Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Vierzehntes Kapitel

Nana war plötzlich verschwunden; sie verschwand von der Bildfläche in fremde Länder. Vor ihrer Abreise hatte sie sich noch zu einem Verkauf entschlossen. Alles wurde veräußert, das Haus, die Möbel, die Kostbarkeiten, sogar die Toiletten und die Wäsche. Paris hatte sie zum letzten Male in einem Feenstück gesehen, als »Melusine«, im Gaîtétheater, das Bordenave, ohne einen Sou zu besitzen, auf gut Glück gemietet hatte; hier traf sie wieder mit Prullière und Fontan zusammen, ihre Rolle war bescheiden, aber sie zog: drei höchst plastische Stellungen einer mächtigen »stummen Fee«. Als nun inmitten dieses großen Erfolges Bordenave, ganz auf Reklame versessen, Paris durch kolossale Anschlagzettel herbeilockte, erfuhr man eines schönen Morgens, daß Nana am Tage vorher nach Kairo abgereist sei; ein geringer Streit mit dem Direktor, ein Wort, das ihr nicht paßte, sollte die Ursache gewesen sein. Übrigens war dies eine fixe Idee von ihr: schon seit längerer Zeit dachte sie an eine Reise in den Orient.

Monate waren verstrichen, und man vergaß sie allmählich. Als ihr Name wieder auftauchte, verbreiteten sich unter den Herren und Damen die seltsamsten Gerüchte über sie, und jeder wollte etwas von ihr wissen. Alle diese Nachrichten klangen höchst abenteuerlich und wichen weit voneinander ab. Sie habe, behaupteten einige, den Vizekönig in ihre Fesseln geschlagen, herrsche im Innern seines Palastes über zweihundert Sklaven, denen sie die Köpfe abschlagen lasse. Das sei nicht wahr, meinten andere, sie habe sich vielmehr mit einem großen Neger ruiniert, den sie in dem ausschweifenden Kairo geliebt habe. Jedoch vierzehn Tage später, es war zum Erstaunen, beteuerte einer, sie in Rußland getroffen zu haben. Es bildete sich eine Sage, die sie zu der Mätresse eines Großfürsten machte, und man sprach von ihren Diamanten. Alle Frauen kannten sie bald aus den Beschreibungen, die man allerorten hörte und las, ohne daß jemand eine genaue Quelle hätte angeben können: Ringe, Ohrgehänge, Armbänder, eine zwei Finger breite Schnur aus Perlen, ein königliches Diadem, in der Mitte von einem daumengroßen Brillanten überragt, wurden ihr angedichtet. Unter der strahlenden Sonne dieser fernen Länder nahm sie den geheimnisvollen Glanz einer reich mit kostbaren Steinen geschmückten Göttin an. Jetzt nannte man ihren Namen nur noch mit frommer Scheu und zollte ihr eine Art schwärmerischer Verehrung wie im Mittelalter.

An einem Juliabend, ungefähr in der achten Stunde, bemerkte Lucy, als sie in einer Kutsche die Rue du Faubourg Saint-Honoré hinabfuhr, Caroline Héquet, die zu einem Kaufmann in der Nachbarschaft eingeladen war. Sie rief sie an.

»Du hast gespeist, du bist frei? Oh, dann, meine Liebe, komm mit mir. Nana ist zurückgekehrt!«

Sofort stieg die andere ein, und Lucy fuhr fort:

»Und weißt du, meine Liebe, sie ist vielleicht schon gestorben, während wir noch plaudern.«

»Gestorben? Was du sagst!« rief Caroline verblüfft aus. »Und wo denn? Woran?«

»Im Grand-Hotel... an den Blattern... oh, eine häßliche Geschichte!«

Lucy hatte ihrem Kutscher aufgetragen, recht schnell zu fahren. Während sie nun in scharfem Galopp längs der Rue Royale und den Boulevards hinfuhren, erzählte Lucy das Abenteuer Nanas in kurzen, abgebrochenen Sätzen, ohne zu Atem zu kommen:

