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Heiterkeit, güldene, komm!
Die Musik war von Anfang an in Nietzsche gewesen, nur immer latent, immer von dem stärkeren Willen nach geistiger Rechtfertigung bewußt beiseite geschoben. Der Knabe schon begeistert durch kühnes Improvisieren seine Freunde, und in den Jugendtagebüchern finden sich zahlreiche Hinweise auf eigene Komposition. Aber je entschlossener sich der Student zur Philologie und dann zur Philosophie bekennt, um so mehr dämmt er die unterirdisch nach elementarem Ausbruch drängende Macht seiner Natur ab. Musik, das bleibt für den jungen Philologen ein willkommenes Otium, ein Ausruhen von dem Ernst, eine Liebhaberei, wie Theater, Lektüre, Reiten oder Fechten, eine geistig gymnastische Müßigkeit. Durch diese sorgfältige Abkanalisierung, durch diese bewußte Absperrung sickert in den ersten Jahren auch kein Tropfen befruchtend in sein Werk ein: wie er die »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« schreibt, bleibt die Musik nur Gegenstand, Objekt, ein geistiges Thema – aber keine Schwingung musikalischen Gefühls flutet in die Sprache, in die Dichtung, in die Denkart modulierend ein. Selbst Nietzsches Jugendlyrik entbehrt aller Musikalität, und sogar – was noch erstaunlicher anmutet – seine kompositorischen Versuche scheinen nach Bülows doch kompetentem Urteil amorpher Geist, typische Antimusik gewesen zu sein. Musik ist und bleibt ihm lange bloß eine Privatneigung, die der junge Gelehrte mit der ganzen Lust der Unverantwortlichkeit, mit der reinen Freude des Dilettierens betreibt, aber immer jenseits und abseits der »Aufgabe«.
Der Einbruch der Musik in Nietzsches innere Welt erfolgt erst, wie die philologische Kruste, die gelehrte Sachlichkeit um sein Leben gelockert, wie der ganze Kosmos von vulkanischen Stößen erschüttert und aufgerissen ist. Da bersten die Kanäle und strömen urplötzlich über. Immer bricht ja die Musik am stärksten in den aufgewühlten, geschwächten, in den gewaltsam angespannten, von irgendeiner Passion bis ins Unterste aufgerissenen Menschen herein – das hat Tolstoi richtig erkannt und Goethe tragisch gefühlt. Denn selbst er, der gegen die Musik eine vorsichtige, eine abwehrend ängstliche Haltung einnahm (wie gegen alles Dämonische: in jeder Verwandlung erkannte er den Versucher), auch er erliegt der Musik immer nur in aufgelockerten (oder wie er sagt: »in den auseinandergefaltenen«) Augenblicken, da sein ganzes Wesen aufgewühlt ist, in den Stunden seiner Schwäche, seines Aufgetanseins. Immer wenn er (zum letztenmal bei Ulrike) einem Gefühl zur Beute ist und nicht Herr seiner selbst, dann überflutet sie auch den starrsten Damm, zwingt ihm die Träne ab als Tribut und Musik, gedichtete, herrlichste Musik als ungewollten Dank. Musik – wer hat es nicht erlebt? – braucht immer ein Aufgetansein, ein Offensein, ein Weibwerden in einem selig lechzenden Sinne, um fruchtend in ein Gefühl einzugehen: so trifft sie auch Nietzsche im Augenblick, da der Süden ihn weich aufgetan, in dem Zustand gierigsten, lechzendsten