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Der Mann und Bildner
Glücklicherweise weiß ich ganz unwiderleglich gewiß, daß Frans Masereel, dieser meisterlichste aller neuern Holzschneider, am 30. Juni 1889 in Blankenberghe seinen ehelich angetrauten, gut bürgerlichen Eltern geboren ist: denn sonst wäre ich niemals den Verdacht los geworden, er sei ein natürlicher Sohn Walt Whitmans, eines jener verschollenen außerehelichen Kinder, die der amerikanische Weltmensch während seines Aufenthaltes im Süden mit einer unbekannten Mutter gezeugt hat. Niemals nämlich habe ich in einem Menschen, einem zeitgenössischen Künstler so sehr den Walt Whitman-Typus der freien und doch beherrschten, der überfülligen und doch heiteren Kraft gefunden, dieses unwiderstehlich Kameradschaftliche zu allen Erscheinungen, und ein ähnlich sicheres selbstverständliches Äquilibrium zwischen Persönlichkeit und Umwelt. Wirklich nur in Walt Whitman-Rhythmen und jenem Katarakt von Eigenschaftsworten, jener schmetternden Wucht der gesteigerten Whitmanschen Aufzählung könnte man sein Äußeres beschreiben: hoch gewachsen, männlich schön, muskelstark, bedächtigen Ganges und doch leicht gelenk, dunklen Auges und hellen Blicks, kraftvoll bei äußerster Sanftmut, energisch bei hilfreicher Güte, heiter bei werktätigstem Ernst, ungehemmt, wahrhaft frei und allein der innern Stimme gehorchend bei äußerster Hellhörigkeit für das ganze Orchester der Welt. Sein frankes offenes Tun gibt seiner Kunst, seinem Leben den unwiderstehlichen Ausdruck von Selbständigkeit. Man kann sich ihn niemals befangen denken, weder im Sinn der Unsicherheit noch jenem der Scham, so daß man in seiner Gegenwart beglückt das seltenste aller menschlichen Schauspiele genießt: den wahrhaft freien, sich selbst gehörigen und doch allem hingegebenen Menschen. Man muß wirklich seine ganzen inneren Kräfte zusammenfassen, um ihn genug zu lieben, und dies nicht bloß in seinem heute schon gewaltigen Werk, sondern im Urtümlichen, Elementaren seines Wesens.
Er ist einer unserer gewaltigsten Könner, ganz Mann der Zeit: jedoch nichts in seinem Wesen, in seinem Werk wirkt von außen her dämonisch. Aber erinnern wir uns nur: es gibt eine (sehr hohe, vielleicht die höchste) Gattung des Künstlers, wo der Genius aus einem Zusammenklang von großen Kräften entsteht, ich glaube nicht, daß Händel, Rubens, daß Walt Whitman und Tolstoi, daß Balzac (trotz der Büste Rodins) in ihrem Leben einen anderen Eindruck hervorgerufen haben als den einer unendlich gesteigerten Naturkraft. Solchen Vollmenschen ist es gegeben, rastlos, tagtäglich, gleichsam strömend zu schaffen. Sie haben nicht die Hemmungen und psychischen Stauungen, die seelischen Untiefen und grandiosen Plötzlichkeiten des Nervenkünstlers, sondern eine ebenmäßige und geradezu quellhafte Produktivität, die Kraft aus Kraft schafft, und nur aus derart naturhafter Nichtanstrengung vermag eine solche kolossalische Fülle zu entstehen, eine Vielfalt der Welt, wie sie Händel in seiner Musik, Rubens in seinen Bildern, Whitman in seinen Versen, wie sie dieser heute noch Junge und Unverbrauchte in seinen vielleicht tausend Holzschnitten geschaffen hat. Bei solchen Naturen scheint das Produktive sein Wunderbares zu verlieren, weil es organische Funktion darstellt, und das Wunder besteht dann eben in der Weltbreite des Werkes, in seiner unbegreiflichen Fülle, im Unabsehbaren seines Horizontes.