»Du kannst dir gar nicht denken – Nana kam aus Rußland, ich weiß nicht mehr warum; vielleicht hat sie sich mit ihrem Fürsten gezankt... Sie ließ ihr Gepäck auf dem Bahnhof und stieg bei ihrer Tante ab, du weißt doch, jener Alten... Also, sie fällt über ihren Kleinen her, der die Blattern hatte; der Bub starb am nächsten Tage, Nana und die Tante fuhren aber einander in die Haare wegen des Geldes, das sie hatte schicken sollen, von dem aber die andere nie etwas gesehen hatte... Es scheint, daß das Kind deshalb gestorben ist; ganz natürlich, wenn man ein Kind im Stich läßt und schlecht pflegt! Doch höre nur weiter: Nana entfernt sich, geht in ein Hotel, begegnet darauf Mignon, gerade in dem Augenblick, da sie an ihr Gepäck denkt. Sie bekommt Angst, Zittern, es wird ihr übel, sie glaubt erbrechen zu müssen, Mignon fährt sie in ihr Hotel zurück und verspricht, ihre Sachen zu bewachen... Nicht wahr, das ist drollig, ist das gelungen! Aber das Schönste kommt noch: Rose erfährt die Krankheit Nanas, ist untröstlich, sie allein in einem möblierten Zimmer zu wissen, und eilt unter Tränen herbei, sie zu pflegen... Du weißt, sie verfluchten einander früher wie zwei Furien! Nun gut, meine Liebe, Rose hat Nana ins Grand-Hotel bringen lassen, damit sie wenigstens an einem anständigen Ort sterbe, und sie hat schon drei Nächte wachend an ihrem Bett zugebracht und wird sich dabei noch den Tod holen. Das hat mir Labordette erzählt. Ich habe sie besuchen wollen...«

»Ja, ja«, unterbrach Caroline sie aufgeregt, »ja, wir wollen sie besuchen.«

Sie waren angekommen. Auf dem Boulevard, inmitten des Gedränges von Wagen und Fußgängern, hatte der Kutscher seine Pferde anhalten müssen. An diesem Tage hatte gerade die Kammer über den Krieg abgestimmt; eine Menge Leute kamen von allen Seiten, bewegten sich längs der Bürgersteige und überschwemmten die Straße. Die Dämmerung brach herein, eine wehmütige, melancholische Stunde mit dem schon düsteren Hintergrund der Bäume, die die brennenden Gasflammen noch nicht erhellten. Und unter dieser wogenden Wolke wurden ferne Stimmen laut, finstere Blicke leuchteten aus den blassen Gesichtern, während alle ein Gefühl der Angst und Beklemmung ergriff.

»Dort ist Mignon«, rief Lucy aus. »Er bringt uns Nachrichten.«

Mignon stand in der riesigen Vorhalle des Hotels, allem Anschein nach erregt, und betrachtete die Menge. Auf die ersten Fragen Lucys rief er aus:

»Was sehe ich? Sie hier? Zwei volle Tage ist Rose schon oben, und ich kann sie nicht vom Bett wegbringen... Es ist doch töricht, seine Schönheit aufs Spiel zu setzen. Sie wird hübsch werden, wenn sie dort bleibt – Blattern im Gesicht, das fehlte uns gerade noch!«

Der Gedanke, daß Rose ihre Schönheit verlieren könnte, erbitterte ihn. Er beleidigte Nana ganz rücksichtslos und begriff die törichte Aufopferung nicht. Fauchery kam jetzt über den Boulevard, und bei den anderen angelangt, fragte er, wie es stehe.

»Immer das gleiche Lied, mein Lieber«, erklärte Mignon. »Du solltest hinaufgehen und Rose zwingen, dir zu folgen.«

»Du bist ja allerliebst«, entgegnete der Journalist. »Warum gehst du nicht selbst hinauf?«

Als hierauf Lucy nach der Nummer des Zimmers fragte, baten sie inständig, Rose hinunterzuschicken, sonst würden sie schließlich ärgerlich werden. Dennoch gingen Lucy und Caroline nicht sogleich hinauf. Sie hatten Fontan bemerkt, wie er, die Hände in den Taschen, umherschlenderte und sehr erfreut über die gelungenen Physiognomien der Menge zu sein schien. Als er erfuhr, daß Nana oben krank liege, spielte er den Mitleidigen und rief aus:

»Das arme Kind! Gleich will ich gehen und ihr die Hand drücken. Was fehlt ihr denn?«

»Die Blattern«, antwortete Mignon.

