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Siebentes Kapitel.

Erst am Sonntag, drei Tage nach dem Gemetzel bei Sainte-Roure, zogen die Truppen wieder durch Plassans. Der Präfekt und der Oberst, die Herr Garçonnet zum Essen geladen hatte, kamen allein in die Stadt. Die Soldaten umgingen die Wälle und lagerten sich in der Vorstadt, auf der Nizzaer Straße. Die Nacht senkte sich herab; am Himmel, der seit dem Morgen bewölkt war, zeigte sich ein seltsamer gelber Widerschein, der ein fahles Licht auf die Stadt warf gleich den kupferschimmernden Lichtern bei Gewitterschwüle. Der Empfang seitens der Bürger war ein zurückhaltender; die noch bluttriefenden Soldaten, die müde und stumm in dem schmutzigen Abenddunkel durch die Stadt zogen, widerten die sauberen Kleinbürger an der Promenade Sauvaire an; die Herren wichen zurück und erzählten sich halblaut Schauergeschichten von Erschießungen, grausamen Vergeltungen, deren Erinnerung das Land bewahrt hatte. Es begann der Schrecken, den der Staatsstreich verbreitete, eine wahnsinnige, niederschmetternde Furcht, die den Süden des Landes Monate hindurch zittern ließ. In ihrem Entsetzen und ihrem Haß gegen die Aufständischen hatte die Stadt Plassans die Truppen bei ihrem ersten Durchzug mit Begeisterung aufnehmen können; zu dieser Stunde aber, angesichts dieses Unheil kündenden Regiments, das auf einen Wink seines Befehlshabers feuerte, fragten sich die Rentenbesitzer und selbst die Notare der Neustadt beklommen, ob sie nicht irgendein politisches Vergehen auf dem Gewissen hätten, das sie vor die Gewehrläufe bringen könnte.

Seit gestern waren auch die Behörden wieder da; zwei Wagen hatten sie von Sainte-Roure zurückgebracht. Ihre unerwartete Rückkehr war keineswegs ein Triumphzug. Rougon überließ ohne große Betrübnis dem Bürgermeister seinen Lehnsessel wieder. Der Streich war gelungen; er erwartete mit Ungeduld aus Paris den Lohn für seinen Bürgersinn. Am Sonntag erhielt er von seinem Sohn Eugen einen Brief, den er erst für den nächsten Tag erwartet hatte. Felicité war schon am Donnerstag darauf bedacht gewesen, ihrem Sohne die Nummern der »Zeitung« und des »Unabhängigen« einzusenden, die in einer zweiten Ausgabe die nächtliche Schlacht und die Rückkehr des Präfekten erzählten. Eugen antwortete mit der nächsten Post, daß die Ernennung seines Vaters für eine Einnehmerstelle bevorstehe; aber er wolle ihm sogleich eine gute Nachricht übermitteln: er habe für ihn das Band der Ehrenlegion erlangt. Felicité weinte vor Freude. Ihr Mann dekoriert! In ihren stolzesten Träumen war sie nicht so weit gegangen. Blaß vor Freude sagte Rougon, man müsse noch am selben Tage ein großes Essen geben. Er rechnete nicht mehr; er war bereit, um diesen schönen Tag zu feiern, seine letzten Hundertsousstücke zum Fenster hinauszuwerfen.

Höre, sagte er seiner Frau, du wirst Sicardot einladen; lange genug ärgert er mich schon mit seiner Rosette im Knopfloche. Ferner Granoux und Roudier, denen ich es gern zu verstehen geben möchte, daß ihr Reichtum ihnen niemals zu einer Auszeichnung verhelfen wird. Vuillet ist ein Wucherer; aber der Triumph soll ein vollständiger sein, lade ihn ein, ebenso die ganze Brut ... Den Marquis wirst du persönlich verständigen; wir werden ihn zu deiner Rechten setzen, er wird an unserem Tische eine sehr gute Figur machen. Der Oberst und der Präfekt sind bei Herrn Garçonnet zu Gaste. Er will mir damit zu verstehen geben, daß ich nichts mehr bin. Aber ich mache mir nichts aus seiner Bürgermeisterei; sie bringt ihm nicht einen Sou ein. Er hat mich eingeladen; aber ich werde sagen, daß ich selbst Gäste habe. Sie sollen morgen vor Neid bersten ... Und karge heute nicht, laß alles aus dem Hotel de Provence bringen. Das Essen des Bürgermeisters muß ganz zurücktreten.

Felicité machte sich ans Werk. Peter hatte inmitten seines Entzückens doch eine stille Sorge. Der Staatsstreich sollte seine Schulden bezahlen, sein Sohn Aristide bereute seine Fehler; auch wurde er, Peter, endlich Macquart los. All dies war sehr erfreulich; aber er fürchtete irgendeine Torheit von seiten seines Sohnes Pascal. Auch war er um das Schicksal Silvères besorgt; nicht als ob er ihn im geringsten bedauert hätte; er fürchtete bloß, daß die Sache mit dem Gendarm vor das Strafgericht kommen könne. Ach, wenn eine gescheite Kugel ihn von diesem Schlingel befreit hätte! Wie seine Frau schon am Morgen bemerkt hatte, waren die Hindernisse vor ihm gefallen; diese Familie, die ihn entehrte, hatte im letzten Augenblick an seiner Erhebung gearbeitet. Seine Söhne, Eugen und Aristide, die ihn kahl gegessen hatten und deren Schulgeld er so oft beklagt hatte, bezahlten endlich die Zinsen des Kapitals, das er an ihren Unterricht gewendet hatte. Jetzt mußte der Gedanke an diesen erbärmlichen Silvère ihm diese Stunde des Triumphes verbittern!

Während Felicité sich um die Zurüstungen zu dem Essen kümmerte, erfuhr Peter die Ankunft der Truppe und entschloß sich, Erkundigungen einzuholen. Sicardot, den er bei seiner Rückkehr befragte, wußte nichts; Pascal schien zur Pflege der Verwundeten zurückgeblieben zu Sein, und was Silvère betrifft, so hatte ihn der Major, der ihn nur oberflächlich kannte, nicht gesehen. Rougon begab sich nach der Vorstadt; er wollte bei dieser Gelegenheit Macquart die achthundert Franken geben, die er mit vieler Mühe soeben zusammengescharrt hatte. Doch als er sich unter der lagernden Menge befand, als er aus der Ferne die Gefangenen sah, die in langen Reihen auf den Balken des Saint-Mittre-Feldes saßen, von den Soldaten mit dem Gewehr im Arm bewacht, fürchtete er sich zu kompromittieren und eilte verstohlen zu seiner Mutter, mit der Absicht, die alte Frau um Nachrichten auszusenden.

Als er die Hütte betrat, war es fast vollständige Nacht. Er sah anfänglich nur Macquart, der sich mit Rauchen und Trinken die Zeit vertrieb.

Du bist's? Du kommst gerade recht, sagte Antoine, seinen Bruder wieder duzend. Ich werde hier alt und grau vor Langweile. Hast du das Geld?

Doch Peter antwortete nicht. Er hatte seinen Sohn Pascal wahrgenommen, der über das Bett gebeugt stand. Er befragte ihn lebhaft. Überrascht von dieser Besorgtheit, die er anfänglich der väterlichen Zärtlichkeit zuschrieb, erwiderte der Arzt ruhig, die Soldaten hätten ihn ergriffen und würden ihn erschossen haben ohne die Dazwischenkunft eines wackeren Mannes, den er nicht kenne. Durch seinen Doktortitel gerettet, sei er mit der Truppe zurückgekehrt. Dies war für Rougon eine große Erleichterung. Wieder einer, der ihn nicht kompromittieren wird. Er bekundete seine Freude durch wiederholte Händedrücke, als Pascal mit trauriger Stimme schloß:

Du hast keinen Grund, dich zu freuen, ich finde meine arme Großmutter in einem sehr schlimmen Zustande. Ich habe ihr diesen Karabiner wiedergebracht, der ihr so teuer ist; aber ich habe sie regungslos daliegend gefunden. Schau selbst!

