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Bei keiner Kunstgattung offenbart sich der Einklang zwischen Persönlichkeit, Temperament und Schöpfung unmittelbarer und intensiver als bei Plastiken. Der Dichter kann in souveräner Höhe der Objektivität über seinen Werken stehen, ein Maler in dekorativen und landschaftlichen Studien nur einen geringen Teil seines persönlichen Erlebens und Fühlens zum Ausdruck bringen, wer aber Charaktere und Symbole in der tauben Form eines menschlichen Körpers vergegenwärtigen will, muß zu ihrer Beseelung ein starkes Stück eigenständigen Temperaments verwerten. Bei Theresa Feodorowna Ries, der jungen Russin, die sich mit ihren Arbeiten rasch einen Weltruf geschaffen, scheint mir diese Gemeinsamkeit ihres reinseelischen und bildnerischen Drangs in jener sehnsüchtig-verlangenden Unruhe zu hegen, die sich in wilder Unbändigkeit und einem brennenden revoltierenden Trieb gegen alle Beschränkungen und Alltäglichkeiten wehrt. Leicht läßt sich dieser Drang, der alle großen und vorwärtsstrebenden Künstler mehr oder minder durchglühte, zuerst aus ihrem Lebensbild ablesen, das ich einer Darstellung ihrer Entwicklung entnehmen will, da mir ihre Schülerarbeiten fremd geblieben sind.
»In Moskau geboren und erzogen, kam Theresa Feodorowna Ries zugleich mit der Tochter Tolstois, Varja, in das traditionelle französische Pensionat, wo sie anfangs die erste, dann eine der schlechtesten, in Mathematik und Algebra unbestritten die schlechteste Schülerin wurde. Als siebzehnjähriges Mädchen trat sie in die Moskauer Akademie ein, entgegen allen Regeln und Gesetzen dieser Anstalt, die von ihren Zöglingen Vorstudien in Anatomie und Perspektive erheischte. Theresa Ries kannte diese Lehrfächer nicht und hat das Versäumte nie mehr nachgeholt. Nach wenigen Monaten übertraf sie in der Malerei alle ihre Mitschülerinnen und erhielt einen ersten Preis für einen Studienkopf. Dieser stellt einen grauhaarigen Muschik vor, der mit trübem, stumpfem Blick verängstigt und melancholisch in die Welt sieht. Die junge Malerin ging bald mit Glück zur Skulptur über; eine Ariadne nach der Antike war ihr erster Versuch auf dem neuen Gebiet. Wie im Spiel lernte sie die spröde Materie souverän beherrschen, das Arbeiten im freien Raum, das durch keinen Rahmen eingeschränkt sein durfte, die Darstellung des massig Körperlichen entsprach völlig ihrer Begabung. Mit ihrem Können wuchs der Neid der Umgebung und trübte ihre frische Schaffenslust. Das ungefügige Benehmen der von Ehrgeiz glühenden Schülerin erregte das Mißfallen der Professoren, bis endlich ein Vergehen gegen die Disziplin ihren Ausschluß aus der Akademie herbeiführte. Ein wenig wohlwollender Lehrer ignorierte absichtlich und regelmäßig Theresa Ries und ihre Arbeit. Eines Tages, als man sie wieder übersehen, erhob sie sich zornig von ihrem Platz: ›Sie scheinen in einem Irrtum befangen‹, rief sie dem verdutzten Professor zu, ›Sie sind hier für uns, nicht wir für Sie‹ – das Consilium abeundi war die unmittelbare Folge dieser Missetat.«
Dieser kleine Ausschnitt aus Theresa Feodorowna Ries' Leben ist typisch für ihre Kunst. Wo andere sorgfältige Vorbildung hatten, lenkte sie der unfehlbare Instinkt, die naive Technik des Genies, und solches Schaffen muß sich immer in naturgemäßem Gegensatz zu Schulen und Akademien befinden. Die Rache, die sie für die Demütigung durch die Professoren nahm, war die einzig große und einer echten Künstlerin würdige: sie schuf aus eigener Kraft ein Meisterwerk, ihre ›Somnambule‹, die zuerst in der Moskauer Kunstausstellung Platz fand. Dem Fachmann wird bei der Wahl des Motivs wohl gleichzeitig die Kühnheit und Dankbarkeit des Stoffs auffallen, kühn, weil seine Bewältigung eine Summe von Fähigkeiten in sich schließt, weil die treibenden Kräfte hier unsichtbar wirkende und rein psychische sind, die in dem unbeweglich träumenden Antlitz unsäglich schwer zu veranschaulichen sind. Und doch ist die Schönheit der Idee überwältigend: die Gestalt eines halbbekleideten Mädchens, das mit tastenden Händen vorwärtsstrebt in der seltsamen, befangenen Unsicherheit eines Traums, der das strömende Mondlicht ihr zu leuchtenden Wundern verklären muß. Das schwebende, aufstrebende, von allen Gleichgewichtsgesetzen förmlich erlöste Hingleiten ihres Gangs, die verträumte Sehnsucht, das Urgeheime und Unfaßbare einer Mädchenseele – das ist eine schöpferische Idee, die nicht anders leben kann wie in formaler Vollendung.
