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Sechstes Kapitel.

Gegen fünf Uhr morgens wagte Rougon endlich das Haus seiner Mutter zu verlassen. Die Alte war auf einem Sessel eingeschlafen. Vorsichtig wagte er sich bis zum Ende des Saint-Mittre-Gäßchens. Kein Laut, kein Schatten. Er drang bis zum römischen Tore vor. Hinter den weit offenen Torflügeln lag die schlafende Stadt im Dunkel da. Plassans schlief fest, ohne zu ahnen, welche Unvorsichtigkeit es beging, indem es die Stadttore offen ließ. Man hätte glauben mögen, eine tote Stadt vor sich zu haben. Rougon faßte allmählich Mut und betrat die Nizzaer Straße. Schon aus der Ferne spähte er nach jeder Gassenecke und er zitterte bei jeder Türhöhlung, weil er glaubte, daß eine Bande Aufständischer hervorbrechen und ihm an den Hals springen könne. Indes erreichte er unbehelligt die Promenade Sauvaire. Entschieden waren die Aufständischen im Dunkel zerstoben wie ein böser Traum.

Da hielt Peter einen Augenblick auf dem verlassenen Bürgersteige still. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung und des Triumphes aus. Diese Halunken von Republikanern überließen ihm Plassans. Zu dieser Stunde gehörte die Stadt ihm; sie schlief in ihrer Einfalt; dunkel und friedlich, stumm und vertrauensvoll lag sie da; er brauchte nur die Hand nach ihr auszustrecken. Dieser kurze Halt, dieser Blick eines überlegenen Mannes, auf den Schlaf einer ganzen Unterpräfektur geworfen, verursachte ihm eine unsagbare Wonne. Er stand da mit gekreuzten Armen, in der Einsamkeit der Nacht, die Pose eines Anführers am Vorabend einer siegreichen Schlacht annehmend. In der Ferne vernahm er nichts als das Plätschern der Springbrunnen auf dem Platze, die ihr Wasser in dünnen Fäden in das Becken fallen ließen.

Dann stieg ein Gefühl der Angst in ihm auf. Wenn man unglücklicherweise das Kaiserreich ohne ihn errichtet hätte! Wenn die Sicardot, die Garconnet, die Peirotte, anstatt verhaftet und von der Bande der Aufständischen fortgeführt zu werden, die letzteren in die Kerker der Stadt geworfen hätten! Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirne; er setzte seinen Weg fort in der Hoffnung, daß Felicité ihm genaue Nachrichten geben werde. Er ging jetzt rascher immer die Häuser der Banne-Straße entlang, als ein seltsames Schauspiel, das er den Kopf erhebend erblickte, ihn plötzlich fesselte. Ein Fenster des gelben Salons war hell beleuchtet, und eine schwarze Gestalt, die er als seine Frau erkannte, beugte sich hinaus und fuchtelte verzweifelt mit den Armen. Er war erschreckt und begriff nichts von der Sache; da fiel ein harter Gegenstand zu seinen Füßen nieder. Felicité warf ihm den Schlüssel des Schuppens hinab, wo er die Gewehre versteckt hatte. Der Schlüssel bedeutete klar, daß er die Waffen holen solle. Er machte denn auch sogleich kehrt, obgleich er nicht begreifen konnte, weshalb seine Frau ihn verhindert hatte, hinaufzugehen. Er bildete sich furchtbare Dinge ein.

Geradenwegs ging er zu Roudier, den er auf und marschbereit fand, aber in völliger Unkenntnis der Geschehnisse der Nacht. Roudier wohnte am Ende der Neustadt mitten in einer Einöde, wohin das Geräusch der durchziehenden Aufständischen nicht gedrungen war. Peter machte ihm den Vorschlag, Granoux aufzusuchen, dessen Haus an der Ecke des Recolletsplatzes lag und vor dessen Hause die Aufständischen hatten vorbeikommen müssen. Die Magd des Gemeinderates unterhandelte lange, ehe sie die beiden einließ, und sie hörten, wie der arme Mann mit zitternder Stimme vom ersten Stock herabrief:

Öffnen Sie nicht, Katharina! Die Straßen sind noch voll von Räubern.

Er war in seinem Schlafzimmer ohne Licht. Als er seine zwei Freunde erblickte, fühlte er sich erleichtert; aber er wollte nicht, daß die Magd eine Lampe bringe, weil er fürchtete, die Helle könne ihm eine Kugel zuziehen. Er schien zu glauben, die Stadt sei noch voll von Aufständischen. In einem Sessel am Fenster zurückgelehnt, in Unterhosen und den Kopf in ein Seidentuch gehüllt, saß er da und ächzte:

Ach, meine Freunde, wenn ihr wüßtet! Ich versuchte zu schlafen, aber sie machten einen Lärm! Da warf ich mich in einen Lehnsessel. Ich habe alles gesehen, alles. Greuliche Fratzen! Eine Bande von entsprungenen Zuchthäuslern! Sie kamen noch einmal vorbei und schleppten den tapfern Major Sicardot, den würdigen Herrn Garçonnet, den Postdirektor und noch andere Herren mit und stießen ein wahres Kannibalengeheul aus.

Rougon war innerlich hoch erfreut. Er ließ sich von Granoux noch einmal erzählen, daß dieser den Bürgermeister und die anderen wirklich in der Mitte des Gesindels gesehen hatte.

Wenn ich Ihnen sage! ächzte der gute Alte; ich stand hinter dem Fenstervorhang und sah alles. Auch Herrn Peirotte haben sie verhaftet. Ich hörte ihn sagen: Tun Sie mir nichts zuleide, meine Herren! Sie haben ihn sicherlich zu Tode gefoltert. 0, es ist eine Schmach!

Roudier beschwichtigte Granoux, indem er ihm versicherte, die Stadt sei frei. Der würdige Mann nahm denn auch sogleich eine kriegerische Haltung an, als Peter ihm sagte, er wolle ihn holen kommen, damit sie Plassans retteten. Die drei Retter berieten sich. Sie beschlossen, daß jeder von ihnen seine Freunde wecken und nach dem Schuppen, dem geheimen Arsenal der Reaktion, bestellen werde. Rougon dachte immer an die heftigen Armbewegungen Felicitès und witterte irgendwo Gefahr. Granoux, sicherlich der dümmste von den dreien, war der erste, der fand, daß Republikaner in der Stadt geblieben sein müßten. Das war ein Lichtblick; in einem untrüglichen Vorgefühl sagte sich Rougon:

Da muß Macquart die Hand im Spiele haben.

Nach Verlauf einer Stunde fanden sie sich im Schuppen wieder, der im Hintergrunde eines abseits gelegenen Stadtviertels lag. Vorsichtig waren sie von Tür zu Tür geschlichen, hatten die Hausglocken und Türhämmer leise gehandhabt und so viel Männer wie möglich zusammengerufen. Aber sie hatten ihrer kaum vierzig gewonnen, die nach und nach kamen, im Schatten dahinhuschend, ohne Krawatte, mit ihren bleichen und verschlafenen Spießbürgergesichtern. Der Schuppen, den man von einem Faßbinder gemietet hatte, war voll bodenloser Fässer und alter eiserner Reifen. In der Mitte lagen die Gewehre in drei langen Kisten. Eine Kellerlaterne beleuchtete diese seltsame Szene mit ihrem Flackerscheine. Als Rougon die Deckel von den drei Kisten abhob, bot sich ein Schauspiel von düsterer Drolligkeit. Über den Gewehren, deren Läufe bläulich und gleichsam phosphoreszierend schimmerten, reckten sich die Hälse und neigten sich die Köpfe mit einer Art geheimer Furcht, während das flackernde Licht der Laterne die Schatten ungeheurer Nasen und riesiger Büschel starren Haares auf die Wände zeichnete.

Indes begann die reaktionäre Schar ihre Mannen abzuzählen; angesichts der geringen Anzahl zögerte sie. Es waren ihrer neununddreißig; das hieß in den sicheren Tod gehen. Ein Familienvater sprach von seinen Kindern; andere wandten sich zur Türe, ohne auch nur einen Vorwand anzuführen. Mittlerweile kamen noch zwei Verschworene; diese wohnten auf dem Rathausplatze und wußten, daß in dem Rathause kaum zwanzig Republikaner zurückgeblieben seien. Man beriet von neuem. Einundvierzig gegen zwanzig schien eine mögliche Ziffer. Unter einem leichten Frösteln wurden die Waffen verteilt. Rougon nahm sie aus den Kisten und beim Empfang seines Gewehres, dessen Lauf ia dieser Dezembernacht eisig kalt war, fühlte jeder eine große Kälte bis in sein Innerstes ihn durchdringen. Die Schatten an den Wänden nahmen die seltsamen Gestalten von linkischen Rekruten an, die alle zehn Finger ausspreizen. Pierre schloß die Kisten mit Bedauern wieder zu; es blieben hundertneunundzwanzig Gewehre zurück, die er gar so gerne verteilt hätte. Dann ging er an das Verteilen des Schießbedarfes. Im Hintergrunde des Schuppens standen zwei bis an den Rand gefüllte Fässer voll Patronen; das war genug, um Plassans gegen eine Armee zu verteidigen. Da dieser Winkel nicht beleuchtet war und einer der Herren sich mit der Laterne näherte, erboste sich ein anderer Verschworener – ein dicker Fleischermeister mit riesigen Fäusten – und meinte, es sei sehr unvorsichtig, dermaßen mit dem Lichte nahe zu kommen. Die anderen stimmten ihm lebhaft zu. Die Patronen wurden dann in voller Finsternis verteilt. Sie füllten sich damit die Taschen zum Platzen. Als sie fertig waren und ihre Waffen mit unendlicher Vorsicht geladen hatten, standen sie einen Augenblick unschlüssig da, sahen sich gegenseitig argwöhnisch an und tauschten Blicke aus, in denen feige Grausamkeit sich mit Dummheit mengte.

