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Gräfin Sabine, wie man sich gewöhnt hatte, Frau Muffat de Beuville zu nennen, um sie von ihrer Frau Schwiegermutter zu unterscheiden, die im vergangenen Jahr gestorben war, hatte jeden Dienstag in ihrem Haus in der Rue Miromesnil, an der Ecke der Rue de Penthièvre, Empfangsabend. Es war ein weites viereckiges Gebäude, das die gräfliche Familie der Muffat seit länger als einem Jahrhundert bewohnte. Auf die Straße hinaus starrte die schwarze und düstere Fassade in klösterlicher Melancholie mit ungeheuren Jalousien, die beinahe immer geschlossen blieben. Hinter dem Hause standen in einem feuchten Gartenwinkel ein paar Bäume, die keine Sonne erhielten und so lang aufgeschossen waren, daß man ihre Zweige über den Schiefern des Daches erblickte.
An dem heutigen Dienstag waren gegen zehn Uhr kaum ein Dutzend Personen in dem Saal. Da man nur Freunde des Hauses erwartete, öffnete die Gräfin weder den Salon noch das Eßzimmer. Man war auf diese Weise mehr unter sich und plauderte neben dem Kamin. Der Salon war übrigens sehr groß und sehr hoch; vier Fenster mündeten auf den Garten, dessen durch den regnerischen Apriltag erhöhte Feuchtigkeit man trotz der im Kamin brennenden Buchenscheite im Zimmer gar wohl verspürte. Nie drang die Sonne in dieses Gemach; am Tage erhellte ein grünliches Licht matt das Zimmer, und abends, wenn die Lampen und der Kronleuchter angezündet waren, hatte es mit seinem massiven Mahagonimobiliar, seinen gelbseidenen Vorhängen und großgemusterten Polstern nur einen ernsten, gemessenen Charakter. Man trat in den Bereich einer frostigen Würde, alter, ergrauter Bräuche und Sitten, in ein verschwundenes, vom Geruch frommer Andacht angewehtes Zeitalter.
Gegenüber dem alten viereckigen Lehnstuhl aus hartem Holz und rauhem Stoff, in dem die Mutter des Grafen gestorben war, ruhte die Gräfin Sabine in einem tiefen Sessel, dessen rotseidene Polsterung weich und elastisch wie Eiderdaunen war. Es war das einzige neumodische Möbel, das wie ein Phantasiestück inmitten dieser starren Strenge erschien und sehr von allem anderen abstach.
»Sind Sie unwohl, meine Liebe?« fragte Madame Chantereau, die Frau eines Hüttenwerksbesitzers, da sie die Gräfin leicht zittern und erblassen sah.
»O nein, nicht im geringsten«, gab diese lächelnd zur Antwort.
»Es ist mir nur ein wenig zu kalt ... Der Salon ist zu groß, um gut durchgeheizt werden zu können.«
Sie schaute mit ihrem finsteren Blick die hohen Wände bis zum Plafond hinauf. Estelle, ihre Tochter, ein junges Ding von sechzehn Jahren, im Backfischalter, von magerer und unscheinbarer Figur, erhob sich von dem Taburett, auf dem sie gesessen hatte, und schob schweigend eines der Scheite ins Feuer zurück, das zur Seite gerollt war. Aber Madame de Chezelles, eine Freundin Sabines, rief:
»Ach, was gäbe ich darum, wenn ich einen solchen Saal haben könnte wie du! Du kannst doch wenigstens Besuche empfangen ... Heutzutage bekommt man nichts anderes mehr als Schachteln von Sälen gebaut ... Oh, wenn ich an deiner Stelle wäre!«
Sie setzte mit lebhaften Gestikulationen auseinander, daß sie Vorhänge, Polster, alles verändern würde, dann würde sie Bälle geben, zu denen ganz Paris herbeiströmen sollte. Ihr Mann, der hinter ihr stand, eine Magistratsperson, hörte mit ernster Miene zu. Man erzählte sich, daß sie ihn hintergehe, ohne es zu verheimlichen; aber man verzieh ihr, man empfing sie trotzdem, weil sie, wie man sagte, so verdreht war.
Der Bankier Steiner, der seit kurzer Zeit durch Léonide de Chezelles, die ganz Paris kannte, bei der Familie Muffat eingeführt war, plauderte auf einem zwischen zwei Fenstern stehenden Kanapee; er fragte einen Abgeordneten aus, dem er geschickt Neuigkeiten zu entlocken suchte, die auf eine von ihm vermutete Bewegung an der Börse Bezug hatten, während der Graf Muffat, der vor ihnen stand, schweigend, mit noch strengerem Gesicht, als er es gewöhnlich zeigte, dem Gespräch zuhörte. Vier bis fünf junge Leute bildeten eine zweite Gruppe neben der Tür, wo sie den Grafen Xavier von Vandeuvres umstanden, der ihnen mit halblauter Stimme eine zweifellos sehr schlüpfrige Geschichte erzählte, denn sie erstickten fast vor Lachen. Mitten in dem Gemach, ganz allein für sich, schwerfällig in einen Fauteuil gestreckt, schlief ein dicker, robuster Herr, der im Ministerium des Innern als Bürochef angestellt war, mit offenen Augen. Aber einer der jungen Leute mochte Vandeuvres' Geschichte nicht recht glauben, vorauf dieser laut ausrief:
»Sie sind zuviel Skeptiker, Foucarmont; Sie verderben ja allen den Spaß!«
Lachend trat er zu den Damen zurück. Der letzte Sproß eines angesehenen Geschlechtes, weibisch, aber geistreich, brachte er sein Vermögen durch allerlei noble Passionen, denen er leidenschaftlich nachhing, durch. Sein Pferdestall, einer der berühmtesten von ganz Paris, kostete ein rasendes Geld; seine Verluste im »Cercle Imperial« erreichten in jedem Monat eine beängstigend hohe Summe; seine Maitressen verschlangen jahraus, jahrein, mochten die Erträgnisse seiner Besitzungen gut oder schlecht sein, mindestens eines seiner Pachtgüter und ein paar Morgen Land oder Feld dazu und rissen alljährlich einen Fetzen mehr von seinen ungeheuren Besitzungen in der Pikardie ab.