Peters Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Im letzten Scheine des sinkenden Tages sah er Tante Dide tot und starr auf dem Bette liegen. Dieser arme Leib, den seit der Wiege Nervenanfälle unterwühlten, war einer letzten heftigen Krise erlegen. Die Nerven hatten gleichsam das Blut aufgezehrt. Die geheime Arbeit dieses erregten Fleisches, das in später Keuschheit sich selbst verzehrte und erschöpfte, ging zu Ende und machte aus der Unglücklichen einen Leichnam, den nur noch elektrische Zuckungen galvanisierten. Zur Stunde schien ein furchtbarer Schmerz die langsame Auflösung ihres Wesens beschleunigt zu haben. Ihr bleiches Nonnengesicht, dieses Gesicht eines durch das Dunkel und die klösterlichen Entsagungen mürbe gemachten Weibes, färbte sich mit roten Flecken. Mit verzerrtem Gesichte, schrecklich weit offenen Augen, auswärts gekehrten und gekrümmten Händen, lag sie ausgestreckt da in ihren Röcken, die in dürren Linien die Magerkeit ihrer Glieder zeichneten. Die Lippen zusammengekniffen bot sie in dieser dunklen Stube das furchtbare Bild eines stummen Todeskampfes. Rougon machte eine unmutige Gebärde. Dieses ergreifende Schauspiel war ihm sehr unangenehm; er hatte Gäste zum Essen und wäre trostlos gewesen, müßte er traurig sein. Daß seine Mutter doch immer etwas Neues fand, um ihm Verlegenheiten zu bereiten! Sie hätte doch wohl einen andern Tag wählen können. Er nahm denn auch eine ruhige Miene an und sagte:

Es wird nichts sein. Ich habe sie hundertmal so gesehen. Man muß ihr Ruhe gönnen, das ist die einzige Arznei.

Pascal schüttelte den Kopf.

Nein; diese Krise gleicht nicht den anderen, murmelte er. Ich habe sie oft beobachtet und niemals solche Anzeichen wahrgenommen. Betrachte ihre Augen: sie sind von einer seltsamen Flüssigkeit, von einer sehr beunruhigenden Klarheit. Und die Maske! Welch eine furchtbare Verzerrung aller Muskel!

Dann beugte er sich noch mehr vor, prüfte die Züge aus unmittelbarer Nähe und fuhr mit leiser Stimme fort, als spreche er mit sich selbst:

Solche Gesichter habe ich nur bei Ermordeten gesehen, die im größten Entsetzen starben ... Sie muß eine furchtbare Aufregung gehabt haben.

Aber wie ist denn der Anfall gekommen? fragte Rougon ungeduldig, weil er nicht mehr wußte, wie er die Stube verlassen sollte.

Pascal wußte es nicht. Macquart erzählte, indem er sich ein frisches Gläschen einschenkte, daß er Durst gehabt und die Alte um eine Flasche Kognak gesandt habe. Sie war nur kurze Zeit fort gewesen; als sie heimgekehrt, war sie starr und wortlos zu Boden gesunken; er selbst habe sie zum Bett tragen müssen.

Mich wundert, sagte er zum Schlusse, daß sie in ihrem Falle die Flasche nicht zerbrach. Der junge Arzt sann nach. Nach kurzem Stillschweigen fuhr er fort:

Auf dem Wege hierher vernahm ich zwei Schüsse. Vielleicht haben diese Elenden wieder einige Gefangene erschossen. Wenn sie in jenem Augenblicke durch die Reihen der Soldaten schritt, kann der Anblick des Blutes sie in diese Krise gestürzt haben ... Sie muß fürchterlich gelitten haben.

Glücklicherweise hatte er seinen kleinen Rettungskasten, den er seit dem Aufbruch der Aufständischen stets bei sich trug. Er versuchte, einige Tropfen einer rosafarbenen Flüssigkeit der Alten zwischen den zusammengepreßten Zähnen einzuflößen. Inzwischen fragte Macquart seinen Bruder abermals:

Hast du das Geld?

Ja, ich habe es mitgebracht, wir wollen ein Ende machen, erwiderte Rougon, froh über diese Abschweifung.

Als Macquart sah, daß er bezahlt werden solle, begann er zu ächzen. Zu spät hatte er die Folgen seines Verrates erfaßt; sonst würde er eine zwei- und dreifach so große Summe gefordert haben. Er beklagte sich. Wahrhaftig, tausend Franken seien nicht genug. Seine Kinder hätten ihn verlassen, er sei allein in der Welt und müsse fort aus Frankreich. Von der Verbannung redend, brach er schier in Tränen aus.

Wollt Ihr die achthundert Franken? fragte Rougon, den es drängte, dieses Haus zu verlassen.

Nein, wahrhaftig, du mußt das Doppelte geben. Deine Frau hat mich herumgekriegt. Hätte sie mir gerade herausgesagt, was sie von mir erwartete, ich würde mich um so wenig niemals kompromittiert haben.

Rougon legte die achthundert Franken in Gold auf den Tisch hin.

Ich schwöre Euch, daß ich nicht mehr habe, sprach er. Ich werde später an Euch denken. Aber jetzt geht, um Gottes willen! Macht Euch fort noch heute abend! .

Unter halblautem Klagen und Schelten trug Macquart den Tisch zum Fenster, um da, bei dem schwindenden Tageslichte die Goldstücke zu zählen. Er ließ die Münzen auf den Tisch fallen; sie kitzelten ihm wonnig die Fingerspitzen und klangen so hell in der dunklen Stube. Er unterbrach sich einen Augenblick, um zu sagen:

Du hast mir eine Stelle versprechen lassen, vergiß nicht. Ich will nach Frankreich zurückkehren. Eine Feldhüterstelle in einer schönen Gegend, die ich selbst mir wählen würde, wäre mir gerade recht ...

Ja, ja, abgemacht, erwiderte Rougon. Habt Ihr achthundert Franken gezählt?

Macquart begann von neuem zu zählen. Die letzten Louisdors klangen, als ein grelles Gelächter ihn zwang, den Kopf zu wenden. Tante Dide stand aufrecht vor ihrem Bette, mit offenem Kleide, die weißen Haare lose herabfällend, das bleiche Gesicht rote Flecke zeigend. Pascal hatte vergebens versucht, sie zurückzuhalten. Die Arme ausstreckend, von einem gewaltigen Fieberfrost geschüttelt bewegte sie im Fieberwahn den Kopf.

Das Blutgeld! Das Blutgeld! rief sie wiederholt. Ich habe das Gold gehört ... Und sie sind es, die ihn verkauft haben! ... Ha, die Mörder, die Wölfe! ...

Sie warf die Haare zurück und strich mit der Hand über die Stirne, wie um darin zu lesen. Dann fuhr sie fort:

Ich sah ihn seit langer Zeit, die Stirne von einer Kugel durchlöchert. In meinem Kopfe gab es immer Leute, die mit Flinten in der Hand ihm auflauerten. Und sie winkten mir, daß sie schießen wollen ... Es ist abscheulich! ... Ich fühle, wie sie mir die Glieder brechen und den Schädel aushöhlen. Oh, Gnade, Gnade! Ich bitte euch! Er soll sie nicht mehr sehen, nicht mehr lieben! Ich will ihn einsperren ... ich will ihn verhindern, an ihren Röcken zu hängen ... Gnade, Gnade! ... Schießet nicht! ... Es ist nicht meine Schuld ... wenn ihr wüßtet ...