In den Straßen schlichen sie längs der Häuser hin, stumm, in einer langen Reihe, wie die Wilden, die in den Krieg ziehen. Rougon hatte sich die Ehre ausgebeten, an der Spitze zu marschieren; die Stunde war gekommen, wo er seine Person einsetzen mußte, wenn er einen Erfolg seiner Pläne sehen wollte. Trotz der herrschenden Kälte stand ihm der Schweiß auf der Stirne; aber er bewahrte eine sehr kriegerische Haltung. Unmittelbar hinter ihm kamen Roudier und Granoux. Zweimal hielt die Kolonne plötzlich inne; sie hatte das Geräusch eines Treffens aus der Ferne zu vernehmen geglaubt; es waren aber nur die Messingteller der Barbiere, die im Morgenwinde tanzten. Nach jedem Halt nahmen die Retter von Plassans ihren vorsichtigen Marsch durch die Finsternis wieder auf, immer ihre Haltung wilder Helden beibehaltend. So langten sie auf dem Rathausplatze an. Hier stellten sie sich um Rougon und hielten wieder einmal großen Kriegsrat. Ihnen gegenüber, an der schwarzen Stirnwand des Rathauses war ein einziges Fenster erhellt. Es war nahezu sieben Uhr; der Tag mußte bald anbrechen.

Nach einer Besprechung von zehn Minuten wurde beschlossen, bis zum Tore vorzudringen, um zu sehen, was dieses Dunkel, dieses beunruhigende Schweigen zu bedeuten habe. Das Tor war nur angelehnt. Einer der Verschworenen steckte den Kopf hindurch und zog ihn gleich wieder zurück, indem er meldete, daß unter der Torwölbung ein Mann sei, der mit der Flinte zwischen den Beinen an die Wand gelehnt sitze und schlafe. Als Rougon sah, daß es hier etwas zu erforschen gebe, trat er zuerst ein, bemächtigte sich des Mannes und hielt ihn fest, während Roudier ihn knebelte. Dieser erste Erfolg – in aller Stille errungen – ermutigte seltsam die kleine Truppe, die von einer mörderischen Schießerei geträumt hatte. Rougon mußte gebieterisch abwinken, damit die Freude seiner Soldaten sich nicht gar zu geräuschvoll offenbare.

Auf den Fußspitzen schleichend, drangen sie weiter vor. Sie sahen in der links gelegenen Polizeiwachtstube etwa fünfzehn Männer, die auf einem Feldbette lagen und bei dem verlöschenden Lichte einer an der Wand hängenden Laterne schnarchten. Rougon, der entschieden ein großer General wurde, ließ die Hälfte seiner Leute vor dem Polizeiposten zurück mit der Weisung, die Schläfer nicht zu wecken, aber in Schach zu halten und gefangen zu nehmen, wenn sie sich rühren sollten. Was ihn beunruhigte, war das erleuchtete Fenster, das sie vom Rathausplatze gesehen hatte; er witterte noch immer, daß Macquart mit bei der Geschichte sei, und da er begriff, daß man sich vor allem derer bemächtigen müsse, die oben wachten, zog er es vor, sie zu überrumpeln, ehe das Geräusch des Kampfes zu ihnen drang und sie sich verbarrikadierten. Er stieg sachte die Treppe hinan, gefolgt von den zwanzig Helden, über die er noch verfügte. Roudier befehligte die im Hofe zurückgebliebene Abteilung. In der Tat machte sich Macquart oben, im Arbeitszimmer des Bürgermeisters breit, in dessen Sessel sitzend, die Ellbogen auf dessen Schreibpult gestemmt. Nach dem Abzug der Aufständischen hatte er mit der Vertrauensseligkeit eines Einfaltspinsels, völlig in seiner fixen Idee und in seinem Liebestraum sich wiegend, sich gesagt, daß er der Herr von Plassans sei und daß er daselbst als Sieger auftreten wolle. In seinen Augen war diese Bande von dreitausend Mann, die soeben durch die Stadt gezogen war, eine unbesiegbare Armee, die genügen würde, diese Spießbürger untertänig und seinen Befehlen gefügig zu machen. Die Aufständischen hatten die Gendarmen in ihrer Kaserne eingesperrt; die Nationalgarde war in voller Auflösung, das adelige Viertel mußte vor Angst zittern, die Rentiers der Neustadt hatten gewiß in ihrem ganzen Leben kein Gewehr berührt. Es fehlte übrigens an Waffen, wie es an Soldaten fehlte. Er gebrauchte nicht einmal die Vorsicht, die Tore schließen zu lassen und während seine Leute das Zutrauen so weit trieben, daß sie sich schlafen legten, erwartete er selbst ruhig den Anbruch des Tages, der – wie er glaubte – alle Republikaner der Gegend sich um ihn scharen sehen sollte.

Schon dachte er an große, revolutionäre Maßregeln: es sollte eine Gemeindevertretung gewählt werden, deren Oberhaupt er sein würde; die schlechten Patrioten und besonders die Leute, die ihm mißfielen, sollten eingekerkert werden. Der Gedanke, das die Rougons besiegt seien, der gelbe Salon verödet sei, die ganze Gesellschaft Gnade von ihm erflehen werde, erfüllte ihn mit süßer Freude. Inzwischen wollte er einen Aufruf an die Bewohner von Plassans richten. Ihrer vier machten sich daran, das Schriftstück abzufassen. Als sie damit fertig waren, nahm Macquart in dem Sessel des Bürgermeisters eine würdige Haltung an und ließ sich das Plakat vorlesen, ehe er es in die Buchdruckerei des »Unabhängigen« schicke, auf deren Bürgersinn er rechnete. Einer der Verfasser des Plakats begann mit Begeisterung zu lesen: Bewohner von Plassans! die Stunde der Unabhängigkeit hat geschlagen. Die Herrschaft der Gerechtigkeit ist gekommen ...

Da ward draußen ein Geräusch vernehmbar und die Türe ging langsam auf.

Bist du es, Cassoute? fragte Macquart und unterbrach das Lesen.

Keine Antwort. Die Türe wurde noch weiter geöffnet.

So komm doch herein! rief Macquart Ist mein Bruder, der Räuber, zu Hause?

Da wurden plötzlich beide Flügel der Türe heftig aufgestoßen und eine Schar bewaffneter Männer, in ihrer Mitte Rougon, zornesrot mit aus den Höhlen tretenden Augen, drang in das Zimmer, und diese Männer schwangen ihre Flinten wie Stöcke. Ha, die Hundsfötter haben Waffen! heulte Macquart.

Er wollte ein paar Pistolen ergreifen, die auf dem Schreibpulte lagen; allein schon hatten fünf Männer ihn an der Gurgel gefaßt, daß er sich nicht rühren konnte. Die vier Verfasser des Aufrufes wehrten sich einen Augenblick. Es begann ein Drängen, Stoßen, Stampfen; einzelne fielen mit dumpfem Geräusch zu Boden. Die Kämpfenden waren seltsam behindert durch ihre Flinten, die ihnen zu nichts nütze waren und die sie dennoch nicht lassen wollten. Im Drange des Gefechtes ging die Flinte Rougons, die ein Aufständischer ihm entreißen wollte, von selbst los mit einem schrecklichen Knall, das Zimmer mit Rauch füllend. Die Kugel zerschmetterte einen Spiegel, der vom Kamin bis an die Decke reichte und für einen der schönsten Spiegel der Stadt galt. Dieser Schuß, den sich niemand erklären konnte, verblüffte alle und machte dem Kampfe ein Ende.

Während die Herren sich verschnauften, hörte man im Hofe drei Schüsse. Granoux eilte zu einem der Fenster des Zimmers. Die Gesichter wurden länger, und alle harrten ängstlich, was da kommen werde, wenig entzückt von der Aussicht, den Kampf mit den Polizeileuten aufnehmen zu müssen, die sie in ihrem Siegesrausche vergessen hatten. Doch Roudier rief ihnen hinauf, daß alles gut gehe. Tatsache war, daß der Schuß aus der Flinte Rougons die Schläfer geweckt hatte; sie hatten sich ergeben, da sie sahen, daß jeder Widerstand unmöglich sei. Nur hatten in der blinden Hast und weil sie die Sache los haben wollten, drei Leute Roudiers ihre Flinten in die Luft abgeschossen, gleichsam als Antwort auf den Schuß von oben, wenngleich sie nicht recht wußten, was sie taten. Es gibt eben Augenblicke, wo die Flinten in den Händen der Feiglinge von selbst losgehen.

Mittlerweile ließ Rougon mittels der Schnüre der grünen Vorhänge des Zimmers Macquart fesseln. Dieser hätte weinen mögen vor Wut, tat aber sehr keck und zuversichtlich.

Nur zu, schon recht! sagte er. Heute abend oder morgen, wenn die anderen wiederkommen, werden wir unsere Rechnung begleichen.

