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»Brodneid! Brodneid, Herr Wirth!« rief lachend einer der Anwesenden.
»Nein, Herr,« antwortete der Wirth: »ich spreche nicht aus Eigennutz; sondern mich jammert des armen Volks. Von Jahr zu Jahr wird es zucht- und sittenloser, und daran ist die Vermehrung der Wein- und Brannteweinschenken Schuld. Denn je zahlreicher die Gelegenheiten der Verführung vorhanden sind, je zahlreicher wird die Menge der Verführten werden; je zahlreicher die Saufhänser, je mehr Säufer! Leset nur die Zeitungen. Ich habe manches daraus aufgezeichnet. Im Kanton Bern z. B. waren im Jahre 1832 schon über 900 solcher Wirthschaften; jetzt sind deren bei anderthalbtausend. Damals wurden etwa 400 Kleinhandelspatente ertheilt; jetzt werden über 1100 ausgegeben. Je auf 400 Seelen im Lande kann man eine Wirthschaft mit Wein und Branntewein zählen. Im Jahr 1832, sag' ich Euch, wurden im Kanton Bern 3 bis 4 Millionen Maß Wein, und 248,000 Maß gebrannte Wasser eingeführt. Das dünkt Euch viel; aber jetzt werden bei sieben Millionen Maß Wein, und gegen 500,000 Maß Branntewein eingeführt. Dabei brennen Viele noch aus Obst und Weinträbern, oder Erdäpfeln ihren Fusel für eigenen Hausverbrauch. Viele Menschen trinken schon Morgens vor dem Frühstück, und wieder über Tag und wieder Abends; sogar kleine Buben trinken Branntewein. So ist's im Kanton Freiburg, Solothurn, Aargau, Zürich und anderswo. Sonst wurde aus der Landschaft Basel ungeheuer viel Kirschwasser nach Frankreich verkauft. Jetzt stockt der Handel damit; aber das Kirschwasserbrennen stockt nicht. Was machen die Baseler Bauern damit? Antwort: sie saufen es alle Jahre selber rein auf. Im Kanton Aargau bin ich vor etlichen Wochen auf der Landstraße bald da, bald hie Luzernern begegnet, mit Fäßlein auf dem Rücken. Was habt ihr darin? fragte ich. Zwetschgenwasser! hieß es. Die hausiren also damit. So steht's!«
»Brodneid! Purer Brodneid, Herr Wirth!« rief der vorige lustige Bruder wieder: »Es steht am Ende nicht halb so schlimm, wie Ihr es macht.«
Hier erhob ein alter Herr, der ihm gegenüber saß, die Stimme und rief sehr ernsthaft: »Schlimmer, als Ihr meinet und vielleicht wisset. Seid Ihr nicht selber erst Zeuge von dem Unglück gewesen, das diesen beiden Herren durch ihren benebelten Kutscher begegnet ist? und ihnen Schrecken, Schaden und Unkosten verursacht hat? Wäre der Kutscher nüchtern gewesen, er würde noch Arm und Rippen ungebrochen besitzen. Dergleichen Unheilsgeschichten sind heutiges Tages gar keine Seltenheit mehr bei uns. Wo ist ein Dorf, eine Stadt im Lande, worin man nicht Saufgesellschaften und Schnappsbrüder hätte? wo man nicht alle Wochen einmal einen dieser Kameraden verstandlos über die Straße taumeln, oder in einem Graben, in einer Pfütze liegen sähe? oder wo man nicht von Raufereien, Schlägereien und Messerstichen hörte? Wie viele Unfälle mit Fuhrwerken, Schiffen und Flößen rühren daher! Wie manche Feuersbrunst entsteht durch Sorglosigkeit oder Unvorsichtigkeit, zu welcher der allzuhäufige Gebrauch des Weins oder Brannteweins Veranlassung gibt! Die Armuth der untern Volksklassen vermehrt sich auffallend, seit die Verbreitung des Brannteweins und seines täglichen Gebrauchs von Jahr zu Jahr zunimmt. Unzucht, Müßiggängerei und Dieberei wird seitdem von Jahr zu Jahr überhandnehmender. Vaterschaftsklagen vor Gerichten werden seitdem häufiger. Die Gemeinden werden seitdem mit unehelichen Kindern immer mehr beladen. Kömmt einmal eine herrschende Krankheit, Nervenfieber, rother Ruhrschaden und dergleichen ins Land: so ist Jammer und Verheerung groß, trotz aller Kunst und der größern Anzahl unserer Aerzte. Jede Krankheit rafft die Leute weg; sie sterben in Menge, wie die Mücken; denn sie waren schon, ohne es zu wissen, durch täglichen Genuß ihres Fusels und Likörs fürs frühe Grab reif gemacht. Und die Regierungen wissen das, hören das, und thun nichts dagegen. Sie bauen, statt die Quelle zu verstopfen, Weiher und Teiche, um den Ueberfluß darin zu sammeln. Sie bauen Armenhäuser, Spitäler, Zuchthäuser. Die wollen fast nicht mehr zureichen. Aber. wie gesagt, an die Quelle des ungeheuern Verderbens denken sie nicht. Die lassen sie, gegen Patentgebühr, lustig laufen.«
Während der Mann sprach, war in der Stube allgemeine Stille entstanden. Der Wirth nickte ihm Beifall und rief: »Nur allzuwahr, Herr Friedensrichter!«
Keiner hörte aber aufmerksamer zu, als Fridolin. Er sagte: »Ich bin seit mehr denn vier Jahren außer Landes gewesen. Ich bin erschrocken und betrübt, dergleichen zu hören. Nein, von Schweizern sollte solche Verderbniß der Sitte und der öffentlichen, wie der häuslichen Zucht und Ehrbarkeit, nie vernommen werden. Und doch, ihr Herren, was denn anders, als die Habsucht der Wirthe ist Schuld an der Schande und dem Elend, das in unserm Vaterlande ausbricht, an diesem Allgemeinwerden des Weinsaufens und des noch tödtlicheren Giftes, nämlich des Brannteweins?«
Unser Wirth schüttelte den Kopf und erwiederte: »Mit Erlaubniß, ich will zugeben, daß die Gewinnsucht der Wirthe bei ihrem Gewerbe sehr viel zur Verarmung der Gemeinden und Familien beiträgt; daß die Wirthe froh sind, wenn viele Trinker bei ihnen zusprechen und Geld verzehren; daß sie Mitschuld an Verbreitung des Lasters und der Krankheiten in den meisten Ortschaften haben. Allein, verehrter Herr, wenn Ihr den Branntewein Gift nennet, so muß ich gestehen, daß die Giftmischerbande größer ist, und nicht blos aus Gastwirthen, Wein- und Brannteweinwirthen zusammengesetzt ist. Mehr sag' ich nicht! Redet Ihr, Herr Friedensrichter. Es steht Euch besser, als mir, an.«
Er richtete diese Worte an den alten Herrn, der vorher geredet hatte. Fridolin wandte sich auch zu demselben und bat ihn um Aufschluß, woher es komme, daß der Branntewein seit zwanzig Jahren so allgemein und, leider, ein tägliches Getränk geworden sei?