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Sturz ins Unendliche

Was Eines ist, zerbricht, Empedokles,
So gehet festlich hinab
Das Gestirn. Und trunken
Von seinem Lichte glänzen die Täler.

Als Dreißigjähriger tritt Hölderlin über die Schwelle des Jahrhunderts; gewaltigstes Werk haben die letzten leidvollen Jahre in ihm vollendet. Die lyrische Form ist gefunden, der heroische Rhythmus des großen Gesanges geschaffen, die eigene Jugend in Hyperions Träumergestalt, die Tragödie des Geistes im »Tod des Empedokles« verewigt. Nie war er höher angestiegen und nie näher dem Untergang. Denn die Welle, die ihn mächtigen Schwunges hochauf über das Maß des Lebens getragen, schon bäumt sie sich zu zerschmetterndem Sturz. Und er selbst fühlt mit prophetischer Ahnung die nahe Neige, er weiß:

Es ziehet wider Willen ihn von
Klippe zu Klippe, den Steuerlosen,
Das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu.

Denn es hilft nichts, so hohes Werk geschaffen zu haben: nur Unverständnis erntet er, wo er Liebe ersehnt, denn

es gibt
Ein finstres Geschlecht, das weder einen Halbgott
Gern hört oder wenn mit Menschen ein Himmlisches oder
In Wogen erscheint, gestaltlos, oder das Angesicht
Des Reinen ehrt, des nahen
Allgegenwärtigen Gottes.

Noch immer, mit dreißig Jahren, ist er Freischlucker an fremdem Tisch, der Lektionsgeber im verschabten schwarzen Kandidatenrock, noch immer hängt er der alternden Mutter, der uralten Großmutter in der Tasche, noch immer wie in Knabenzeit stricken sie ihm Strümpfe und versorgen den Hilflosen mit Wäsche und Kleidung. Mit »täglichem Fleiße« hat er nun in Homburg wie einst in Jena nochmals versucht, von den ersparten Groschen eine dichterische Existenz (die einzig ihm gemäße!) sich zu erhungern und die »Aufmerksamkeit meines deutschen Vaterlandes so weit zu verdienen, daß die Menschen nach meinem Geburtsort und meiner Mutter fragen«. Aber nichts vollendet sich, nichts fördert ihn: noch immer nimmt Schiller mit herablassender Protektion ein Gedicht in den Almanach und sperrt sich den andern. Und dieses Schweigen der Welt bricht allmählich seinen Mut. Zwar weiß er in tiefster Seele, »das Heilige bleibt immer heilig, wenn es die Menschen auch nicht achten«, aber es wird immer schwerer, die Weltgläubigkeit zu bewahren, wenn sie keine Mitteilsamkeit findet. »Unser Herz hält die Liebe zur Menschheit nicht aus, wenn es nicht Menschen hat, die es liebt.« Seine Einsamkeit, lange seine sonnige Burg, verwintert und wird starr wie Eis. »Ich schweige und schweige, und so häuft sich eine Last auf mir ... die den Sinn wenigstens unwiderstehlich mir verfinstern muß«, stöhnt er auf, und ein andermal in einem Briefe an Schiller: »Ich friere und starre in den Winter, der mich umgibt. So eisern mein Himmel, so steinern bin ich.« Aber niemand bringt ihm Wärme in seine Einsamkeit, »es sind so wenige, die noch Glauben an mich haben«, klagt er resigniert, und allmählich verliert sogar er selbst den Glauben an sich. Sinnlos erscheint ihm, was ihm das Heiligste, die Urmission seines Lebens seit Kindertagen gewesen, er beginnt an der Dichtung zu zweifeln. Die Freunde sind fern, die Stimme, die ersehnte, des Ruhmes schweigt.

Indessen dünket mir öfters
Besser, zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein,
So zu harren und was zu tun indes und zu sagen
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?

Noch einmal hat er die Unmacht des Geistes gegen die stählerne Wirklichkeit erfahren, noch einmal beugt er die müdgedrückte Schulter ins Joch und verkauft sich noch einmal »ins abseitige Leben« hinein, da es unmöglich für ihn ist, »bloß von der Schriftstellerei zu leben, wenn man nicht gar zu dienstbar hierin sein will«. Eine selige Herbststunde bloß darf er die geliebte Heimat wiedersehen, mit Freunden in Stuttgart die »Herbstfeier« begehen. Dann aber nimmt er wieder den abgeschabten Magisterfrack und wandert als Hauslehrer hinaus in die Schweiz nach Hauptwyl, in die Knechtschaft des Tages.

