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Die Kunst hat eigene Formen der Entwicklung. Nicht geradlinig, langsam und zielbewußt, wie die exakten Wissenschaften, hebt sie sich immer stolzer empor, sondern ihr Weiterschreiten ist ein fortwährendes Ringen und Sichentfalten der gegensätzlichen Kräfte, ein Kampf, bei dem erst immer die Nachgeborenen entscheiden können, ob er ein Sieg war im Sinn des ewigen Fortschritts, oder eine Stauung und Hemmung. Jeder Kunstrichtung erwächst die Spannkraft, die sie zur Herrschaft führt, erst immer aus dem Widerstand feindlicher Richtungen, und ihr eigenes Aufblühen nährt schon wiederum die Keime der besiegten Strebungen, die sich in anderer Form offenbaren.
Neue Kunstrichtungen entstehn also nie organisch, sondern immer in Revolutionen, die eine von vielen gleichzeitig erfaßte neue Idee oder eine überragende Persönlichkeit herbeiführt. Und unablässig weist die Kunstgeschichte dieses wichtigste regulative Prinzip auf, daß, wenn eine Richtung ihre klassische Blüte überwunden hat und sich gleichsam über sich selbst hinaus in ihr Extrem fortsetzt, wenn sie nur die formalistischen Werte steigert und vervielfältigt und nicht die innerlichen, harmonischen, plötzlich die Gegenströmung vorbricht, heftiger, konsequenter in ihren Tendenzen, als sie es eigentlich meint, aber nachdrücklich in Rangstellung zu den herrschenden Prinzipien, die sie überwindet oder rückhaltlos in sich aufgehn läßt.
Eine solche große Revolution, die sich in ihren letzten Konsequenzen längst wieder abgeschwächt hat, haben wir in den letzten zwei Jahrzehnten auf allen Gebieten künstlerischen Schaffens erlebt. Die klassische Schule, die längst epigonal geworden war, ohne es eingestehn zu wollen, und unfähig war, der Kunst neue Ideale und Formen einzuhauchen, mußte notwendig einmal eine Strömung erzeugen, die der lebendigen Gegenwart das Wort redete und ihren gesunden Instinkten. Und was Zola und Gerhart Hauptmann für den dichterischen Realismus getan, das schufen einige verwegene Neuerer in der Kunst, als erster Jean Francois Millet, der den »Cri de la terre«, das Evangelium der Arbeit, zuerst im Bild gestaltete und dabei beinah verhungert wäre, weil er zu früh kam und eine Entwicklung instinktiv um einige Jahre vorausahnte. Dann Courbet, der gesunde Realist, der seine Thesen durch rhetorische und schriftstellerische Propaganda unterstützte, in Deutschland Meister Menzel mit seiner Schmiede – alle ohne voneinander zu wissen und beseelt vom Atem der Zeit, der sie in die Gegenwart wies, an ihren innersten Nerv, an die Arbeit und den Arbeiter, auf dessen Schulter unser Jahrhundert ruht. Aber die letzte endgiltige Formel der künstlerischen Gestaltung des Arbeitsgedankens blieb einem andern bewahrt, der sie prägen durfte, weil er sie nicht als These schuf, sondern als eigenes Lebensschicksal und als Ausstrom menschlicher Empfindung.
Mitten in den Jahren des ersten Ansturms gegen die klassische Kunst, gegen 1886, flattert in Paris zuerst der Name Konstantin Meuniers auf. Damals war er keiner der Jüngsten mehr. Zu einem mehr als Fünfzigjährigen, der ein Menschenleben lang um Leben und Verständnis gekämpft, der spät erst sich selbst und seine eigenste Begabung gefunden hat, kommt der Ruhm, der seit jenen Tagen sich an Gewichtigkeit und Breite immer gesteigert hat und heute die ganze gebildete Welt umspannt.
Meunier hat lange um diese Anerkennung gekämpft, ein ganzes bitteres Menschenleben lang voll von Entsagungen und Enttäuschungen. Hat man das unerbittlichste aller Bücher, die Geschichte, gelesen, die mit grausamer, unabänderlicher Wahrheit von den Schicksalen der Männer erzählt, die im Kampf mit dem Leben lagen, weil sie ihre Zeit schon tiefer erfaßten als alle um sie her, dann bleibt man oft dem Ringen großer Menschen unserer Zeit gegenüber ein wenig kühl und skeptisch; aber der tiefe Eindruck bleibt mir unvergeßlich, wie mir Konstantin Meunier, der greise Meister, dessen Schultern sich schon zu beugen beginnen von der Last der Jahre, in seinem Atelier in Brüssel aus seinen Jugendtagen erzählte. Als Sechzehnjähriger habe er begonnen und – was das Merkwürdige ist – als Bildhauer; aber es schien ihm nicht das Rechte. Er versuchte es mit dem Malen als Schüler der historischen Richtung, die damals Frankreich und Belgien beherrschte, aber es waren kleinliche Erfolge, die er erntete. Und vor allem keine materiellen. Seine Bilder aus dem religiösen Leben interessierten wenig, obzwar sie, z. B. das jetzt recht bekannte ›Begräbnis eines Trappisten‹, in Brüssel zur Ausstellung gelangten; und um sich und seine Familie zu ernähren, mußte er für industrielle Zwecke arbeiten. Nie aber kam die rechte Befriedigung, die Freude an seinem Werk; und es schien auch, als sei eine Entwicklung für ihn unmöglich, denn Meunier stand damals schon in einem Alter, da andere abzuschließen pflegen er war ein Fünfziger. »Damals führte mich« – so erzählt er – »ein Zufall hin zu der ›Terre noire‹, einem wallonischen Winkel, zu den Kohlenbergwerken der Vorinage, und da fühlte ich, wie ich das sah, gleichsam mit einem Schlag: das ist Leben, das ist etwas Neues; hier mußt du beginnen.« Und der Fünfzigjährige begann dort ein Lebenswerk, das nicht nur gehaltlich, sondern auch rein numerisch sich mit dem lebenszeitlichen Schaffen eines jeden messen darf.