Lebensverlangens. Mit einer merkwürdigen Symbolik setzt sie gerade in der Sekunde ein, da sein Leben sich vom Gelassenen, vom Episch-Fortgebildeten durch eine plötzliche Katharsis zum Tragischen wendet; die »Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« vermeinte er darzustellen und erlebt die Umkehr: die Geburt der Musik aus dem Geist der Tragödie. Die Übermächtigkeit der neuen Gefühle findet ihren Ausdruck nicht mehr in der gemessenen Rede, sie drängt nach stärkerem Element, nach höherer Magie: »Du wirst singen müssen, o du meine Seele.«
Gerade weil diese unterste, die dämonische Quelle seines Wesens so lange verschüttet war mit Philologie, Gelehrsamkeit und Gleichgültigkeit, schießt sie so gewaltsam auf und preßt ihren flüssigen Strahl mit solcher Druckkraft bis in die letzten Nervenfasern, in die letzte Intonation seines Stils. Wie nach einer Infiltration neuer Vitalität beginnt die Sprache, die bis dahin nur darstellen wollte, mit einemmal musikalisch zu atmen: das vortragshafte Andante maestoso, der schwere Sprechstil seiner früheren Schriften, hat jetzt das »Undulatorische«, die vielfache Bewegung der Musik. Alle kleinen Raffinements eines Virtuosen funkeln darin auf, die kleinen spitzen Staccati der Aphorismen, das lyrische Sordino in den Gesängen, die Pizzicati des Spottes, die kühnen Verschleifungen und Harmonisationen von Prosa, Spruch und Gedicht. Selbst die Interpunktionen, das Ungesprochene der Sprache, die Gedankenstriche, die Unterstreichungen haben absolut die Wirkung von musikalischen Vortragszeichen: nie hat man so sehr in der deutschen Sprache das Gefühl einer instrumentierten Prosa gehabt. Ihre nie vordem erreichte Polyphonie bis ins einzelne durchzufühlen, bedeutet für einen Sprachartisten gleiche Wollust wie für einen Musiker das Studium einer Meisterpartitur: wieviel versteckte und verkapselte Harmonie hinter den überspitzten Dissonanzen, wieviel klarer Formgeist in der erst rauschhaften Fülle! Denn nicht nur die Nervenenden der Sprache vibrieren von Musikalität: auch die Werke selbst sind symphonisch empfunden, sie entstammen nicht mehr geistig planender, kalt gedanklicher Architektur, sondern unmittelbar musikalischer Inspiration. Vom »Zarathustra« hat er selbst gesagt, daß er »im Geiste des ersten Satzes der neunten Symphonie« geschrieben sei; und das sprachlich einzige, wahrhaft göttliche Vorspiel zum »Ecce homo« – sind diese monumentalen Sätze nicht ein Orgelpräludium, für einen ungeheuren zukünftigen Dom gedacht? Gedichte wie das »Nachtlied«, das »Gondellied«, sind sie nicht Urgesang der Menschenstimme aus einer unendlichen Einsamkeit? Und wann war der Rausch so tanzhaft, so sehr heroische, so sehr griechische Musik geworden, als im Päan seines letzten Jubels, in dem Dithyrambus des Dionysos? Von oben durchstrahlt von aller Klarheit des Südens, von unten durchwühlt von strömender Musik, wird hier Sprache wahrhaft zur niemals ruhenden Welle, und in diesem meerhaft großartigen Element kreist nun Nietzsches Geist bis zum Wirbel des Untergangs.
