Heinrich Zschokke
Die Branntweinpest
Heinrich Zschokke

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18. Die Waisen der Selbstmörder.

Ich bekenne, daß ich heimlich vor dem ersten Augenblick zitterte, in welchem sich die jungen Leute, nach einer mehrjährigen, kummerreichen Trennung wieder erblicken würden. Ich verlor auch diese Furcht selbst da nicht, als uns meine Frau bei unserer Ankunft versicherte, Justine sei auf den Empfang ihres Freundes vollkommen gefaßt, wie tief sie auch, durch die erste Nachricht von unserer Bekanntschaft mit ihm, erschüttert worden sei. Meine Tochter flog, um uns anzumelden, auf den Wink ihrer Mutter, zu Justinen. Nach einigen Minuten erschienen beide Mädchen in dem Zimmer, wo wir versammelt waren.

Schreckliche Todtenblässe hatte Justinens schönes Antlitz bedeckt. Dennoch ging sie, festen Schrittes, zuerst gegen mich, um mich zu begrüßen. Sie reichte mir stumm eine eiskalte Hand zum Willkommen, indem ein vergängliches Lächeln, wie das Lächeln eines Leichnams im Sarge, auf ihrem alabasterweißen Gesicht schwebte. Dann blickte sie auf Fridolin, und verneigte sich gegen ihn; aber mit einer Kälte und Gleichgültigkeit, als wäre sie ihm und allen irdischen Verhältnissen abgestorben. Er nahte sich der geisterhaften Gestalt mit sichtbarer Bestürzung, führte ihre Hand zu den Lippen, und sprach: »Meine Justine, warum siehst du mich so unfreundlich an? Dank sei der himmlischen Vorsehung, die dich mir und meiner Mutter wiedergegeben hat, die deine Mutter werden will! Du gehörst mir nun und ewig. Nichts soll uns wieder scheiden. Blicke mich freundlicher an. Ist dir Fridolin nicht mehr lieb und theuer?«

Die Jungfrau öffnete ihre Lippen zum Sprechen einige Mal ohne einen Laut zu geben. Dann endlich sagte sie mit kaum hörbarer Stimme, und ihre Gesichtszüge belebten sich während des Redens immer mehr: »Fridolin, – lieb und theuer – du bist's. – Darum komm' ich; darum seh' ich dich noch einmal. Ich war deine verlobte Braut. Fridolin, nun nicht mehr. Ich bin mit Gram und Schmach beladen. Eine böse Mitgift! Ich darf dir nicht zugehören; dir nicht meine Schande zum Geschenk bringen. Fridolin, ehre den unbescholtenen Namen deiner Aeltern; er ist ein heiliges Kleinod! Er ist ein Segen für die Kinder. Fridolin, du darfst es nicht vergessen: ich bin die Tochter eines Selbstmörders! Man zeigt auf mich mit Fingern. Ich darf dich nicht entehren. Nun geh! Leb' wohl!«

Fridolin hielt ihre Hand fester, als Justiz zurücktreten wollte, und rief: »O du Heilige, was hat das Lebensloos deines Vaters mit unserer Liebe zu schaffen? Und wäre mein Vater, oder der deinige, auf dem Blutgerüst gestorben, sollte dadurch unsere Unschuld zum Verbrechen, unsre eigne unbefleckte Ehre zum Ekel der Welt werden?«

»Fridolin!« sagte sie: »durch des Henkers Hand kann oft ein Schuldloser sterben; aber wer durch eigene Hand stirbt, ist jederzeit Verbrecher. Sein Mord tödtet nicht nur ihn selbst. Er mordet auch, nach seinem Tode, Frieden, Freude, Ehre und Leben der armen Hinterlassen! so etwas verwischt sich nie! – O Fridolin, glaub' es, mein Vater war gewiß ein guter Mann, bis der erste Trank des Fluchs über seine Lippen ging, den das Feuer der Hölle destillirt hat.«