»Ich rate Ihnen, nicht die anderen für Skeptiker anzusehen, Sie, der Sie an nichts glauben«, sagte Léonide, indem sie ihm ein Plätzchen an ihrer Seite einräumte. »Kein anderer verdirbt Ihnen Ihr Vergnügen, nur Sie selbst tun es.«
»Ganz recht«, antwortete er. »Ich will indes den anderen die Möglichkeit geben, aus meiner Erfahrung Nutzen zu ziehen.« Man nötigte ihn jedoch zu schweigen, denn Herr Venot nehme Anstoß an seinen Worten. Die Damen rückten zur Seite, und plötzlich erblickte man, tief in einen Sessel gelehnt, einen kleinen Herrn von ungefähr sechzig Jahren mit feinem Lächeln, bei dem er seine häßlichen Zähne zeigte; er hatte sich ungeniert ausgestreckt, als ob er zu Hause wäre, hörte auf jedermanns Worte, sprach aber selbst nie eine Silbe. Mit einer Handbewegung gab er zu verstehen, daß ihm die letzten Worte der Unterhaltung mit den Damen Ärgernis bereitet hätten. Vandeuvres hatte seine vornehme Haltung wieder angenommen und setzte in gewichtigem Tone hinzu:
»Herr Venot weiß recht gut, daß ich das glaube, was man glauben muß.«
Es war eine Art Glaubensäußerung, über die selbst Léonide sich befriedigt zeigte.
Als die Diskussion gerade auf ihrem Höhepunkt angelangt war, öffnete sich die Tür und Hector de la Faloise erschien im Zimmer. Fauchery, der ihm folgte, näherte sich der Gräfin und sagte, sich verneigend: »Madame, ich habe mich Ihrer schätzenswerten Einladung erinnert ...«
Sie lächelte und sprach ein paar liebenswürdige Worte. Der Journalist blieb, nachdem er den Grafen begrüßt hatte, einen Moment stehen, als ob er nicht in diesen Salon gehöre, wo er nur den Bankier Steiner kannte. Vandeuvres, der sich umgedreht hatte, kam ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Fauchery, der einerseits über diese Begegnung erfreut war, andererseits von einem Bedürfnis nach Aussprache gedrängt wurde, nahm Vandeuvres sogleich in Beschlag und fragte ihn mit leiser Stimme:
»Sie sind also morgen dabei?«
»Ei, das will ich meinen!«
»Um Mitternacht bei ihr.«
»Ich weiß, ich weiß ... Ich komme mit Blanche.«
Er wollte entschlüpfen, um wieder zu den Damen zu treten, aber Fauchery hielt ihn zurück.
»Nie im Leben würden Sie es erraten, mit welcher Einladung man mich betraut hat.«
Mit einem leichten Kopfnicken wies er auf den Grafen Muffat, der in diesem Augenblick einen Posten des Staatsbudgets mit dem Deputierten und Steiner diskutierte.
»Nicht möglich!« sagte Vandeuvres, verdutzt und heiter gestimmt zugleich.
»Mein Wort darauf! Ich habe eidlich versprechen müssen, ihn zu ihr zu führen. Ich komme eigentlich zum Teil aus diesem Grunde her.«
Sie lachten beide still vor sich hin.
Unterdessen schaute Faloise, der ein paar rasche, halblaut gewechselte Worte aufgefangen hatte, in Erwartung einer Erklärung auf seinen Vetter Fauchery, der sich indessen nicht dazu bequemte. Von wem sprach man denn? Was hatte man denn morgen um Mitternacht vor? Er ließ seinen Vetter nicht mehr aus den Augen. Dieser suchte soeben nach einem Platz. Die Gräfin Sabine fesselte sein Interesse vor allem. Man hatte ihren Namen oft in seiner Gegenwart ausgesprochen; er wußte, daß sie, seit ihrem siebzehnten Jahr verheiratet, jetzt ungefähr vierunddreißig Jahre zählen mußte und daß sie seit ihrer Verheiratung zwischen Mann und Schwiegermutter ein klösterliches Leben geführt hatte. In den Augen der Welt galt sie den einen als eine fromme, gottergebene Frau, die anderen beklagten sie und erinnerten sich, wie fröhlich und heiter sie gelacht und wie feurig ihre Augen geblitzt hatten, bevor sie in der Tiefe dieses alten Hauses eingeschlossen worden war. Fauchery blickte sie prüfend an und überlegte. Einer seiner Freunde, der vor kurzem als Kapitän in Mexiko gefallen war, hatte ihm am Tage seiner Abreise abends beim Aufstehen vom Abschiedsmahl eine jener rücksichtslosen Mitteilungen gemacht, die sich auch die taktvollsten Männer manchmal entschlüpfen lassen. Aber seine Erinnerungen waren undeutlich; am Abend hatte man gut diniert, und Zweifel überkamen ihn, wenn er die Gräfin inmitten dieses altehrwürdigen Saales, in ihrem ernsten schwarzen Kleide, mit ihrem ruhigen Lächeln sitzen sah. Eine hinter ihr stehende Lampe hob das feine Profil ihres runden und vollen brünetten Gesichts hervor, in dem einzig der etwas üppige Mund eine gewisse überwiegende Sinnlichkeit zeigte.
»Sag mal, hat denn die Gräfin keinen Liebhaber?« fragte plötzlich Fauchery seinen Vetter Faloise.