Bei dieser Anspielung auf die Bande der Aufständischen überlief die Sieger eine Gänsehaut. Im besonderen fühlte Rougon, daß sich ihm die Kehle zusammenschnürte. Sein Bruder, der wütend darüber war, wie ein Kind überrumpelt zu werden von diesen schreckensbleichen Spießbürgern, die er, der ehemalige Soldat, als verächtliche Hasenfüße behandelte – sein Bruder also betrachtete ihn mit von Trotz und Haß leuchtenden Augen.

Oh, ich weiß schöne Geschichten, fuhr er fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Schickt mich nur auf die Anklagebank; da will ich den Richtern lustige Dinge erzählen.

Rougon wurde bleich. Er hatte eine höllische Angst, daß Macquart reden und ihn um die Achtung der Herren bringen könne, die ihm soeben Plassans hatten retten helfen. Diese hatten sich übrigens, völlig verblüfft von der dramatischen Begegnung der beiden Brüder, in einen Winkel des Kabinetts zurückgezogen, als sie sahen, daß eine stürmische Auseinandersetzung stattfinden werde. Rougon faßte einen heldenmütigen Entschluß. Er näherte sich der Gruppe und sagte in einem ruhigen Tone:

Wir werden den Mann hier behalten. Wenn er über seine Lage nachgedacht hat, kann er uns nützliche Aufschlüsse geben.

Dann fügte er in einem noch würdigeren Tone hinzu:

Ich werde meine Pflicht erfüllen, meine Herren. Ich habe geschworen, die Stadt vor Mord und Brand zu retten, und ich werde sie retten, selbst wenn ich der Henker meines nächsten Anverwandten werden müßte.

Man glaubte einen alten Römer zu hören, der seine Familie auf dem Altar des Vaterlandes opfert. Granoux war sehr gerührt und drückte ihm die Hand mit einer trübseligen Miene, die besagen wollte: »Ich begreife Sie; Sie sind erhaben.« Er erwies ihm dann den Dienst, alle wegzuführen, unter dem Vorwande, daß er die vier Gefangenen, die man hier überwältigt, in den Hof führen müsse.

Als Peter mit seinem Bruder allein war, fühlte er seinen ganzen Mut wiederkehren.

Ihr habt mich nicht erwartet, wie? sagte er. Ich verstehe Euch jetzt. Ihr scheint in meiner Wohnung eine Falle gestellt zu haben. Unglücklicher! Ihr seht jetzt, wohin Euere Laster und Euere Streiche Euch führen.

Macquart zuckte mit den Achseln.

Laßt mich in Ruhe. Ihr seid ein alter Schuft, erwiderte er. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Rougon, der noch keinen bestimmten Plan mit ihm hatte, stieß ihn in ein Ankleidezimmer, in dem Herr Garçonnet manchmal ausruhte. Dieses Kabinett, das von obenher das Licht empfing, hatte keinen andern Ausgang, als die Türe, die nach dem Arbeitszimmer des Bürgermeisters führte. Es war mit einigen Lehnsesseln, einem Diwan und einem Waschtische von Marmor möbliert. Peter verschloß die Türe sorgfältig, nachdem er die Fessel seines Bruders gelockert hatte. Er hörte diesen letzteren sich auf den Diwan werfen und mit einer fürchterlichen Stimme das »Ca ira!« anheben, mit dem er sich gleichsam in den Schlaf lullen wollte.

Als er endlich allein war, ließ sich Rougon in den Sessel des Bürgermeisters nieder. Er stieß einen Seufzer aus und trocknete sich die Stirne. Wie schwer war es doch, Reichtum und Ehren zu erwerben! Endlich war er am Ziel: endlich saß er im weichen Lehnsessel; endlich konnte er mit einer unbewußten Handbewegung das Schreibpult von Acajouholz streicheln, das er weich und zart fand, wie die Haut einer schönen Frau. Er richtete sich noch stolzer auf und nahm jene würdige Haltung an, die Macquart einen Augenblick früher bei der Lesung der Proklamation angenommen hatte. Die Stille im Zimmer schien ihm einen feierlichen Ernst anzunehmen, der seine Seele mit göttlicher Wonne erfüllte. Selbst der Geruch des Staubes und der alten Papiere, die in den Winkeln herumlagen, stieg ihm wie Weihrauch in die weit offenen Nüstern. Dieses Zimmer mit den verblaßten Tapeten, das nach den kleinlichen, erbärmlichen Geschäften und Sorgen einer Stadt dritten Ranges roch, war für ihn ein Tempel, dessen Gott er wurde. Ihm war, als sei er in ein Heiligtum getreten. Er, der im Grunde die Priester nicht liebte, erinnerte sich der tiefen Rührung, die ihn ergriff, als er bei seiner ersten Kommunion den Leib des Heilands zu genießen glaubte.

Aber in seiner Wonne störte ihn ein nervöses Zucken, so oft er die Stimme Macquarts hörte. In heftigen Ausbrüchen drangen die Worte: Aristokrat, Laterne, Hängen durch die Türe und durchschnitten in unliebsamer Weise seinen Siegestraum. Immer dieser Mensch! Und sein Traum, der ihm Plassans zu seinen Füßen zeigte, schloß mit dem plötzlichen Bilde des Gerichtshofes, der Richter, der Geschworenen und des Publikums, die den schmachvollen Enthüllungen Macquarts lauschen, der Geschichte von den fünfzigtausend Franken und den anderen Geschichten; oder: während er in dem weichen Lehnsessel des Bürgermeisters ruhte, sah er sich plötzlich an einer Laterne der Banne-Straße hängen. Wer wird ihn von diesem Elenden befreien? Endlich schlief Antoine ein. Peter hatte zehn Minuten ungetrübten Entzückens.

Roudier und Granoux kamen und rüttelten ihn aus seinem süßen Brüten auf. Sie kamen aus dem Gefängnisse, wohin sie die Aufständischen geführt hatten. Der Tag brach an, die Stadt mußte bald erwachen, es galt einen Entschluß zu fassen. Roudier erklärte, es wäre vor allem gut, einen Aufruf an die Bevölkerung zu richten. Peter las eben das Schriftstück, das die Aufständischen auf einem Tische zurückgelassen hatten.

Aber das paßt uns ja vollkommen! rief er. Wir haben nur einige Worte zu ändern.

In der Tat genügte eine Viertelstunde, nach deren Verlauf Granoux mit bewegter Stimme lesen konnte:

Bewohner von Plassans! Die Stunde des Widerstandes hat geschlagen! Die Herrschaft der Ordnung ist wiedergekehrt ...

Es wurde beschlossen, den Aufruf in der Buchdruckerei der Zeitung drucken und dann an allen Straßenecken der Stadt anschlagen zu lassen.

Und jetzt hören Sie mich an! sagte Rougon. Wir verfügen uns zu mir. Inzwischen versammelt Herr Granoux die Mitglieder des Gemeinderates, die nicht verhaftet wurden, hier und teilt ihnen die schrecklichen Ereignisse dieser Nacht mit.

Dann fügte er majestätisch hinzu:

Ich bin völlig bereit, die Verantwortlichkeit für meine Handlungen zu übernehmen. Wenn das, was ich schon getan habe, als ein genügendes Unterpfand meiner Liebe zur Ordnung erachtet wird, dann bin ich bereit, mich an die Spitze einer Gemeindevertretung zu stellen, bis die gesetzmäßigen Behörden wieder ins Amt gesetzt sind. Um aber nicht ehrgeizigen Strebens geziehen zu werden, kehre ich nach dem Rathause nur zurück, wenn meine Mitbürger mich dahin berufen.

Granoux und Roudier beteuerten, Plassans werde sich nicht undankbar erweisen. Denn schließlich habe ihr Freund die Stadt gerettet. Und sie erinnerten ihn an alles, was er für die Sache der Ordnung getan hatte: an den gelben Salon, der allen Freunden der herrschenden Gewalt stets offen stand; an die Verkündung der guten Sache in den drei Quartieren; an das Bereithalten von Waffen, das sein Gedanke gewesen; und besonders an diese merkwürdige Nacht, an diese Nacht der Vorsicht und des Heldenmutes, in der er sich für immerwährende Zeiten mit Ruhm bedeckt hatte. Granoux fügte hinzu, er sei im vorhinein der Bewunderung und des Dankes der Herren Gemeinderäte sicher. Er schloß mit den Worten:

Rühren Sie sich nicht aus dem Hause; ich komme und führe Sie im Triumphe zurück.

Roudier sagte seinerseits, er begreife vollkommen den Takt und die Bescheidenheit ihres Freundes und stimme ihm zu. Niemand denke daran, ihn ehrgeizigen Strebens zu zeihen; man begreife vielmehr das Zartgefühl, mit dem er nichts sein wolle, ohne die Zustimmung seiner Mitbürger. Das sei sehr würdig, sehr edel, ganz und gar erhaben.

Unter diesem Platzregen von Lobsprüchen neigte Rougon demütig das Haupt. Nein, nein, Sie gehen zu weit, sagte er mit dem Behagen eines Menschen, der wollüstig gekitzelt wird. Jeder Satz des ehemaligen Schlafmützenfabrikanten und des Mandelhändlers im Ruhestande, die rechts und links neben ihm saßen, wehte ihm sanft über das Antlitz; zurückgelehnt in dem Lehnsessel des Bürgermeisters, durchdrungen von dem Geruch der Stadtverwaltung, der dieses Zimmer erfüllte, grüßte er rechts und links mit der Haltung eines Thronbewerbers, der sich anschickt, durch einen Staatsstreich sich der Herrschaft zu bemächtigen.