Sie war fast in die Knie gesunken, weinte und flehte und streckte die zitternden Hände gegen irgendein schauerliches Bild aus, das ihr im Schatten auftauchte. Plötzlich richtete sie sich auf, ihre Augen erweiterten sich noch mehr, ihrer zusammengepreßten Brust entfuhr ein fürchterlicher Schrei, wie wenn ein ihr allein sichtbares Schauspiel sie mit wahnsinniger Furcht erfüllt hätte.

Oh, der Gendarm! rief sie erstickend, zurückweichend, auf ihr Lager sinkend, wo sie sich in langen, wilden Lachkrämpfen wälzte.

Pascal folgte der Krise mit aufmerksamen Blicken. Die beiden entsetzten Brüder, die nur unzusammenhängende Sätze erfaßten, hatten sich in einen Winkel der Stube geflüchtet. Als Rougon das Wort Gendarm hörte, glaubte er zu verstehen; seit der Ermordung ihres Liebhabers an der Grenze, nährte Tante Dide einen tiefen Haß gegen die Gendarmen und die Zollwächter, die sie in ihren Rachegedanken miteinander verwechselte.

Sie erzählt uns da die Geschichte des Wilderers, brummte er.

Pascal winkte ihm zu schweigen. Die Sterbende richtete sich mühsam wieder auf. Verstört und blöde schaute sie um sich. Einen Augenblick blieb sie stumm, suchte dann die Gegenstände zu erkennen, als befinde sie sich an einem unbekannten Orte. Dann fragte sie plötzlich in unruhigem Tone:

Wo ist die Flinte?

Der Arzt legte den Karabiner in ihre Hände. Sie stieß einen schwachen Freudenschrei aus, betrachtete lange die Waffe und sagte leise, mit der singenden Stimme eines jungen Mädchens:

Das ist sie ... ich erkenne sie ... Sie ist voll mit Blut ... Heute sind es frische Flecke ... Seine blutigen Hände haben an dem Kolben rote Spuren zurückgelassen ... Ach arme, arme Tante Dide! ...

Von neuem begann sie den wirren Kopf hin und her zu wenden und verharrte eine Weile in stillem Brüten.

Der Gendarm ist tot, brummte sie dann, und ich habe ihn gesehen, er ist wiedergekommen ... Diese Halunken sterben nie!

Von einer unheilkündenden Wut ergriffen, die Waffe schwingend, näherte sie sich ihren beiden Söhnen, die schreckensbleich an der Wand lehnten. Sie schleifte ihre losen Röcke hinter sich einher, ihr verkrümmter Leib richtete sich auf, halbnackt, durch das Alter schauerlich ausgedörrt.

Ihr habt geschossen! schrie sie. Ich habe das Gold gehört ... Oh, ich Unglückliche habe nur Wölfe zur Welt gebracht. Eine ganze Familie, eine ganze Brut von Wölfen ... Ein armes Kind war da, das haben sie gefressen; jeder hat darauf eingehauen, noch trieft das Blut von ihnen ... Ha, die Verfluchten! Sie haben gestohlen, sie haben getötet und sie leben wie feine Herren. Verflucht! Verflucht! Verflucht!

Sie sang und lachte und schrie und wiederholte: Verflucht! in einem seltsamen Tönfall, der dem Prasseln einer Gewehrsalve glich. Mit Tränen in den Augen nahm Pascal sie in seine Arme und brachte sie wieder zu Bette. Sie setzte ihren Gesang fort, den Rhythmus beschleunigend und mit ihren dürren Händen auf der Bettdecke den Takt schlagend.

Sie ist wahnsinnig, sagte der Arzt; das befürchtete ich. Der Schlag war zu hart für ein armes Wesen, das wie sie heftigen nervösen Anfällen ausgesetzt war. Sie wird in einem Irrenhause sterben, wie ihr Vater.

Aber, was hat sie denn sehen können? fragte Rougon, aus dem Winkel hervortretend, in den er sich, geflüchtet hatte.

Ich habe eine furchtbare Ahnung, entgegnete Pascal. Ich wollte dir von Silvère sprechen, als du kamst. Er ist gefangen. Man muß bei dem Präfekten einen Schritt für ihn tun, um ihn zu retten. Noch ist es Zeit.

Der ehemalige Ölhändler sah erbleichend seinen Sohn an. Dann erwiderte er rasch:

Wache über sie; ich bin heute zu viel beschäftigt. Morgen wollen wir sie nach dem Irrenhause in Tulettes schaffen lassen. Ihr, Macquart, müßt noch heute nacht fort, Ihr schwört es mir. Ich werde Herrn von Blériot aufsuchen.

Er stammelte; es drängte ihn hinauszukommen in die nächtliche Kühle. Pascal heftete einen durchdringenden Blick auf die Irre, auf seinen Vater, auf seinen Oheim; der Egoismus des Gelehrten behielt die Oberhand; er studierte diese Mutter und diese Söhne mit der Aufmerksamkeit eines Naturforschers, der die Verwandlungen eines Insektes entdeckt. Er dachte an die Triebe einer Familie, einer Schichte, die verschiedene Zweige ansetzt und deren scharfer Saft die nämlichen Keime forttreibt in die entferntesten, je nach der Umgebung von Schatten und Sonne verschiedenartig gewundenen Äste. Er glaubte einen Augenblick, wie inmitten eines Blitzes die Zukunft der Rougon-Macquart zu sehen, eine Meute von zügellosen Begierden, die in einem Flammenschein von Blut und Gold Befriedigung, finden.

Indes hatte Tante Dide, als sie den Namen Silvère hörte, zu singen aufgehört. Sie lauschte beklommen einen Augenblick, dann begann sie ein schauerliches Geheul auszustoßen. Die Nacht war jetzt völlig hereingebrochen, und die Stube lag finster und unheimlich da. Die Schreie der Wahnsinnigen, die man nicht mehr sah, drangen aus der Finsternis hervor, wie aus einer geschlossenen Grube. Rougon hatte den Kopf verloren und eilte davon, verfolgt von diesem Lachgeheul, das in der Finsternis noch fürchterlicher klang.

Als er aus dem Saint-Mittre-Gäßchen trat, zögernd und sich fragend, ob es nicht gefährlich sei, bei dem Präfekten um Gnade für Silvère zu bitten, sah er Aristide, der um das Saint-Mittre-Feld herumstrich. Als dieser seinen Vater erkannte, lief er herbei und sagte ihm einige Worte ins Ohr. Peter erbleichte; er warf einen erschreckten Blick nach dem Hintergrunde des Feldes, nach jenem Dunkel, das nur durch das Lagerfeuer fahrender Zigeuner erhellt wurde. Dann verschwanden alle beide in der Rom-Straße, beschleunigten ihre Schritte, als ob sie gemordet hätten und stülpten den Rockkragen auf, um nicht gesehen zu werden.

Dies erspart mir einen Weg, murmelte Peter. Gehen wir essen. Man erwartet uns.

