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Nunmehr wurde Nana eine elegante Dame, die Königin der Straße, Nutznießerin ihrer Dummheit und der schmutzigen Laster der Männer. Es war eine plötzliche und entschiedene Wandlung, ein Emporsteigen zur galanten Berühmtheit, zu den Götzen des Geldsackes und den sich ruinierenden Anbetern der Schönheit. Sie rangierte fortan unter den teuersten Dämchen. Ihre Photographien waren in den Schaufenstern ausgestellt, und man schrieb in den Zeitungen über sie. Wenn sie in ihrem Wagen über die Boulevards fuhr, drehte sich die Menge nach ihr um und flüsterte ihren Namen, wie das Volk, das seine Fürstin grüßt; sie aber lächelte, nachlässig und üppig hingestreckt in ihrer eleganten Toilette, mit heiterer Miene. Die kleinen, blonden Locken fielen spielerisch herab über ihre Stirn bis zu den blau untermalten Augen; ihre Wangen und Lippen waren rot geschminkt. Das Wunderbare war, daß dieses Mädchen, das auf der Bühne so linkisch und komisch aussah, sobald es die vornehme Dame zu spielen versuchte, in seiner Welt ohne Mühe in der Rolle der alles Bezaubernden glänzen konnte. Es war, als setze eine geschmeidige Katze, eine Aristokratin des Lasters als allmächtige Herrin den Fuß auf Paris. Sie gab den Ton an, und vornehme Damen ahmten sie nach.
Nanas Haus befand sich in der Avenue de Villiers, an der Ecke der Rue Cardinet, in jenem luxuriösen Viertel, das sich mitten aus dem Terrain der alten Ebene Monceaux erhob. Von einem jungen Maler erbaut, der es aber sehr bald wieder hatte verkaufen müssen, war es im Renaissancestil mit verschwenderischer Aufteilung im Innern und allen modernen Bequemlichkeiten, in etwas gesuchter Originalität angelegt. Der Graf Muffat hatte das Haus mit sämtlichem Mobiliar gekauft, und so war Nana mitten in ein Gewirr kostbarer Möbel aller Zeiten gekommen. Da ihr aber das Atelier, das sich im Mittelraum befand, nichts nützen konnte, hatte sie im Erdgeschoß ein Gewächshaus, einen großen Salon und das Speisezimmer, im ersten Stock aber einen kleinen Salon in der Nähe ihres Schlafzimmers und ihres Ankleidekabinetts eingerichtet. Durch ihre geschmackvollen Ideen setzte sie den Architekten in Erstaunen, es war, als sei sie mit einem Schlage in das Raffinement des Luxus eingeweiht; trotz ihrer Herkunft war sie eine feine Kennerin, die das Palais verschönerte, und nur einige stilwidrige Möbel ließen die frühere Blumenbinderin erkennen, die einst vor den Schaufenstern der Passagen von ihrem Glück geträumt hatte.
Nanas Hauptsorge war jetzt, das Haus entsprechend mit Personal zu versehen. Wohl hatte sie ihre treue Zofe, die seit Monaten mit ruhiger Sicherheit diese Wendung der Dinge abgewartet hatte. Zoé triumphierte jetzt als eine wichtige Persönlichkeit in einem Hause, wo sie sich ein nettes Sümmchen erwarb, während sie ihre Herrin stets mit der größten Gewissenhaftigkeit bediente. Aber eine Zofe genügte nicht mehr. Nana brauchte einen Kammerdiener, einen Hausmeister und eine Köchin. Auf der anderen Seite handelte es sich nun auch darum, die Pferdeställe zu füllen. Da machte sich Labordette sehr nützlich, indem er alle Gänge besorgte, die dem Grafen zu langweilig waren. Er übernahm den Pferdeeinkauf, sprach bei den Wagenbauern vor und leitete die Wahl der jungen Frau, die man an seinem Arm bei den Lieferanten bemerkte. Sogar die Bediensteten engagierte Labordette: Charles, einen riesigen, lustigen Kutscher, vom Herzog von Corbreuse; Julien, einen kleinen, stets lächelnden und wohlfrisierten Kammerdiener; sodann ein Ehepaar: die Frau, Victorine, wurde als Köchin, der Mann, François, als Hausmeister angestellt. Dieser empfing in glänzender Livree die Besucher im Vorzimmer. So machte alles den Eindruck einer Fürstenwohnung.
Im zweiten Monat war das Personal vollzählig. Der Marstall allein kostete über dreihunderttausend Franken. In den Ställen standen acht Pferde und in den Remisen fünf Wagen, darunter ein silberverzierter Landauer, der eine Zeitlang ganz Paris in Erstaunen versetzte. Und mitten in diesem Glück saß Nana. Nach der dritten Aufführung der »Kleinen Herzogin« hatte sie das Theater verlassen, und Bordenave sah sich einem drohenden Bankerott preisgegeben, trotz des Geldes vom Grafen. Nichtsdestoweniger empfand sie über ihren Mißerfolg eine Art Bitterkeit. Dies Fiasko und die Erinnerung an Fontans gemeines Benehmen gaben ihr den Rest, wofür jetzt alle Männer büßen sollten. Allein die Rachegedanken traten bei ihr nur selten hervor. Was ihren Geist mehr beschäftigte, war eine stets wache Gier nach Verschwendung, eine beständige Launenhaftigkeit und allerhand Luxus, wobei sie auf den Ruin ihrer Liebhaber stolz war.
Vor allem ordnete jetzt Nana mit dem Grafen das Programm ihrer gegenseitigen Beziehungen. Er gab monatlich zwölftausend Franken, ungerechnet die etwaigen Geschenke, und verlangte dafür nur unbedingte Treue. Sie schwur diese Treue, forderte aber dabei gewisse Rücksichten, die unbeschränkte Freiheit einer Hausherrin und völligen Respekt vor ihren Wünschen. So wollte sie täglich ihre Freunde empfangen; er selbst sollte nur an festgesetzten Stunden vorgelassen werden; in allen diesen Punkten werde er bei ihr eine unwandelbare Treue finden. Und als er, von eifersüchtiger Sorge erfaßt, zögerte, spielte sie die Würdevolle und wollte ihm alles zurückgeben, oder sie schwur ihm Treue bei dem Kopf des kleinen Louis. Dies mußte genügen. Liebe ohne Achtung, meinte sie, sei nicht möglich, und am Ende des ersten Monats hatte Muffat vor ihr gewaltigen Respekt.