Der Schauspieler war bereits ein Stück nach dem Hof zu gegangen, allein jetzt kam er zurück und murmelte schaudernd:

»Oh, verflucht!«

Die Nacht brach mehr und mehr herein, und die Laternen wurden angezündet. An den Fenstern gewahrte man neugierige Gesichter, während unter den Bäumen die Menschenwogen sich von Minute zu Minute vergrößerten, wie ein unermeßlicher Strom nach der Bastille drängten und den Verkehr hemmten. Ein unbestimmtes Geräusch, wie ein leises Gemurmel, kam von der dichten Masse her, die, anfangs stumm, sich jetzt aus irgendeinem Grunde bewegen sah, sich in Gruppen zu teilen und mit den Füßen zu stampfen. Die gleiche fieberhafte Erregung hatte alle befallen. Da trieb plötzlich ein Ereignis die Menge zurück. Inmitten des Gedränges und der sich zerstreuenden Gruppen erschien ein Trupp in Mütze und weißer Bluse und schrie mit der Regelmäßigkeit von Hammerschlägen:

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Die Menge betrachtete dieses Treiben in mißtrauischer Spannung, aber doch schon begeistert und aufgeregt von den Klängen einer Militärmusik.

»Ja, geht nur und laßt euch die Schädel einschlagen!« meinte Mignon mit philosophischer Miene.

Fontan jedoch fand diese patriotische Aufwallung schön und sprach davon, er wolle sich auch anwerben lassen. Wenn der Feind an den Grenzen stehe, müßten alle Bürger sich erheben, das Vaterland zu verteidigen, und bei diesen Worten nahm er eine theatralische Stellung ein, wie etwa Bonaparte bei Austerlitz.

»Gehen Sie mit hinauf?« fragte ihn Lucy.

»O nein«, entgegnete er, »ich soll mir wohl etwas Schlimmes zuziehen?«

Vor dem Grand-Hotel saß ein Herr auf einer Bank und verbarg sein Gesicht hinter dem Taschentuch.

Als Fauchery auf seine Freunde und Freundinnen stieß, machte er sie mit einem Augenzwinkern auf ihn aufmerksam. Der Journalist hielt auch die beiden Frauen zurück, um ihnen jene Gestalt zu zeigen. Als der Mann einen Augenblick das Haupt erhob, erkannten sie erstaunt den Grafen Muffat, der nach einem Fenster hinaufblickte.

»Denkt euch, er sitzt schon seit heute früh hier«, bemerkte Mignon. »Ich habe ihn bereits um acht Uhr gesehen, und er ist noch nicht von der Stelle gewichen.«

Sobald Muffat nämlich von Labordette Nanas Unglück vernommen hatte, war er hierhergekommen; jede halbe Stunde fragte er, ob es der kranken Person oben besser gehe, und begab sich dann wieder auf seinen Sitz. Die Blicke nach oben gerichtet, schien er jetzt von dem, was um ihn vorging, nichts zu merken.

»Halt«, sagte Fauchery, »hier kommt er. Er will sie noch einmal sehen.«

In der Tat hatte der Graf die Bank verlassen und trat in den hohen Torweg.

Der Portier, der ihn sofort erkannte, ließ ihm keine Zeit zu einer Frage, sondern bemerkte kurz:

»Mein Herr, sie ist eben gestorben.«

Nana tot! Das war ein Schlag für alle.

Muffat war lautlos nach der Bank zurückgekehrt und verbarg sein Gesicht wieder in dem Taschentuch. Die anderen schrien laut auf. Aber sie wurden unterbrochen; eine neue Rotte Menschen zog vorüber und heulte:

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

»Nana tot! Oh, schade um solch ein schönes Mädchen!« seufzte Mignon erleichtert auf.

Überall herrschte Bestürzung. Fontan dachte an eine tragische Rolle und gab seinem Gesicht einen schmerzlichen Ausdruck, indem er die Mundwinkel verzog und die Augen verdrehte. Fauchery seinerseits war ebenfalls gerührt und kaute die Zigarre nervös zwischen den Zähnen. Die beiden Frauen drückten laut ihr Bedauern aus. In der Gaîté hatte Lucy sie zum letzten Mal gesehen als »Melusine«.

»Oh, sie war entzückend, meine Teure«, versetzte Lucy, »wenn sie im Hintergrund der Kristallgrotte erschien!«

Auch die Herren erinnerten sich dessen sehr wohl, und da ihre Erinnerung wieder erweckt war, wußten sie zahllose Einzelheiten zu erzählen!