»Ach nicht doch, mein Lieber, nicht doch!« erwiderte dieser, sichtlich verwirrt durch diese unerwartete Frage. »Wo glaubst du dich denn eigentlich zu befinden?«
Dann wurde er plötzlich inne, daß sein Unwille über die Frage nicht von Lebensart zeuge, und sich auf den Sitz eines Kanapees streckend, fügte er hinzu:
»Den Teufel auch, ich will nicht gerade nein sagen, aber ich habe noch nichts davon gehört ... Es ist ein kleines Herrchen hier, der Foucarmont, mit dem Vandeuvres vorhin sprach: den findet man in jedem Winkel. Übrigens hat man ja noch weit unwahrscheinlichere Dinge erlebt. Was mich betrifft, so scher' ich mich wenig darum ... Gewiß ist nur, daß die Gräfin, wenn sie sich darin gefällt, auf Abwegen zu wandeln, es sehr schlau anfangen muß, denn man hört niemanden davon klatschen.«
Dann meinte er, ohne daß Fauchery sich die Mühe nahm, ihn zu fragen, daß er manches über die Familie Muffat wisse. Während die Damen vor dem Kamin ihr Geplauder fortsetzten, steckten Fauchery und Faloise die Köpfe zusammen und sprachen mit leiser Stimme; man hätte glauben mögen, wenn man sie in ihren weißen Handschuhen und weißen Krawatten sitzen sah, daß sie in gewählten Phrasen über irgendein ernstes Thema sprächen. Also die Mutter des Grafen, erzählte Faloise, sei eine unausstehliche alte Person gewesen, die in einem fort bei den Pfaffen gelegen habe, übrigens von stolzem, hochfahrendem Wesen, eine starre Vertreterin des Autoritätsprinzips, vor der sich alles beugen mußte. Muffat selbst sei der nachgeborene Sohn eines durch Napoleon I. zum Grafen ernannten Generals. Auch ihm fehle der leichte Sinn, aber man halte ihn allgemein für einen ehrenhaften Mann und geraden Charakter. Von seiner Stellung bei Hofe, von seinen Würden und Tugenden habe er übrigens eine so hohe Meinung, daß er den Kopf wie eine Monstranz zu tragen pflege. Seine Mutter hatte seine Erziehung geleitet: tagtäglich hatte er zur Beichte gehen müssen, nie hat er sich austummeln dürfen, kurz und gut, seine Jugend in keiner Weise genossen. Schließlich, um ihn ganz getreu zu schildern, flüsterte Faloise seinem Vetter ein Wort ins Ohr.
»Nicht möglich!« sagte dieser.
»Man hat's mir auf Ehrenwort versichert! ... Er war noch unschuldig, als er sich verheiratete.«
Fauchery betrachtete lachend den Grafen, dessen von Koteletten eingerahmtes Gesicht ohne Schnurrbart noch würdiger und härter erschien.
»Meiner Treu, er hat ganz den Kopf danach«, flüsterte er. »Ein niedliches Geschenk übrigens, das er seiner Frau gemacht hat! ... Ach, die arme kleine Gräfin! Hat die sich langweilen müssen! Sie weiß sicher kein Sterbenswörtchen davon, was?«
Er blieb in der Nähe der Gräfin, und während er sich mit ihr unterhielt, fuhr er in seinen Betrachtungen fort. Sie sah jünger aus, als sie war, und schien höchstens achtundzwanzig Jahre zu zählen; besonders ihre Augen sprühten ein Jugendfeuer, das von langen Wimpern beschattet war. In einem ungeregelten Familienleben großgezogen, den einen Monat beim Marquis de Chouard, den andern bei der Marquise verbringend, hatte sie sich beim Tode ihrer Mutter sehr jung vermählt, ohne Zweifel von ihrem Vater hierzu gedrängt, dem sie im Wege stand. Ein schrecklicher Mann, dieser Marquis, über den man trotz seiner hohen Frömmigkeit allmählich sonderbare Geschichten berichtete. Fauchery fragte sie, ob er sich nicht erlauben dürfe, ihn zu begrüßen. Gewiß, entgegnete sie, ihr Vater werde kommen, jedoch erst sehr spät, weil er zu stark beschäftigt sei. Der Journalist, der zu wissen glaubte, wo der alte Herr seine Abende verbrachte, blieb ernst und still. Jedoch ein Mal, das er auf der linken Wange der Gräfin in der Nähe des Mundes bemerkte, setzte ihn in Erstaunen. Sonderbar, Nana hatte genau dasselbe. Über das Mal hinweg kräuselte sich ein leichter Flaum; nur daß bei Nana die Härchen blond und hier tiefschwarz waren. Gleichgültig, diese Dame hatte sicher keinen Liebhaber.
Nein, sie hatte keinen: das fiel in die Augen; man brauchte sie nur dort bei ihrer Tochter zu sehen, so nichtssagend und geziert auf ihren Sessel niedergelassen. Dieser grabesähnliche, von Kirchengeruch erfüllte Salon sagte zur Genüge, unter welcher Eisenhand, einer wie strengen Lebenszucht sie sich beugen mußte. In diese altertümliche, von Feuchtigkeit schwarze Behausung hatte sie nichts von ihrem Wesen hineinzutragen vermocht. Muffat gab den Ton an und herrschte mit seiner frömmelnden Erziehung, seinem Büßen und Fasten. Jedoch das Gesicht des kleinen Graukopfes mit den schadhaften Zähnen und jenem verschmitzten Lächeln, das dieser hinter den Damen ganz plötzlich in seinem Lehnstuhl zeigte, war viel entscheidender für sein Urteil. Er kannte die Persönlichkeit: es war Théophile Venot, ein alter Sachwalter, welcher sich besonders mit Kirchenprozessen beschäftigt hatte; mit einem ansehnlichen Vermögen hatte er sich zurückgezogen und führte eine ziemlich geheimnisvolle Existenz, während man ihn überall empfing, äußerst ergeben begrüßte, ja selbst ein wenig fürchtete, gerade als ob er eine große Macht repräsentierte, eine verborgene Macht, die man hinter ihm vermutete. Im übrigen zeigte er sich äußerst demütig, war Kirchenvorstand in der Magdalenenkirche und hatte auch bescheidenerweise eine Adjunktenstelle beim Maire des neunten Bezirks angenommen, um, wie er meinte, seine Mußestunden auszufüllen. Potz Wetter, die Gräfin war schön umringt; mit ihr war nichts anzufangen.