Allein sie wünschte und erhielt auch noch mehr. Wenn er mißmutig zu ihr kam, heiterte sie ihn auf, und nachdem sie seine Beichte angehört hatte, tröstete sie ihn. Allmählich beschäftigte sie sich immer mehr mit seiner Frau, seiner Tochter, seinen Herzens- und Geldangelegenheiten und zeigte sich dabei sehr vernünftig. Nur einmal ließ sie sich von der Leidenschaft hinreißen, und zwar an dem Tage, wo er ihr im Vertrauen mitteilte, daß Daguenet ohne Zweifel seine Tochter Estelle heiraten werde. Seitdem sich der Graf mit ihr zeigte, hatte es Daguenet für klug gehalten, mit ihr zu brechen; er schwur, seinen künftigen Schwiegervater den Klauen dieses Geschöpfes entreißen zu wollen. Als Vergeltung dafür entwarf sie von ihrem ehemaligen »lieben Mimi« eine erbauliche Schilderung: das sei ein Herumtreiber, der sein Vermögen mit liederlichen Frauenzimmern durchgebracht habe; es fehle ihm jeder moralische Halt; und als der Graf diese Schwächen zu entschuldigen schien, teilte sie ihm ganz offen mit, daß Daguenet sie schon besessen habe, und erzählte sogar verschiedene Einzelheiten. Muffat war heftig erbleicht, und man sprach nicht mehr von dem jungen Mann.
Indessen war das Haus noch nicht einmal vollständig ausmöbliert, als Nana eines Abends, nachdem sie Muffat mehrmals feierlich Treue geschworen hatte, den Grafen Xavier von Vandeuvres, der ihr seit vierzehn Tagen mit Besuchen und Blumenspenden beständig die Cour machte, bei sich behielt. Nicht aus Laune, sondern vielmehr aus Freiheitsdrang gab sie seinen Wünschen nach. Der Gedanke an ein Interesse kam ihr erst, als Vandeuvres ihr am nächsten Tage beim Bezahlen einer Rechnung behilflich war, von der sie Muffat nichts sagen wollte. Sie beziehe von ihm, meinte sie, wohl acht- bis zehntausend Franken monatlich; das sei aber nur ein leidlich annehmbares Taschengeld. Da opferte er ihr den Rest seines Vermögens. Seine Pferde und Lucy hatten drei Güter verschlungen. Nana verschlang mit einem Male sein letztes Schloß in der Nähe von Amiens. Auch er fügte sich den Bedingungen Nanas: völlige Freiheit ihrerseits, Empfang nur an ganz bestimmten Tagen. Vandeuvres war durchaus nicht so naiv und leidenschaftlich, von ihr Treueschwüre zu fordern. Muffat hatte von alledem keine Ahnung. Vandeuvres wußte alles; allein nie machte er auch nur die geringste Anspielung, er stellte sich, ab ob er von nichts wisse, und zeigte immer das feine Lächeln eines Skeptikers, der nichts Unmögliches verlangt, vorausgesetzt daß er auch sein Teil bekam und Paris davon sprach.
Von jetzt an sah Nana ihr Haus wirklich besetzt. Das Personal war vollständig, im Stall, in der Vorratskammer und im Zimmer von Madame fehlte es an nichts. Zoé wußte alles zu organisieren und fand sich in den unvorhergesehensten Verwicklungen zurecht; alles funktionierte mit solcher Genauigkeit, daß es während der ersten Monate weder Ärgernis noch Störungen gab. Nur Madame selbst machte der lieben Zoé zuviel Sorge durch ihre unklugen Einfälle. Auch die Zofe ließ in ihrem Eifer mehr und mehr nach, zumal sie bemerkt hatte, daß sie mehr Nutzen davon habe, sobald Madame irgendeine Verwirrung angerichtet hatte, die in Ordnung gebracht werden mußte. Dann regnete es Geschenke, und im trüben Wasser fischte sie Louisdor auf Louisdor.
Als Muffat sich eines Morgens noch im Schlafzimmer befand, führte Zoé einen über und über zitternden jungen Herrn in das Ankleidezimmer, wo Nana gerade ihre Wäsche wechselte.
»Ach, Zizi!« rief die junge Frau bestürzt.
Es war in der Tat Georges. Als er sie aber im Negligé erblickte, während ihr goldenes Haar über ihre bloßen Schultern herabfloß, hatte er sich ihr an den Hals geworfen und sie mit feurigen Küssen bedeckt. Erschreckt sträubte sie sich und stammelte mit halberstickter Stimme:
»Höre doch auf, er ist da! Du bist zu töricht ... Und Sie, Zoé, sind Sie toll? Führen Sie ihn weg und bewachen Sie ihn unten. Ich will später sehen, ob ich einmal hinunterkommen kann.«
Zoé mußte ihn vor sich herstoßen. Als dann Nana sie im Speisesaal wieder treffen konnte, war sie auf alle beide zornig. Zoé biß die Lippen zusammen und zog sich ärgerlich zurück mit der Bemerkung, sie habe geglaubt, Madame damit einen Gefallen zu erweisen. Georges war über Nanas Anblick so glücklich, daß sich seine Augen mit Tränen füllten. Jetzt waren die bösen Tage vorüber; seine Mutter hielt ihn für vernünftig und hatte ihm erlaubt, Les Fondettes zu verlassen; auf dem Bahnhof angelangt, hatte er sofort einen Wagen genommen, um desto schneller seiner guten, lieben Nana in die Arme fliegen zu können. Er sprach davon, immer nur in ihrer Nähe zu verweilen, wie da unten in La Mignotte, wenn er sie mit klopfendem Herzen erwartete. Er faßte ihre Hände und wühlte in den weiten Ärmeln ihres Nachtgewandes.
»Du liebst noch immer deinen Bébé"?« fragte er mit seiner hellen Stimme.
»Sicherlich liebe ich ihn!« antwortete Nana und machte sich mit einer raschen Bewegung von ihm los. »Aber du kommst so unvorsichtig her... Du weißt, mein Kleiner, ich bin nicht mehr frei. Wir müssen also klug sein.«
Georges war in seinem jungenhaften Eifer vom Wagen gesprungen und hatte nicht einmal beachtet, wo er eintrat. Jetzt erst prüfte er den reichgeschmückten Speisesaal mit seiner hohen, goldverzierten Decke und seinen feinen Gobelins.
»Ach ja«, sagte er betrübt.
Nun gab sie ihm auch zu verstehen, daß er niemals am Morgen kommen dürfe. Am Nachmittag, wenn er wolle, zwischen vier und sechs Uhr; es sei dies ihre Empfangszeit. Als er sie hierauf mit kläglicher Miene anblickte, küßte sie ihn auf die Stirn und zeigte sich äußerst gutmütig.
»Sei hübsch klug, ich werde alles, was sein kann, tun«, murmelte sie.
In Wahrheit hatte sich aber ihre frühere Gesinnung ihm gegenüber völlig geändert. Sie fand Georges noch ganz nett und hätte ihn gern als Freund gehabt, zu ihrem Liebhaber jedoch nicht mehr. Wenn er nun täglich Punkt vier Uhr ankam, erschien er ihr so unglücklich, daß sie oft einer wehmütigen Regung nachgab und ihn einzelne Brocken ihres Wohlwollens erhaschen ließ.