Als sie ankamen, strahlte der gelbe Salon im Lichterglanze. Felicité hatte sich vervielfacht. Alle Welt war da: Sicardot, Granoux, Roudier, Vuillet, die Ölhändler, die Mandelhändler, kurz, die ganze Gesellschaft. Der Marquis allein war unter dem Vorwande eines Anfalles von Rheumatismus weggeblieben; er verreiste übrigens für eine kurze Zeit. Diese blutbefleckten Spießbürger verletzten sein Zartgefühl, und es schien, daß sein Verwandter, der Graf von Valqueyras, ihn gebeten hatte, sich einige Zeit auf sein Gut Corbière zurückzuziehen, um sich in Vergessenheit zu bringen. Die Absage des Herrn von Carnavant verdroß die Rougon; allein Felicité tröstete sich und gedachte einen um so größeren Prunk zu entfalten; sie entlieh zwei Armleuchter, bestellte zwei Vorspeisen und zwei Mittelgerichte mehr, um so das Gedeck des Marquis zu ersetzen. Um das Mahl feierlicher zu gestalten, wurde die Tafel im Salon gedeckt. Das Hotel de Provence hatte das Silberzeug, das Porzellan, die Trinkgläser geliefert. Um fünf Uhr wurde gedeckt, damit die Gäste gleich bei ihrer Ankunft sich an dem Anblick weiden konnten. An beiden Enden des weißen Tafeltuches standen Sträuße von künstlichen Rosen in Vasen von vergoldetem Porzellan.

Als die gewöhnliche Gesellschaft des gelben Salons versammelt war, vermochte sie ihre Bewunderung für ein solches Schauspiel nicht zu unterdrücken. Die Herren lächelten mit verlegener Miene und warfen einander heimliche Blicke zu, die deutlich besagen wollten: »Diese Rougon sind toll; sie werfen ihr Geld zum Fenster hinaus.« Die Wahrheit war, daß Felicité, als sie ihre Einladungen ausgehen ließ, ihre Zunge nicht hatte beherrschen können. Alle Welt wußte, daß Peter dekoriert worden und daß er ein Amt bekommen solle und dies »verwandelte die Nasen gar seltsam«, wie die alte Frau sich ausdrückte. Dann sagte Roudier: »Dieses schwarze Weib ist denn doch zu hochmütig«. Diese Gesellschaft von Spießbürgern, die über die sterbende Republik hergefallen waren und, einander beobachtend, einander an Fußtritten für die Republik zu überbieten suchten, fand jetzt am Zahltage, es sei nicht recht, daß ihre Wirte allen Ruhm der Schlacht einheimsten. Selbst jene, die aus bloßem Eifer geschrien hatten, ohne von dem erstehenden Kaiserreich etwas zu verlangen, waren arg verdrossen, weil sie sehen mußten, daß dank ihrer Haltung der Ärmste und Schäbigste von allen das rote Bändchen im Knopfloch haben sollte. Wenn noch der ganze gelbe Salon ausgezeichnet worden wäre!

Nichts als ob mir an der Auszeichnung etwas liegt, sagte Roudier zu Granoux, den er in eine Fensternische gezogen hatte. Ich habe sie zur Zeit Louis Philipps zurückgewiesen, als ich Hoflieferant war. Ach, Louis Philipp war ein guter König. Frankreich wird niemals einen gleichen finden!

Roudier war jetzt wieder Orleanist. Dann fügte er mit der schlauen Heuchelei des ehemaligen Schlafmützenhändlers von der Saint-Honoré-Straße hinzu:

Aber, mein lieber Herr Granoux, glauben Sie nicht, daß das Ordensbändchen in Ihrem Knopfloche sich gut ausnehmen wird? Schließlich haben Sie die Stadt ebenso gut gerettet wie Rougon. Man hat gestern in einer Gesellschaft sehr vornehmer Personen nicht glauben wollen, daß Sie mit einem bloßen Hammer einen solchen Heidenlärm machen konnten.

Granoux stammelte Dankesworte und errötend wie eine Jungfrau bei ihrem ersten Liebesgeständnisse, neigte er sich zum Ohre Roudiers und flüsterte:

Sagen Sie niemandem etwas davon, aber ich habe Grund anzunehmen, daß Rougon den Orden für mich verlangen wird. Er ist ein guter Junge.

Der ehemalige Schlafmützenhändler ward sehr ernst und bewies fortan große Höflichkeit. Als Vuillet sich zu ihm gesellte, um mit ihm von der wohlverdienten Belohnung zu sprechen, die ihr Freund empfangen hatte, erwiderte er sehr laut, um von Felicité gehört zu werden, die wenige Schritte von ihm saß, daß Männer wie Rougon, »die Ehrenlegion ehrten«. Alle stimmten dem Buchhändler zu; man hatte ihm am Morgen die förmliche Versicherung gegeben, daß er die Kundschaft des Kollegs wiedererhalten werde, Was Sicardot betrifft, so empfand er erst einigen Ärger darüber, daß er künftig nicht mehr der einzige Dekorierte in der Schar sein werde. Er war der Meinung, daß die Soldaten allein auf das Band der Ehrenlegion Anspruch hätten. Die Tapferkeit Peters überraschte ihn. Doch gutmütig wie er im Grunde war, erwärmte er sich schließlich und rief, daß die Napoleons die Männer von Herz und Mut auszuzeichnen wüßten.

Rougon und Aristide wurden mit Begeisterung empfangen; alle Hände streckten sich ihnen entgegen. Man ging so weit, daß man sie küßte. Angela saß auf dem Sofa, an der Seite ihrer Mutter; sie war glücklich und betrachtete die Tafel mit den gierigen Augen einer starken Esserin, die niemals so viele Schüsseln beisammen gesehen. Aristide näherte sich, und Sicardot beglückwünschte ihn zu dem herrlichen Artikel im »Unabhängigen«. Er schenkte ihm seine Freundschaft wieder. Auf seine väterlichen Fragen erwiderte der junge Mann, es sei sein Wunsch, mit Kind und Kegel nach Paris zu gehen, wo sein Bruder Eugen ihn fördern werde; aber es fehlten ihm dazu fünfhundert Franken. Sicardot versprach ihm dieses Geld; er sah schon im Geiste seine Tochter am Hofe Napoleons III.

Inzwischen hatte Felicité ihrem Gatten einen Wink gegeben. Peter, von seinen Freunden stark umworben und teilnahmvoll wegen seiner Blässe befragt, konnte nur eine Minute loskommen, gerade so lange, um seiner Frau zuzuflüstern, daß er Pascal gefunden habe und daß Macquart noch diese Nacht die Stadt verlassen werde. Indem er noch mehr die Stimme dämpfte, erzählte er ihr von dem Irrsinn seiner Mutter. Dabei legte er den Finger an die Lippen, als wollte er sagen: Kein Wort davon, sonst könnte unser Festabend verdorben werden. Felicité spitzte die Lippen. Sie tauschten einen Blick, in dem sie den gemeinsamen Gedanken lesen konnten: Jetzt wird die Alte sie nicht mehr genieren; man wird die Hütte des Wilderers niederreißen, wie man die Mauern der Krautgärtnerei der Fouque niedergerissen hat, und sie werden künftig die Achtung und die Wertschätzung von Plassans genießen.

Die Gäste betrachteten inzwischen die Tafel. Felicité lud die Herren ein, Platz zu nehmen. Es war ein Augenblick freudigen Wohlbehagens. Als man sich anschickte, zu den Löffeln zu greifen, erhob sich Sicardot, erbat sich einen Augenblick Geduld und sprach in ernstem Tone:

Meine Herren! Ich möchte im Namen der Gesellschaft unserem Wirte sagen, wie glücklich wir sind ob der Belohnungen, welche sein Mut und seine Vaterlandsliebe ihm eingetragen haben. Ich erkenne, daß Rougon eine Eingebung des Himmels hatte, als er in Plassans blieb, während diese Halunken uns auf den Heerstraßen herumschleppten. Darum beglückwünsche ich die Regierung zu ihren Entschließungen ... Lassen Sie mich vollenden ... Sie werden unseren Freunden nachher Ihre guten Wünsche darbringen ... Erfahren Sie, daß unserem Freunde, der zum Ritter der Ehrenlegion ernannt wurde, außerdem noch eine Einnehmerstelle verliehen wurde.

