! Mein Vater mag leichtsinnig gewesen sein – aber ich glaube doch, man hat ihn herzlos und grausam behandelt. Ich werde das den dafür Verantwortlichen nie verzeihen. In erster Linie meinem Großvater und meinen Oheimen.«

Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Der Graf war stolz – zu stolz vielleicht.«

»Sie mögen es Stolz nennen,« brach es aus ihr hervor, »ich nenne es krassen Egoismus. Man hatte nicht das Recht, den Ärmsten zu einem solchen Opfer zu zwingen. Er wäre zufrieden gewesen, in einem versteckten Winkel Englands leben zu können, und hätte sich sicher allen erfüllbaren Wünschen gefügt. Aber ihn seiner Heimat, seiner Familie, seiner Freunde und des Namens zu berauben – das war barbarisch!«

»Ich bin stets dagegen gewesen«, sagte der Alte leise.

»Herr Davenant hat es mir gesagt. Ich verurteile Sie nicht.«

»Ja – Sie haben wohl manches vom Charakter Ihres Vaters geerbt. Berichtete Davenant auch, daß Ihr Vater am Tage seines Todes mit jenem erstaunlichen Herrn Scarlett Trent zusammen an einem Unternehmen beteiligt war?«

»Allerdings.«

»Nun, ich empfing vor kurzem den Besuch dieses Herrn. Ihr Vater scheint ihm vor seinem Ende von seiner Tochter in England erzählt zu haben. Herr Trent legte Wert darauf, Ihre Anschrift zu erfahren. Er sprach von einem ansehnlichen Geldbetrag, den er auf Ihren Namen hinterlegen wolle.«

»Dazu hat er etwas lange gebraucht«, bemerkte Irene eisig.

»Er erklärte das mit folgenden Gründen: Ihr Vater gab ihm diesen Wink in den letzten Minuten vor seinem Hinscheiden. Das Kuvert mit der Adresse jedoch geriet in Verlust und kam erst vor einigen Tagen wieder in seine Hände, worauf er mich sofort aufsuchte. Er scheint eine sehr loyale Verfügung treffen zu wollen. Er drängte mich sehr, ihm Ihren Namen und Ihren Aufenthalt zu nennen; aber ich fühlte mich nicht dazu berechtigt, ehe ich Sie gesprochen hatte.«

»Sehr gescheit von Ihnen, Herr Cuthbert. Ich darf wohl annehmen, daß das Cecil Davenant veranlaßte, mich in die traurige Affäre einzuweihen.«

»In gewisser Hinsicht – ja. Aber ich glaube kaum, daß Ihnen Herr Davenant alles sagen wollte.«

»Herr Trent deutete sicherlich an, mir das Geld zum Geschenk machen zu wollen?«

»Das gerade nicht. Doch kam es ungefähr auf dasselbe heraus. Und Sie sind nach meiner Auffassung durchaus zur Annahme berechtigt.«

Irene erhob sich, und wieder erinnerte sie den Notar mit ihren sprühenden Augen und dem entschlossenen Gesichtsausdruck an seinen alten Freund. »Ich werde Ihnen meine Auffassung kundtun, Herr Rechtsanwalt. Ich werde Ihnen erklären, was es ist: Blutgeld

»Mein liebes, gnädiges Fräulein – wieso Blutgeld?«

»Sie kennen doch gewiß die näheren Umstände. Welchen Eindruck haben Sie davon erhalten? Eine gewinnversprechende Konzession wird an zwei Männer verliehen, von denen der eine jung, der andere alt, der eine kräftig, der andere schwächlich ist – und im Vertrag stand, dem Überlebenden solle alles zufallen. Wer ist der Urheber dieser Klausel? Mein Vater keinesfalls – des seien Sie gewiß! Einer von beiden stirbt, und nun kann der schlaue Herr Trent sich alles aneignen. Ist das gerecht? Doch wohl kaum. Und jetzt, nach so langer Zeit, sollte ihm plötzlich die Anwandlung kommen, sich gegen die Tochter seines Teilhabers großmütig zu zeigen? Unsinn! Ich kenne Scarlett Trent, obzwar er nicht weiß, wer ich bin, und er ist alles andere als großmütig. Er hätte vernünftiger gehandelt, Sie nicht aufzusuchen. Sein Geld will ich nicht! Aber etwas anderes soll er mir geben – und zwar eine einwandfreie Schilderung von meines Vaters Tod!«

Herr Cuthbert fiel entgeistert in seinen Stuhl zurück. »Aber, liebes Fräulein Irene, Sie verdächtigen doch nicht etwa Herrn Trent – – Ihren Vater aus dem Wege geräumt zu haben?«