Mit zärtlich flehender Stimme rief Fridolin: »Und darum kannst du mich verstoßen, Justine? O, wie viele tausend Selbstmörder ihres Lebens, ihrer Ehre, ihres Friedens, ihrer Seelenruhe sind vorhanden, die heut' noch athmen, und beim Traubensaft und Branntewein nicht ihr und ihrer Familie Verderben und Untergang voraus sehn! Justine, du nennst diese Unglücklichen, mit Recht, Selbstmörder. Auch mein beklagenswerter Vater gehört ja leider zu ihrer schrecklichen Zahl. Auch er zerrüttete Leib und Seele mit dem brennenden Jammertrank so unmerklich, so lange, bis ihn das feurige Gift im eigenen Bette erwürgte. – Soll ich nun darum deiner nicht würdig sein?«

»Wie?« fragte Justine schaudernd: »Auch dein Vater? – Auch Er dem Trunk ergeben?«

Fridolin antwortete lange nicht. Sein Haupt sank vor sich auf die Brust nieder, die von heftigem, innerm Schmerz bewegt war. Endlich brach er in ein lautes Weinen aus, verhüllte sein Gesicht und warf sich auf einen Sessel nieder. Justine blieb unbeweglich, den Blick traurig auf ihren Freund geheftet. Ihre Wangen hatten sich während des Redens wieder mit einer matten Röthe gefärbt. Es herrschte im Zimmer allgemeine Stille. Meine Tochter hatte ihre Arme um den Hals der weinenden Mutter geschlungen und verbarg ihr Angesicht an deren Busen. Ich suchte vergebens meine Standhaftigkeit und Ruhe zu behaupten. Der Anblick dieses Leidens zweier vortrefflichen Seelen, die jedes Glücks auf Erden werth waren, welches sie durch der Aeltern Schuld eingebüßt hatten, dieser Anblick zerriß mir das Herz.

Aber auch Justine schien ihr verlornes Gefühl wieder zu empfangen. Zwar in ihren Mienen zeigte sich nicht die mindeste Veränderung. Ihre schönen Züge blieben in der stummen Ruhe, wie vorher. Nur ihre Augen verdunkelten sich, und einzelne Thränen rollten über die Wangen. Sie glich einer weinenden Bildsäule.

Fridolin ermannte sich, fuhr mit dem Tuch über sein Gesicht, sprang auf, ergriff wieder Justinens Hand und rief: »Nein, Justine, das sei ferne von uns! Nein. Gott ist barmherzig! Verdammen wir unsere Väter nicht durch den Schmerz jetziger Erinnerungen und mit dem Elend unsers Lebens. Wenn den Geistern der Abgeschiedenen vergönnt ist, die schwarzen Folgen ihrer Sünden auf Erden wahrzunehmen; wenn sie in diesem Augenblick unsere blutenden Herzen, unsere Thränen sehn, so – sehn sie voll Entsetzens ihre Hölle! Wollte Gott, es ständen, statt dieser wenigen Freunde hier, die Tausende um uns, welche, mit dem schauderhaften Leichtsinn unsrer eignen Väter, heute noch, ihren Kindern Jahre voll Grams bereiten, und. wenn sie einst den letzten Tropfen des lebensfeindlichen Weingeistes hinuntergeschlürft haben, ihren Kindern das ausgeleerte Trinkglas, mit dem bittersten Wermuth gefüllt, zum Erbe hinterlegen. O daß sie hier um uns ständen! – Unsere Thränen, deine bleichen Wangen, der Wittwengram müßten sie bekehren!«

Hier wandte er sich plötzlich wieder, von seinem Schmerz überwältigt, hinweg von Justinen, und that einen Gang durchs Zimmer. Als er beruhigter zurückkehrte, stand er eine Zeit lang schweigend vor Justinen, und betrachtete sie mit wehmüthigem Blick. Dann fragte er leise: »Willst du mich und meine Mutter nicht trösten?«

»Aber Fridolin, ich bin eines Selbstmörders Tochter!« antwortete die Unglückliche mit zitternder Stimme.

»Nun denn,« rief Fridolin in leidenschaftlicher Bewegung. »Nun denn, Tochter des Selbstmörders? warum schämst du dich des Sohns eines Selbstmörders? Unser Loos ist das gleiche; reiße dein Schicksal nicht von dem meinigen los!«

Justine legte beide Hände vor ihr Gesicht; wankte einen Schritt vor und fiel lautschluchzend an seine Brust, indem er sie in seine Arme schloß.

Ich winkte meiner Gattin und Tochter. Wir entfernten uns.


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