Eben kam Blanche atemlos an, erbittert über die Menge, die den Bürgersteig versperrte; und als sie die Nachricht erfuhr, ging das Klagen von neuem los. Die Damen gingen nach der Treppe zu, ihre Kleider rauschten hörbar. Mignon folgte ihnen und rief ihnen nach:

»Sagen Sie Rose, daß ich auf sie warte... Sogleich, nicht wahr?«

»Man weiß noch nicht recht«, bemerkte Fontan zu Fauchery, »ob die Ansteckung zu Anfang oder erst am Ende der Krankheit zu fürchten ist. Einer meiner Freunde, ein Assistenzarzt, versicherte mir, daß die Stunden nach dem Ende besonders gefährlich seien... Es bilden sich Miasmen... Ach, ich bedaure ihren plötzlichen Tod unendlich; ich wäre so glücklich gewesen, ihr noch einmal die Hand zu drücken.«

»Was soll das jetzt nützen?« entgegnete der Journalist.

»Ja, was nützt das?« wiederholten die beiden anderen.

Die Menge vermehrte sich beständig. In dieser Stunde gewann die Aufregung neue Ausdehnung, erhielt neuen Zuwachs. Immer mehr Leute rannten herbei und folgten den Blusenmännern, die über die Straße defilierten. Es war ein beständiges Stoßen und Drängen, und immer wieder hörte man den wilden, erbitterten Ruf:

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Oben im vierten Stock, wo das Zimmer täglich zwölf Franken kostete, befand sich Rose. Ein dumpfes Schweigen herrschte, nur zuweilen von einem leisen Geflüster unterbrochen, als auf dem Korridor Stimmen sich vernenmen ließen.

»Glaube mir, wir haben uns verlaufen! Der Kellner sagte, wir sollten uns rechts wenden... Das ist ja die reinste Kaserne!«

»Warte doch, laß uns erst sehen... Zimmer 401, Zimmer 401 ...«

»Sieh, hier... 405, 403... Wir sind richtig... Ach, endlich, 401!... Kommen Sie, pst, pst!«

Die Stimmen schwiegen. Man hustete, man sammelte sich einen Augenblick, dann wurde die Tür vorsichtig geöffnet, und Lucy trat ein; ihr folgten Caroline und Blanche. Aber sie blieben stehen, denn es waren schon fünf Frauen im Zimmer. Gaga lag ausgestreckt auf dem einzigen Lehnstuhl, einem Voltairesessel von rotem Samt. Vor dem Kamin standen Simonne und Clarisse im Gespräch mit Léa de Horn, die allein auf einem Stuhl saß, während vor dem Bett links von der Tür Rose, auf dem Rande eines Holzkoffers, fest und starr nach dem Leichnam blickte, der im Schatten der Vorhänge verborgen lag. Von der Kommode aus warf eine Lampe einen grellen Schein auf Gaga.

»Ach, wie schade!« murmelte Lucy und drückte Rose die Hand. »Wir wollten Abschied von ihr nehmen.«

Sie drehte sich um und suchte den Leichnam zu erspähen; allein die Lampe war zu weit entfernt, und sie wagte nicht, das Licht näherzurücken. Auf dem Bett lag eine dunkle, graue Masse ausgestreckt; man konnte nur das rötliche Haar sowie einen fahlen Fleck unterscheiden, der das Gesicht sein mußte. Lucy fügte hinzu:

»Ich habe sie zum letztenmal in der Gaîté gesehen, im Hintergrunde der Grotte...«