»Du hast recht, man könnte hier umkommen«, sagte Fauchery zu seinem Vetter, als er aus dem Damenkreise entschlüpft war.
»Wir wollen schlau sein.«
Allein Steiner, den Graf Muffat und der Abgeordnete soeben verlassen hatten, trat wütend auf sie zu und murmelte halblaut:
»Beim Henker, wenn sie nichts sagen wollen, so mögen sie schweigen ... Ich werde schon Leute finden, die reden.«
Darauf drängte er den Journalisten in eine Ecke, und mit veränderter Stimme rief er triumphierend aus:
»Nicht wahr? Also morgen ... Ich bin dabei, mein Teurer!«
»Ah!« murmelte Fauchery erstaunt.
»Sie wußten das nicht? Oh, ich habe Mühe gehabt, sie zu Hause zu treffen! Auch ließ mich der vertrackte Mignon nicht einen Augenblick allein!«
»Also die Mignon sind auch dabei?«
»Ja, sie hat es mir gesagt ... Kurz, sie hat mich also empfangen und eingeladen ... Pünktlich um Mitternacht, nach dem Theater.«
Der Bankier strahlte vor Freude. Er blinzelte mit den Augen und fügte hinzu, während er seinen Worten einen besonderen Nachdruck verlieh:
»So weit also sind Sie schon, mein Herr?«
»Was denn?« sagte Fauchery, der nicht zu verstehen schien. »Sie hat sich bei mir wegen meines Artikels bedanken wollen und ist daher zu mir gekommen.«
»Ja, ja ... Sie sind glücklich! Man belohnt Sie ... Apropos, wer zahlt morgen?«
Der Journalist breitete die Arme aus, um gleichsam zu erklären, daß man dies nie im voraus wissen könne.
Inzwischen wagte Faloise seinen Vetter zu fragen, indem er ihm nachschlich und ihm leise zuflüsterte: »Das Souper findet also morgen abend bei einer Dame statt? ... Bei wem? He? Bei wem?«
Fauchery gab ein Zeichen; es bedeutete, daß sie gehört würden. Soeben hatte sich die Tür wieder geöffnet und es trat eine alte Dame ein. Ihr folgte ein junger Mensch, in dem der Journalist den kaum aus dem Gymnasium Entlassenen wiedererkannte, der am Abend der »Blonden Venus« das verhängnisvolle »Famos, famos!« ausgerufen hatte, wovon immer noch gesprochen wurde. Die Ankunft dieser Dame brachte den Salon in Aufregung. Gräfin Sabine hatte sich rasch erhoben, um ihr entgegenzugehen, hatte ihre beiden Hände erfaßt und nannte sie ihre »liebe Madame Hugon«. Als Faloise gewahrte, wie sein Vetter neugierig dieser Szene zuschaute, machte er ihn, um ihn in Anspruch zu nehmen, in kurzen Worten mit den Verhältnissen bekannt. Obwohl Madame Hugon, eine Notarswitwe, sich nach Les Fondettes, einer alten Familienbesitzung in der Nähe von Orléans, zurückgezogen hatte, blieb sie mit Paris stets in inniger Verbindung, da sie in der Rue Richelieu ein Haus besaß; hier verweilte sie jetzt einige Wochen, um ihren jüngsten Sohn, Student der Rechte im ersten Semester, unterzubringen; ehemals war sie mit dem Marquis de Chouard innig befreundet gewesen und hatte der Geburt der Gräfin beigewohnt, sie vor ihrer Vermählung monatelang bei sich gehabt, und selbst jetzt noch redete sie diese mit »du« an.
»Ich habe dir Georges mitgebracht«, sagte Madame Hugon zu Sabine. »Er ist mittlerweile recht groß geworden, wie du siehst.«
Der junge Mann, mit seinen hellen Augen und seiner blonden Frisur mehr einem als Knabe verkleideten Mädchen ähnelnd, grüßte die Gräfin unbefangen und erinnerte sie an ein Ballspiel, das sie vor zwei Jahren in Les Fondettes unternommen hatten.
»Philippe ist nicht in Paris?« fragte Graf Muffat.
»O nein«, erwiderte die alte Dame. »Er ist immer noch in Bourges in Garnison.«
Sie hatte Platz genommen und sprach sehr selbstbewußt von ihrem ältesten Sohne, der, einem plötzlichen Einfall folgend, sich hatte anwerben lassen und sehr schnell Leutnant geworden war. Alle anwesenden Damen umgaben sie mit achtungsvoller Anteilnahme.
Als Fauchery hier diese ehrbare Madame Hugon sah, diese mütterliche, von einem so wohlwollenden Lächeln verklärte Gestalt im grauen Haar, kam er sich selbst lächerlich vor, die Gräfin Sabine auch nur einen Augenblick im Verdacht gehabt zu haben.