Aber Theresa Feodorowna Ries erteilte sich damals selbst noch nicht den Freispruch von einer ausbildenden Leitung und begab sich zu dem bekannten Künstler Eduard Hellmer nach Wien, das seitdem ihr ständiger Aufenthalt geblieben ist. Die Büste, die uns ihren Lehrer darstellt, ist eine prächtige Spende ihrer dankbaren Empfindung; nicht nur die Charakteristik des großen Bildhauers ist ihr ausgezeichnet gelungen, sondern auch das formale Problem der Verschmelzung von Gestalt mit dem Material selbst, jenes fast unmerkliche Gestaltwerden des Marmors hat bei ihr eine originelle und vortreffliche Lösung gefunden.
Die erste Arbeit, die in Wien zur Ausstellung kam, war ›Die Hexe‹. Unwillkürlich mußte dieses interessante Werk die Aufmerksamkeit aller Besucher des Künstlerhauses auf sich ziehen; eine junge Hexe, die sich zum Blocksbergreigen rüstet. Und wiederum ist hier die ganze Charakterisierungskunst auf die Züge verlegt: das lüstern-erwartungvolle Lächeln, das von den teuflischen Orgien träumt, die Sinnlichkeit, die sich kaum zurückhalten läßt, eine schwüle, verwirrende, satanistische Stimmung verwirklicht sich alles in dieser einen Gestalt.
Mit dieser ›Hexe‹ hat Theresa Feodorowna Ries einen Weg betreten, der für fast alle ihrer späteren Plastiken charakteristisch ist. Sie strebt nicht die Darstellung der Elementargefühle an, sondern symbolisiert in ihren Gestalten jenen seltsamen, komplizierten und der Gestaltung widerstrebenden Ideenkreis des Rätselvollen und Dämonischen. Sie kann für die Plastik vielleicht noch das Gleiche werden, was Charles Baudelaire für die Literatur bedeutet: die Darstellerin des Revoltierenden, Negierenden (›Lucifer‹), des Satanischen, Hysterischen (›Die Hexe‹, ›Die Somnambule‹) und des Übersinnlichen, Rätselvollen, das Tod und Grauen in sich schließt (›Der Tod‹, ›Die Unbesiegbaren‹. In ihr ist jene sinnliche Kraft des Schauens, der allein sich diese dunklen und unruhigen Gefühle entschleiern, und vor allem besitzt Theresa Feodorowna Ries die dichterische, synthetische Fähigkeit, eine Eigenschaft und ein Gefühl in eine einzige Idee einzuschließen, um sie dann auch in einer Gestalt zu verkörpern. Darum ist auch Reichtum und Vieldeutigkeit in ihren Gestalten, es ist jenes erhabene Lebendigwerdenwollen eines Gedankens in ihnen, der »Schrei nach Leben«, der nach einem englischen Ästhetiker stets das letzte und erhabenste Kriterium eines Kunstwerks sein soll. Viel Dichtwerk ist in ihren Plastiken und doch noch viel Raum für Dichter, eigene Gedanken in diese gewaltigen Stimmungen einzubannen.
Am meisten empfinde ich dies bei der Gestalt ›Lucifer‹ . Ein finster-schöner Kopf mit der gedankenvollen Stirn eines Titanen; die schweren Brauen sind zusammengeballt, man fühlt, ein furchtbarer Schmerz tobt hinter dieser eisernen Stirn im Kampf widerstrebender Gedanken. Kraft und Trotz liegt in der ganzen Gestalt; aber das Haupt lehnt sich drohend auf die muskelstrotzenden Hände: es ist einer, der mit dem Leben, Gott und der Hölle gerungen, nie gesiegt hat und doch nie gedemütigt worden ist. Eine Fülle von Ideen durchweht einen bei der Betrachtung dieses Meisterwerks, aber die bange, schicksalstiefe Frage, die unten in den Stein gemeißelt, drängt das Problem zusammen. »Bist du glücklich, Ebenbild Gottes?« steht dort, und aus den dunkelüberschatteten Augen, die tausend- und abertausendmal das Leben gesehen, brennt die gleiche Frage. Und sie klärt auch das Symbol des Totenkopfs, der, wie achtlos hingerollt, zu seinen Füßen liegt. Das ganze urewige Wunder des Werdens und Vergehens liegt in ihm begraben und das ganze Verlangen zu wissen, ob ein Zweck sei und ein wahrhaftes Ende in diesem Leben. Und man spürt erst, wenn man alles dies begriffen, wie sehr sich hier diese Idee verkörpert hat: ein Lichtbringer, Lucifer, muß es sein, der solche gewaltige Fragen in die Welt wirft, aber auch ein Dämon, der weiß, daß er alles Glück des Seienden vernichtet, wenn er mit den letzten und geheimnisvollsten Fragen die Menschen zu Antworten hinaufpeitscht, deren Erfüllung ihnen für ewig versagt ist.