Hölderlins prophetisches Herz weiß genau um das Sinken der Sonne, um die eigene Dämmerung und den nahenden Untergang. Wehmütig hat er von der Jugend Abschied genommen. – »Endlich, Jugend, verglühst du ja« – und die Abendkühle weht schaurig durch sein Gedicht.

Wenig lebt ich. Doch atmet kalt
Mein Abend schon. Und stille, den Schatten gleich
Bin ich schon hier; und schon gesanglos,
Schlummert das schaudernde Herz im Busen.

Die Schwinge ist gebrochen, und er, der nur im Fluge, im dichterischen Aufschwung wahrhaft lebt, findet sein Gleichgewicht nicht mehr. Nun muß er es bezahlen, »nicht bloß mit der Oberfläche des Wesens beschäftigt« gewesen zu sein, sondern »die ganze Seele, sei es in Liebe, sei es in Arbeit, der zerstörenden Wirklichkeit ausgesetzt zu haben«. Das Strahlende, die Aureole des Genius ist von seiner Stirn gewichen, er drückt sich ängstlich in sich selber hinein, um sich vor den Menschen zu verbergen, deren Umgang ihm fast physisch peinlich ist. Je schwächer die Kraft in ihm wird, sich zusammenzuhalten, um so stärker springt aus den Nerven der zuckende Dämon. Allmählich wird Hölderlins Sensibilität krankhaft, seine seelischen Aufschwünge zu körperlichem Ausbruch. Jede Kleinigkeit kann ihn reizbar machen und die geflissentliche Demut, die er wie einen Panzer schützend um sich getan, zerbrechen, überall meint der Überempfindsame und Zurückgestoßene »Beleidigungen, Druck der Verachtung« zu erfahren. Auch der Körper reagiert mit Abspannungen und Ausbrüchen schärfer auf jede atmosphärische Veränderung: was ursprünglich nur ein »heiliges Ungenügen« des Geistes war, wird neurasthenische Unlust des ganzen Wesens, Krise und Katastrophe der Nerven. Immer fahriger werden seine Gebärden, immer sprunghafter seine Stimmungen, und schon beginnt das einst so klare Auge unruhig über den eingefallenen Wangen zu flackern. Unaufhaltsam breitet sich der Brand über sein ganzes Wesen hin aus, der Dämon gewinnt immer mehr Macht über sein Opfer, er wird zu »einer betäubenden Unruhe«, die sich »um sein Inneres häuft« – nun jagt er ihn von einem Extrem ins andere, von Heiß zu Kalt, von Ekstase zu Verzweiflung, von silbernem Gottgefühl zur schwärzesten Schwermut, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt. Die fiebrige Irritation zuckt von den Nerven hinüber in die Gedanken: schließlich greift die Entzündung bis ins Dichterische über, das Unstete des Menschen wird in der Inkohärenz des Dichters immer erkenntlicher, in der Unfähigkeit, bei einem einzelnen Gedanken zu verweilen und ihn logisch zu entwickeln. Auch hier jagt er wie dort von Haus zu Haus, fiebrig weiter von Bild zu Bild, von Idee zu Idee. Und dieser dämonische Brand beruhigt sich nicht eher, bis das ganze Innere Hölderlins ausgebrannt und nichts mehr bleibt als das geschwärzte Gerüst seines Körpers.