»Zwischen fünfzig und sechzig Jahren war die emsigste Periode meines Schaffens«, erzählt er weiter.
»Da konnte ich arbeiten, wenn ich wollte, bei Tag und bei Nacht, die Ideen strömten mir nur so zu, und immer hatte ich Eifer und Lust.« Und in diesen Jahren hat er uns eine neue Kunst gegeben, er hat in den kraftvollen harten und herben Umrissen seiner Arbeitergestalten die Psychologie des fünften Standes versteinert und versinnbildlicht, die wuchtigen Pfeiler entblößt, auf denen die heutige Gesellschaft ruht. Einzelne seiner Arbeiter sind Modelle aus den Glashütten und Kohlenbergwerken gewesen, und es sind immer die einzelnen, die er darstellt, aber in seiner Skulptur hat er das wichtigste Geheimnis des Künstlers für sich entdeckt, das Individuelle, das Realistische und Persönliche zum Typischen zu erheben. Sein Standbild eines Werkmannes ist zwar nur das Bild eines einzelnen, ist individuell betont, aber doch kein Porträt; jene letzte Feile, die die Skulptur zum Porträt ergänzt, läßt er weg, etwas Rohes und Unvollendetes bleibt in der Erscheinung, etwas Allgemeines an dem Individuellen es ist nicht der Arbeiter X Y, der sein Modell gewesen ist, sondern ein Arbeiter, der Arbeiter als Repräsentant des ganzen Standes. Und durch dieses Verfahren ist es ihm gelungen, alle Empfindungen des Einzelnen als Regungen des ganzen Standes und der ganzen Menschheit aufglühen zu lassen; er hat den Eindruck des Allgemeinmenschlichen, den die klassische Schule durch Darstellung des Nacktkörperlichen, des Allgemeinen und Gemeinsamen sucht, eben durch sein Verfahren der formalen Halbvollendung eines gewöhnlichen, bekleideten, äußerlich poesielosen Alltagsmenschen erzielt, der aber in seiner Stimmung eine ganze Klasse repräsentiert. Unbewußt – denn Meunier ist fast ausschließlich Autodidakt – ist er da dem tiefen Schöpfungsgeheimnis Michelangelos nahegekommen.
In diesem äußerlich so eng scheinenden und in Wirklichkeit so wunderweiten Schöpfungskreis ist Meuniers Arbeit fast unübersehbar. Wenn auch wesentlich die Skulptur ihn beschäftigte und seinen Ruhm schuf, so hat er sich doch in jenen Jahren mit jeder Technik befreundet, um der Stoffülle Herr zu werden. Er hat Ölgemälde, Aquarelle, plastische Silhouetten, Porträtzeichnungen nur so nebenbei in diesen Jahren des Alters geschaffen, die an und für sich das Werk eines fleißigen Künstlers sein könnten. Aber in diesen Arbeiten lebt eine ganze Menschheit, das Volk der Bedrückten und Unterjochten; wie eine Anklage sind diese Schöpfungen, die das Leid, die Not und die Arbeit so wahr, so glühend schildern, daß sie selbst schon von dem Leben Meuniers erzählen. Denn nur einer, der selbst gedungen und wie ein Knecht im Dienst des Lebens geschaffen hat, belauscht dieses schaffende Volk mit so schöpferischem Mitleid, nur er weiß so die Gesten der Verzweiflung, die langsam Gleichgiltigkeit und Stumpfheit wird, die dunklen Wolken des Trotzes und der Auflehnung so zu sehn und wiederzugeben. Man muß Blatt auf Blatt seiner Schöpfung umschlagen, um das immer mehr zu empfinden, wie wahr, wie furchtbar wahr seine Arbeit ist.