Die gleiche großzügige Behandlung wie der Idee hat Theresa Ries hier dem Kunstwerk selbst zuteil werden lassen. Kraft und Fülle charakterisieren hier alle Glieder, eine grandiose Einheitlichkeit, die nie das Detail und seine mühsam-originelle Durchbildung den Eindruck der Geschlossenheit überwuchern läßt. Ein gewisser Rest von Roheit und Unausgeglichenheit bleibt oft zurück bei ihren Gestalten, der aber verstärkt – wie bei Rodin – nur immer noch die unmittelbare Wucht der spontanen Impression. Dadurch vor allem wirkt ihre Gruppe ›Die Unbesiegbaren‹ so machtvoll. Sie offenbart aber gleichzeitig am stärksten, wie Theresa Feodorowna Ries von einem künstlerischen Formalismus ist, wie ihr nicht nur jede Gruppe, sondern auch jede individuelle Gestalt der Typus einer eigenen Idee werden muß. Wer oberflächlich und verständnislos sieht, erblickt nur vier Arbeiter, die an einem Seil eine unsichtbare Last nach vorwärts ziehen, aber der verschiedene Gesichtsausdruck jedes Einzelnen wird ihn noch nicht auf die künstlerische Vertiefung dieses Bildwerks hinführen. Denn Theresa Ries hat hier ein wundervolles Symbol des Lebens geschaffen, ein pessimistisches dunkles Bild voll Entsagung und Wehmut. Denn das Leben ist, wie sie veranschaulicht, nichts als eine unsichtbare Last, die wir nicht erblicken können, aber wir fühlen ihre Schwere, weil wir sie vorwärtsschleppen müssen. Und jeder trägt sie anders. Die vier Gestalten sind nichts anderes als die vier Temperamente und als solche zugleich die Symbole der Lebensauffassung Der erste Arbeiter, der gebückt und teilnahmslos schleppt wie ein Tier im Joch, ist der Phlegmatiker, der sich willenlos in den harten Urteilsspruch des Schicksals fügt. Der zweite stellt den Melancholiker dar, der den Schmerz des Lebens bereits erkennt und ihn in jeder Minute bewußt fühlt. Und auch der dritte verachtet das Leben: in wildem Zorn reißt er an dem Seil, unfähig, das Leid in schweigender Gelassenheit zu ertragen. Und nur der vierte – die Künstlerin hat ihn jünger dargestellt als die andern – zieht mit frohem Mut und kraftbewußter Ausdauer an der Last; im Sanguiniker ist vielleicht noch allein die Hoffnung, Herr des Lebens werden zu können. Aber sie kämpfen noch alle, ob sie sich auch als Schwächere fühlen, und so erklärt sich auch jener große Titel ›Die Unbesiegbaren‹, der diese Gruppe adelt.
Und diese düstere Lebensanschauung ist der Grundklang ihrer Werke geblieben, allerdings gepaart mit einem finsteren und kraftvollen Trotz gegen das Schicksal. Die andern kleineren Arbeiten, wie z.B. die heilige Barbara, die für die Kirche in Pola bestimmt ist, sind nur Schöpfungen ihrer künstlerischen und nicht auch ihrer menschlichen Intentionen. Der Todesgedanke und die Idee von der drückenden Last des Lebens haben ihr ganzes bisheriges Werk erfüllt; ihn selbst, den Allbezwinger, hat sie als schönen, ernsten Jüngling dargestellt, der aber selbst einen Zug leiser Schmerzlichkeit um die Lippen eingeprägt hat; auch er ist ein Sklave des Unabwendbaren und des Schicksals. Das nächste Werk, das von Theresa Ries zur Veröffentlichung gelangt, hat sich ebenfalls den Todesgedanken zum Motiv genommen, allerdings schon in einer sanften Verklärung und Erhebung, wie es die Verwertung als Grabdenkmal bedingt.
Nach dem, was ich von Theresa Feodorowna Ries gesagt habe, ist es wohl kaum nötig, noch zu betonen, daß dieser jungen Künstlerin noch reiche Vertiefung und Entwicklung bevorsteht. Denn wer sich in Kleinlichkeiten und formalen Vollendungen ein Ziel sucht, gelangt zur Manier und zur Manieriertheit; jene Künstler aber, die ihre Werke gedanklich mit Leben erfüllen und sie nur irdische Formen der großen Ideen sein lassen, die sie durchbeben, die wachsen mit jedem Tag, der ihnen ein Erlebnis wird. Und der Tag der Gedankendichterin und so überreich begabten Plastikerin Theresa Feodorowna Ries ist darum viel zu steil gegen die Höhe gerichtet, als daß wir heute schon sein Ende absehen könnten.