Als sie sich genug beräuchert hatten, gingen sie hinab. Granoux machte sich auf, um den Gemeinderat zusammenzurufen. Roudier sagte Rougon, er möge vorausgehen; er werde ihm in seine Wohnung folgen, doch wolle er vorher die nötigen Weisungen zur Bewachung des Rathauses geben. Es wurde immer heller. Peter erreichte die Banne-Straße, wobei er in den noch leeren Straßen militärisch stramm auftrat. Trotz der empfindlichen Kälte hielt er den Hut in der Hand; die Regungen des Stolzes drängten ihm alles Blut ins Gesicht.

Am Fuße der Treppe traf er Cassoute. Der Erdarbeiter hatte sich nicht von der Stelle gerührt, da er niemanden hatte zurückkommen sehen. Er saß da auf der untersten Stufe, den dicken Kopf in den Händen haltend und starr vor sich hinschauend, mit dem stieren Blick und der stummen Beharrlichkeit eines treuen Hundes.

Sie haben mich erwartet, nicht wahr? fragte ihn Peter, der alles begriff, als er ihn sah. Gut, sagen Sie Herrn Macquart, daß ich zurückgekehrt bin. Fragen Sie auf dem Rathause nach ihm.

Cassoute erhob sich und ging mit einem linkischen Gruße. Wie ein Lamm zur Schlachtbank, ging er seiner Verhaftung entgegen zum großen Vergnügen Peters, der still für sich hin lachte, während er die Treppe hinaufging, überrascht von sich selbst und sich im stillen sagend:

Ich habe Mut; habe ich auch Geist?

Felicitè war nicht zu Bett gegangen. Er fand sie in ihrem Sonntagsstaate, mit ihrer Haube mit zitronengelben Bändern wie eine Frau, die Gesellschaft erwartet. Sie war vergebens am Fenster geblieben; sie hatte nichts gehört und starb vor Neugierde.

Nun? rief sie, ihrem Gatten entgegenstürzend.

Keuchend betrat Peter den gelben Salon, wohin sie ihm folgte, indem sie sorgfältig die Türen schloß. Er sank in einen Lehnsessel und stieß aus beklommener Brust die Worte hervor:

Die Sache ist fertig; wir werden Steuereinnehmer.

Sie flog ihm an den Hals und küßte ihn.

Ist's wahr? schrie sie. Aber ich habe nichts gehört. Oh, mein liebes Männchen; erzähle mir doch, erzähle mir alles!

Sie schien jetzt ganz verjüngt, fünfzehn Jahre alt zu sein; sie schmeichelte wie ein Kätzchen und flog hin und her wie eine Grille, die von Licht und Wärme trunken geworden. In dem überquellenden Jubel über seinen Sieg schüttete nun Peter sein Herz aus. Nicht die geringste Einzelheit überging er. Er erklärte ihr sogar seine Entwürfe für die Zukunft und vergaß hierbei, daß nach seinem Ausspruche die Frauen zu nichts gut seien und daß die seinige nichts wissen durfte, wenn er der Herr bleiben wollte. Felicité stand vorgebeugt da und sog seine Worte ein. Gewisse Teile seiner Erzählung ließ sie ihn wiederholen, indem sie sagte, sie habe nicht recht gehört; in der Tat verursachte die Freude einen solchen Rumor in ihrem Kopfe, daß sie von Zeit zu Zeit fast taub wurde und ihr Verständnis in einem Meer von Wonne unterging. Als Peter die Vorgänge auf dem Rathause erzählte, brach sie in ein solches Gelächter aus, daß sie dreimal aus dem Sessel aufstand, die Möbel hin und her schob, weil sie nicht auf einem Platze still halten konnte. Nach vierzig Jahren vergeblicher Bemühungen ließ das Glück sich endlich an der Kehle fassen. Sie verlor darüber dermaßen die Vernunft, daß sie alle Vorsicht außer acht ließ.

Mir hast du all dies zu verdanken! rief sie triumphierend aus. Hätte ich dich gewähren lassen, du hättest dich in alberner Weise von den Aufständischen abfangen lassen. Einfaltspinsel! Die Garconnet, die Sicardot und die anderen mußte man diesen wilden Tieren zur Beute hinwerfen.

Damit zeigte sie ihre wackelnden Greisenzähne und fügte in übermütiger Laune hinzu: Ei, es lebe die Republik, sie hat uns den Platz gesäubert.

Doch Peter warf mürrisch ein:

Ach, du glaubst immer alles vorausgesehen zu haben. Ich selbst kam auf den Einfall, mich zu verbergen. Was verstehen denn die Frauen von Politik? Geh, geh, arme Alte! Wenn du unser Schifflein zu führen hättest, wären wir bald gescheitert.

Felicité verzog den Mund. Sie war zu weit gegangen; sie hatte ihre Rolle einer stummen Fee vergessen. Doch es überkam sie jetzt einer jener Wutanfälle, die sie hatte, wenn ihr Mann sie mit seiner Überlegenheit erdrücken wollte. Sie nahm sich wieder vor, zu gegebener Zeit eine feine Rache zu nehmen, die ihr den guten Mann mit gebundenen Händen und Füßen ausliefern sollte.

Ach, ich vergaß, fuhr Rougon fort; Herr Peirotte ist mit beim Tanze; Granoux hat ihn gesehen, wie er zwischen den Händen der Aufständischen sich wand und krümmte.

Felicité erbebte. Sie stand eben am Fenster und blickte nach jenen des Einnehmers hinüber. Sie hatte eben das Bedürfnis empfunden, diese Fenster wiederzusehen, denn der Gedanke an den Triumph vermengte sich in ihr mit der Gier nach jener schönen Wohnung, deren Möbel sie seit so langer Zeit sozusagen mit den Blicken abnützte.

Sie wandte sich um und sagte mit seltsamer Stimme:

Herr Peirotte ist verhaftet?

Sie lächelte wohlgefällig: dann färbte eine lebhafte Röte ihre Wangen. Sie hatte in ihrem Innern den plötzlichen Wunsch gefaßt: »Oh, möchten doch die Aufständischen ihn ermorden!« Peter las ohne Zweifel diesen Gedanken in ihren Augen.

Wenn eine Kugel von ungefähr ihn träfe, würde es unsere Sache tüchtig fördern, brummte er. Man wäre nicht genötigt, ihn abzusetzen und wir wären an nichts schuld. Doch Felicité, die nervöser war, schauerte zusammen, als habe sie soeben einen Menschen zu Tode verurteilt. Wenn Herr Peirotte getötet werde, sehe sie ihn des Nachts wieder, er werde kommen und sie an den Beinen zerren. Sie warf jetzt nur mehr Seitenblicke zu den Fenstern hinüber, Blicke voll wollüstiger Angst. Seither gab es in ihrer Wonne einen Zug sträflichen Schreckens, der diese Wonne noch verschärfte.

Peter, der sein Herz ausgeschüttet hatte, sah jetzt übrigens auch die häßliche Seite der Frage. Er sprach von Macquart. Wie sollte man sich dieses Schnapphahns entledigen? Doch Felicité, von dem Fieber des Erfolges wieder ergriffen, rief:

Man kann nicht alles auf einmal tun. Wir werden ihn schon knebeln, schon ein Mittel ausfindig machen ...

So sprechend ging sie hin und her, ordnete die Sessel, stäubte die Lehnen ab. Plötzlich blieb sie mitten im Zimmer stehen, ließ ihren Blick lange auf den verschossenen Möbeln ruhen und rief:

Mein Gott! wie häßlich ist es hier! Und es kommen doch so viele Leute zu uns!

Bah! Wir werden alles vertauschen, sagte Peter mit großartigem Gleichmute.

Er, der noch gestern eine fast feierliche Achtung für diese Sessel und für dieses Sofa hatte, wäre jetzt bereit gewesen, darauf herumzuspringen. Felicité, die die nämliche Mißachtung für diese Möbel empfand, ging so weit, einen Lehnsessel umzustoßen, dem ein Rädchen fehlte und der deshalb nicht schnell genug rollen wollte.

In diesem Augenblicke trat Roudier ein. Es schien der alten Frau, daß er viel höflicher als sonst sei. Die Anreden »Mein Herr« und »Madame« flössen in lieblichem Wohllaut dahin. Die Freunde des Hauses kamen übrigens jetzt nach der Reihe an; der Salon füllte sich. Noch niemand kannte die Vorgänge der Nacht in ihren Einzelheiten, und alle eilten herbei mit neugierig glotzenden Augen, mit einem Lächeln auf den Lippen, durch die Gerüchte getrieben, die in der Stadt die Runde machten. Diese Herren, die gestern abend bei der Nachricht von dem Herannahen der Aufständischen so rasch den gelben Salon verlassen hatten, kamen jetzt summend, neugierig und lästig wieder wie ein Mückenschwarm, den ein Windstoß zerstreut hat. Manche hatten sich nicht einmal Zeit genommen, die Hosenträger anzulegen. Ihre Ungeduld war groß, aber es war ersichtlich, daß Rougon noch jemanden erwartete, ehe er sprechen wollte. Jede Minute wandte er den besorgten Blick nach der Türe. Während einer vollen Stunde fand ein beredter Austausch von Händedrücken statt, unbestimmte Glückwünsche, ein bewunderndes Geflüster, eine verhaltene Freude ohne bestimmten Grund, die nur eines Wortes harrte, um sich zur Begeisterung zu steigern.