»Weshalb nicht? Nach seiner eigenen Behauptung war er allein bei meines Vaters Ende zugegen. Wer oder was sollte ihn zurückgehalten haben? Ich will Näheres darüber wissen und werde es auch erfahren, selbst wenn ich persönlich an der Goldküste nachforschen müßte. Nein, unterbrechen Sie mich nicht! Es kommt Ihnen jetzt vielleicht unwahrscheinlich vor, weil er der Millionär Trent ist, mit einem Hauch von Bildung und mit dem Ansehen, das Reichtum verleiht. Aber auch ich habe ihn gesehen und habe ihn sprechen hören. Er hat mich selbst gelehrt, den anderen in ihm zu suchen – den brutalen Halbwilden mit einer unheimlichen Willenskraft, der sich den Pfad des Erfolgs durch rücksichtslose Ausdauer bahnte. Ich bewundere diesen Herrn Trent. Er ist ein Mann, und wer ihn reden hört, weiß sofort, daß er eine Persönlichkeit vor sich hat, für eine große Aufgabe geboren. Aber es gibt da auch eine Kehrseite. Glauben Sie, er würde es hinnehmen, daß ihm ein armseliges Menschenleben den Weg zum Glück verbaut? Nein – er würde einen Mord riskieren oder würde ihn wenigstens in jenen Tagen riskiert haben, so bedenkenlos, wie Sie oder ich eine Fliege verscheuchen. Weil er solch skrupelfreier Charakter ist, möchte ich Genaueres über meines Vaters letzte Stunde wissen.«

»Es ist nichts Geringes, was Sie da andeuten, Fräulein Wendermot.«

»Warum sollte ich beschönigen? Meines Vaters Tod war doch auch nichts Geringes, nicht wahr? Ich will einen ausführlichen Bericht von dem Mann, der allein ihn geben kann.«

»Wenn Sie Herrn Trent Ihren Wunsch bekannt geben, wird er Ihnen wohl gern ...«

Sie war einen Schritt näher gekommen, bis sie dicht vor ihm stand und ihm fest in die Augen blicken konnte. »Sie verstehen mich nicht. Ich will mich nicht an ihn wenden. Sie müssen Herrn Trent antworten, daß die Tochter seines früheren Teilhabers für Almosen dankt, selbst wenn sie noch so reichlich ausfallen. Begreifen Sie mich?«

»Ich begreife Sie.«

»Sie dürfen weder Namen noch Adresse verraten. Sie können ihn, wenn Sie wollen, in den Glauben versetzen, daß die Gesuchte aus demselben Holze sei wie die herzlose, scheinheilige Sippschaft, die ihren Vater in die Fremde trieb, um ihn dort verkommen zu lassen.«

Cuthbert schüttelte den Kopf. »Sie machen da doch wohl ein künstliches Geheimnis aus der Angelegenheit. Alle Mühe wird zwecklos sein. Wir empfingen noch kurz vor dem traurigen Ende Ihres Vaters Bericht von ihm, und es ging ihm ohne Zweifel schon damals recht schlecht.«

Ihr Mund straffte sich zu einer geraden Linie, und auf ihrem Antlitz erschien ein Ausdruck, der genügte, den Notar von weiteren Einwendungen abzuhalten. »Möglich, daß es vergebliche Mühe ist, aber auch das Gegenteil wäre denkbar. Auf jeden Fall kann mich nichts von meinem Vorhaben abbringen. Die Gerechtigkeit schläft manchmal jahrelang; doch ich vermute, Herr Scarlett Trent wird sich eines Tages zu verantworten haben.«

Wenig später schritt sie durch die belebten Straßen, mit vor Erregung vibrierenden Nerven und klopfendem Herzen. Sie fühlte sich erleichtert, als ob eine Bürde der Ungewißheit von ihr gewälzt sei. Deutlich sah sie jetzt ihren Weg vor sich. Es hatte Augenblicke gegeben, die sie geneigt machten, zu ihrem ersten günstigen Eindruck von Trent zurückzukehren. Das war jetzt vorüber. Die beklagenswerte Gestalt des hilflosen Alten, der als Verbannter in ferner Wildnis mit einem zu spät erworbenen Vermögen eines jammervollen Todes verblich, hatte ihr leidenschaftliches Mitleid entfacht, so daß selbst ihr sonst so gesunder Verstand beeinflußt wurde. So erklärte sie Scarlett Trent den Krieg!


 << zurück weiter >>