Ein Ruf der Überraschung erklang. Man war nur auf die Verleihung eines kleinen, unbedeutenden Ämtchens gefaßt. Einige verzerrten das Gesicht zu einem Lächeln; doch der Anblick der Tafel ermutigte alle zu den herzlichsten Glückwünschen.

Sicardot erbat sich jetzt von neuem die Aufmerksamkeit der Gesellschaft. Warten Sie, meine Herren, ich bin noch nicht zu Ende ... Nur ein Wort noch ... Wir dürfen hoffen, unseren Freund unter uns zu behalten, nachdem Herr Peirotte mit dem Tode abgegangen.

Während die Gäste Rufe des Erstaunens und der Überraschung vernehmen ließen, fühlte Felicité einen Stich im Herzen. Siccardot hatte ihr den Tod des Einnehmers bereits mitgeteilt; allein, als dieses plötzlichen und furchtbaren Todesfalles zu Beginn dieser Festtafel Erwähnung geschah, fühlte sie gleichsam einen kalten Hauch über ihr Gesicht streichen. Sie erinnerte sich ihres Wunsches; sie hatte diesen Mann getötet. Und jetzt hielten die Gäste beim hellen Geräusche des silbernen Eßgerätes ihr Festmahl. In der Provinz ißt man viel und geräuschvoll. Schon bei den Zwischengerichten sprachen alle Herren zugleich; sie traten die Besiegten mit Füßen, warfen sich gegenseitig Schmeicheleien an den Kopf und machten abfällige Bemerkungen über die Abwesenheit des Marquis. Es sei unmöglich, mit den Adeligen zu verkehren. Roudier ließ schließlich durchblicken, der Marquis habe sich entschuldigen lassen, weil er aus Furcht vor den Aufständischen die Gelbsucht bekommen habe. Bei dem zweiten Gange gab es schon eine wahre Treibjagd. Die Ölhändler und die Mandelhändler retteten Frankreich. Man stieß auf den Ruhm der Familie Rougon an. Granoux war schon sehr rot und begann zu stammeln; Vuillet hingegen war sehr blaß, aber völlig berauscht. Sicardot aber schenkte fortwährend ein, während Angela, die schon zu viel gegessen hatte, sich ein Glas Zuckerwasser nach dem andern zubereitete. Die Freude darüber, gerettet zu sein, nicht mehr zittern zu müssen, sich in diesem gelben Salon wiederzufinden, an dieser reichbestellten Tafel, im hellen Lichte der zwei Armleuchter und des Kronleuchters, den man zum ersten Male ohne seine vom Fliegenschmutz übersäte Decke sah, ließ den Frohsinn und die Torheit dieser Herren alle Zügel schießen. Breit und voll klangen ihre Stimmen in der heißen Luft, bei jeder Schüssel neues Lob verkündend, sich in Komplimenten verlierend und so weit gehend – ein ehemaliger Lohgerber hatte das schöne Wort gefunden – daß das Diner mit einem »wahren Festmahl des Lucullus« verglichen wurde. Peter strahlte; sein breites, blasses Gesicht schwitzte ordentlich vor Triumph. Felicité, wieder mutiger geworden, sagte, sie wollten einstweilen, bis sie ein kleines Haus in der Neustadt erwerben würden, die Wohnung des armen Herrn Peirotte mieten und entwarf auch schon den Plan, wie sie ihre künftigen Möbel in der Wohnung des verstorbenen Einnehmers verteilen werde. Sie hielt ihren Einzug in ihre Tuilerien. In einem Augenblicke, da das Geräusch der Stimmen betäubend wurde, schien eine plötzliche Erinnerung sie zu packen; sie erhob sich und neigte sich zu Aristide mit der Frage:

Was ist's mit Silvère?

Überrascht von dieser Frage fuhr der junge Mann zusammen.

Er ist tot, erwiderte er mit leiser Stimme. Ich war anwesend, als der Gendarm ihn mit einem Pistolenschusse niederstreckte.

Jetzt erbebte Felicité. Sie öffnete den Mund, um ihren Sohn zu fragen, warum er diesen Mord nicht verhindert, die Freilassung des Knaben nicht gefordert habe. Aber sie sagte nichts; sie blieb stumm sitzen. Aristide, der ihre Frage an ihren bebenden Lippen abgelesen, murmelte:

Du wirst begreifen ... ich habe nichts gesagt ... Um so schlimmer für ihn! ... Wir sind ihn los; ich habe recht getan.

Dies rohe Aufrichtigkeit mißfiel Felicité. Aristide hatte jetzt auch seinen Toten, wie sein Vater und wie seine Mutter. Sicherlich würde er nicht mit solcher Offenheit gestanden haben, daß er in der Vorstadt herumgelungert und die Ermordung seines Vetters habe geschehen lassen, wenn nicht die Weine des Hotel de Provence und die Träume, die er auf seine baldige Ankunft in Paris baute, ihn seine gewohnte Verschlagenheit hätten vergessen lassen. Als er den Satz gesprochen hatte, wiegte er sich in seinem Sessel.

Peter, der aus der Ferne die Unterredung seiner Frau und seines Sohnes sah, begriff und wechselte mit ihnen einen Blick des Einverständnisses, in welchem er um Stillschweigen bat. Es war gleichsam ein letzter Hauch des Schreckens unter den Rougon inmitten der geräuschvollen Freude dieser Tafel. Als Felicité an ihren Platz zurückkehrte, sah sie auf der anderen Seite der Straße, hinter einer Fensterscheibe eine Wachskerze brennen; es war die Nachtwache an der Leiche des Herrn Peirotte, die man am Morgen von Sainte-Roure gebracht hatte. Sie setzte sich und hatte das Gefühl, als werde diese Kerze ihr den Rücken brennen. Doch neues Lachen erklang; der Nachtisch erschien und ward mit Ausrufen der Begeisterung begrüßt.

Zur nämlichen Stunde zitterte noch die ganze Vorstadt unter dem Eindrucke des blutigen Ereignisses im Saint-Mittre-Felde. Der Rückmarsch der Truppen nach dem Gemetzel in der Ebene von Nores ward durch grausame Akte der Rachevergeltung gekennzeichnet. Männer wurden hinter einer Mauer mit Kolbenschlägen niedergemacht, andere wurden in den Straßengräben von den Gendarmen erschossen. Um überall Schrecken zu verbreiten, streuten die Soldaten Leichen auf der Heerstraße aus. Man hätte ihnen auf den blutigen Spuren folgen können, die sie zurückließen. Es war ein langes Würgen. Bei jeder Rast wurden einige Aufständische ermordet, zwei in Sainte-Roure, drei in Orchères, einer in Béage. Als die Truppe in Plassans auf der Straße nach Nizza lagerte, wurde beschlossen, noch einen Gefangenen, den am meisten schuldigen, zu erschießen. Die Sieger fanden es für gut, dieses neue Opfer hinter sich zurückzulassen, um der Stadt Achtung vor dem neuen Kaiserreich einzuflößen. Aber die Soldaten waren des Mordens schon müde; keiner meldete sich zu dieser traurigen Verrichtung. Die Gefangenen, die man zwei und zwei an den Handgelenken zusammengebunden, auf die Balken des Zimmerplatzes wie auf ein Feldbett geworfen hatte, hörten mit ergebenem Stumpfsinn alles an und harrten ihres Schicksals.