Endlich erschien Granoux. Er blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, die Rechte in den zugeknöpften Überrock steckend; sein plumpes, fahles Antlitz, das frohlockte, versuchte vergeblich, seine große Erregtheit unter einer Miene hoher Würde zu verbergen. Bei seinem Erscheinen trat Stille ein; man hatte das Gefühl, daß etwas Außerordentliches sich vorbereite. Inmitten einer lebenden Hecke schritt Granoux geradeaus auf Rougon zu und reichte ihm die Hand.

Mein Freund! sagte er, ich überbringe Ihnen die Huldigungen des Gemeinderates. Er beruft Sie an seine Spitze, bis unser Bürgermeister uns wiedergegeben ist. Sie haben Plassans gerettet. In der abscheulichen Zeit, in der wir jetzt leben, brauchen wir Männer, die Ihre Klugheit mit Ihrem Mute verbinden. Kommen Sie! ... Granoux, der da eine kleine Rede hersagte, die er sich vom Rathause bis zur Banne-Straße mühsam vorbereitet hatte, fühlte jetzt, daß sein Gedächtnis ihn im Stich lasse. Doch Rougon, von der Bewegung überwältigt, unterbrach ihn, drückte ihm beide Hände und sprach:

Dank, mein lieber Granoux, vielen Dank!

Mehr wußte er nicht zu sagen. Jetzt setzte ein betäubender Ausbruch von Stimmen ein. Jeder stürzte herbei, streckte ihm die Hand entgegen, überhäufte ihn mit Lobsprüchen und befragte ihn sehr eifrig. Doch er benahm sich sehr würdig, wie ein Beamter und erbat sich einige Minuten, um sich mit den Herren Granoux und Roudier zu besprechen. Die Geschäfte vor allem. Die Stadt befand sich in einer so kritischen Lage! Die drei zogen sich in einen Winkel des Zimmers zurück und teilten mit leiser Stimme die Macht unter sich auf, während die Freunde des Hauses, einige Schritte weiter entfernt stehend und die Verschwiegenen heuchelnd, ihnen heimlich Blicke zuwarfen, in denen Bewunderung und Neugierde sich mengten. Rougon sollte den Titel eines Obmannes des Gemeindeausschusses annehmen; Granoux sollte Sekretär werden; Roudier sollte die neu organisierte Nationalgarde befehligen. Die Herren schworen sich gegenseitige Unterstützung und unverbrüchliche Treue.

Felicité, die sich ihnen genähert hatte, fragte plötzlich:

Und was ist's mit Vuillet?

Sie sahen einander an. Niemand hatte Vuillet bemerkt. Rougon verzog unruhig das Gesicht.

Man hat ihn vielleicht mit den übrigen weggeführt ... sagte er, um sich selbst zu beruhigen.

Aber Felicité schüttelte den Kopf. Vuillet sei nicht der Mann, der sich abfangen lasse. Wenn man ihn nicht sehe und nicht höre, tue er sicherlich etwas Schlechtes. Die Türe ging auf und Vuillet trat ein. Er grüßte untertänig, mit dem ihm eigentümlichen Blinzeln und seinem spitzigen Mesnerlächeln. Dann trat er näher und streckte seine feuchte Hand Rougon und den zwei anderen hin. Vuillet hatte ganz allein seine kleinen Geschäfte besorgt. »Er hatte sich selbst sein Stück Kuchen abgeschnitten« – würde Felicité gesagt haben. Hinter der Luke seines Kellers hatte er gesehen, wie die Aufständischen den Postdirektor festnahmen, dessen Büros an seinen Bücherladen stießen. Darum hatte er schon am Morgen, zur selben Stunde, als Rougon sich in dem Sessel des Bürgermeisters niederließ, ganz ruhig das Amtszimmer des Postdirektors bezogen. Er kannte die Beamten; er empfing sie bei ihrem Eintreffen, indem er ihnen sagte, daß er ihren Vorstand bis zu dessen Rückkehr ersetze und daß sie sich um nichts zu bekümmern hätten. Dann war er mit schlecht verhohlener Neugierde über die Frühpost hergefallen; er schnupperte nach Briefen und schien im besonderen einen Brief zu suchen. Ohne Zweifel war die neue Lage einem seiner geheimen Pläne günstig, und er ging in seiner Freude so weit, einem seiner Beamten ein Exemplar der »Humoristischen Werke« Pirons zu geben. Vuillet hatte eine reichlich ausgestattete und gut gewählte Sammlung gemeiner Bücher, die er in einem großen Schranke verbarg unter einer Lage von Heiligenbildern und Rosenkränzen; er überschwemmte die Stadt mit unanständigen Photographien und Bildern, ohne daß dies im mindesten dem Absätze der Gebetbücher geschadet hätte. Indes bekam er im Laufe des Vormittags dennoch Angst über die voreilige Art, wie er von dem Posthofe Besitz ergriffen hatte und dachte daran, diesen Gewaltakt hinterher die Gutheißung zu verschaffen. Darum eilte er zu Rougon, der ganz entschieden eine mächtige Persönlichkeit wurde.

Wo steckten Sie denn? fragte Felicité mißtrauisch. Da erzählte er seine Geschichte, die er natürlich verschönerte. Nach seiner Darstellung hatte er den Posthof vor der Plünderung gerettet.

Abgemacht, bleiben Sie daselbst, sagte Peter nach kurzem Nachdenken. Machen Sie sich nützlich.

Dieser letztere Satz verriet die große Furcht der Rougon; sie fürchteten, daß andere sich allzu nützlich machen, die Stadt mehr retten könnten als sie selbst. Allein Peter hatte keine Gefahr darin erblickt, Vuillet zeitweilig im Amte des Postdirektor zu belassen; es war dies sogar ein Mittel, sich seiner zu entledigen. Felicité war durch diese Wendung sehr unangenehm berührt.

Als die Besprechung zu Ende war, mengten die Herren sich wieder unter die Gruppen, die den Salon füllten. Endlich mußten sie die allgemeine Neugierde befriedigen. Sie mußten die Ereignisse des Vormittags haarklein erzählen. Rougon war großartig. Die Geschichte, die er seiner Frau erzählt hatte, vergrößerte, verschönerte, dramatisierte er. Als er die Verteilung der Gewehre und Patronen schilderte, lauschten alle atemlos. Der Marsch durch die öden Straßen, die Einnahme des Rathauses überwältigten diese Spießbürger. Bei jeder neuen Einzelheit wurde er unterbrochen.

Und ihr wäret nur euer einundvierzig? Das ist wunderbar!

Ei, da dank' ich schön! Es muß höllisch finster gewesen sein!

Nein, ich muß sagen, ich hätte es nie gewagt!

Und Sie haben ihn so mir nichts dir nichts an der Gurgel gefaßt?

Und was haben die Aufständischen dazu gesagt?

Diese kurzen Bemerkungen eiferten Rougon nur noch mehr an. Er antwortete jedem und begleitete seine Darstellung mit einem leibhaften Gebärdenspiel. In der Bewunderung seiner eigenen Taten fand dieser Mann die Geschmeidigkeit eines Schülers wieder; er wiederholte sich, kam auf einzelnes zurück inmitten der sich kreuzenden Ausrufe, der da und dort sich entwickelnden Erörterungen der Einzelheiten; wie von einem epischen Luftzug getragen, ereiferte er sich immer mehr und ward sichtlich größer. Überdies standen Granoux und Roudier an seiner Seite und raunten ihm allerlei, kaum wahrnehmbare Einzelheiten zu, die er übergangen hatte. Auch sie brannten vor Begierde, ein Wörtchen anzubringen, eine Episode zu erzählen und manchmal fingen sie ihm das Wort ab; oder es sprachen auch alle drei zugleich. Doch als Rougon, um die homerische Episode von dem zerbrochenen Spiegel gleichsam als Abschluß, als Sträußchen vorbringend, erzählen wollte, was unten im Hofe, bei der Entwaffnung des Wachtpostens vorgegangen war, beschuldigte ihn Roudier, daß er der Erzählung schade, indem er die Reihenfolge der Dinge verwechsele. Und sie stritten eine Weile ziemlich lebhaft. Als Roudier sah, daß die Gelegenheit ihm günstig sei, rief er entschlossen aus:

Es sei, wie es sei; ich weiß es doch besser, sintemalen Sie nicht dabei waren.

Und nun erklärte er lang und breit, wie die Aufständischen erwacht waren und wie man sie aufs Korn genommen hatte, um sie unschädlich zu machen. Er fügte hinzu, daß glücklicherweise kein Blut geflossen sei. Diese letztere Versicherung war eine Enttäuschung für die Zuhörer, die auf einen Toten gerechnet hatten.

Aber ich glaube, Sie haben geschossen unterbrach ihn Felicité, als sie sah, daß das Drama sehr ärmlich verlaufe.

Ja, ja, drei Schüsse, sagte der ehemalige Hutmacher. Der Wurstmacher Dubruel, Herr Liévin und Herr Massicot haben mit sträflicher Eile ihre Waffen entladen.