Trotzdem hatte der große, mit roter Flockenseide überzogene Lederstuhl, in den sich die Gräfin setzte, soeben seine Aufmerksamkeit erregt. Er entdeckte daran einen rohen Geschmack und eine sinnverwirrende Phantasie in diesem altersschweren Salon. Sicherlich hatte nicht der Graf dieses Möbel lüsterner Behaglichkeit hierhergebracht. Man hätte es für einen ersten Versuch halten können, für den Beginn eines Wunsches nach Genuß. Hierauf vertiefte er sich wieder in Träumereien und kam auf die vertrauliche unbestimmte Mitteilung zurück, die ihm eines Abends in dem Nebenzimmer eines Restaurants gemacht worden war. Von einer sinnlichen Neugier getrieben, hatte er danach verlangt, bei Muffat eingeführt zu werden. Da sein Freund in Mexiko geblieben war, wer konnte wissen, was kommen würde? Man mußte eben zusehen. Er beging ohne Zweifel eine Torheit; schon der Gedanke verwirrte ihn, er fühlte sich angelockt, und seine Sinnlichkeit erwachte.
Die Damen unterhielten sich über eine Nonnenweihe, einen sehr rührenden Akt, über den das weltliche Paris seit drei Tagen tiefbewegt war. Die älteste Tochter der Baronin von Fougeray war nämlich soeben in den Karmeliterorden eingetreten; sie hatte dem unwiderstehlichen Drang ihres Herzens nachgegeben. Madame Chantereau, die mit der Familie Fougeray verwandt war, erzählte, das Tränenvergießen habe die Baronin dermaßen angegriffen, daß sie gezwungen gewesen sei, am nächsten Tage das Bett zu hüten.
»Ich hatte einen vortrefflichen Platz«, erklärte Léonide. »Ich habe die Sache sonderbar gefunden.«
Indes beklagte Madame Hugon die arme Mutter. Welch ein Schmerz, auf diese Weise eine Tochter zu verlieren!
»Na ja doch! Sie heiraten den Herrgott, wenn sie ihren Cousin nicht haben heiraten können«, murmelte Vandeuvres zwischen den Zähnen, da ihn dieses Thema langweilte und er Fauchery wieder aufgesucht hatte. »Haben Sie je gehört, mein Lieber, daß ein Frauenzimmer, das sich geliebt weiß, ins Kloster geht?«
Er wartete nicht auf die Antwort, denn er mochte nichts mehr hören, und fuhr halblaut fort:
»Sagen Sie mir doch, zu wie vielen werden wir morgen sein? Es werden sich Mignon, Steiner, Sie, Blanche und ich einfinden ... Wer sonst noch?«
»Caroline, denke ich ... Simonne ... Gaga, ohne Zweifel ... Man weiß dies nie genau, nicht wahr? Bei solchen Gelegenheiten glaubt man vielleicht, es seien ihrer zwanzig, und nachher sind es dreißig.«
Als Vandeuvres' Blicke jetzt die Damen streiften, sprang er schnell zu einem anderen Thema über.
»Jene Dame du Joncquoy muß vor fünfzehn Jahren sehr hübsch gewesen sein ... Die arme Estelle ist immer noch höher aufgeschossen – ein wahres Plättbrett!«
Allein er unterbrach sich und kam wieder auf das Souper des nächsten Tages zu sprechen.
»An jenen Geschichten ist nur dies eine langweilig, daß es immer dieselben Frauen sind ... Man müßte einmal etwas Neues schaffen. Versuchen Sie doch, ein junges Gemüse zu finden ... Halt, ich habe einen Gedanken! Ich werde jenen dicken Herrn dort bitten, die Dame mitzubringen, die er an einem der letzten Abende im Varieté mithatte.«
Er sprach von dem Bürochef im Ministerium des Innern, der mitten im Salon eingeschlummert war. Fauchery ergötzte sich aus der Ferne daran, dieser delikaten Unterhaltung zu lauschen. Vandeuvres hatte sich in die Nähe des dicken Herrn gesetzt, der einen äußerst ehrwürdigen Eindruck machte. Beide schienen einen Augenblick lang mit gemessener Ruhe die schwebende Frage zu erörtern, welches Gefühl eigentlich ein junges Mädchen dahin bringen könne, den Schleier zu nehmen. Bald darauf kam der Graf zu Fauchery zurück und sagte:
»Es ist nicht möglich! Er beteuerte, sie sei tugendhaft und würde sich weigern ... Und doch hätte ich jede Wette angenommen, sie bei Laura gesehen zu haben.«
»Wie, Sie gehen zu Laura?« murmelte Fauchery lachend. »Sie wagen sich an solche Orte? Ich glaubte, dort verkehren nur wir armen Teufel.«
»Nun, mein Lieber, man muß wohl alles kennenlernen.«
Sie lachten amüsiert und erzählten einander mit leuchtenden Augen Einzelheiten über die Table d'hote in der Rue des Martyrs, wo die dicke Laura Piédefer Dämchen, die in knappen Geldverhältnissen waren, für drei Franken speiste. Ein schönes Nest! Alle Dämchen küßten Laura den Mund. – Da sich jetzt die Gräfin Sabine umwandte, die ein flüchtiges Wort davon vernommen haben mochte, verbargen sie sich und stritten in unbefangener Erregtheit miteinander herum. Allein ganz in ihrer Nähe hatten sie Georges Hugon übersehen, der ihnen zuhörte; eine flammende Röte hatte sich von seinen Ohren bis hinab auf seinen mädchenhaften Hals ergossen. Dieser Jüngling war voll von verschämtem Entzücken. Seitdem ihn seine Mutter im Salon allein gelassen hatte, war er hinter Madame de Chezelles getreten, die einzige Frau, die ihm (natürlich nächst Nana, die noch immer jenen tiefen Eindruck auf ihn machte) »famos« erschien.