Alles hat er geschildert, was zu schildern war, Nachtretern hat er keinen Raum gelassen. Hier gehn die Menschen zur Arbeit – ›La descente des mineurs‹ – hinab in den dunklen Schacht, wo sie das Joch und vielleicht auch der Tod erwartet. – Man sieht, daß sie es wissen, denn in ihren Blicken glüht ein Etwas, das nicht mehr Angst ist und nicht mehr Trotz, nur das letzte Funkeln der Ohnmacht, die der Hunger erstickt. Und Meunier folgt ihnen hinab zur Arbeit selbst. Hier wären die unzähligen Erzskulpturen zu nennen, die einzelne Menschen bei ihrer Tätigkeit darstellen und von denen die bekanntesten ›Der Lastträger‹, ›Der Mäher‹ und ›Der Sämann‹ sein dürften. Die großartigste aber von seinen Gruppendarstellungen erscheint mir die plastische Silhouette ›Les puddleurs‹, die in der »Luxembourgausstellung« in Paris ist, leider allzuschlecht postiert. Sie stellt einige Arbeiter an einem Schmelzofen dar, und hier ist Meunier – was sonst der Hauptmangel seines so überreichen Talents ist – gerade die Anordnung und wirkungsvolle Gruppierung der Gestalten wunderbar geglückt. Alles ist an dieser Gruppe Bewegung und Anspannung, man spürt es gleichsam mit, wie sich die Muskeln im Kampf der letzten Anstrengung straffen, wie sich alles konzentriert und ein einziger Gedanke wird in diesem entscheidenden Moment der Arbeit. Sehr wirkungsvoll unterstützt hier auch Meuniers originelle Technik die spontane Wirkung: der dunkelgrüne Erzguß gibt das Trübe, Überwölkte dieser Stimmung wieder, und in der plastischen Silhouette ist jede Ablenkung durch die Geschlossenheit der Front vermieden, so daß nur die Aktion zur Geltung kommt. Von den Arbeitergestalten will mir sonst am wertvollsten erscheinen die Statue ›Le marteleur‹ und der ausdrucksvolle ›Tête de mineur‹.
Selbstverständlich hat sich Meunier aber nicht nur auf die Darstellung der Arbeit beschränkt. Die Berliner werden aus der Nationalgalerie seine in ihrer Schlichtheit ergreifende Gruppe ›Der verlorene Sohn‹ kennen und lieben und wohl von Ausstellungen her die Christusgestalt ›Ecce homo‹, die allerdings vielen sowohl in der Auffassung als auch der peinlich-anatomischen und durchaus nicht idealisierenden Durchführung dem Stoff nicht würdig erscheinen wird. Zu nennen wäre noch seine ›Walküre‹, dann der bekannte Frauenkopf ›Tête de femme‹, eine ungemein realistische Skulptur einer alten Arbeiterin, die aber trotz ihrer Vollendung keine reine ästhetische Wirkung erzielt, ferner das meisterhafte Porträt seines verstorbenen Sohnes Karl Meunier, in dem Belgien gleichzeitig einen seiner tüchtigsten Künstler verloren hat, und noch manches andere Werk, das beweist, daß Meuniers Gesichtsfeld durchaus nicht eng ist und er nur dem Fluch aller Neuschöpfenden, der kalten Schabionisierung erliegt, wenn man ihn einfach nur als sozialen Bildhauer wertet.
Allerdings, in diesem Gebiet hat er uns das meiste gegeben, mehr als je einer vor ihm. Und in seinem Atelier steht die Skizze eines herrlichen Werks, das die Krönung seines Schaffens und gleichsam sein Schwanengesang sein soll, das ›Monument der Arbeit‹, jener Riesenplan, der ihn schon seit vielen Jahren beschäftigt. Alle Gattungen der Arbeit will er hier in ihren wichtigsten Repräsentanten in einem Werk vereinen, dessen bedeutende Kosten ihn auf Staatshilfe anweisen; ein Triumph und ein Denkmal der Arbeit wird es zugleich sein. Noch ist der Aufbau in der Skizze nicht vollendet, wohl aber einzelne Gestalten, die teils Wiederholungen früherer Arbeiten sind, und die Krönung des Ganzen soll die Mutter mit dem Kind bilden, die Volksmadonna, das Symbol des ewigen Lebens und der unendlichen Güte, die über allen diesen harten Gestalten herrscht. – Dazwischen sind noch eine Menge kleinerer Arbeiten, die ihn jetzt beschäftigen, ein Porträt Camille Lemonniers, ein paar neue Gruppen, auch Aquarelle – ein weiter hoher Saal voll Schönheit und echtem Künstlertum. Nichts aber von seinen Werken erreicht den unvergeßlichen Eindruck Konstantin Meuniers für den, dem es vergönnt war, einige Stunden mit ihm zu verbringen. Die bezwingende Schlichtheit seiner Kunst verrät schon seine einfache und doch überwältigende große Persönlichkeit, in der sich die Güte eines reifen, schmerzgeprüften Mannes mit einer herzlichen, geradezu rührenden Liebenswürdigkeit paart; und nie ist es mir so sehr bewußt geworden, wie in der kleinen stillen Vorstadtstraße de l'Abbaye in Brüssel, daß gerade das Neue und Große nicht mit dem Kopf gemeistert wird, sondern nur aus der Seele eines gütigen und sich selbst treuen Menschen entwächst.