Und als darob ein Gemurmel entstand, fuhr er fort:

Ja, sträflich, ich halte das Wort aufrecht. Es gibt der Greuel genug im Kriege, ohne daß man unnützes Blut vergießt. Ich hätte euch an meiner Stelle sehen mögen ... Die Herren schwuren mir übrigens, daß es nicht ihre Schuld sei; sie könnten sich nicht erklären, wie ihre Flinten losgegangen seien. Dennoch verirrte sich eine Kugel, die von der Mauer abprallte und einem Aufständischen einen blauen Fleck auf der Wange schlug.

Dieser blaue Fleck, diese unverhoffte Verwundung befriedigte die Zuhörer. Auf welcher Wange hatte er den blauen Fleck? Und wie ist es möglich, daß eine Kugel, und wäre es auch nur eine verirrte Kugel, jemanden an der Wange treffen kann, ohne sie zu durchlöchern? Diese Fragen boten Anlaß zu langen Erörterungen.

Wir oben, fuhr Rougon mit lauter Stimme fort, ehe die Erregung Zeit gefunden hatte, sich zu legen, wir oben hatten indessen viel zu tun. Es war ein harter Kampf ...

Und er schilderte die Festnahme seines Bruders und der vier anderen Aufständischen sehr weitläufig, ohne Macquart beim Namen zu nennen. Er nannte ihn nur »der Anführer«. Die Worte: »das Arbeitszimmer des Herrn Bürgermeisters« – »der Sessel des Herrn Bürgermeisters« – »das Schreibpult des Herrn Bürgermeisters« kehrten jeden Augenblick wieder und verliehen dieser Schreckensszene in den Augen der Anwesenden eine wunderbare Größe. Es war nicht ein Kampf bei dem Hauswart, sondern bei dem ersten Beamten der Stadt. Roudier war zunichte gemacht. Endlich kam Rougon bei jener Episode an, die er seit dem Beginn vorbereitete und die ihn als Helden hinstellen sollte.

Da stürzte ein Aufständischer sich auf mich, erzählte er. Ich schiebe den Lehnsessel des Herrn Bürgermeisters zur Seite und fasse den Mann an der Gurgel. Ich hielt ihn fest, glauben Sie mir's. Allein, mein Gewehr behinderte mich. Ich wollte es nicht fallen lassen; man trennt sich niemals von seiner Waffe. Ich hielt es so, unter dem linken Arm. Plötzlich ging der Schuß los ...

Alle hingen an Rougons Munde. Granoux, der vor Begierde brannte, auch seinerseits wieder zu reden und mit gespitztem Munde dastand, rief plötzlich aus:

Nein, nein ... nicht so war's! Sie haben es nicht sehen können, mein Freund. Sie haben sich geschlagen wie ein Löwe. Aber ich, der ich half, einen der Gefangenen zu fesseln, ich habe alles gesehen ... Der Mann hat Sie töten wollen; er ist's, der das Gewehr abgeschossen hat; ich habe sehr genau seine schwarzen Finger gesehen, als er sie unter Ihren Arm steckte.

Sie glauben? fragte Rougon erbleichend.

Er wußte nicht, daß er in so großer Gefahr geschwebt und die Erzählung des ehemaligen Mandelhändlers ließ das Blut in seinen Adern erstarren. Granoux log sonst nicht; aber an einem Schlachttage ist es wohl erlaubt, die Dinge in einem dramatischen Lichte zu sehen.

Wenn ich Ihnen sage! ... Der Mensch hat Sie töten wollen, wiederholte er mit Überzeugung.

Darum also hörte ich die Kugel an meinem Ohre vorüber pfeifen, flüsterte Rougon mit ersterbender Stimme.

Es entstand eine heftige Aufregung im Salon; alle waren von Achtung für diesen Helden erfüllt. Er hatte eine Kugel an seinem Ohre vorüber pfeifen hören. Fürwahr, keiner der hier versammelten Spießbürger hatte ein gleiches von sich sagen können. Felicité glaubte sich ihrem Gatten in die Arme werfen zu müssen, um die Rührung der Versammlung auf den höchsten Gipfel zu treiben. Doch Rougon machte sich hastig los und schloß seine Erzählung mit dem folgenden heroischen Satze, der in Plassans berühmt geblieben ist:

Der Schuß geht los, ich höre die Kugel an meinem Ohre vorüber pfeifen und paff! die Kugel zerschmettert den Spiegel des Herrn Bürgermeisters.

Die Verblüffung war allgemein. Ein so schöner Spiegel! Unglaublich fürwahr! Der dem Spiegel widerfahrene Unfall hielt in der Teilnahme dieser Herren dem Heldenmute Rougons die Wage. Dieser Spiegel ward eine Person und man sprach von demselben eine Viertelstunde lang mit Worten des Mitleids, als ob diese Person im Herzen getroffen wäre. Es war das Sträußchen, wie Peter es vorbereitet hatte, die Entwickelung dieser wunderbaren Odyssee. Ein lautes Stimmengewirre erfüllte den gelben Salon. Man wiederholte unter sich die Geschichte, die man soeben gehört hatte, und von Zeit zu Zeit trat ein Herr aus der Gruppe, um von einem der drei Helden die genaue Darstellung irgendeiner bestrittenen Tatsache zu erfragen. Und die Helden stellten die Tatsache mit einer peinlichen Genauigkeit fest; sie fühlten, daß sie für die Geschichte sprachen.

Indessen sagten Rougon und seine beiden Beistände, daß sie auf dem Rathause erwartet würden. Achtungsvolle Stille trat ein; man grüßte sich gegenseitig mit ernstem Lächeln. Granoux platzte schier im Bewußtsein seiner Wichtigkeit; er allein hatte gesehen, wie der Aufständische den Hahn losdrückte und der Spiegel in Trümmer ging. Das machte ihn groß; er blies sich auf, daß er schier aus der Haut fuhr. Als er den Salon verließ, nahm er den Arm Roudiers mit der Miene eines von den Mühen gebrochenen großen Anführers und murmelte:

Seit sechsunddreißig Stunden bin ich auf den Beinen und Gott weiß, wann es mir vergönnt ist, das Bett aufzusuchen.

Als Rougon ging, nahm er Vuillet beiseite und sagte ihm, die Partei der Ordnung zähle mehr als je auf ihn und die Zeitung. Er müsse einen schönen Artikel bringen, um die Bevölkerung zu beruhigen und die Bande von Bösewichten, die Plassans durchzogen hatte, nach Gebühr zu geißeln.

Seien Sie beruhigt, erwiderte Vuillet. Die Zeitung sollte erst morgen erscheinen, aber ich will sie schon heute ausgeben.

Als sie fort waren, blieben die Gäste des gelben Salons noch einen Augenblick da geschwätzig wie die Basen, die ein entflohener Zeisig auf den Fußsteig versammelt. Für diese vormaligen Kaufleute, für diese Ölhändler, für diese Hutfabrikanten waren die neuen Ereignisse ein wahres Zauberdrama. Niemals hatte ein solcher Stoß sie aufgerüttelt. Sie konnten sich vor Staunen darüber nicht fassen, daß solche Helden wie Rougon, Granoux und Roudier unter ihnen erstanden. Als ihnen der Salon zu eng wurde und sie es überdrüssig wurden, sich immer wieder die nämliche Geschichte zu erzählen, empfanden sie ein lebhaftes Verlangen, die große Neuigkeit überallhin zu verbreiten. Sie verschwanden einer nach dem andern, jeder von dem Ehrgeiz getrieben, der erste zu sein, der alles weiß und alles erzählt; und Felicité, die allein geblieben war, sah, zum Fenster hinausgeneigt, wie sie sich in der Banne-Straße zerstreuten, die Arme bewegend wie große, dürre Vögel ihre Schwingen und nach allen vier Enden der Stadt die Aufregung verbreitend.

Es war zehn Uhr. Das aus dem Schlafe erwachte Plassans lief in den Straßen umher, verblüfft durch die umlaufenden Gerüchte. Wer die aufständische Rotte gesehen oder gehört hatte, erzählte märchenhafte Geschichten, die einander widersprachen, und erging sich in ungeheuerlichen Vermutungen. Aber die größte Anzahl Leute wußte nicht einmal, um was es sich handelte; sie wohnten in den äußeren Teilen der Stadt und hörten offenen Mundes wie ein Ammenmärchen, diese Geschichte von mehreren tausend Banditen, die die Straßen überfluteten und vor Tagesanbruch wieder verschwunden waren, wie ein Heer von Gespenstern. Die schlimmsten Zweifler sagten: »Geht, geht!« Und doch waren einige Einzelheiten ganz genau. Schließlich war Plassans überzeugt, daß, während es schlief, ein furchtbares Unglück über sein Haupt hinweggezogen sei, ohne es zu berühren. Diese schlecht erklärte Katastrophe verlieh den nächtlichen Schatten, den Widersprüchen der verschiedenen Nachrichten einen unbestimmten Charakter, einen unergründlichen Schrecken, der die Tapfersten erzittern ließ. Wer hat den Blitzschlag abgewendet? Es grenzte ans Wunderbare. Man sprach von unbekannten Rettern, von einer kleiner Schar von Männern, die der Hydra den Kopf abgeschlagen, aber ohne Einzelheiten vorzubringen wie von einer kaum glaublichen Sache, als die Gäste des kleinen Salons sich durch die Straßen zerstreuten, die Nachrichten verbreitend, vor jeder Türe die nämliche Geschichte erzählend.