Ohne Zweifel mußte Madame Hugon erfahren haben, daß ihr Kleiner wieder in die Hände dieses bösen Weibes geraten sei; denn sie eilte nach Paris und nahm hier die Hilfe ihres anderen Sohnes, des Leutnants Philippe, in Anspruch, der damals zu Vincennes in Garnison lag. Georges verbarg sich vor seinem älteren Bruder und wurde von Verzweiflung ergriffen, weil er irgendeinen Gewaltstreich fürchtete, und da er in seiner zärtlichen Aufregung nichts verschweigen konnte, unterhielt er Nana fortan nur von seinem großen Bruder, der ein verwegener, lustiger Bursche sei.
»Du begreifst wohl«, erklärte er, »Mama wird nicht zu dir kommen, da sie meinen Bruder schicken kann... Sicherlich wird Philippe mich holen sollen.«
Zum erstenmal fühlte sich Nana von seinen Worten verletzt und gab trocken zur Antwort:
»Das möchte ich sehen, danke schön! Gleichviel, wenn er auch Leutnant ist, François wird ihn einfach zur Tür hinauswerfen!«
Als der Kleine aber immer wieder auf seinen Bruder zu sprechen kam, beschäftigte auch sie sich endlich mit Philippe, und nach einer Woche kannte sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen.
»Sage einmal, Zizi«, rief sie eines Tages, »dein Bruder kommt ja gar nicht... Er scheint ein recht fischblütiger Feigling zu sein!«
Als am nächsten Tage Georges sich mit Nana allein befand, kam François herauf und fragte, ob Madame den Leutnant Philippe Hugon empfangen wolle. Georges ward ganz bleich und murmelte:
»Ich ahnte es, Mama hat heute früh mit mir gesprochen.« Und er bat das junge Weib inständig, sie möge antworten lassen, daß sie keinen Besuch annehmen könne. Sie aber stand rasch auf und sagte purpurrot:
»Warum denn? Er könnte ja denken, daß ich mich fürchte. Ah, das wird ein netter Spaß... François, lassen Sie den Herrn eine Viertelstunde im Salon warten, und dann führen Sie ihn zu mir herein.«
Sie setzte sich nicht wieder, sondern ging aufgeregt hin und her, zitternd bei dem Gedanken an die kommende Szene. Während ihres Umhergehens ließ sie verschiedene Bemerkungen fallen:
»Es wird ihn beruhigen, wenn er eine Viertelstunde wartet... Und dann, falls er glauben sollte, zu so einem Mädchen zu kommen, so wird ihn der Salon schon belehren... Ja, ja, sieh dir nur alles an, mein Lieber. Das ist keine Fata Morgana, hier wirst du das Bürgertum achten lernen. Bei Männern wirkt nur, wenn man sie in Respekt hält... Nun, die Viertelstunde vorbei? Nein, kaum zehn Minuten. Oh, wir haben Zeit.«
Nach Verlauf der Viertelstunde schickte sie Georges weg und nahm ihm zuvor die Versicherung ab, an der Tür nicht zu horchen, da dies unschicklich sei, wenn es die Bedienten sähen. Als Zizi in das andere Zimmer ging, wagte er noch mit halberstickter Stimme die Bemerkung:
»Du weißt, es ist mein Bruder ...«
»Habe keine Angst«, entgegnete sie würdevoll, »wenn er höflich ist, werde ich es auch sein!«
Unterdessen führte der Diener Philippe Hugon herein, der im Mantel erschien. Georges durchschritt anfangs sein Zimmer auf den Fußspitzen, um der jungen Frau zu gehorchen. Allein die lautwerdenden Stimmen hielten ihn zurück, und er zitterte so heftig, daß seine Knie schlotterten. Er dachte schon an Katastrophen, an Ohrfeigen, kurz, an irgend etwas Schreckliches, was ihn auf ewig mit Nana entzweien werde. Auch konnte er dem Bedürfnis nicht widerstehen, sein Ohr an die Tür zu legen. Aber er konnte nur wenig verstehen, weil die dicken Portieren den Schall dämpften. Dennoch fing er einige barsche Äußerungen Philippes auf, von denen er die Worte »Kind, Familie und Ehre« unterschied. Um die Antwort seiner Geliebten bangend, fühlte er sein Herz laut pochen. Sicherlich, dachte er, werde sie ihm einen »dummen Tölpel« oder ein »Lassen Sie mich in Ruhe, ich bin hier in meinem Hause!« ins Gesicht werfen. Aber nichts Derartiges ließ sich hören, auch keine Ohrfeigen; Nana war wie tot drinnen. Bald wurde auch sogar die Stimme seines Bruders sanfter. Er konnte nichts mehr verstehen, zumal ein sonderbares Murmeln ihn vollends verwirrte. Nana weinte. Einen Augenblick stürmten die widerstrebendsten Gefühle dermaßen auf ihn ein, daß er hinein und auf Philippe losstürzen wollte. Aber genau in diesem Moment trat Zoé ins Zimmer, und beschämt wich er von der Tür.
Ruhig ordnete sie Wäsche in einem Schrank, während er stumm und regungslos die Stirn gegen eine Fensterscheibe preßte. Nach einigem Schweigen fragte sie:
»Ist nicht Ihr Herr Bruder bei Madame?«
»Ja«, antwortete der Jüngling mit schwacher Stimme.
Abermals trat Schweigen ein.
»Und das beunruhigt Sie, nicht wahr, Monsieur Georges?«
»Ja«, wiederholte er mit derselben schmerzlichen Unsicherheit.
Zoé beeilte sich durchaus nicht. Sie faltete Spitzen und sagte langsam:
»Das ist nicht recht von Ihnen ... Madame wird die Sache schon in Ordnung bringen.«
Weiter sprachen sie nichts mehr zusammen, während sie noch eine Viertelstunde im Zimmer sich zu schaffen machte, ohne die steigende Aufregung Georges' zu bemerken, der zweifelnd nach dem Salon blickte. Was mochten sie wohl so lange tun? Vielleicht weinte Nana immer noch. Als Zoé endlich fortging, eilte er wieder an die Tür und lauschte. Jetzt erstarrte ihm das Blut in den Adern, und er verlor völlig die Fassung, denn er vernahm nichts Geringeres als ein halbunterdrücktes Lachen. Übrigens geleitete Nana in eben diesem Augenblick, nach herzlichen und vertraulichen Abschiedsworten, Philippe zur Treppe zurück.
Als Georges endlich den Salon wieder zu betreten wagte, betrachtete sich die junge Frau vor einem Spiegel.
»Nun?« fragte er aufgeregt.
»Nun, was denn?« sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Dann fuhr sie in nachlässigem Tone fort:
»Was wolltest du denn? Dein Bruder ist äußerst liebenswürdig!«
»Dann ist also alles in Ordnung?«
»Sicherlich ist alles in Ordnung ...«
Georges begriff noch immer nicht und stammelte:
»Es war mir, als ob ich weinen hörte ... Du hast doch nicht geweint?«
»Geweint, ich?« rief sie. »Du träumst! Warum soll ich geweint haben?«
Georges' Verwirrung wuchs, denn sie stellte ihn zur Rede wegen seines Ungehorsams, er sollte doch nicht hinter der Tür stehen und horchen. Als sie schmollte, suchte er sie zu besänftigen und fragte mit schmeichlerischer Stimme:
»Nun, und mein Bruder ...?«
»Dein Bruder hat sofort gesehen, wo er sich befand ... Du begreifst, ich hätte ja möglicherweise eine Dirne sein können, und in diesem Falle wäre sein Einschreiten wegen deines Alters und der Ehre deiner Familie gerechtfertigt gewesen. Oh, ich achte diese Gefühle ... Aber ein einziger Blick genügte, ihm zu zeigen, daß er sich als Mann von Welt benehmen müsse ... Also sei unbesorgt, es ist alles vorüber, und er wird deine Mama beruhigen. Übrigens wirst du deinen Bruder jetzt öfter hier sehen ... Ich habe ihn eingeladen, und er will wiederkommen.«
»Ach, er will wiederkommen«, sagte der Kleine erbleichend.