Solche Naturen und vielleicht nur sie allein haben die wahre Gabe der Universalität. Nur solche, die allem offen und für nichts verschlossen sind, die keine Vorliebe haben in ihrer Weltliebe, empfinden die ganze Welt und jede ihrer Formen als Gegenstand, und das ganze Register der hellen und dunklen Tasten wartet bildsam auf ihre Hand. Ein Händel kann ebenso heitere Opern und künstliche Arien wie den tragischen Messias und die Schicksale der Propheten schaffen, ein Whitman in einem Atem den Körper der Frau besingen und die Wolkenkratzer des Broadway, ein Balzac ebenso das Schicksal eines alternden Provinzmädchens schildern wie die Schlacht an der Beresina und die Börsenoperationen eines Parfümeriehändlers: nur sie, die das Gleichmaß der Kräfte haben, die geduldige, ohne jede besondere Stimmung bereite, durch nichts gehemmte Produktivität, nur sie können einen Orbis pictus geben, das kosmopolitische und kosmische Bild. Diese Fülle hat Masereel für mein Gefühl allen andern lebenden Zeichnern und Bildnern voraus. Ihm ist die ganze gegenwärtige Welt in allen ihren Gegenständen, Erscheinungen und Formen gleichmäßig Motiv für seine Zeichnungen und Holzschnitte: schon heute hat der Unermüdliche eine solche Menge gestaltet, daß man wie von der Bilderschrift der Ägypter von seinen Blättern die ganze äußere Formenwelt unserer Welt restlos ablesen könnte. Ginge alles zugrunde, alle Bücher, Denkmäler, Photographien und Berichte, und blieben nur die Holzschnitte erhalten, die er in zehn Jahren geschaffen hat, so könnte man aus ihnen allein unsere ganze gegenwärtige Welt rekonstruieren, man wüßte, wie man in unserer Zeitwende gewohnt hat, wie wir gekleidet waren, man würde den ganzen grauenhaften Krieg an der Front und im Hinterland mit allen seinen teuflischen Maschinen und seinen grotesken Gestalten, man würde Börsen und Fabriken und Bahnhofshallen und Schiffe und Türme und Moden und Menschen, ja die Typen selbst und darüber hinaus noch den ganzen gefährlichen Geist und Genius, das seelische Tempo unseres Zeitalters einzig und allein von seinen Blättern begreifen. Von wem nun, frage ich, von welchem zeichnerischen Künstler außer ihm, dem Benjamin der Graphik, kann eine ähnliche quantitative und dokumentarische Leistung gerühmt werden (ich lasse zunächst die qualitative noch beiseite)? Wer von allen hat, im Sinne der Vielfalt und der Verschiedenheit, ein Ähnliches unter seinen Zeitgenossen getan? Fleiß allein konnte solches nicht schaffen und Technik nicht minder, es war ein Höheres dazu nötig, ein Bindendes, ein Umfassendes, jene wunderbare Offenheit des Wesens für die Gesamtheit der Erscheinungen und zugleich die fanatische Liebe zum Detail. Masereel ist das Gegenteil einer explosiven, einer sprunghaften Natur; sein Geist, sein Genius ist wie jener Balzacs, wie jener Walt Whitmans ganz auf das Universale gerichtet. Er liebt alle Nationen, alle Sprachen, alle Zeiten, das Alte wie das Neue, das Romantische wie das Maschinelle, und ich weiß nichts, was dieser leidenschaftliche Weltfreund auf unserer Erde haßt, als eben das Gegenelement, alle jene Institutionen also, deren Sinn und Absicht es ist, die ungeheure belebte, blutgetriebene Fülle des Daseins zum Erkühlen, zum Stocken, zur Uniformierung zu bringen, die das lebendige Leben einzuschnüren und abzugrenzen trachten. Er ist ein Feind des Staates, wo er Gewalt und Unrecht fördert, ein Feind der »Gesellschaft«, die sich als ein Höheres abschließt, die ihre Macht erhalten will, und ohne irgendwie Politiker zu sein (er verabscheut auch die Parteien als Einschränkungen und Erstarrungen der inneren Freiheit), ist er doch immer kämpfend an die Seite der Schwächeren und Unterdrückten und Benachteiligten getreten. In seinen bildnerischen Romanen ›Passion d'un homme‹, ›Idée‹, ›Le soleil‹, in seiner imaginären Selbstbiographie hat er alle Treiber und Getriebenen der die Freiheit des einzelnen befeindenden Mächte in grotesken Karikaturen an die Wand genagelt, die Kriegshetzer, die Spekulanten, die Klassenrichter, die Polizisten, alle die Vertreter einer selbstsüchtigen Moral, eines egoistischen Zweckes. Sein Weltgefühl duldet eben nichts, was die Welt vergewaltigt, keine einzelnen Gruppen, die die heilige Einheit des Alls unterbrechen. Sein Genius zielt immer auf das Ganze: wie Walt Whitman in tausend Strophen will er die Welt in Bildern auflösen, in unendlicher Verschlungenheit durch Tausende Einzelheiten darstellen, ohne darum die Idee der Einheit zu verlieren.