»Gestern abend«, versetzte Madame Hugon, »hat mich Georges ins Theater geführt; ja, nach den Varietés, wohin ich seit zehn Jahren sicher nicht gekommen war. Dieses Kind vergöttert die Musik ... Ich selbst habe mich gar nicht amüsiert, aber er war so glücklich! ... Man spielt heutzutage sonderbare Stücke. Übrigens muß ich gestehen, daß die Musik mich wenig begeistern kann.«
»Wie, Madame, Sie lieben die Musik nicht?« rief Madame du Joncquoy mit zum Himmel erhobenen Blicken aus. »Ist es möglich, daß man Musik nicht gern hat?«
Dies war die Ansicht aller. Niemand verlor ein Wort über das Stück der Varietés, von dem die gute Madame Hugon nichts verstanden hatte; alle diese Damen kannten es, sprachen jedoch nicht davon. Plötzlich warf man sich allgemein auf die sentimentale Seite, indem man feine und begeisterte Bewunderung den klassischen Meistern zollte. Madame du Joncquoy liebte nur Weber, während Madame Chantereau sich für die Italiener erklärte. Die Stimmen dieser Damen waren weich und schmachtend, so daß man hier vor dem Kamin an Kirchenandacht, an den leise verhallenden Gesang in einer kleinen Kapelle hätte denken können.
»Hm«, brummte Vandeuvres, während er Fauchery wieder in die Mitte des Zimmers führte, »wir müssen für morgen ein weibliches Wesen ausfindig machen. Wollen wir uns nicht einmal an Steiner wenden?«
»Oh«, entgegnete der Journalist, »wenn Steiner eine Person hat, so ist's eine, die in Paris kein anderer mehr will.«
Unterdessen durchspähte Vandeuvres die Umgebung.
»Warten Sie, neulich habe ich Foucarmont mit einer reizenden Blondine getroffen. Ich werde ihn bitten, diese uns zuzuführen.«
Sogleich rief er Foucarmont zu sich und wechselte schnell einige Worte mit ihm. Es schien sich eine Verwicklung dabei zu entspinnen, denn beide gingen, behutsam über die Kleider der Damen hinwegsteigend, vorsichtig fort und fanden einen anderen jungen Mann, mit dem sie in einer Fensternische die Unterhaltung fortsetzten. Fauchery, jetzt allein, entschied sich, in die Nähe des Kamins zu treten, als eine Stimme hinter ihm sprach:
»Das ist nicht eben höflich von dir.«
»Was denn?« fragte er und erkannte, sich umdrehend, Faloise.
»Nun, ich meine, daß du mich wohl zu dem morgen stattfindenden Souper hättest einladen können.«
Fauchery wollte eben antworten, als Vandeuvres zurückkam und sagte:
»Hm, mir scheint, die Blondine geht Foucarmont gar nichts an; sie ist das Schätzchen jenes Herrn dort unten ... Sie wird nicht kommen können! Welch ein Pech! Allein ich habe eben Foucarmont gewonnen, und er wird Louise aus dem Palais Royal zu bringen versuchen. Ich werde mir auch noch mehr Herren gewinnen ... Diese jungen Leute müssen unsere hübschen Dämchen kennenlernen.«
Darauf sah man ihn mit liebenswürdigem Lächeln die Herren anreden und überall im Salon Unterhaltung anknüpfen. Er mischte sich unter die einzelnen Gruppen, diente jedem mit einer Phrase, und unter freundlichem Augenzwinkern und mit Zeichen des Einverständnisses wandte er sich wieder um. Es war gerade, als ob er mit seiner ungezwungenen Miene ein Losungswort ausstreute. Sein Losungswort kam in Umlauf, und man traf gegenseitig Verabredungen, während die sentimentalen Gespräche der Damen über die Musik das kleine fieberhafte Geräusch dieser listigen Anwerbung übertönten.
Gräfin Sabine hatte geläutet. Wenn am Dienstag ein weniger zahlreicher Besuch zu verzeichnen war, nahm man den Tee im Salon ein. Während sie noch durch einen Diener einen Armleuchter fortbringen ließ, folgte die Gräfin mit ihren Blicken dem Grafen Vandeuvres.
Sie zeigte jenes flüchtige Lächeln, bei dem ihre blendend weißen Zähne hervorblitzten. Als der Graf an ihr vorüberkam, fragte sie ihn: »Was für Pläne schmieden Sie denn, Herr von Vandeuvres?«
»Ich, Madame?« erwiderte er ruhig. »Ich schmiede keine Pläne.«
»So! Ich sah Sie so überaus geschäftig. Da, bitte, wenn Sie sich nützlich machen wollen.«
Bei diesen Worten reichte sie ihm ein Album und bat ihn, es auf das Piano zu legen. Danach fand er ein Mittel, Fauchery ganz leise mitzuteilen, daß man Tatan Néné, die schönste Sängerin dieser Wintersaison, und Marie Blond, die beide in den Folies-Dramatiques soeben zum ersten Mal aufgetreten seien, bekommen werde. Indes hielt ihn Faloise bei jedem Schritt auf und erwartete eine Einladung. Endlich trug er sich selbst an, und Vandeuvres engagierte ihn sofort; nur nahm er ihm das Versprechen ab, Clarisse mitzubringen, und da Faloise Bedenken zu hegen schien, beruhigte er ihn mit den Worten:
»Da ich Sie einlade, genügt es!«
Trotzdem hätte Faloise gern den Namen der Dame erfahren. Allein die Gräfin hatte Vandeuvres bereits wieder gerufen und befragte ihn über die Art, wie die Engländer den Tee zubereiten. Er reiste nämlich oft nach England, wo seine Pferde an den Wettrennen teilnahmen. Nach seiner Ansicht verstanden nur die Russen eigentlich, Tee zu bereiten, und er erklärte deren Zubereitungsart. Hierauf unterbrach er sich, als beschäftigte ihn, während er sprach, ein anderer Gedanke, und fragte:
»Apropos! Werden wir den Marquis heute abend nicht hier sehen?«
»Gewiß, mein Vater hatte es mir ausdrücklich versprochen!« erwiderte die Gräfin. »Ich fange bereits an, unruhig zu werden ... Seine Geschäfte werden ihn gewiß zurückgehalten haben.«
Vandeuvres lächelte verstohlen. Auch er schien zu ahnen, welcher Art die Geschäfte des Marquis de Chouard waren. Er hatte an eine reizende Person gedacht, die der Marquis bisweilen aufs Land führte ... Ei, wenn man auch dieses Pärchen für das morgige Souper gewinnen könnte!