Er fügte nichts hinzu, und man sprach nicht mehr über Philippe. Sie kleidete sich zum Ausgehen an, und er betrachtete sie mit seinen großen, betrübten Augen. Ohne Zweifel war er sehr zufrieden, daß sich die Dinge günstig gestaltet hatten, denn er wäre lieber gestorben, ehe er mit Nana gebrochen hätte; aber in seinem tiefsten Innern wühlten eine tiefe Angst und ein stechender Schmerz, über den er nicht zu sprechen wagte und den er sich nicht erklären konnte. Er konnte nicht begreifen, auf welche Weise Philippe die Mutter beruhigen wollte. Drei Tage später kehrte diese jedoch mit befriedigter Miene nach Les Fondettes zurück, und an dem nämlichen Abend war Georges bei Nana, als François den Leutnant anmeldete. Dieser trat lustig ein und behandelte ihn scherzend wie einen jungen Ausreißer, dem er zu einem straffreien Entkommen verholfen hatte.
Als sich eines Nachmittags die Brüder Hugon bei Nana befanden, kam Graf Muffat zufällig außerhalb der festgesetzten Zeit. Aber Zoé hatte ihm geantwortet, Madame sei mit verschiedenen Freunden zusammen, und infolgedessen war er, den Galanten spielend, wieder fortgegangen. Als er am Abend wieder erschien, empfing ihn Nana mit der Kälte einer aufgebrachten Frau.
»Mein Herr«, sagte sie, »ich habe Ihnen durchaus keine Veranlassung gegeben, mich zu beleidigen ... Hören Sie! Wenn ich zu Hause bin, so bitte ich Sie, einzutreten wie jedermann.« Der Graf stand mit offenem Munde da.
»Aber, meine Liebe ...« versuchte er endlich zu erklären.
»Weil ich vielleicht Besuch hatte? Ja, es waren Herren da. Was soll ich wohl bei diesen Herren machen? ... Ich will nicht in Verruf kommen.«
Nur mit Mühe erhielt er Verzeihung und war im Grunde genommen darüber entzückt. Durch ähnliche Szenen übte sie ihre Herrschaft über ihn aus. Schon lange hatte sie ihn mit Georges betrogen, mit »diesem Jungen«, wie sie ihn selbst nannte. Sie ließ ihn mit Philippe zusammen speisen, und der Graf zeigte sich sehr liebenswürdig; beim Verlassen der Tafel nahm er den jungen Mann beiseite und erkundigte sich nach dem Befinden seiner Mutter. Von nun an verkehrten die beiden Hugon, Vandeuvres und Muffat ganz ungeniert im Hause und begrüßten sich wie intime Freunde durch herzlichen Händedruck. Es war dies bequemer. Nur Muffat behandelte seine häufigen Besuche noch etwas diskret. In der Nacht, wenn Nana nach Türkenart mitten im Zimmer auf ihren Bärenfellen saß, sprach er freundlich über jene Herren, besonders über Philippe, der die Loyalität selbst sei.
»Das ist wohl wahr, sie sind höflich«, sagte Nana, »nur, weißt du, sehen sie auch, wer ich bin ... Ein Wort, und ich werfe sie alle zur Tür hinaus!«
Als Nana eines Nachmittags aus einem Konzert zurückkehrte, bemerkte sie auf dem Trottoir der Rue Montmartre eine Frauensperson, die mit niedergetretenen Schuhen, schmutzigen Kleidern und einem vom Regen durchweichten Hut schnellen Schrittes dahineilte. Plötzlich erkannte sie sie.
»Halten Sie, Charles!« rief sie dem Kutscher zu.
Als dies geschehen war, rief sie laut:
»Satin! Satin!«
Die Vorübergehenden drehten sich um, und die ganze Straße wurde aufmerksam. Satin war herangetreten und hatte sich an den Wagenrädern noch mehr beschmutzt.
»Steig ein, mein Kind«, sagte Nana ruhig, ohne sich um die Leute zu kümmern.
Und Nana nahm Satin in ihren prächtigen Landauer und führte sie mit sich fort, während die Umstehenden über den würdevollen Ernst des Kutschers lachten.
Von diesem Tage an ward Satin Nanas Leidenschaft. In dem Hause der Avenue de Villiers gereinigt und ausstaffiert, erzählte sie drei Tage lang von der Besserungsanstalt Saint- Lazare, von den langweiligen Schwestern und den Gemeinheiten der Polizei, die sie unter Kontrolle gebracht hatte. Nana war wütend darüber, tröstete sie und schwur, sie wieder von der Kontrolle zu befreien, und sollte sie selbst zum Minister gehen. Vorläufig habe es damit keine Eile, denn von ihr weg werde man sie sicherlich nicht holen. So füllten nun wieder diese beiden Unzertrennlichen die Nachmittage mit Zärtlichkeiten, mit schmeichelnden Worten, mit Lachen und Küssen aus. Dies dauerte freilich nicht lange, denn schon am Morgen des vierten Tages verschwand Satin plötzlich. Niemand hatte sie fortgehen sehen. Sie war von Heimweh nach der Straße ergriffen worden und hatte sich einfach mit ihrer neuen Robe aus dem Staube gemacht.
Seit einiger Zeit erschien der Graf Muffat nachdenklich. Eines Morgens legte er sehr erregt Nana einen anonymen Brief vor, worin sie schon in den ersten Zeilen las, daß man sie beschuldigte, den Grafen Muffat mit Vandeuvres und den beiden Hugon hinters Licht geführt zu haben.
»Das ist eine schändliche Lüge!« rief sie energisch aus.
»Kannst du schwören?« fragte Muffat, dem es jetzt schon leichter ums Herz war.