Wie nun die Musik so stürmisch und gewaltsam in ihn einbricht, erkennt Nietzsche, der dämonisch Wissende, sofort ihre Gefahr: er fühlt, daß dieser Strom ihn über sich selbst hinausreißen könnte. Aber indes Goethe seinen Gefahren ausweicht – »Goethes vorsichtige Haltung zur Musik«, notiert Nietzsche einmal –, faßt sie Nietzsche immer an den Hörnern; Umwertungen, Umwendungen sind seine Art der Verteidigung. Und so macht er (wie bei seiner Krankheit) aus dem Gift eine Arznei. Musik muß ihm jetzt ein anderes sein als in seinen philologischen Jahren: damals verlangte er erhöhte Spannungen der Nerven, Aufschwülung des Gefühls (Wagner!), ein Gegengewicht gegen seine gelassene, gelehrte Existenz. Jetzt aber, da sein Denken selbst schon Exzeß ist und ekstatische Gefühlsverschwendung, bedarf er der Musik als einer Art seelischen Broms, einer innern Zurückberuhigung. Nicht mehr Trunkenheit soll sie ihm geben (alles Geistige wird ihm ja jetzt klingender Rausch), sondern nach Hölderlins herrlichem Wort die »heilige Nüchternheit«: »Musik als Erholung, nicht als Aufregungsmittel.« Er will eine Musik, in die er flüchten kann, wenn er todwund und müde vom Weidwerk seiner Gedanken taumelt, ein Refugium, ein Bad, kristallene Flut, die kühlt und läutert – Musica divina, eine Musik von oben her, Musik aus klaren Himmeln und nicht aus gepreßter, schwüler, brünstiger Seele. Eine Musik, die ihn sich vergessen läßt, nicht eine, die ihn wieder in sich zurücktreibt, eine »jasagende, jatuende« Musik, eine Südmusik, wasserklar in ihren Harmonien, ureinfach und rein, eine Musik, »die sich pfeifen läßt«. Eine Musik nicht des Chaos (das glüht in ihm selbst), sondern des siebenten Schöpfungstages, da alles ruht und nur die Sphären ihren Gott heiter preisen, Musik als Rast: »Nun, da ich im Hafen bin: Musik, Musik!«
Leichtigkeit, das ist Nietzsches letzte Liebe, sein höchstes Maß an allen Dingen. Was leicht macht, was gesundet, ist gut: in Kost, in Geist, in Luft, in Sonne, in Landschaft, in Musik. Was schweben macht, was die Dumpfheit und Dunkelheit des Lebens, die Häßlichkeit der Wahrheit vergessen hilft, das allein schenkt Gnade. Darum diese letzte, diese späte Liebe zur Kunst, als der »Ermöglicherin des Lebens«, als »großer Stimulans zum Leben«. Musik, helle, erlösende, leichte Musik, wird von nun ab das geliebteste Labsal des tödlich Aufgeregten. »Das Leben ohne Musik ist einfach eine Strapaze, ein Irrtum.« Ein Fieberkranker kann nicht wilder mit zersprungenen, brennheißen Lippen nach Wasser verlangen, als er in seinen letzten Krisen nach ihrem silbernen Trank: »Ob schon je ein Mensch solchen Durst nach Musik gehabt hat?« Sie ist seine letzte Rettung, seine Rettung vor sich selbst: darum auch dieser apokalyptische Haß gegen Wagner, der durch Narkotika und Stimulantia ihre kristallene Reinheit getrübt, darum dies Leiden »am Schicksal der Musik wie an einer offenen Wunde«. Alle Götter hat der Einsame verstoßen, nur dies will er sich nicht rauben lassen, sein Nektar und Ambrosia, das die Seele erfrischt und ewig verjüngt. »Die Kunst und nichts mehr als die Kunst – wir haben die Kunst, daß wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.« Mit dem klammernden Griff des Ertrinkenden heftet er sich an sie, an die einzige Macht des Lebens, die nicht der Schwere unterliegt, daß sie ihn fasse und auftrüge in ihr seliges Element.
Und Musik, sie beugt sich, die erschütternd Beschworene, gütig herab und umfängt seinen stürzenden Leib. Alle haben den Fiebernden verlassen; die Freunde sind längst gegangen, die Gedanken immer fernab am Wege, immer auf waghalsiger Wanderschaft: nur sie begleitet ihn bis in seine letzte, seine siebente Einsamkeit. Was er berührt, berührt sie mit ihm; wo er spricht, tönt ihre klare Stimme mit: gewaltsam reißt sie den gewaltsam Hinabgezogenen immer wieder empor. Und wie er endlich stürzt, wacht sie noch über seiner erloschenen Seele; Overbeck, der zu dem geistig Geblendeten ins Zimmer tritt, findet ihn am Klavier, mit zuckenden Händen noch hohe Harmonien suchend, und wie sie den Verstörten heimbringen, singt er in erschütternden Melodien auf der ganzen Fahrt sein Gondellied. Bis hinab ins Dunkel des Geistes begleitet ihn die Musik, Tod und Leben ihm durchwaltend mit ihrer dämonischen Gegenwart.