So gibt es in der Pathologie Hölderlins keinen deutlich markierten Zusammenbruch, keine scharfe Grenzlinie von geistig gesund und geistig erkrankt. Hölderlin brennt ganz allmählich innen aus, die dämonische Macht verzehrt seine wache Vernunft nicht plötzlich wie ein Waldbrand, sondern wie ersticktes kohlendes Feuer. Nur ein Teil, eben der göttliche seines Wesens und der dem Dichterischen am meisten verbundene, widersteht wie Asbest: sein dichterischer Tiefsinn überlebt den Wahnsinn, die Melodie die Logik, der Rhythmus das Wort: so ist Hölderlin vielleicht der einzige klinische Fall, wo die Dichtung die Vernunft überdauert und absolut Vollendetes im Zustand der Zerstörung entsteht – wie manchmal (ganz selten) auch in der Natur ein vom Blitz getroffener und bis in die Wurzeln verkohlter Baum von dem höchsten unberührten Aste aus noch lange weiterblüht. Hölderlins Übergang ins Pathologische ist vollkommen stufenhaft, nicht wie bei Nietzsche der plötzliche Einsturz eines ungeheuren, bis in die Himmel des Geistes erhobenen Baues, sondern gleichsam ein Abbröckeln, Stein um Stein, ein Lösen des Fundaments, ein allmähliches Ins-Bodenlose-, Ins-Unbewußte-Sinken. Es akzentuieren sich nur in seinem äußeren Gehaben gewisse Erscheinungen der Unruhe, und diese Krisen werden immer vehementer und folgen einander in immer kürzeren Ausbrüchen: während er in seinen früheren Stellungen Monate, selbst Jahre verweilen konnte, werden die Entladungen jetzt rascher. Indes in Waltershausen und Frankfurt noch Jahre, vermag sich Hölderlin in Hauptwyl und Bordeaux nur wenige Wochen zu halten, seine Lebensuntüchtigkeit wird immer hemmungsloser und aggressiver: wieder wirft das Leben ihn wie ein Wrack in das Haus der Mutter, seinen ewigen Strand nach allen Fahrten. Da reckt in letzter Verzweiflung der Schiffbrüchige die Hand nach dem Schicksalsformer seiner Jugend, noch einmal schreibt er an Schiller. Aber Schiller antwortet nicht mehr, er läßt ihn fallen, und wie ein Stein stürzt der Verlassene in die Tiefe seines Geschicks. Noch einmal wandert er, der Unerziehbare, in die Ferne hinaus, Kinder zu erziehen, aber freudlos, ein Todgeweihter, nimmt er den letzten Abschied voraus.

Und nun sinkt ein Schleier über sein Leben: Geschichte wird hier zur Mythe und sein Schicksal Legende. Noch weiß man, daß er durch Frankreich »in schönem Frühling gewandert«, und »auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette« (wie er schreibt) genächtigt, man weiß, daß er nach Bordeaux zu jener Familie des deutschen Konsuls gelangt und plötzlich jenes Haus verlassen hat. Aber dann sinkt die Wolke nieder und verschattet seinen Untergang. Ist er jener Fremdling gewesen, von dem Jahrzehnte später eine Frau in Paris erzählte, daß sie ihn eintreten sah in ihren Park und in freudigster Begeisterung mit den marmorkalten Göttergestalten Zwiesprache halten? Ist es wahr, daß bei der Rückwanderung ein Sonnenstich ihm die Sinne geraubt und »das Feuer, das gewaltige Element ihn ergriffen«, daß also, wie er von sich in wissendstem Symbole sagte, »Apoll ihn geschlagen«? Haben wirklich Räuber am Wege ihm Kleider und das letzte Geld genommen? Auf alle diese Fragen wird niemals Antwort sein, eine Wolke hängt über seiner Heimfahrt, seinem Untergang. Nur dies weiß man, daß eines Tages bei Matthisson in Stuttgart einer eintritt, »leichenblaß, abgemagert, mit hohlem, wildem Blick, langem Haar und Bart und gekleidet wie ein Bettler«, und, wie Matthisson scheu vor dem Gespenstischen zurückweicht, mit dumpfer Stimme seinen Namen murmelt: »Hölderlin«. Nun ist das Wrack zerschellt. Noch einmal treiben die Trümmer seines Lebens zurück bis ins mütterliche Haus, aber die Masten der Zuversicht, das Steuer der Vernunft sind für immer zerbrochen, und von nun an lebt Hölderlins Geist in einer nie mehr geklärten und nur manchmal vom geheimnisvollen orphischen Blitzen erhellten Nacht. Im Gespräch kann er den offenen Sinn nicht immer erfassen, im Brief verschränkt sich einfachste Absicht zu barockem Geknäul, immer mehr verschließt sich sein Wesen der Welt. Schicht um Schicht zerbröckelt sein waches Wesen, die Entpersönlichung vollendet sich, der großartig Unbewußte wird nun ganz Sprachrohr pythischen Worts, »Mundstück jenseitiger Imperative« im Sinne Nietzsches, Deuter und Sager erhabener Dinge, die der Dämon ihm zuflüstert und die sein eigener Sinn wach nicht mehr weiß. Die Menschen weichen ihm vorsichtig aus (denn oft bricht aus ihm wie ein gefesseltes Tier die Überreiztheit der Nerven), oder sie spotten seiner: nur die Bettina, die wie bei Beethoven und Goethe die Gegenwart des Genius atmosphärisch ahnend fühlte, und Sinclair, der sagenhaft herrliche Freund, erkennen eines Gottes Gegenwart in der fast tierischen Dumpfheit des »in himmlische Gefangenschaft Verkauften«. »Gewiß ist mir doch bei diesem Hölderlin«, schreibt die herrliche Ahnerin, »als müsse eine göttliche Gewalt wie mit Fluten ihn überströmt haben, und zwar die Sprache, in übergewaltigem raschem Sturz seine Sinne überflutend und diese darin ertränkend; und als die Strömungen sich verlaufen hatten, da waren die Sinne geschwächt und ertötet.« Edler, wissender hat keiner sein Geschick ausgesagt und keiner den Widerhall jener dämonischen Gespräche (uns verloren wie die Improvisationen Beethovens) großartiger der Seele bewußt gemacht, als wenn sie der Günderode berichtet: »ihm zuhören sei gerade, als wenn man es dem Tosen des Windes vergleiche, denn er brause immer in Hymnen dahin, die abbrechen, wie wenn der Wind sich dreht – dann ergreife es ihn wie ein tieferes Wissen, wobei einem die Idee, daß er wahnsinnig sei, ganz verschwinde; und daß sich anhöre, was er über die Verse und über die Sprache sage, wie wenn er nah dran sei, das göttliche Geheimnis der Sprache zu erleuchten. Und dann verschwinde ihm wieder alles im Dunkel, und dann ermatte er in der Verwirrung und meine, es werde ihm nicht gelingen«. Sein ganzes Wesen verliert sich in Musik: stundenlang sitzt er (wie Nietzsche in jenen letzten Turiner Tagen) am Klavier und greift mit klappernden Fingernägeln Akkorde in unaufhörlicher Bemühung, als wollte er die Melodien über ihm, die unendlichen, fassen, die seinen schmerzenden Kopf durchbrausen, oder er rezitiert, immer im Rhythmus, Worte und Gesänge monologisch vor sich hin. Der erst Hingerissene des Gedichts, der selige Enthusiast wird nun allmählich der Hinabgerissene, der Hinweggerissene von der klingenden Flut: singend wie jene Indianer im Hiawathagedicht seines Schicksalsbruders Lenau stürzt er den brausenden Katarakt hinab.