Zehntausend Zeichnungen und Holzschnitte hat er heute geschaffen und trotz seiner beispiellosen Produktivität ist doch nicht zu befürchten, daß er jemals fertig werde. Denn sein visionärer Vorrat ist unermeßlich wie die Welt selbst. Masereel hat ein malerisches Auge wie Balzac. Was immer ihn nur einmal, auch nur im Vorübergehen, auch nur in der Reproduktion angestreift hat, das sitzt in klaren, unbeugsamen Linien in seinem Innern fest; hinter seiner Stirn ist ein ganz ungeheures Magazin aller irdischen äußeren Formen. Er weiß alles auswendig, was er jemals auch nur in flüchtigster Form gesehen. Nie nimmt er ein Modell, nie muß er für eine Zeichnung Studien machen, nie schlägt er ein Kostümverzeichnis nach, um irgendeine Sache, ein Motiv »richtig« zu reproduzieren. Sein Gedächtnis ist unfehlbar so wie seine Hand; er weiß (und das wirkt wirklich magisch auf alle, die ihn kennen) jede Einzelheit der Welt auswendig und hat sie lebendig mit allen Details zu jeder Stunde bereit. Er weiß jede Spiere an einem Segler, jeden Kolben an einer Lokomotive, jede Masche an einem Netzwerk aus dem Gedächtnis hinzuzeichnen. Er erinnert sich ebenso an den Turban eines Mekkapilgers und an die Tätowierung einer Rothaut wie an den Parademarsch und Gewehrgriff eines preußischen Füsiliers. Er hat jede Bewegung gegenwärtig, die Verkürzung des Körpers im Fluge, die Krümmung des fahrenden Zuges, das sich bäumende Pferd, den aufspringenden Fisch, Lachen und Schmerz in einem irdischen Gesicht. Ich habe dieses Unglaubliche selbst oft staunend miterlebt: man geht mit ihm spazieren in fremder Stadt, in heißestem Gespräch. Er scheint ganz versenkt darin und verloren. Und ein Jahr später findet man auf einem seiner Holzschnitte einen Türklopfer aus jener Straße mit allen Details so peinlich genau wiedergegeben, als hätte er ihn heimlich photographiert, oder das Antlitz eines Hundes, der unterwegs einen angesprungen hatte: dieses dunkle Auge unter der runden Hornbrille braucht ein belebtes Ding nur vorbeigleitend anzurühren und schon ist es nach innen gezogen wie auf eine belichtete Platte, schon aufgespeichert in der gigantischen Vorratskammer seines Gedächtnisses, wo nichts vermodert und verblaßt, sondern alles chaotisch wogend, ein unendlicher Kosmos der Formen, beisammenruht, bis ein Wink des Willens die einzelnen Linien aufruft und sie magisch überfließen läßt in seine Hand.