»Oh, bei allem, was du willst... Sieh, sogar bei dem Haupte meines Kindes!«
Allein der Brief war lang. Am Ende war darin mit einer boshaften Offenheit sogar von ihren Beziehungen zu Satin die Rede. Als sie zu Ende gelesen hatte, entgegnete sie lächelnd:
»Jetzt weiß ich, woher der kommt.«
Und als Muffat einen Beweis ihrer Unschuld forderte, versetzte sie mit der größten Ruhe: »Dies, mein Schatz, ist eine Angelegenheit, die dich nicht trifft ... Was kann das dir schaden?«
Sie gab alles ruhig zu, worüber er furchtbar aufgebracht wurde. Da zuckte sie die Achseln und meinte, dies komme überall vor; sie nannte ihre Freundinnen und beteuerte, daß sich darunter verschiedene gebildete Damen befänden. Kurz, wie sie die Sache darstellte, gab es nichts Gewöhnlicheres und Natürlicheres. Er habe gesehen, in welche Aufregung sie sein Argwohn gegen Vandeuvres und die Brüder Hugon versetzt habe, und sie verabscheue es, über eine andere Sache, die nichts auf sich habe, ihm etwas vorzulügen. Zuletzt wiederholte sie ihre gewöhnliche Redensart:
»Nun, was kann das dir schaden?«
Da er die Szene fortsetzen wollte, erwiderte sie barsch und kurz:
«Übrigens, mein Lieber, wenn es dir nicht paßt, so ist die Geschichte sehr einfach... Die Türen stehen offen ... Du siehst: man muß mich eben nehmen, wie ich bin.«
Er blickte zu Boden, denn im Grunde war er noch immer glücklich über die Beteuerungen des jungen Weibes.
Sie aber, da sie ihre Macht sah, schonte ihn gar nicht mehr. Jetzt wurde auch Satin ganz offen in das Haus eingeführt. Vandeuvres brauchte keine anonymen Briefe, um alles zu durchschauen; scherzend suchte er eifersüchtige Streitigkeiten mit Satin, während Philippe und Georges diese wie eine Genossin behandelten, ihr kameradschaftlich die Hand reichten und allerlei Scherze mit ihr trieben.
Als Nana eines Abends nach der Rue des Martyrs zum Diner gegangen war, erlebte sie ein Abenteuer.
Während sie nämlich allein speiste, war Daguenet erschienen; wiewohl dieser jetzt in geregelten Verhältnissen lebte, kam er doch, von der alten Lastersucht erfaßt, zuweilen hierher in der Hoffnung, er werde in diesen dunklen Winkeln keine bekannte Person treffen. Daher schien ihn auch Nanas Gegenwart zuerst zu genieren. Doch war er nicht der Mann, sich feige zurückzuziehen, sondern kam lächelnd auf sie zu und fragte, ob Madame ihm erlaube, an ihrem Tische zu speisen. Da Nana sah, daß er scherzen und sie aufziehen wollte, entgegnete sie kühl:
»Setzen Sie sich, wohin Sie wollen, mein Herr! Wir sind hier in einem öffentlichen Lokal.«
Als sich beim Dessert Nana gelangweilt fühlte und auf einen Triumph erpicht war, fragte sie:
»Nun, und wie steht es mit deiner Heirat, mein Kleiner? Machst du Fortschritte?«
»Nicht besonders«, gestand Daguenet.
In der Tat hatte er, als er bei Muffat seinen Antrag vorbringen wollte, von seiten des Grafen eine derartige Zurückhaltung verspürt, daß er klugerweise vorsichtig davon abgesehen hatte. Das Ganze schien ihm jetzt ein verfehlter Plan zu sein. Nana sah ihn mit ihren hellen Augen scharf an, während sie das Kinn in die Hand stützte und ein ironischer Zug über ihre Lippen glitt. Dann lachte sie auf:
»Höre, du wirst sie nur heiraten, wenn ich es will, mein Lieber.«
Er hatte ihre Überlegenheit wohl gefühlt. Dennoch fuhr er fort zu scherzen; er wollte augenscheinlich die Sache keinen ernsten Charakter annehmen lassen, und nachdem er seine Handschuhe angezogen hatte, bat er sie in aller Förmlichkeit um die Hand des Fräuleins Estelle de Beuville. Sie lachte laut auf. Oh, dieser Mimi! Ihm vermochte man nicht böse zu sein.
Die großen Erfolge bei diesen Damen verdankte Daguenet hauptsächlich seiner wohllautenden Stimme. Alle bezauberte er durch seine Schmeicheleien, und er war sich dieser Macht wohl bewußt. Als beide die Tafel verließen, war sie purpurrot und zitterte an seinem Arme: er hatte sie wieder erobert. Da das Wetter prachtvoll war, schickte sie ihren Wagen zurück, begleitete Daguenet zu Fuß an seine Wohnung und stieg, einmal soweit, natürlich auch mit ihm hinauf. Als sie sich zwei Stunden später wieder ankleidete, versetzte sie:
»Also, Mimi, du bleibst bei dieser Heirat?«
»Verdammt!« murmelte er. »Kann ich denn etwas Besseres tun? Du weißt ja, daß meine Gelder zu Ende gehen.«
Sie bat ihn, ihr die Schuhe zuzuknöpfen, und fuhr nach einigem Schweigen fort:
»Mein Gott, ich will ja recht gern ... Ich würde dich ja nur langweilen ... Sie ist freilich dürr wie eine Hopfenstange, die kleine Estelle! Aber das ist ja eure Sache ... Oh, ich will dir den Gefallen tun.« Und lachend fuhr sie fort:
»Nun, und was schenkst du mir dann? Als Entgelt hierfür verlange ich, daß du mir am Hochzeitstage die Erstlinge deines neuen Standes bringst ... Hörst du, vor deiner Frau komme ich!«
Er hatte sie erfaßt und küßte ihr dankbar die Schultern. Am nächsten Tage fand gerade ein Diner bei Nana statt, übrigens das gewöhnliche Donnerstagsdiner mit Muffat, Vandeuvres, den beiden Hugon und Satin. Der Graf erschien sehr zeitig; er brauchte achtzigtausend Franken, um für die junge Frau zwei oder drei Schuldenposten zu bezahlen und ihr einen Saphirschmuck zu schenken, nach dem sie unaussprechliche Sehnsucht empfand. Da er sein Vermögen schon sehr stark angegriffen hatte und noch nicht wagte, eine seiner Besitzungen zu verkaufen, suchte er einen Geldverleiher. Auf Nanas Vorschlag hatte er sich an Labordette gewandt; dieser aber hatte die Summe für zu bedeutend befunden und mit dem Friseur Francis sprechen wollen, der seinen Kunden gern derartige kleine Liebesdienste erwies. Der Graf vertraute sich also diesen Herren an; beide versprachen, ihm gegen einen Wechsel über hunderttausend Franken die verlangten achtzigtausend zu beschaffen, und entschuldigten sich wegen der zwanzigtausend Franken Zinsen, indem sie die elenden Wucherer verfluchten, an die sie sich hätten wenden müssen. Als Muffat sich nun anmelden ließ, hatte Francis eben Nana frisiert. Auch Labordette befand sich als vertraulicher, ungefährlicher Freund im Zimmer. Als er den Grafen erblickte, legte er ein dickes Paket Kassenscheine vorsichtig mitten unter die Puderbüchsen und Pomadendosen, und der Wechsel wurde auf der Marmorplatte des Toilettentisches unterzeichnet. Nana lud Labordette zum Diner ein; dieser aber entschuldigte sich und sagte, er müsse einen reichen Fremden in Paris herumführen. Unterdessen hatte Muffat ihn beiseite genommen und gebeten, den Saphirschmuck vom Juwelier Becker zu holen, da er noch am selben Abend die junge Frau überraschen wollte. Labordette war gern zu der Besorgung bereit, und eine halbe Stunde später überreichte Julien geheimnisvoll dem Grafen den Schmuck.