In diesem Augenblicke drängte sich der Gendarm Rengade durch die Menge der Neugierigen. Kaum hatte er erfahren, daß die Truppe mit mehreren hundert Gefangenen zurückkehrte, als er vom Fieberfrost geschüttelt, in der bösen Dezemberkälte sein Leben aufs Spiel setzend, sich erhob. Draußen brach seine Wunde wieder auf; die Binde, die seine leere Augenhöhle verbarg, färbte sich mit Blut, das in dünnen Fäden auch auf seine Wangen und seinen Schnurrbart herunter rann. Greulich in seinem stummen Zorne und mit seinem bleichen Gesichte, das ein blutiges Linnen einhüllte, eilte er herbei, um jedem Gefangenen lange ins Gesicht zu schauen. So schritt er die Balkenhaufen ab, sich bückend, bald da, bald dort erscheinend und durch sein plötzliches Auftauchen selbst die Stumpfsinnigsten in Schrecken versetzend. Plötzlich rief er aus:

Ha, der Bandit! Ich habe ihn!

Er hatte Silvère bei der Schulter erfaßt. Der Knabe hockte auf einem Balken, mit leblosen Antlitz, mit sanftem, blödem Ausdruck ins Leere, in die fahle Abenddämmerung hinausstarrend. Seit dem Aufbruch von Sainte-Roure hatte er diesen leeren Blick. Auf dem ganzen Wege, während vieler Meilen und als die Soldaten den Marsch durch Kolbenstöße beschleunigten, hatte er sich folgsam wie ein Kind betragen. Mit Staub bedeckt, erschöpft von Durst und Müdigkeit, marschierte er wortlos dahin, wie eines jener gefügigen Tiere, die von der Peitsche der Kuhhirten getrieben, herdenweise dahintrotten. Er dachte an Miette. Er sah sie in die Fahne gehüllt, unter den Bäumen, mit offenen Augen da liegen. Seit drei Tagen sah er nur sie. Und zur Stunde, in den Schatten des zunehmenden Dunkels sah er nur immer noch sie.

Rengade wandte sich zu dem Offizier, der unter seiner Mannschaft die zum Erschießen notwendigen Leute nicht hatte finden können.

Dieser Halunke hat mir das Auge ausgestoßen, sagte er zu ihm und zeigte auf Silvère. Überlassen Sie mir ihn, und die Sache ist für Sie abgetan.

Ohne zu antworten ging der Offizier mit gleichgültiger Miene und mit einer unbestimmten Gebärde weiter. Der Gendarm begriff, daß man ihm den Mann überlasse.

Auf! Erhebe dich! sagte er, ihn schüttelnd.

Silvère hatte, gleich allen anderen Gefangenen, einen Genossen an der Fessel. Er war mit dem Arm an einen Bauer aus Poujols namens Mourgue gebunden, an einen Mann von etwa fünfzig Jahren, den die Sonnenhitze und die harte Feldarbeit vertiert hatten. Sein Rücken war schon gekrümmt, seine Hände steif, sein Gesicht gemein; er blinzelte mit den Augen und schaute blöde drein, mit dem eigensinnigen und argwöhnischen Ausdruck der geprügelten Tiere. Mit einer eisernen Gabel bewaffnet war er aufgebrochen, weil das ganze Dorf ging; aber er hätte nicht zu sagen vermocht, weshalb er sich auf den Heerstraßen herumtrieb. Seitdem man ihn zum Gefangenen gemacht, begriff er die Sache noch weniger; er vermutete, man bringe ihn nach Hause. Das Erstaunen darüber, sich gefesselt zu sehen, der Anblick der vielen Leute, die ihn betrachteten, machten ihn noch dümmer. Da er nur die Bauernsprache redete und verstand, konnte er nicht erraten, was der Gendarm wolle. Mühsam erhob er sein dickes Gesicht zu ihm, weil er meinte, daß man ihn um seinen Namen befragte, sagte er mit seiner rauhen Stimme:

Ich bin von Poujols.

Ein Gelächter ging durch die Menge; mehrere Stimmen riefen:

Macht den Bauer los!

Bah, erwiderte Rengade, je mehr man von diesem Gewürm zertritt, desto besser. Da sie beisammen sind, sollen sie auch beisammen abfahren.

Es entstand ein Murren in der Menge.

Der Gendarm mit seinem schrecklichen, blutbefleckten Gesicht wandte sich um und die Neugierigen wichen zurück. Ein säuberlich gekleideter Spießbürger ging weiter, indem er erklärte, er könne nicht zu Mittag essen, wenn er noch länger dableibe. Einige Gassenjungen, die Silvère erkannten, sprachen von dem roten Mädchen. Da kam der Spießbürger noch einmal zurück, um den Liebhaber der Fahnenträgerin besser zu sehen, dieser Kreatur, von welcher in dem Berichte der Zeitung die Rede gewesen.

Silvère sah nichts und hörte nicht; Rengade mußte ihn am Kragen fassen. Da erhob er sich und zwang so auch den Bauer Mourgue, sich zu erheben.

Kommt, sagte der Gendarm, wir wollen's kurz machen.

Jetzt erkannte Silvère den Einäugigen. Er lächelte; er schien zu begreifen. Dann wandte er den Kopf weg. Der Anblick des Einäugigen, seines Schnurrbartes, den das gestockte Blut zu einem unheimlichen, roten Klumpen machte, verursachte ihm tiefes Leid. Er hätte in seinem süßen Dahinbrüten, seinen Gedanken an Miette vergehen wollen. Er vermied es, dem einzigen Auge Rengades zu begegnen, das unter dem bleichen Linnen funkelte. Der junge Mensch wandte sich von selbst nach dem Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes zu dem schmalen Gange zwischen den Bretterhaufen. Mourgue folgte.

Wüst und trostlos dehnte das Feld unter dem bleichen Himmel sich aus, beleuchtet von einem grellen Widerschein der kupferroten Wolken. Niemals hatte dieses öde Feld, dieser Werkplatz, wo die Balken, wie von der Kälte erstarrt dalagen, einen so trostlosen Anblick langsamen, ergreifenden Dämmerns geboten. Die Gefangenen, die Soldaten, die Menge am Straßensaume: sie verschwanden im Dunkel der Bäume. Das Feld allein, die Eichenbohlen, die Bretterhaufen waren in dem ersterbenden Tageslichte, in verschwommenen Farben sichtbar; das Ganze sah aus wie ein ausgetrocknetes Flußbett. In einem Winkel standen die Sägeböcke beisammen wie Gerüste eines Schafotts. Nichts Lebendes war da als drei Zigeuner, die ihre erschreckten Köpfe aus ihren Karren hervorstreckten: ein Alter, eine Alte und ein großes Mädchen mit krausem Haar, dessen Augen funkelten wie Wolfsaugen.