Indes hielt Fauchery den Augenblick für gekommen, die Einladung des Grafen Muffat zu wagen, denn der Abend schritt vor.
»Wollen Sie wirklich Ernst machen?« fragte Vandeuvres, der die Sache für einen Scherz zu halten geneigt war.
»Vollen Ernst! Wenn ich meinen Auftrag nicht ausführe, wird sie mir die Augen auskratzen! Eine Laune – Sie wissen schon!«
»Dann will ich Ihnen helfen, mein Lieber.«
Es schlug elf Uhr, und die Gräfin, von ihrer Tochter unterstützt, trug den Tee auf. Da ausschließlich ganz intime Bekannte erschienen waren, gingen die Tassen und Kuchenteller vertraulich im Kreise herum. Das Gespräch riß jedoch immer häufiger ab, und eine allgemeine Ermattung verbreitete sich im Salon.
Steiner hatte wieder begonnen, heimlich den Abgeordneten zu bearbeiten, den er in einer Sofaecke belagert hielt. Herr Venot aß unter feinem Lächeln trockenes Gebäck, während der dicke Bürochef, die Nase in die Tasse versenkt, gar nicht satt zu werden schien. Die Gräfin indessen ging ruhig, ohne sich besonders aufzuhalten, vom einen zum ändern, blieb hier und da einige Sekunden stehen, um mit einer still fragenden Miene die Herren zu betrachten, und bewegte sich dann lächelnd weiter. Als sie sich Fauchery näherte, der mit ihrem Gemahl und mit Vandeuvres sprach, bemerkte sie, daß man plötzlich schwieg; sie hielt sich aber nicht auf, sondern gab die Tasse Tee an Georges Hugon.
»Ich kenne eine Dame, Herr Graf, die Sie bei ihrem Souper zu sehen wünscht«, fuhr der Journalist heiter fort, zum Grafen Muffat gewendet.
Der Graf, dessen Gesicht während des ganzen Abends finster geblieben war, schien sehr erstaunt.
»Was ist denn das für eine Dame?«
»Nun, Nana!« sagte Vandeuvres, gerade auf das Ziel zusteuernd.
Der Graf wurde noch ernster; seine Augen bewegten sich kaum, während ein Zug von Unbehagen, wie ein leiser Anfall von Migräne, über seine Stirn glitt.
»Aber ich kenne diese Dame ja gar nicht«, murmelte er.
»Nanu, Sie sind doch bei ihr gewesen!« bemerkte Vandeuvres.
»Wie, ich wäre bei ihr gewesen? ... Ach ja, neulich, im Interesse des Wohltätigkeitsvereins! Daran dachte ich nicht mehr. Aber trotzdem kenne ich sie nicht und kann die Einladung darum nicht akzeptieren.«
Er hatte eine eisige Miene angenommen, um ihnen zu verstehen zu geben, daß ihm dieser Scherz nicht behage. Für einen Mann von seiner Stellung war nicht der Platz am Tisch einer jener Damen. Vandeuvres widersprach ihm entschieden: es handle sich lediglich um ein Künstlersouper, und Talent entschuldige alles. Allein ohne weiter die Beweisgründe von Fauchery anzuhören, der von einem Diner erzählte, bei dem der Prinz von Schottland, ein Sohn der Königin, sich neben eine frühere Chansonettensängerin gesetzt habe, betonte der Graf seine Weigerung. Es entfuhr ihm sogar trotz seiner größten Höflichkeit ein Zeichen von Unwillen.
Georges und Faloise, im Begriff, ihre Tasse Tee zu trinken, hatten einige Worte aufgeschnappt.
»Ah, also bei Nana!« murmelte Faloise. »Ei, das hätte ich ahnen können.«
Georges sagte nichts, aber er glühte, sein blondes Haar hing lose herab, seine blauen Augen sprühten Feuer. Endlich trat doch auch er in jenes Leben ein, von dem er bisher nur geträumt hatte!
»Leider weiß ich die Adresse nicht«, bemerkte Faloise.
»Boulevard Haussmann, zwischen der Arkadenstraße und der Rue Pasquier, im dritten Stock«, stieß Georges in einem Zuge hervor. Und während der andere ihn erstaunt ansah, fügte er errötend und von geckenhafter Verlegenheit befangen hinzu:
»Ich weiß es und werde dort sein, denn sie hat mich heute früh eingeladen.«
Plötzlich entstand eine große Bewegung im Salon. Vandeuvres und Fauchery konnten nicht mehr in der Nähe des Grafen bleiben und gaben es auf, weiter in ihn zu dringen, denn der Marquis de Chouard war eingetreten, und alles beeilte sich, ihn zu begrüßen.
Er war mit seinen zittrigen Knien mühsam vorwärts gekommen und blieb bleich, mit blinzelnden Augen, mitten im Zimmer stehen, als komme er aus irgendeinem dunklen Gäßchen und sei durch das helle Lampenlicht noch geblendet.
»Ich glaubte schon, Sie heute gar nicht mehr hier zu sehen, Vater«, sagte die Gräfin, »und das würde mich bis morgen in steter Unruhe gehalten haben.«
Ohne zu antworten, betrachtete er sie mit der Miene eines Menschen, der nicht versteht, was man zu ihm spricht. Seine dicke Nase erschien in dem glattrasierten Gesicht wie eine Geschwulst, während seine Unterlippe schlaff herabhing. Als ihn Madame Hugon dermaßen angegriffen sah, bedauerte sie ihn mitleidsvoll.