Dieses beispiellose Gedächtnis der millionenhaft bewegten Formen des Lebens und die makellose Willigkeit, mit der sich jede dieser Formen dem zeichnenden Finger, dem grabenden Messer fügt, ist Masereels eigentliche Genialität. Nicht im einzelnen, nicht in einem vorspringenden, charakterologischen Zug, sondern in der Fülle der Fähigkeiten, im Umfang der Visionen verbirgt sich bei ihm die Dämonie des Werkes. Und sie paart sich bei ihm ganz merkwürdig einer andern, scheinbar ganz bürgerlichen Tugend, nämlich seinem handwerkerhaften, geduldig zähen Fleiß. Ich sagte früher schon, daß seinem Wesen äußerlich etwas Undämonisches beiwohne, eine gewisse schwere, sanfte, fast bäuerliche Langsamkeit, erinnernd an den zähen, gleichmäßigen Schritt, mit dem der Landmann bei Saat oder Ernte über den Acker stapft, und im künstlerischen Sinn äußert sich diese Bedächtigkeit des Fortschreitens auf ein unendliches Ziel in einem ehernen, granitenen Fleiß, einer fanatischen Sachlichkeit, in jenem »Nulla dies sine linea« der alten deutschen Meister. Tagtäglich sitzt Masereel mit dem Messer stundenlang vor seinem Tisch wie ein Goldschmied, wie ein Graveur, wie ein Uhrmacher, wie alle diese Urtüchtigen des gesunden, rechtschaffenen Handwerks, und wie jene liebt er sein Handwerk, in dem ja selbst etwas Mittelalterliches, Primitives, Antiquarisches ist. Er arbeitet heute in der vom elektrischen Licht überschütteten, von Untergrundbahnen durchwühlten, von tausend magnetischen Strömen durchflossenen Stadt Paris genau so, wie irgendein mythischer Urahne vielleicht vor ihm die alten Holzschnitte von Thourout, jene frommen Bilderbogen, in einer kleinen Stube schnitt, mit derselben einfachen Technik, mit dem gleichen Messer in dem gleichen Holze, mit derselben unerschütterlichen und gleichmäßigen Geduld. Und er liebt diese Technik um der männlichen Freiheit vom Requisit willen. Alle die chemischen Fabriken, die Farben erzeugen, könnten stillestehen, die surrenden Webstühle, die Leinwand aus feinen Fäden binden, einstürzen, er würde gelassen weiter arbeiten. Denn er braucht nur ein Messer und ein quadratisches Stück Holz, um die Welt zu formen, ja selbst dies nicht einmal, denn in Genf, erinnere ich mich, hat er einmal selbst einen Birnbaum gefällt und mit der Axt zerschlagen und sich selber seine Holzplatte gesägt. Wäre er wie Robinson auf eine wüste Insel geworfen, er könnte dort nach drei Tagen ebenso arbeiten wie in seinem Atelier, er würde sich seine Blöcke schaffen (ich sage Blöcke: denn in seinem Tun ist irgend etwas vom Bildhauer, zu dem er geheimnisvoll hinstrebt) und würde in ihnen alles noch einmal lebendig sein lassen. Er braucht keine Stimmung, er braucht keine Hilfe, kein Modell, kein Motiv mehr: Jahrzehnte könnte er noch so weiter schaffen, ohne den Kopf zu heben von seiner Arbeit, so voll ist sein Inneres erfüllt, so rastlos seine Geduld. Und doch hat er schon Tausende und aber Tausende von Gestalten und Formen ins Leben gestellt: im Scherze sagte ich oft, er könnte sich heute ein Haus oder ein Segelschiff aus den Scheitern von Holz, die er schaffend zu Bild und Geschehnis verschnitt, erbauen.