Es war wie ein Lauffeuer. Binnen wenigen Minuten hatte die Nachricht den Weg von einem Ende der Stadt bis zum andern zurückgelegt. Der Name Rougon flog von Mund zu Mund, mit Ausrufen der Überraschung in der Neustadt, mit Lobeserhebungen im alten Stadtviertel. Der Gedanke, daß sie ohne Unterpräfekten, ohne Bürgermeister, ohne Postdirektor, ohne Einnehmer, ohne jede Behörde seien, rief zuerst Bestürzung unter den Einwohnern der Stadt hervor. Sie waren betroffen, wie sie ohne jegliches Regiment ihren Schlaf beenden und wie gewöhnlich aufstehen konnten. Als die erste Bewunderung vorüber war, stürzten sie sich hingebungsvoll ihren Befreiern in die Arme. Die wenigen Republikaner zuckten mit den Achseln; doch die Krämer, die kleinen Rentenbesitzer, die konservativen Elemente jeder Gattung segneten diese bescheidenen Helden, deren Taten das Dunkel der Nacht bedeckt hatte. Als man erfuhr, daß Rougon seinen eigenen Bruder verhaftet habe, kannte die Bewunderung keine Grenzen mehr. Man sprach von Brutus; diese Schwatzhaftigkeit, die er gefürchtet hatte, wandte sich zu seinem Ruhme. In dieser Stunde des noch nicht völlig zerstreuten Schreckens war die Dankbarkeit eine einhellige. Man ließ sich Rougon als Retter gefallen, ohne ihm näher ins Gesicht zu leuchten.

Bedenken Sie nur, sagten die Mattherzigen, sie waren ihrer im ganzen einundvierzig!

Diese Ziffer 41 brachte die ganze Stadt in Aufregung. So entstand zu Plassans die Legende von den einundvierzig Bürgern, die dreitausend Aufständische ins Gras hatten beißen lassen. Nur einige Neidharte der Altstadt, Advokaten ohne Prozesse, ehemalige Soldaten, die sich schämten, diese Nacht geschlafen zu haben, erhoben leise Zweifel. Alles in allem waren die Aufständischen vielleicht von selbst abgezogen. Es gab keinerlei Beweise eines Kampfes, weder Leichen, noch Blutlachen. Die Herren hatten wahrhaftig eine leichte Aufgabe.

Aber der Spiegel, der Spiegel! wiederholten die Fanatiker. Sie können doch nicht leugnen, daß der Spiegel des Herrn Bürgermeisters zertrümmert ist. Schauen Sie nur nach!

Und in der Tat drängte bis zum Abend eine Menge Leute unter tausend Vorwänden in das Arbeitszimmer, dessen Türe Rougon übrigens weit offen gelassen hatte; sie stellten sich vor den Spiegel hin, in den die Kugel ein rundes Loch geschlagen, von dem breite Brüche ausliefen; dann murmelten alle dieselben Worte:

Alle Wetter! Die Kugel war aber stark!

Und sie gingen überzeugt ihrer Wege.

Felicité stand an ihrem Fenster und sog mit Wonne diese Nachrichten, die Lobsprüche und Danksagungen ein, die in der Stadt emporstiegen. Ganz Plassans beschäftigte sich zu dieser Stunde mit ihrem Gatten; sie fühlte ordentlich, wie die Stadtteile zu ihren Füßen erbebten und alle Hoffnung auf einen nahen Sieg in ihn setzten. Ha, wie wird sie diese Stadt zertreten, die sie so spät sich unterwarf. Aller ihrer Kränkungen war sie jetzt eingedenk; ihre früheren Leiden schärften nur ihr Verlangen nach unmittelbaren Freuden und Genüssen.

Sie verließ das Fenster und schritt langsam im Salon umher. Hier hatten vorhin alle Hände sich ihnen entgegen gestreckt. Sie hatten gesiegt, die Bürgerschaft lag zu ihren Füßen. Der gelbe Salon schien ihr geweiht. Die lahmen Möbel, der verschossene Samt, der vom Fliegenschmutz ganz schwarze Armleuchter, alle diese Trümmer waren jetzt in ihren Augen die ruhmvollen Bruchstücke, die auf einem Schlachtfelde ausgestreut liegen. Die Ebene von Austerlitz hätte ihr kaum eine so tiefe Ehrfurcht einflößen können.

Als sie wieder an das Fenster trat, bemerkte sie Aristide, der, die Nase witternd in die Höhe richtend, auf dem Platze der Unterpräfektur herumschlenderte. Sie winkte ihm heraufzukommen. Er schien nur auf diesen Ruf gewartet zu haben.

Komm doch herein, sagte ihm seine Mutter, als sie ihn auf dem Flur stehen sah. Dein Vater ist nicht zu Hause.

Aristide machte eine verlegene Miene wie ein verlorener Sohn. Seit bald vier Jahren hatte er den gelben Salon nicht mehr betreten. Er trug den Arm noch in der Binde.

Schmerzt dich deine Hand noch immer? fragte seine Mutter spöttisch.

Er errötete und antwortete verlegen:

Nein, es geht besser; sie ist fast geheilt.

Dann blieb er verlegen stehen, drehte sich hin und her und fand nichts zu sagen. Seine Mutter kam ihm zu Hilfe, Du hast gehört, wie tapfer dein Vater sich benommen hat? fragte sie.

Er erwiderte, daß in der ganzen Stadt davon gesprochen werde. Inzwischen hatte er auch seine Keckheit wiedererlangt. Um seiner Mutter ihre Spötterei zu vergelten, fügte er hinzu, indem er ihr fest in die Augen blickte:

Ich bin gekommen, zu sehen, ob Papa nicht verwundet ist.

Stelle dich doch nicht so dumm! rief Felicité mit ihrer gewohnten Heftigkeit. Ich an deiner Stelle würde entschlossen handeln. Du hast einen Mißgriff begangen, gestehe es nur, indem du dich mit diesen lumpigen Republikanern einließest. Heute wäre es dir ganz recht, sie im Stiche zu lassen und mit uns zu gehen, weil wir die Stärkeren sind. Unser Haus steht dir offen.

Doch Aristide widersprach. Die Republik sei eine große Idee, meinte er. Auch könne es geschehen, daß die Aufständischen den Sieg davon tragen.

Laß mich doch zufrieden! fuhr die alte Frau gereizt fort. Du fürchtest, dein Vater könne dich schlecht empfangen. Ich nehme die Sache auf mich ... Höre mich an: du begibst dich zu deinem Blatte und fertigst zwischen heute und morgen eine dem Staatsstreiche sehr günstige Nummer an; morgen abend, wenn die Nummer erschienen ist, kommst du hierher und wirst mit offenen Armen empfangen.

Und da der junge Mann noch immer in seinem Stillschweigen verharrte, fuhr sie mit gedämpfter Stimme und immer lebhafter fort:

Hörst du mich? Es handelt sich um unser Glück und um dein Glück. Fange deine Torheiten nicht wieder an. Du bist schon ohnehin genug kompromittiert.

Der junge Mann machte eine Gebärde, wie etwa Cäsar sie gemacht hat, als er den Rubicon überschritt. In dieser Weise vermied er, sich durch Worte irgendwie zu binden. In dem Augenblicke, als er sich entfernen wollte, wies seine Mutter auf seine Schärpe und meinte:

Vor allem mußt du diesen Fetzen wegwerfen; das Ding ist lächerlich.

Aristide ließ sie gewähren. Als die Schleife los war, faltete er sie sauber zusammen, küßte seine Mutter und sagte:

Auf Wiedersehen bis morgen!

Inzwischen ergriff Rougon öffentlich Besitz vom Bürgermeisteramte. Es waren im ganzen acht Gemeinderäte da; die übrigen waren in der Gewalt der Aufständischen, ebenso wie der Bürgermeister und seine beiden Gehilfen. Diesen acht Herren – Helden vom Schlage Granoux – trat der Angstschweiß auf die Stirne, als der letztere ihnen die kritische Lage der Stadt erläuterte. Um zu begreifen, mit welchem Schrecken diese biederen Bürger sich Rougon in die Arme warfen, muß man wissen, aus welchen Elementen die Gemeindevertretung gewisser kleiner Provinzstädte sich zusammensetzte. In Plassans hatte der Bürgermeister es mit unglaublichen Dummköpfen zu tun, mit bloßen Werkzeugen einer völlig passiven Fügsamkeit. Als Herr Garçonnet nicht mehr da war, mußte die Gemeindemaschine aus den Fugen gehen und dem erstbesten gehören, der es verstand, sich des Räderwerks zu bemächtigen. Da der Unterpräfekt derzeit die Gegend verlassen hatte, war Rougon natürlich vermöge der Umstände der alleinige und unumschränkte Gebieter der Stadt. Eine seltsame Krise, die die Macht, in die Hände eines abgetanen Menschen legte, dem noch einen Tag vorher keiner der Bürger auch nur hundert Centimes geliehen hätte.