Ehe Silvère den schmalen Weg erreichte, blickte er um sich. Er erinnerte sich eines fernen Sonntags, an dem er bei schönem Mondschein den Werkplatz durchschritten hatte. Wie lieblich war es in dem silberhellen Lichte, das die Bohlen entlang herniederfloß! Göttliche Stille senkte sich von dem winterlichen Himmel nieder. In dieser Stille sang die junge Zigeunerin mit dem krausen Haar mit leiser Stimme in einer unbekannten Sprache. Dann erinnerte sich Silvere, daß dieser ferne Sonntag vor acht Tagen gewesen. Acht Tage waren es her, daß er gekommen war, um Mietten Lebewohl zu sagen. Wie lange war das schon! Ihm war, als habe er seit Monaten keinen Fuß auf den Werkplatz gesetzt. Aber als er den schmalen Weg betrat, ward er schwach. Er erkannte den Duft der Gräser wieder, den Schatten der Bretterstöße, die Löcher in der Mauer. Eine Klagestimme schien aus allen diesen Gegenständen aufzusteigen; traurig und leer dehnte der Weg sich dahin; er schien ihm jetzt länger als sonst, er fühlte einen leisen Wind hinstreichen. Der ganze Winkel hatte furchtbar gealtert. Er fand die Mauer vom Moose zerfressen, den Rasenteppich vom Froste verdorrt, die Bretter vom Wasser verfault. Es war ein trostloser Anblick. Die fahle Dämmerung fiel wie ein feiner Morast auf die Erinnerungen an diesen ihm so teuren Ort. Er mußte die Augen schließen, und jetzt sah er den Weg wieder grün und die glücklichen Tage wieder, die er hier verlebt. Es war wieder warm, und er lief mit Miette im Freien herum. Dann kamen die endlosen Dezemberregengüsse; sie kamen aber dennoch hierher, verbargen sich unter den Bretterstößen und hörten aus ihrem Versteck entzückt den Regen rauschen. Wie im flammenden Lichte eines Blitzes zog sein Leben, zogen alle seine Freuden an ihm vorüber. Miette sprang über die Mauer und eilte herbei, von hellem Lachen geschüttelt. Sie war da; er sah im Schatten ihr weißes Antlitz und ihr reiches, schwarzes Haar. Sie erzählte ihm von den Elsternestern, die so schwer auszuheben sind, und zog ihn fort. Er vernahm aus der Ferne das sanfte Murmeln der Viorne, das Zirpen der Heimchen, den Wind, der durch die Pappeln der Klarawiese rauschte. Wie hatten sie sich da getummelt! Er erinnerte sich sehr wohl; sie hatte in vierzehn Tagen schwimmen gelernt; sie war ein wackeres Mädchen und hatte nur einen großen Fehler: sie stahl Obst, wenn sie im Freien herumstrichen. Aber er würde sie davon geheilt haben. Die Erinnerung an ihre ersten Liebkosungen führte ihn wieder auf den schmalen Weg zurück. Sie waren immer wieder zu diesem Versteck zurückgekehrt. Er glaubte den leisen Gesang der Zigeunerin zu hören, das Zuklappen der letzten Fensterläden, die dumpfen Schläge der Turmuhren. Dann kam der Augenblick des Scheidens; Miette stieg wieder auf die Mauer und sandte ihm Kußhändchen zu. Dann sah er sie nicht mehr; eine schreckliche Angst schnürte ihm die Kehle zu: er wird sie nie, nie wiedersehen.

Wie du willst, rief jetzt der Einäugige höhnisch; geh, suche dir dein Plätzchen aus.

Silvère tat noch einige Schritte. Er näherte sich jetzt dem Ende des Weges; er sah nur mehr einen schmalen Streifen des Himmels, an dem das rostfarbige Tageslicht langsam erstarb. Hier waren zwei Jahre seines Lebens verflossen. Das langsame Herankommen des Todes erfüllte ihn mit unaussprechlicher Seligkeit auf diesem Pfade, der so lange Zeit der Schauplatz seines Herzensglücks gewesen. Er verlangsamte seine Schritte und freute sich des Abschiedes von allem, was er liebte, von den Gräsern, von den Hölzern, von den Steinen der alten Mauer, von all den Dingen, denen Miette Leben verliehen hatte. Abermals verirrten sich seine Gedanken. Sie warteten, bis sie das Alter erreichten, um Mann und Frau zu werden. Tante Dide würde bei ihnen geblieben sein. Ach, wären sie doch geflohen, weit, weit, in ein fremdes Dorf, wo die Gassenjungen der armen Chantegreil nicht das Verbrechen ihres Vaters nachgerufen hätten! Welch glücklicher Friede wäre das gewesen! Er würde an einer Heerstraße eine Stellmacherei eröffnet haben. Er war bescheiden in seinem Arbeiterehrgeiz; er wollte keine prunkvollen Kutschen mit breiten gefirnisten Feldern machen, die da glänzten wie ein Spiegel. In seiner dumpfen Verzweiflung konnte er sich nicht erinnern, weshalb sein Glückstraum sich nicht verwirklichen durfte. Warum war er nicht mit Miette und Tante Dide fortgezogen? Und als er sein Erinnerungsvermögen besser anspannte, hörte er das scharfe Prasseln eines Gewehrfeuers und sah eine Fahne sinken: der Schaft war gebrochen, der Stoff fiel herab wie der Flügel eines zu Tode getroffenen Vogels. Mit Miette schlief die Republik, eingehüllt in einen Zipfel des roten Banners. Oh, Jammer! Beide waren tot! Sie hatten ein blutendes Loch in der Brust und das verleidete ihm nunmehr das Leben: die Leichen der beiden, die er geliebt! Er besaß nichts mehr, er konnte nun sterben. Das erfüllte seit Sainte-Roure ihn mit einer stumpfen, kindlichen Freude. Man hätte ihn prügeln können; er würde es nicht gefühlt haben. Er befand sich nicht mehr in seinem Körper; er war neben seinen vielgeliebten Toten geblieben unter den Bäumen, im scharfen Pulverrauch.

Doch der Einäugige ward ungeduldig; er stieß Mourgue vorwärts, der sich ziehen ließ, und schalt:

So geht doch, ich will nicht hier übernachten.

Silvère strauchelte. Er schaute zu seinen Füßen. Das Bruchstück eines Schädels bleichte im Grase. Er glaubte den engen Weg sich mit Stimmen füllen zu hören. Die Toten riefen ihn, die alten Toten, deren heißer Atem an den Juliabenden ihn so seltsam verwirrt hatte, ihn und seine Liebste. Er erkannte ihr leises Geflüster. Sie freuten sich und sagten ihm, er möge kommen; sie versprachen, ihm Miette wiederzugeben unter der Erde in einem noch besser verborgenen Winkel, als der am Ende des Weges gewesen. Der Leichenacker, der mit seinen scharfen Düften und seinem üppigen Wachstum dem Herzen der Kinder heiße Begierden zugeflüstert und das weiche Bett seiner wild wuchernden Gräser angeboten hatte, ohne sie einander in die Arme treiben zu können, träumte jetzt davon, Silvères Blut zu trinken. Seit zwei Sommern schon harrte er der jungen Gatten.

Soll's da sein? fragte der Einäugige.

Der junge Mensch blickte vor sich hin. Er war am Ende des Weges angekommen. Er bemerkte den Grabstein und fuhr zusammen. Miette hatte recht; dieser Stein war für sie. »Hier ruht ... Marie ... gestorben ...« Sie war in der Tat gestorben; der Stein war über sie gewälzt. Er wankte und mußte sich auf den eisigen Stein stützen. Wie warm war doch der Stein ehemals, als sie an einer Ecke beisammen sitzend, ganze lange Abende da verplauderten. Sie kam von der Mauer herab und hatte ein Stück des Steines damit abgewetzt, daß sie da den Fuß aufsetzte, um herabzusteigen. In diesem Eindruck ihres Fußes war etwas von ihr, von ihrem geschmeidigen Leibe zurückgeblieben. Und er dachte, daß alle diese Dinge vom Schicksal bestimmt seien, daß dieser Stein an diesem Orte liege, damit er hierher sterben komme, nachdem er hier geliebt.

Der Einäugige lud seine Pistolen.

Sterben, sterben: der Gedanke entzückte Silvère. Hierher also führte man ihn auf der langen, weißen Straße, die von Sainte-Roure bis Plassans herabsteigt. Hätte er dies gewußt, so hätte er sich mehr beeilt. Sterben auf diesem Steine, sterben am Ende dieses schmalen Weges, sterben in dieser Luft, wo er noch den Atem Miettens zu spüren glaubte: niemals würde er einen solchen Trost in seinem Leide erhofft haben. Der Himmel war gütig. Er harrte mit einem Lächeln auf den Lippen.