Gerade diese Zwiefalt scheint mir der besondere Reiz von Masereels Kunst, nämlich, daß sie in ihrer handwerklichen Technik so altvaterisch primitiv ist, genau noch dieselbe wie aus der Zeit der Blockbücher und Familienbibeln, und daß ihr Inhalt, ihr Eindruck, ihr Tempo, ihr Rhythmus so unerhört modern und zeitgenössisch ist. Er hat selbst einmal diese Zwiefalt in einem Bild dargestellt, das den Anfang seines Buches ›Erinnerungen an meine Heimat‹ bildet. Da steht er im Selbstporträt in der Mitte zwischen zwei Welten, zwischen den beiden Flandern, zwischen dem sinnlichen, lebendigen von heute mit seinen Arbeitern, Maschinen und Riesenstädten, und dem andern der Vergangenheit, dem frommen, glockendurchklungenen der Kirchen und Klöster, wo gesenkten Blicks eine Nonne von der Ewigkeit träumt. Unablässig steht er auf diesem Kreuzweg zwischen Fleisch und Geist, zwischen Primitivität der Kraft und nervösestem Lebensgefühl. Denn auf den gleichen kleinen Platten, in derselben Technik, im selben Acht-Zentimeter-Raum, wo die alten Meister in starr gebundener, kaum aufgelockerter Form ihre Heiligenlegenden hinmalten, lodert bei ihm ein neues Element: das Kinobild. Seine Zeichnungen haben die Geschwindigkeit, die pulsende, springende Kraft der Kinobilder (die er unendlich hebt, er hat sogar selbst einen Film geschrieben), und fügt man sie zusammen, so sind sie genau wie ein Film rasend rasch und spannend und aufregend. Und durch jedes dieser Blätter mit ihrem einfachen Zweiklang schwarz-weiß saust der ganze hitzige, nervöse Rhythmus unseres eiligen zwanzigsten Jahrhunderts. Das aber ist für ihn stärkster Anreiz, gerade in der härtesten farblosen Form, im Holzschnitt, auf engstem Raum die unerhörteste Fülle einzupressen, die Bewegtheit des Geschehens bis in die kleinste Spiegelung hinein in diese paar Zentimeter zu komprimieren. Darum sind auch diese seine Holzschnitte so unendlich gefüllt mit tausend Einzelheiten, Symbolen und Gleichzeitigkeiten. Bei dem ersten Anblick sieht man immer nur die Hauptsache, um in allmählichen Entdeckungen die verblüffendsten Paraphrasierungen und Kontrastierungen des Motives zu erspähen. Je länger man in sie hineinsieht, desto mehr findet man in ihnen. Ich selbst kenne sie seit beinahe zwanzig Jahren und werde nie müde, die Bücher und Mappen aufzuschlagen, nie noch habe ich sie aus der Hand gelegt, ohne irgendwo etwas mir bislang Entgangenes gefunden zu haben.
Aber trotz dieser Fülle bleibt sein Werk nicht ein bloßes Nebeneinander von Dingen und Dingen, von Formen und Formen, Masereel ist längst nicht bloß Illustrator von Büchern mehr: so hat er nur als ein Dienender fremder Kunst angefangen. Nun hat er sich frei zu schaffen, frei zu dichten begonnen, zuerst in geschlossenen Serien, wie sie auch schon Dürer, Goya und Callot schufen. In den letzten Jahren ist Masereel weit über das Reproduktive hinausgewachsen und hat einen neuen zeichnerisch-dichterischen Typus geschaffen, den Roman, die Novelle, die kleine Erzählung in Bildern ohne Worte; und nun wäre es umgekehrt an den Dichtern, zu diesen wortlosen Büchern eines Meisters den Text zu schreiben. Ich könnte mir Charles Louis Philippe oder Zola denken, die Masereels ›Passion d'un homme‹ in meisterlicher Prosa erzählten, einen Christian Morgenstern, der die skurrilen Abenteuer seines ›Livre d'heures‹ mit Versen versieht, und sein Lieblingsbuch ›Idée‹ scheint mir so schön, daß ich im Augenblick gar keinen Dichter unter den zeitgenössischen weiß, der diesen Roman in Worte umschreiben könnte. Denn jeder unserer Künstler-Dichter würde ihn zu künstlich, zu literarisch schreiben: das aber ist das Wunderbare an der Kunst Masereels, daß sie bei all ihrer Neuheit so eminent demokratisch ist, daß er wirklich »gute Bilder« in dem Sinne schafft, den Tolstoi bei den »guten Büchern« als Forderung stellt, nämlich, daß jeder sie verstehen kann, das Dienstmädchen wie der Künstler, der Student wie der Professor. Und wirklich, Masereels Zeichnungen gehören, wie Walt Whitmans Verse, einer imaginären Demokratie. Jeder kann sie verstehen. Ich würde mich getrauen, sie vor Arbeitern und Lehrjungen in Lichtbildern zu zeigen, ohne viel daran erklären zu müssen, und weiß andererseits, wie gerade die größten Künstler den ehrlichen Expressionismus seiner Blätter bewundern. Weil er die ganze Welt fühlt, wirkt er eben wieder auf die Gesamtheit, weil er keiner Klasse geistig angehört, ist er fähig, auf das Volk und die Völker zu wirken.