Während des Diners war Nana sehr reizbar; der Anblick der achtzigtausend Franken hatte sie aufgeregt. All dies schöne Geld sollte den Lieferanten zufließen! Das ärgerte sie. Sie zeigte sich sentimental und pries das Glück der Armut. Die Herren waren im Frack erschienen; sie selbst trug ein weißes Atlaskleid, während Satin bescheiden in schwarzer Seide ging und am Halse ein einfaches goldenes Kreuz trug. Die Bedienung wurde von Julien, François und teilweise auch von Zoé besorgt. »Sicherlich wäre ich fröhlicher, wenn ich gar kein Geld hätte«, wiederholte Nana. Sie hatte Muffat zu ihrer Rechten und Vandeuvres zu ihrer Linken placiert; aber sie beachtete sie gar nicht und war mit Satin beschäftigt, die ihr gegenüber zwischen Philippe und Georges thronte.
»Nicht wahr, mein Mäuschen?« sagte sie bei jedem Satze. »Wie fröhlich waren wir damals, als wir noch zu Mutter Josse, in der Rue Polonceau, in die Schule gingen!«
Der Braten wurde aufgetragen, und immer noch waren die beiden Frauenzimmer in ihre Erinnerungen vertieft. Die Herren blickten blaß und verlegen um sich. Die beiden Hugon versuchten zu lachen, während Vandeuvres nervös seinen Bart strich und Muffats Gesicht immer ernster wurde.
»Denkst du noch an Victor?« fragte Nana. »Das war ein niederträchtiger Bursche! Ei, wie er uns Mädchen immer in die Keller führte!«
»Ganz recht«, gab Satin zur Antwort. »Ich erinnere mich noch ganz deutlich an den großen Hof bei eurer Wohnung, an die Hausmeisterin mit ihrem Besen.«
»Die Mutter Boche; oh, die ist tot.«
»Und ich sehe noch jetzt euren Laden ... Deine Mutter war eine dicke Frau. Als wir eines Abends spielten, kam dein Vater betrunken nach Hause, oh, und wie betrunken!«
In diesem Augenblick versuchte Vandeuvres sie auf ein anderes Thema zu bringen und mischte sich in die Unterhaltung der beiden.
»Sagen Sie, meine Damen, ich möchte gern noch einmal Trüffeln nehmen ... Sie sind ausgezeichnet! Gestern habe ich bei dem Herzog von Corbreuse ein Zeug gegessen, das wirklich nicht den Namen Trüffeln verdiente.«
»Julien, die Trüffeln!« befahl Nana, fiel aber sofort wieder in ihr altes Gespräch zurück:
»Ah, der Geier! Papa war gar nicht vernünftig ... Du hättest bloß sehen sollen, wie er die Treppe hinunterpurzelte! Und dann gab es jedesmal Prügel; ich kann dir die Versicherung geben, daß ich damals in allen Farben geschillert habe.«
Diesmal erlaubte sich Muffat dreinzureden, der bis dahin nervös mit einem Messer gespielt hatte:
»Was Sie da erzählt haben, ist gar nicht heiter.«
»Ei was, nicht heiter!« rief sie und sah ihn mit durchdringenden Blicken an. »Ich glaube wohl, daß dies nicht heiter ist! ... Wir mußten froh sein, wenn wir Brot hatten, mein Lieber ... Ich habe einen guten Charakter, wissen Sie, ich sage die ungeschminkte Wahrheit. Mama war Wäscherin, Papa betrank sich und ist an der Trunksucht gestorben. Da haben Sie die Geschichte! Wenn Sie sich meiner Familie schämen ...«
Alle protestierten dagegen, sie aber fuhr fort:
»Wenn Sie sich meiner Familie schämen, so bessern Sie mich! Ich gehöre nicht zu jener Garde, die Vater und Mutter verleugnet ... Man muß mich von solchem Pack wohl unterscheiden! Verstehen Sie?«
Sie taten es und akzeptierten ihren Papa, ihre Mama, kurz alles, was sie wollte. Alle beugten sich ihrer Macht. Nana aber trotzte: Man möge ihr noch so viel Vermögen bieten, man möge ihr noch so viele Paläste bauen, sie werde sich dennoch nach jener Zeit zurücksehnen!
In diesem Augenblick bemerkte sie, wie Julien müßig dastand und wartete.
»Nun, was ist denn los? Servieren Sie doch lieber den Champagner«, sagte sie. »Was glotzen Sie mich denn an wie die Kuh das neue Tor?«
Während dieser Szene hatte keiner der Bedienten zu lächeln gewagt. Julien begann jetzt den Champagner einzuschenken, François, der die Früchte präsentierte, drehte unglücklicherweise die Schüssel zu sehr, so daß die Äpfel, Birnen und Weintrauben auf den Tisch rollten.
»Dummer Tölpel!« rief Nana.
Der Diener beging den Fehler, erklären zu wollen, daß die Früchte nicht regelrecht aufgeschichtet gewesen seien. Zoé habe sie dadurch aus der Ordnung gebracht, daß sie einige Orangen weggenommen habe.
»Dann ist Zoé eine Gans!« rief Nana erregt.
»Aber Madame ...!« murmelte die beleidigte Zofe.
Plötzlich stand Madame auf und erhob mit königlicher Würde ihre Stimme:
»Genug, hört ihr? Geht jetzt alle hinaus! ... Wir brauchen euch nicht mehr.«
Nunmehr zeigte sie sich außerordentlich sanft und liebenswürdig. Das Dessert, bei dem sich die Herren scherzend selbst bedienten, war reizend. Satin stellte sich hinter ihre liebe Freundin, aß eine Birne und sagte ihr Dinge ins Ohr, über die beide laut auflachten. Dann war Georges gekommen, hatte Satin bei der Taille erfaßt und nach ihrem Platz zurückgeführt.
»Ihr seid wohl toll!« sagte Nana. »Das arme liebe Mädchen wird ja schamrot ... Komm! So, meine Tochter, laß sie nur sitzen ... Das sind unsere Geheimnisse. Nicht wahr, Muffat?«
»Ja, gewiß», murmelte dieser und gab seine Zustimmung, indem er mit dem Kopfe nickte.
So thronten die beiden Dirnen über diesen großen, vornehmen Herren mit ihren adelsstolzen Namen und erzwangen sich ihre Überlegenheit.