Simonne und Clarisse stritten sich mit leiser Stimme über die Diamanten der Toten. Hatte sie überhaupt welche? Niemand hatte sie gesehen, das mußte Schwindel sein. Übrigens sei dies nicht alles, meinten sie, Nana habe noch viele andere Reichtümer aus Rußland mitgebracht: golddurchwirkte Stoffe, kostbare Nippsachen, ein Tafelservice aus Gold, sogar Möbel; im ganzen zweiundfünfzig Ballen und mächtige Kisten, zu deren Beförderung zwei Waggons nötig gewesen seien. Dies alles sei noch auf dem Bahnhof. Es sei gar nett, zu sterben, wenn man noch nicht einmal Zeit gefunden habe, seine Sachen auszupacken. Und dazu habe sie auch noch einen hübschen Haufen Geld besessen, so etwas wie eine Million. Lucy fragte, wer das alles erben werde. »Entfernte Verwandte ohne Zweifel!« entgegnete Simonne. »Gewiß die Tante. Ein nettes Sümmchen für die Alte!« Sie wisse noch nichts davon, die Kranke habe darauf bestanden, sie nicht vorher benachrichtigen zu lassen, weil sie ihr seit dem Tode ihres Kindes noch grollte. Darauf beklagten alle den Kleinen und erinnerten sich, ihn bei den Wettrennen gesehen zu haben: ein schwächliches Kind, das ein sehr altes und trauriges Aussehen gehabt habe, kurz, eines jener Wesen, für die es besser wäre, nie geboren worden zu sein.

»Er ist glücklicher unter der Erde«, versetzte Blanche.

»Bah, sie auch«, fügte Ciarisse hinzu. »Das Leben ist nicht besonders heiter.«

Finstere Gedanken kamen über sie in diesem Hause des Todes. Sie empfanden Furcht, und es war töricht, so lange zu schwatzen; aber der sehnliche Wunsch, die Tote zu sehen, fesselte sie auf den Teppich. Es war sehr schwül, das Milchglas der Lampe erhellte an der Decke einen kreisrunden Fleck, der von dem Halbdunkel des Zimmers abstach. Unter dem Bett stand ein Gefäß Phenol und verbreitete einen dumpfen Geruch. Zuweilen bewegte ein leiser Luftzug für einen Augenblick die Vorhänge des Fensters, das auf den Boulevard ging, woher ein undeutliches Summen herauftönte.

»Hat sie sehr gelitten?« fragte Lucy, die ganz in den Anblick der Gruppe auf der Stutzuhr versunken war, dreier nackter Grazien mit dem Lächeln tanzender Bajaderen.

Sie konnte nicht fortfahren, denn ein Geschrei ertönte:

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Lucy glaubte ersticken zu müssen, sie öffnete das Fenster weit und lehnte sich hinaus. Ein Wagen war vorgefahren, und Lucy erkannte Marie Blond. Sie war nicht allein, denn hinter ihr stieg noch ein dicker Herr aus.

»Das ist Steiner, der Schuft!« rief Caroline.

Sie wandten sich um. Aber Marie Blond kam ohne Begleitung ins Zimmer. Als Lucy sie erstaunt fragte, gab sie lachend zur Antwort:

»Denken Sie denn, meine Liebe, daß der mit heraufkommen wird? Es ist schon viel von ihm, wenn er mich bis an die Tür begleitet...«

In der Tat fanden sich alle Herren wieder zusammen. Sie waren zufällig dahergeschlendert, um einen Blick auf die Boulevards zu werfen; als sie beisammen waren, beklagten sie den Tod des armen Mädchens, darauf schwatzten sie über Politik und Krieg; Bordenave, Duguenet, Labordette, Prullière und mehrere andere hatten die Gruppe vergrößert. Alle hörten Fontane zu, der seinen Feldzugsplan erklärte, demzufolge er Berlin in fünf Tagen erobern wollte.

Indessen stand Marie Blond vor dem Bett, von Rührung ergriffen, und murmelte mit den anderen:

»Arme Mieze! ... Das letztemal, wo ich sie sah, war in der Gaîté, in der Grotte...«

»Ach, sie hat sich verändert, sie hat sich verändert«, wiederholte Rose Mignon mit ihrem Lächeln dumpfer Niedergeschlagenheit.

Noch zwei Mädchen kamen herbei, Tatan Néné und Louise Violaine. Sie waren schon seit zwanzig Minuten im Grand- Hotel umhergelaufen, und ein Kellner hatte sie zum andern geschickt; mehr als dreißig Stockwerke hatten sie durchsucht, mitten in einem Gedränge von Reisenden, die sich aus Furcht vor dem Kriege und der verdächtigen Bewegung auf den Boulevards beeilten, Paris zu verlassen. Als sie eintraten, sanken sie auf einen Sessel nieder und waren zu erschöpft, sich um die Vorgänge in der Stadt zu kümmern. Eben drang aus dem Nebenzimmer ein Lärm, man rollte Koffer und stieß an die Möbel, während ein rauhes Stimmengewirr das Ganze begleitete. Gaga erzählte, während des Todeskampfes seien die Nachbarn scherzend im Zimmer umhergelaufen, und da nur eine dünne Tür die beiden Zimmer trennte, so habe man sie lachen und sich umarmen gehört.