Im Tiefsten erschreckt und doch »vom unverstandenen Wunder ehrfürchtig berührt«, läßt ihn die Mutter, lassen ihn die Freunde vorerst im elterlichen, im bürgerlichen Haus. Aber immer wütiger bricht der Dämon aus dem Kranken: das Absterben der Vernunft ist mit tobsüchtigen Ausbrüchen begleitet, die Flamme, ehe sie ganz erlischt, schlägt noch gefährlich auf. So müssen sie ihn in die Klinik bringen, dann zu Freunden und schließlich in eines braven Tischlermeisters Haus. Mit den Jahren brennt das wilde Feuer in ihm aus, der Krampf lockert sich, Hölderlin wird wieder kindlich-kindisch und sanft, die Gewitter seiner Nerven verrauschen in eine schwere Dämmerung. Noch weiß er sich mancher Einzelheit zu entsinnen, aber sich selbst hat er vergessen. Wie durch einen traumhaften Schleier fühlt sein entgeisterter Leib die sanfte Wohltat der Natur im Frühling und atmet süß die durchwürzte Luft der Felder; noch schlägt vierzig Jahre lang im ausgebrannten Gehäuse das vereinsamte Herz, aber nur ein Schatten seines Wesens geistert hin durch die Zeit. Hölderlin, der heilige Jüngling, ist längst entrückt von den Göttern in die Wolken, wie Iphigenia auf Aulis. Er lebt in anderen Gefilden mit seinem gesteigerten Leben.

Was aber auf den trüben Wassern der Zeit noch vierzig Jahre lang unbewußt hinschwimmt, ist seine geistige Leiche nur, jenes entstaltete gespenstige Schattenbild, das sich, unkund seiner selbst, manchmal »der Herr Bibliothekarius« nennt und manchmal »Scardanelli«.


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