Dieser Wille zum Welthaften wächst unaufhaltsam m seinem Werke mit der Kunst selbst. Immer glaubte man von Jahr zu Jahr, den weitesten Umkreis schon erreicht zu sehen, und immer wieder umkreist er in breiteren, umfassenderen Serpentinen die Sphäre der Wirklichkeit. Waren seine früheren Bücher groß, so ist sein letztes, ›Die Stadt‹, bereits monumental, ein Denkmal, ein unvergängliches, der modernen Großstadt mit ihrer Schicksalsfülle, ihren breitströmenden Menschenmassen und den tragisch aufgerichteten Kontrasten zwischen Armut und Luxus, Ausschweifung und Entbehrung, ein Pandämonium aller ihrer Leidenschaften. Mit diesem Werke ist der Bildner in ihm gewissermaßen vorgeschritten von der Sonate zur Symphonie.
Aber indes die graphische Bemühung ins Weite wächst, immer höhere Horizonte durch immer mehr Lichtkraft aufschließt, hat Masereel, der Künstler, gleichzeitig neue Elemente der Darstellung sich erobert, nach der gewaltigen Form nun auch die Farbe. Sein Weg war langsam, denn Leichtfertigkeit ist diesem im Fleiße Beharrlichen vollkommen fremd. So ist er Schritt für Schritt, lange zögernd erst an die Malerei herangegangen, gleichsam auf Umwegen. Erst waren es gewissermaßen nur illustrierte Zeichnungen, die er schuf, Farbstiftblätter und versuchsweise Theaterkostüme, dann Aquarelle, in denen noch immer der Umriß und die graphische Geste dominierte, erst seit kurzem beginnt er nicht mehr in Formen, sondern in Farben zu dichten, und jedes Jahr, jeder Monat fast bedeutet leidenschaftlichere Annäherung an die Mysterien der Farbe. Es ist, als müßte er gleichsam einer Düsternis, einer ungeheuren Weltnacht diese selige Lust des Auges, die Lust an der Farbe entringen, und seine ersten Bilder tragen dieses Dunkel noch mit, die Schwere der Materie. Aber von Leinwand zu Leinwand, von Opus zu Opus wird das farbige Licht glühender und glühender, es überströmt die abteilenden, absondernden Formen und schon geht die gleiche Gewalt, die unwiderstehlich überzeugende, von ihnen aus wie von seinen graphischen Blättern. Wenig in der neuen Malerei ist der seinen vergleichbar an Männlichkeit und Kraft, an gesunder, fast brutaler Sinnlichkeit: wer kann sie vergessen, diese Straßen von Paris, die Szenen am Hafen, der wie ein Wald gesehen ist, wie ein ungeheures, gar nicht mehr künstliches Stück Natur, wer seine Fischer mit ihrer Schwere des Leibes, der verhaltenen Wucht ihrer Kraft, wer die Frauen in den Kabaretts im grausigen Licht ihres Lasters? Eine so titanische Masse der Leistung sein graphisches Opus auch bedeutet, vielleicht war auch sie nur eine Stufe, von der sich jetzt seine Gestalt zu neuerem, höherem Ausblick ins unübersehbare Dasein erheben wird.
Das ist für mich die unvergleichliche Gewalt, die von Masereel ausgeht: Weltkraft, Fülle und unendliches Leben, von einer reinen und starken Männlichkeit getragen. Durch seine Blätter weht wahrhafter Weltwind, und man fühlt wie auf dem Vordersteven eines Schiffes die Luft aus allen Fernen schwingen, die Kraft des Vorwärtstriebes und die tonisch belebende Wirkung, wie sie von Wind und Wellen, den freiesten Elementen, ausgeht. Er ist wohltuend wie alles Naturhafte, ein steigernder Künstler, ein beschenkender, stärkender, erfreuender Mensch, und selten habe ich so sehr wie bei ihm die Wahrheit von Emersons Worten empfunden: »Große Kraft macht uns glücklich.«