Inzwischen hatte der Bauer Mourgue die Pistolen gesehen. Bis hierher hatte er in blöder Weise sich schleppen lassen, doch jetzt erfaßte ihn die Furcht und er wiederholte immerfort in jammerndem Tone:

Ich bin von Poujols, ich bin von Poujols!

Er warf sich zur Erde und wälzte sich flehend zu den Füßen des Gendarmen ohne Zweifel in der Meinung, daß er für einen andern gehalten werde.

Was kümmert es mich, daß du von Poujols bist, brummte der Gendarm.

Da der Erbarmungswürdige, zitternd und weinend vor Entsetzen, nicht begreifend, weshalb er sterben solle, seine bebenden Hände vorstreckte, diese armseligen, unförmigen und rauhen Arbeiterhände, wobei er in seiner Bauernsprache sagte, daß er nichts getan habe und daß man ihm vergeben müsse, ward der Einäugige ungeduldig, weil er dem sich heftig Bewegenden die Mündung der Pistole nicht an die Schläfe setzen konnte.

Wirst du schweigen! rief er.

Wahnsinnig vor Angst und nicht sterben wollend begann Mourgue jetzt ein tierisches Geheul auszustoßen, wie ein Schwein, das geschlachtet wird.

Schweig, Halunke! wiederholte der Gendarm.

Und er zerschmetterte ihm den Schädel. Der Bauer stürzte als tote Masse hin; sein Leichnam fiel bei einem Bretterhaufen nieder und lag da zusammengesunken. Durch die Gewalt des Sturzes riß die Leine, die ihn an seinen Genossen gefesselt hatte. Silvère sank vor dem Grabstein in die Knie.

Rengades Verlangen nach Rache steigerte sich nach dem Tode Mourgues. Er spielte mit seiner zweiten Pistole, hob sie langsam, um sich an der Todesangst Silvères zu weiden. Doch dieser sah ihn ruhig an. Der Anblick des Einäugigen, dessen wild funkelndes Auge ihn verbrennen zu wollen schien, verursachte ihm ein Unbehagen. Er wandte den Kopf ab, weil er fürchtete, feige zu sterben, wenn er noch länger diesen vom Fieber geschüttelten Mann sehen würde mit seiner besudelten Binde und seinem blutstarrenden Schnurrbart. Doch als er die Augen erhob, erblickte er den Kopf Justins auf der Mauer, an der Stelle, wo Miette herabzusteigen pflegte.

Justin hatte sich am römischen Tore unter der Menge befunden, als der Gendarm die beiden Gefangenen wegführte. Er begann zu laufen, was er konnte und nahm seinen Weg durch den Jas-Meiffren, denn er wollte das Schauspiel der Hinrichtung nicht versäumen. Der Gedanke, daß von allen Taugenichtsen der Vorstadt er allein das Drama bequem, wie von einem Balkon herab mit ansehen könne, trieb ihn zu solcher Eile an, daß er zweimal fiel. Trotz seines tollen Laufes kam er zu dem ersten Pistolenschuß zu spät. Verzweifelt erklomm er den Maulbeerbaum. Als er Silvère noch am Leben sah, lächelte er. Die Soldaten hatten ihm erzählt, daß seine Base getötet worden sei; die Ermordung des Stellmachers machte seine Freude zu einer vollständigen. Er erwartete den Schuß mit jener Wollust, die er empfand, wenn er andere leiden sah, aber noch zehnfach gesteigert durch das Schreckliche der Szene, gemengt mit einer köstlichen Furcht.

Als Silvère den Kopf auf der Mauer erkannte, diesen schändlichen Kerl mit der bleichen, wonnegrinsenden Fratze und dem über die Stirne leicht gesträubten Haar, empfand er eine dumpfe Wut, ein Bedürfnis zu leben. Es war die letzte Aufwallung seines Blutes. Doch es währte nur eine Sekunde; er sank wieder auf die Knie und schaute vor sich hin. In der trübseligen Dämmerung schwebte ein letztes Bild an ihm vorüber: am Ende des Weges, am Eingange des Saint-Mittre-Feldes glaubte er Tante Dide zu sehen, die bleich und starr wie eine Heilige von Stein dastand und aus der Ferne seinen Todeskampf mit ansah.

In diesem Augenblicke fühlte er den kalten Lauf der Pistole an seiner Schläfe. Der bleiche Kopf Justins lachte. Silvère schloß die Augen; er hörte, wie die Toten ihn heftig riefen.

Er sah im Finstern nichts als Miette, die in die rote Fahne gehüllt, unter den Bäumen lag, und mit den offenen toten Augen in die Luft starrte. Dann schoß der Einäugige und es war aus; der Schädel des Knaben platzte, wie ein reifer Granatapfel; er fiel mit dem Antlitz auf den Steinblock, seine Lippen hefteten sich auf die von Miettens Füßen abgewetzte Stelle, auf jene noch warme Stelle, wo die Liebste seines Herzens gleichsam ein Stück ihres Leibes zurückgelassen hatte. – –

Bei den Rougon aber ging es in der schwülen Luft des Salons, bei den noch warmen Resten des Festmahles hoch her. Endlich genossen sie die Freuden der Reichen; nachdem sie dreißig Jahre lang ihre Begierden hatten niederhalten müssen, zeigten sie jetzt eine wilde Gier. Diese hungrigen, abgemagerten Raubtiere, denen erst gestern die Genüsse zugänglich gemacht worden, begrüßten mit lautem Jubel das erstehende Kaiserreich, die Herrschaft der wilden Treibjagd. Wie durch den Staatsstreich der Glücksstern der Bonaparte wieder aufgegangen, begründete er auch das Glück der Rougon.

Peter erhob sich, streckte seinen Gästen sein Glas entgegen und rief:

Ich trinke auf das Heil des Prinzen Ludwig, des Kaisers.

Die Herren, die ihren Neid in dem Schaumwein ertränkt hatten, erhoben sich sämtlich und stießen unter betäubendem Jubelgeschrei mit ihren Gläsern an. Es war ein schönes Schauspiel. Die Bürger von Plassans, Roudier, Granoux, Vuillet und die anderen weinten und umarmten sich über dem noch warmen Leichnam der Republik. Sicardot aber hatte einen glänzenden Gedanken. Er nahm aus dem Haar Felicités eine Schleife von rosa Satin, mit welcher die Hausfrau sich für den Festabend geschmückt hatte, schnitt mit einem Dessertmesser ein Stückchen davon ab und steckte es feierlich in das Knopfloch Rougons. Dieser spielte den Bescheidenen, wehrte ab und murmelte mit strahlender Miene:

Nein, ich bitte Sie, das ist zu viel. Man muß warten,. bis der Erlaß erschienen ist.

Sacrebleu, rief Sicardot, ob Sie es wohl behalten wollen; ein alter Soldat Napoleons dekoriert Sie!

Der ganze gelbe Salon klatschte Beifall. Felicité schwamm in Glückseligkeit. Der sonst so schweigsame Granoux bestieg in seiner Begeisterung einen Sessel, winkte heftig mit seiner Serviette und hielt eine Rede, die in dem allgemeinen Getümmel unterging. Der gelbe Salon triumphierte, raste.

Doch das Bändchen von rosa Satin im Knopfloche Peters war nicht der einzige rote Fleck in dem Triumphe der Rougon. Unter dem Bette des anstoßenden Zimmers vergessen, lag noch ein Schuh mit blutbeflecktem Absatz. Die Kerze an der Leiche des Herrn Peirotte auf der anderen Seite der Straße schimmerte blutigrot durch das Dunkel der Nacht wie eine offene Wunde. Und in der Ferne, im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes, auf dem Grabstein, stockte eine große Blutlache.

 

Ende


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