Satin warf sich in der Nähe des Kamins auf ein Sofa und hatte sich eine Zigarette angezündet, während Vandeuvres sich daran ergötzte, den Eifersüchtigen zu spielen, indem er drohte, er werde sie zum Duell fordern, wenn sie Nana noch einmal umarme. Auch Philippe und Georges kamen herbei und zwickten sie so heftig, daß sie endlich aufschrie:
»Um Himmels willen, mein Kätzchen, befreie mich von ihnen! Sie sind ja wie toll!«
»Hört mal, laßt sie in Ruhe!« versetzte Nana mit ernster Miene. »Ich will nicht, daß sie belästigt wird; das wißt ihr wohl ... Und du, mein Mäuschen, warum läßt du dich denn mit ihnen ein, wenn sie so unvernünftig sind?«
Satin streckte die Zunge heraus und begab sich feuerrot in das Ankleidezimmer, dessen Tür weit offen stand, so daß man den weißen Marmor im Licht einer Gasflamme blitzen sah. Darauf unterhielt sich Nana als liebreizende Dame des Hauses mit den vier Herren.
Georges aber blieb an diesem Abend bleich und düster gestimmt.
»Was hat denn mein Bébé?« fragte Nana, als sie seine üble Laune bemerkte.
»Ich? Nichts, ich höre nur zu«, murmelte er.
Ein innerer Schmerz bedrückte ihn. Beim Verlassen der Tafel hatte er Philippe mit dem jungen Weibe schwatzen hören, und jetzt war es wieder Philippe und nicht er, der sich in ihrer Nähe befand. Seine Leidenschaftlichkeit flammte in ihm auf, wenn er daran dachte, daß Philippe eines schönen Tages dieses Weib berühren könnte.
»Hier, Georges, nimm Bijou!« sagte Nana und reichte ihm das Hündchen, das auf ihrem Schoße eingeschlafen war. Und Georges wurde wieder heiter, denn so hatte er wenigstens etwas von ihr.
Mittlerweile war man auf einen beträchtlichen Verlust zu sprechen gekommen, den Vandeuvres am Abend vorher im Kaiserklub erlitten hatte, und Vandeuvres machte lächelnd eine Anspielung auf seinen künftigen Ruin, von dem man in Paris schon sprach: es komme nicht auf die Todesart an, meinte er, nur darauf, mit Anstand zu sterben. Schon seit einiger Zeit sah ihn Nana immer aufgeregt, während bisweilen in seinen Augen ein eigentümliches Leuchten bemerkbar wurde. Aber er bewahrte seinen aristokratischen Stolz und die feine Eleganz seines verarmten Geschlechts. Als er einst bei ihr war, hatte er ihr eine schreckliche Geschichte erzählt: er gehe mit dem Gedanken um, sobald er alles durchgebracht haben werde, sich mit seinen Pferden im Stalle einzuschließen und zu verbrennen. Seine einzige Hoffnung beruhte zur Stunde noch auf seinem Pferde Lusignan, mit dem er den Preis beim nächsten Rennen zu erringen dachte. Bei jeder Geldforderung, die Nana an ihn stellte, vertröstete er sie auf den Juni, wenn Lusignan gesiegt haben werde.
»Bah«, sagte sie scherzend, »er kann aber auch verlieren.«
Vandeuvres antwortete darauf nur durch ein geheimnisvolles Lächeln. Dann versetzte er leichthin:
»Apropos, ich habe mir erlaubt, meinem Schimmel, einer jungen Stute, Ihren Namen zu geben ... Nana, Nana, das klingt so schön! Sie sind doch nicht böse darüber?«
»Böse, warum denn?« entgegnete sie.
Die Unterhaltung ging fort, als Satin an der Tür des Ankleidezimmers erschien und sie zu sich rief. Sie verlangte, daß ihre liebe Freundin alle Herren, die sie belästigt hatten, zur Tür hinauswerfen solle. Nana gab ihr die Versicherung, daß dies nicht möglich sei. Satin aber suchte ihre Autorität zu wahren und schrie:
»Ich wünsche es! Verstehst du? ... Schicke sie fort, oder ich gehe.«
Sie kehrte in den Salon zurück, setzte sich auf einen Diwan nahe am Fenster und betrachtete, ohne ein Wort zu sagen, Nana fest mit ihren großen Augen.
Die junge Frau, die ihr beistimmend zunickte, überlegte, auf welche Weise sie den Grafen loswerden könne. Die anderen würden schon gehen, dachte sie; aber er würde sich sicherlich nicht gleich fortschicken lassen. In der Tat, als Philippe sich zum Aufbruch rüstete, folgte ihm unmittelbar Georges. Vandeuvres blieb noch einige Minuten; er sondierte das Terrain und wartete, ob nicht durch irgendeinen Zufall Muffat sich genötigt sehen werde, ihm das Feld zu räumen; da dies nicht der Fall war, verabschiedete auch er sich. Als er nach der Tür zu ging und Satins starren Blick bemerkte, drückte er ihr die Hand.
»Nicht wahr, wir sind doch nicht böse?« murmelte er. »Verzeih mir ... Du weißt dich zu benehmen, auf Ehre!«
Satin antwortete ihm gar nicht; sie verfolgte mit ihren Blicken nur Nana und den Grafen. Muffat hatte sich ungeniert neben Nana gesetzt und küßte ihr die Hand. Sie aber suchte einen Übergang und fragte, ob es seiner Tochter Estelle besser gehe. Am Abend vorher nämlich hatte er sich über die Melancholie des Mädchens bitter beklagt; er könne, versicherte er, keine glückliche Stunde zu Hause verleben, seine Frau sei stets anderswo und lasse die Tochter allein. Nana war für diese Familienangelegenheiten immer mit guten Ratschlägen bei der Hand, und so erwiderte sie jetzt:
»Wie wäre es, wenn du sie verheiratetest?« und kam sofort auf Daguenet zu sprechen.
Bei diesem Namen ergrimmte der Graf und rief:
»Niemals! Nie, nach dem, was ich von dir erfahren habe!«
Sie stellte sich erstaunt, brach in lautes Lachen aus, umarmte ihn und sagte:
»Oh, der Eifersüchtige! Man sollte es nicht für möglich halten! ... Überlege dir einmal! Man hatte dir einst ebenfalls schlechte Dinge über mich mitgeteilt, ich war wütend! ... Heute würde ich trostlos sein, wenn ...«
Da bemerkte sie jedoch, über Muffats Schulter hinwegblickend, Satins Blick. Verwirrt ließ sie ihn los und fuhr in ernstem Tone fort:
»Mein Freund, diese Heirat muß zustande kommen, ich will dem Glück deiner Tochter nicht hinderlich sein, und der junge Mann ist vortrefflich, du kannst keinen besseren finden.«
Und nunmehr erging sie sich in einer langen Lobrede über Daguenet. Der Graf hatte ihre Hand erfaßt; er sagte, er werde sehen, man wolle später darüber sprechen. Als er hierauf den Wunsch zu erkennen gab, bei ihr zu bleiben, wurde sie kleinlaut und rückte mit verschiedenen Gründen heraus. Unmöglich, meinte sie, sie sei unwohl; wenn er sie liebhabe, solle er davon abstehen. Trotzdem wollte der Graf nicht gehen, und als Nana jetzt wieder den Blicken Satins begegnete, faßte sie einen unumstößlichen Entschluß. Nein, fuhr sie fort, es sei eben nicht möglich. Der Graf war sehr bewegt und mit schmerzlicher Miene aufgestanden und suchte seinen Hut. Schon war er an der Tür, als ihm der Saphirschmuck in seiner Tasche ins Gedächtnis kam; er hatte die Absicht gehabt, ihn in ihrem Bett zu verstecken, damit sie ihn beim Schlafengehen entdecken sollte. In seiner Verwirrung, in seiner Beklemmung über diese klägliche Verabschiedung übergab er ihr hastig den Schmuck.