»Sie arbeiten zuviel! Sie sollten sich mehr Ruhe gönnen. In unserem Alter muß man die Arbeit den jungen Leuten überlassen.«
»Die Arbeit, ach ja, die Arbeit!« stotterte er endlich. »Immer viel, viel Arbeit ...«
Er setzte sich und richtete seinen krummen Rücken langsam in die Höhe, indem er mit einer ihm geläufigen Bewegung die Hand über sein weißes Haar gleiten ließ, dessen spärliche Locken hinter seinen Ohren herabhingen.
»Woran arbeiten Sie denn noch so spät?« fragte Madame du Joncquoy. »Ich glaubte, Sie seien zum Empfang des Finanzministers gegangen.«
Aber die Gräfin legte sich ins Mittel. »Mein Vater hat einen Gesetzentwurf zu studieren«, sagte sie.
»Ja, einen Gesetzentwurf«, erwiderte er, »einen Gesetzentwurf, richtig ... Ich hatte mich eingeschlossen ...«
Vandeuvres hatte Fauchery einen Blick zugeworfen. Beide befanden sich hinter dem Marquis und machten sich ihm bemerklich. Als ihn Vandeuvres beiseite nehmen konnte, um mit ihm über die schöne Dame zu sprechen, die er aufs Land zu führen pflegte, stellte der Greis sich höchst erstaunt. Vielleicht hatte man ihn gar mit der Baronin Decker gesehen, bei der er bisweilen einige Tage in Viroflay zubrachte? Vandeuvres, um ihn für diese Lüge zu strafen, fragte ihn geradeheraus:
»Sagen Sie mir doch, Marquis, wo sind Sie denn gewesen? Ihr Ellbogen ist ja ganz voll Spinngewebe und Gips.«
»Mein Ellbogen?« stammelte er bestürzt. »Wirklich, es ist wahr ... Ein wenig Schmutz ... Ich werde ihn wahrscheinlich beim Herabsteigen der Treppe irgendwo abgestreift haben.« – Mehrere Personen gingen jetzt fort. Es war fast Mitternacht.
»Warten Sie!« sagte Vandeuvres zu Fauchery. »Wir müssen vom Grafen einen definitiven Bescheid haben.«
Der Graf Muffat unterhielt sich mit seinem Schwiegervater und einigen anderen ernsten Herren. Vandeuvres führte ihn beiseite, erneuerte die Einladung und gab ihr dadurch Nachdruck, daß er ihm sagte, er sei selbst bei dem Souper zugegen. Ein Herr dürfe überall hingehen; es werde niemand daran denken, darin etwas Schlechtes zu erblicken, man könne es höchstens sonderbar finden. Der Graf hörte diese Auseinandersetzung mit gesenkten Blicken und stummer Miene an; Vandeuvres bemerkte an ihm ein Zögern, als sich der Marquis de Chouard mit fragender Miene näherte. Und als auch dieser dadurch, daß Fauchery jetzt ihn selbst einlud, erfuhr, worum es ging, blickte er verstohlen seinen Schwiegersohn an. Ein verlegenes Schweigen trat ein; allein beide ermutigten sich und hätten sicherlich endlich die Einladung angenommen, wenn Graf Muffat nicht Venot bemerkt hätte, der ihn fest ins Auge faßte.
»Nein«, erwiderte er sogleich in so bestimmtem Ton, daß sich nichts mehr einwenden ließ.
Hierauf weigerte sich der Marquis noch viel energischer. Er war jetzt strenger Moralist. Die höheren Klassen, meinte er, müßten ein gutes Beispiel geben. Fauchery lächelte und stieß Vandeuvres an. Er wartete nicht auf ihn, sondern entfernte sich unverzüglich, indem er sagte, daß er sich nunmehr an sein Journal machen müsse.
»Bei Nana, um Mitternacht, nicht wahr?« rief er ihm noch zu. Faloise zog sich ebenfalls zurück; Steiner hatte sich soeben von der Gräfin verabschiedet; andere Herren folgten. Und dieselben Worte, mit denen sich Fauchery verabschiedet hatte, kursierten in aller Munde; ein jeder wiederholte: »Um Mitternacht bei Nana«, während er seinen Überzieher im Vorzimmer holte. Georges, der erst mit seiner Mutter weggehen sollte, hatte sich auf die Schwelle gestellt, wo er die genaue Adresse, dritter Stock, Tür links, angab. Indessen warf Fauchery vor seinem Weggang noch einmal einen Blick in den Salon. Vandeuvres hatte seinen Platz mitten unter den Damen wieder eingenommen und scherzte mit Léonide de Chezelles. Graf Muffat und der Marquis de Chouard mischten sich in die Unterhaltung, während die brave Madame Hugon mit offenen Augen schlummerte. Hinter den Kleidern verborgen, hatte Herr Venot, der wieder in seiner früheren Kleinheit erschien, sein bekanntes Lächeln von neuem angenommen. Langsam schlug die Uhr zwölf in dem weiten, feierlichen Raum.
Fauchery blickte noch einmal nach der Gräfin Sabine und schloß darauf die Tür. Sabine unterhielt sich gemütlich mit dem Bürochef und schien sich für die Unterhaltung des dicken Herrn zu interessieren. Entschieden mußte Fauchery sich getäuscht haben, denn es war durchaus nichts von einem Bruch zwischen dem Grafen und seiner Gattin zu bemerken.
»Nun, kommst du denn nicht herunter?« rief ihm Faloise vom Vestibül aus zu. Und als man sich auf dem Bürgersteig trennte, wiederholte man nochmals: »Morgen bei Nana!«