»Wohlan, wir müssen jetzt gehen«, sagte Clarisse. »Wir machen sie doch nicht wieder lebendig... Kommst du mit, Simonne?«

Alle blickten verstohlen nach dem Bett, ohne sich zu rühren. Lucy hatte sich wieder an das Fenster gelehnt und stand ganz allein da. Allmählich überkam sie eine Traurigkeit, als ob eine düstere Melancholie aus dieser lärmenden Menge emporgestiegen wäre. Noch immer zogen Fackeln vorbei und träufelten kleine Flämmchen zu Boden; in der Ferne zogen in langen Reihen die Menschen dahin, und diese verworrenen Massen verbreiteten Schrecken, man dachte an das Elend künftiger blutiger Schlachten. Sie schrien, und ihr Getöse verschwand wieder in dem Fiebertaumel, mit dem sie sich nach dem Unbekannten hinter der dunklen Mauer am Horizont drängten.

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Lucy wandte sich vom Fenster ab und murmelte erbleichend.

»Mein Gott, was soll aus uns noch werden?«

Die anderen Dämchen schüttelten die Köpfe. Sie waren ernst und besorgt über die Ereignisse.

»Ich«, sagte Caroline Héquet mit ihrer eisigen Miene, »ich reise übermorgen nach London... Mama besorgt mir schon ein Hotel... Ich werde mich in Paris sicherlich nicht massakrieren lassen.«

Ihre Mutter hatte vorsichtigerweise das ganze Vermögen ins Ausland geschafft. Man wisse niemals, wie ein Krieg enden könne. Aber Marie Blond ärgerte sich darüber, sie war patriotisch gesinnt und wollte der Armee folgen.

»Ist das eine Memme!... Ja, wenn man mich nur annähme, dann würde ich in Männerkleidern diesen Preußen schon zeigen, wie blaue Bohnen aussehen!«

Sie hielt eine lange Rede über den Krieg, und alle anderen stimmten ihr begeistert bei, so daß man vor dem entstehenden Lärm kaum sein eigenes Wort hören konnte. Nur Rose Mignon saß still auf ihrem Koffer vor dem Bett und gebot ihnen jetzt Schweigen.

Sie verstummten, und in der düsteren Ruhe, die eintrat, einer Ruhe, die sie gleichsam die Starrheit des neben ihnen ausgestreckten Leichnams fühlen ließ, hörte man aufs neue die wilden Rufe der Menge:

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«

Lucy, die noch immer am Fenster stand, beugte sich hinaus und bemerkte auf dem Trottoir die Herren, die nach oben nickten und ihr eifrig winkten. Mignon ballte wütend die Fäuste.

»Es ist wahr, meine Teure«, sagte Lucy und ließ das Fenster offen, »ich hatte versprochen, Sie würden hinunterkommen...«

Rose verließ ihren Sitz auf dem Holzkoffer und murmelte:

»Ich gehe hinunter, ich gehe... Sie braucht mich sicher nicht mehr...«

Sie wandte sich um, ohne ihren Hut und Schal finden zu können. Mechanisch hatte sie auf dem Toilettentisch ein Becken mit Wasser gefüllt, wusch sich Hände und Gesicht und fuhr fort:

»Ich weiß nicht, das hat mich heftig angegriffen... Wir waren durchaus nicht höflich zueinander gewesen. Nun, sehen Sie, ich bin außer mir darüber ... Oh, allerhand Gedanken, ich hätte Lust, selbst hinzugehen, das Ende der Welt ist nahe... Ja, ich muß Luft schöpfen.«

So gingen sie eilig hinaus und warfen nur noch einen Blick auf das Bett. Ein greller Schein beleuchtete plötzlich das Gesicht der Toten; alle erschraken und flohen zitternd.

»Ah, sie hat sich verändert, sie hat sich verändert«, murmelte Rose Mignon, die noch als letzte im Zimmer geblieben war.

Dann ging auch sie fort und schloß die Tür ...

Das Zimmer war leer, nur vom Boulevard stieg das wilde, entschlossene Johlen des Pöbels herauf und blähte die Vorhänge:

»Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!«


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