»Was ist denn das?« fragte sie. »Ah! Saphire! ... Ach Gott, jener Schmuck! Wie liebenswürdig du bist! ... Sag einmal, mein Lieber, glaubst du, daß dies der nämliche ist, der im Schaufenster so viel Effekt machte?«
Dies war ihr ganzer Dank, und sie ließ den Grafen wieder gehen. Dieser hatte soeben Satin bemerkt, wie sie schweigend und lauernd auf ihrem Diwan saß. Da warf er noch einen Blick auf die beiden Frauenzimmer und ging, ohne einen weiteren Einwand zu machen. Noch hatte er die Tür des Vorzimmers in der Hand, als Satin jauchzend aufsprang und Nana umfing. Dann eilte sie an das Fenster und rief höhnisch:
»Du mußt bloß einmal sein wütendes Gesicht sehen!«
Hinter den Vorhängen lehnten sich die beiden Frauen auf die eiserne Fensterbrüstung. Es schlug ein Uhr. In der menschenleeren Avenue de Villiers erstreckte sich die Doppelreihe der Gaslaternen weithin in die feuchte Märznacht; heftige, mit Regenschauern vermischte Windstöße fegten über die Straße. Leere Baustellen erschienen wie finstere Höhlen in dem nächtlichen Dunkel, und die kahlen Gerüste der Neubauten ragten in den düsteren Himmel empor. Nana und Satin brachen in ein tolles Lachen aus, als sie Muffat bemerkten, wie er auf der nassen Straße dahinschlich.
Aber Nana gebot Satin zu schweigen und sagte:
»Nimm dich vor den Polizisten in acht!«
Da unterdrückten sie ihr Lachen und blickten mit stummer Furcht nach der entgegengesetzten Seite der Avenue, wo zwei dunkle Gestalten gemessenen Schrittes daherkamen. Trotz ihrer verschwenderischen Pracht und obwohl sie die höchstgestellten Personen zu ihrer Verfügung hatte, empfand Nana immer noch einen heillosen Schrecken vor der Polizei und hörte ebenso ungern davon sprechen wie vom Tode. Es ward ihr bange, sobald ein Polizist zu ihrer Wohnung hinaufschaute. Man wußte eben nie, woran man mit jenen Leuten war. Sie könnten, meinte sie, sehr leicht für gewisse Mädchen gehalten werden, wenn ihr Gelächter zu dieser nächtlichen Stunde vernehmbar werde. Satin zitterte und hatte sich dicht an Nana geschmiegt. Dennoch blieben sie am Fenster und betrachteten mit Interesse das Herankommen einer Laterne, deren Licht sich in den Pfützen der Straße spiegelte. Es rührte von einer alten Lumpensammlerin her, die die Rinnsteine durchsuchte. Satin erkannte sie.
»Schau«, sagte sie, »die Königin Pomare mit ihrem Lumpenkorb!«
Und während ein Windstoß ihnen feinen Regen ins Gesicht trieb, erzählte sie ihrer lieben Nana die Geschichte der Königin Pomare. Oh, vor Zeiten war das ein gar stolzes Mädchen gewesen, das ganz Paris durch seine Schönheit bezauberte, die Männer wie Hunde behandelte, während hohe Persönlichkeiten auf ihrer Treppe herumlungerten. Jetzt sei sie dem Trunk ergeben, und die Weiber des Viertels belustigten sich damit, sie durch Absinth zu berauschen; auf den Trottoirs verfolgten die Gassenbuben sie mit Steinwürfen. Kurz, es sei ein tief gesunkenes Weib, eine ins Elend geratene Königin! Nana hörte kalt zu.
»Gib acht«, fügte Satin hinzu.
Sie pfiff, und die Lumpensammlerin, die sich eben unter dem Fenster befand, blickte empor, beleuchtet von dem gelblichen Schein ihrer Laterne. Man sah in einer zerlumpten Kleidung, hinter einem zerfetzten seidenen Halstuch ein geschundenes, blatternarbiges Gesicht mit zahnlosem Munde und starrblickenden Augen. Als Nana dieses schreckliche Bild des Alters vor sich sah, stieg in ihr eine plötzliche Erinnerung auf; sie sah die Vision von Chamont wieder, jene Irma d'Anglars, jene alte Betschwester, reich an Jahren und Ehren, wie sie inmitten einer staunenden und demütigen Dorfbevölkerung die Freitreppe ihres Schlosses hinaufstieg. Als Satin jetzt wieder pfiff und über die Alte lachte, die sie nicht erkennen konnte, murmelte Nana mit veränderter Stimme: »Hör doch auf, die Polizei kommt! Tritt schnell zurück, mein Schätzchen!«
Wieder ließen sich jene gleichmäßigen Schritte hören, und sie schlossen das Fenster. Als Nana sich umdrehte, zitternd und mit regendurchnäßtem Haar, schaute sie sich einen Augenblick erstaunt in ihrem Salon um, als ob sie sich nicht zurechtfinden könnte und sich an einem völlig unbekannten Ort befände. Doch sie war froh überrascht, sich in ihrem eigenen Zimmer zu sehen, umschmeichelt von der lauen, parfümschwangeren Luft. Die aufgestapelten Reichtümer, die antiken Möbel, die seidenen und goldverzierten Stoffe, die Elfenbeinarbeiten und die Bronzefiguren schlummerten in dem rosigen Schein der Lampen. Die übrigen Teile des Hauses mit ihrem überschwenglichen Luxus und der feierlichen Würde des Empfangssalons, den komfortablen Speisezimmern und der Andachtsstille der geräumigen Treppen mit den schwellenden Teppichen lagen schweigend da. Es war gleichsam alles dazu angetan, ihre Gier nach Herrschaft und Genuß zu vergrößern, ihre Sucht zu steigern, alles zu besitzen, um alles zu zerstören. Nie hatte sie die Macht ihres Geschlechts so tief empfunden. Langsam blickte sie um sich her und sagte mit der erhobenen Stimme eines Philosophen:
»Ja, man hat allen Grund, für seinen Vorteil zu sorgen, solange man noch jung ist!«
Aber schon rollte sich Satin übermütig auf dem Bärenfell des Schlafzimmers umher und rief ihr zu:
»Komm doch! Komm doch!«
Nana zog sich im Ankleidezimmer aus. Um es schneller zu machen, hatte sie mit beiden Händen ihr dichtes, blondes Haar erfaßt und schüttelte es über dem silbernen Waschbecken, wobei ein Hagel langer Haarnadeln herabfiel, der dem reinen Metall liebliche Glockentöne entlockte.