Peters erste Verfügung war, daß er die einstweilige Kommission für dauernd erklärte. Dann beschäftigte er sich mit der Neubildung der Nationalgarde, und es gelang ihm, dreihundert Mann auf die Beine zu bringen. Die in der Scheune zurückgebliebenen hundertundneun Gewehre wurden verteilt, wodurch es die Reaktion auf hundertundfünfzig Bewaffnete brachte; die anderen hundertundfünfzig Nationalgarden waren gutgesinnte Bürger und Soldaten, die Sicardot zu Gebote standen. Als der Kommandant Roudier auf dem Rathausplatze diese kleine Armee aufmarschieren ließ, sah er zu seinem Verdrusse, daß die Gemüsehändler höhnisch lächelten. Nicht alle hatten eine Uniform. Einige sahen recht drollig aus mit ihrem schwarzen Hute, ihrem Überrock und ihrer Flinte. Aber im Grunde war die Absicht gut. Auf dem Bürgermeisteramte ließ man einen Wachtposten zurück; der Rest der kleinen Armee wurde in Abteilungen aufgelöst, die nach den verschiedenen Stadttoren gesendet wurden. Roudier behielt sich den Befehl über den Posten am großen Tore vor; dieser Punkt war am meisten gefährdet.

Rougon selbst, der sich in diesem Augenblicke sehr stark fühlte, begab sich nach der Canquoin-Straße, um die Gendarmen zu bitten, daß sie zu Hause blieben und sich in nichts einmengten. Er ließ übrigens die Tür der Gendarmerie öffnen, deren Schlüssel die Aufständischen mitgenommen hatten. Aber er wollte ganz allein triumphieren; die Gendarmen sollten ihm nicht einen Teil seines Ruhmes entreißen. Sollte er ihrer durchaus bedürfen, werde er sie schon rufen; und er erklärte ihnen, daß ihre Anwesenheit die Arbeiter vielleicht reizen und so die Lage nur noch verschlimmern würde. Der Abteilungskommandant beglückwünschte ihn zu seiner klugen Vorsicht. Als Rougon hörte, daß in der Kaserne ein Verwundeter liege, wollte er sich beliebt machen und verlangte, den Mann zu sehen. Er fand Rengade mit einer Binde um die Augen, unter welcher der dichte Schnurrbart hervorragte. Er ermutigte durch eine schöne Rede über die Pflichterfüllung den Einäugigen, der fluchend und schnaubend dalag, erbittert ob seiner Verwundung, die ihn zwingen werde, aus dem Dienste zu treten. Rougon versprach, ihm einen Arzt zu senden.

Ich danke Ihnen, mein Herr, erwiderte Rengade; aber mehr Erleichterung denn alle Arzeneien würde mir schaffen, wenn ich dem Elenden, der mir das Auge ausgestoßen, den Hals umdrehen könnte. Ich werde ihn erkennen; es ist ein kleiner magerer Mensch, bleich und noch ganz jung ...

Peter erinnerte sich des Blutes, welches die Hände Silvères bedeckte. Er wich unwillkürlich zurück, als habe er gefürchtet, daß Rengade ihn an der Gurgel fassen und ausrufen könne: Dein Neffe ist's, der mir das Auge ausgestoßen; du wirst es statt seiner entgelten! Während er im stillen seiner unwürdigen Familie fluchte, erklärte er feierlich, daß der Schuldige, wenn er ergriffen werde, mit der vollen Strenge der Gesetze bestraft werden solle.

Nein, nein, unnötig, erwiderte der Einäugige; ich werde ihm schon den Hals umdrehen.

Rougon beeilte sich, nach dem Bürgermeisteramte zurückzukehren. Der Nachmittag wurde dazu benutzt, verschiedene Vorkehrungen zu treffen. Die gegen ein Uhr angeheftete Kundmachung brachte einen sehr guten Eindruck hervor. Sie schloß mit einer Berufung an die Besonnenheit der Bürger und gab die bündige Versicherung, daß die Ordnung nicht gestört werden solle. Bis zum Abend boten die Straßen in der Tat das Bild allgemeiner Beruhigung und vollständigen Vertrauens. Die Gruppen auf den Bürgersteigen sagten, nachdem sie die Proklamation gelesen:

Es ist zu Ende; wir sehen bald die zur Verfolgung der Aufständischen ausgesendeten Truppen erscheinen. Der Glaube an das nahe Eintreffen der Soldaten war so groß, daß die Müßiggänger von der Promenade Sauvaire sich auf die Nizzaer Straße begaben, um der Musik entgegenzugehen. Mit einbrechender Nacht kamen sie enttäuscht zurück; sie hatten nichts gesehen. Da bemächtigte sich eine dumpfe Unruhe der Stadt.

Die einstweilige Vertretung auf dem Bürgermeisteramte hatte so viele leere Worte gemacht, daß ihre Mitglieder, hungrig und erschreckt durch ihr eigenes Geschwätz, sich abermals von Furcht ergriffen fühlten; Rougon entließ sie zum Essen und berief sie für neun Uhr abends wieder ein. Er selbst schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, als Macquart erwachte und heftig an die Türe seines Gefängnisses zu pochen begann. Er erklärte, daß er Hunger habe; dann fragte er nach der Zeit, und als sein Bruder ihm sagte, daß es fünf Uhr sei, brummte er mit teuflischer Bosheit, ein lebhaftes Erstaunen heuchelnd, daß die Aufständischen ihm versprochen hätten, früher zurückzukehren und daß sie sehr lange säumten, ihn zu befreien. Rougon ließ ihm zu essen reichen und ging dann hinunter, gereizt durch die Beharrlichkeit, mit welcher Macquart von der Rückkehr der aufständischen Horde sprach.

Auf der Straße fühlte er ein Unbehagen. Die Stadt schien ihm verändert; sie nahm ein seltsames Aussehen an; Schatten huschten rasch die Bürgersteige entlang; es ward leer und still, und mit der Nacht schien eine graue, schleichende, beharrliche Furcht – gleich einem Sprühregen – sich auf die Mauern der Häuser niederzusenken. Die geschwätzige Vertrauensseligkeit des Tages endete fatalerweise in dieser unerklärlichen Panik, in diesem Entsetzen der hereinbrechenden Nacht. Die Bewohner waren müde, gesättigt von ihrem Triumphe in einem Maße, daß ihnen nur noch Kraft genug blieb, von der furchtbaren Vergeltung der Aufständischen zu träumen. Rougon fröstelte inmitten dieser Strömung des Entsetzens; er beschleunigte seine Schritte, es schnürte ihm die Kehle zusammen. Bei einem Kaffeehause auf dem Recolletsplatze vorbeikommend, wo die Lampen angezündet wurden und die kleinen Rentiers der Neustadt zusammenkamen, hörte er einen Teil eines sehr erschreckenden Gespräches.

Sie wissen wohl schon die neueste Nachricht, Herr Picou? sprach eine breite Stimme; das erwartete Regiment ist nicht eingetroffen.

Aber man erwartet kein Regiment, Herr Toucher, antwortete eine dünne Stimme.

Doch, doch; haben Sie denn den Aufruf nicht gelesen?

Die Maueranschläge versprechen allerdings, daß die Ordnung, wenn nötig, durch die Macht aufrecht erhalten wird.

Sie sehen wohl: durch die Macht; darunter versteht sich die bewaffnete Macht.

Und was spricht man?

Mein Gott, man hat Furcht, daß diese Verspätung der Soldaten nicht natürlich sein soll; sie sind vielleicht von den Aufständischen in die Pfanne gehauen.

Nur ein Schrei des Entsetzens wurde laut in dem Kaffeehause. Rougon hatte Lust, einzutreten und diesen Spießbürgern zu sagen, daß der Aufruf niemals das Eintreffen eines Regiments angekündigt habe, daß man den Worten keine solche Gewalt antun, noch auch solches Geschwätz verbreiten dürfe. Allein in der Verwirrung, die sich seiner bemächtigte, war er selbst nicht sicher, ob er nicht auf eine Truppensendung gerechnet habe, und er fand es schließlich in der Tat erstaunlich, daß kein einziger Soldat erschienen war. In sehr unruhiger Stimmung ging er heim. Felicité, die sehr aufgeräumt und guten Mutes war, erboste sich, als sie ihn wegen solcher Kindereien ganz verstört sah. Beim Nachtisch sprach sie ihm Mut zu.

Tölpel! sagte sie, wenn der Präfekt uns vergißt, um so besser. Wir werden auch allein die Stadt retten. Ich möchte, daß die Aufständischen zurückkommen; wir empfangen sie mit Flintenschüssen und bedecken uns mit Ruhm... Du läßt die Stadttore schließen und gehst nicht zu Bett; du machst dir die ganze Nacht viel Bewegung; das wird dir später zum Verdienst angerechnet.

Peter kehrte ziemlich ermutigt nach dem Bürgermeisteramte zurück. Er brauchte Mut, um stark zu bleiben inmitten des Jammers seiner Genossen. Die Mitglieder der einstweiligen Vertretung brachten in ihren Kleidern die Angst mit, wie man bei einem Gewitter den Regengeruch mit sich trägt. Alle behaupteten, auf die Sendung eines Regiments gerechnet zu haben, und riefen, man dürfe die wackeren Bürger nicht dermaßen der Wut der Demagogie ausliefern. Um Ruhe zu haben, versprach ihnen Peter fast das Regiment für den nächsten Tag. Dann erklärte er in feierlichem Tone, daß er die Stadttore schließen lassen werde. Dies brachte allen Erleichterung. Nationalgarden mußten sich sogleich zu allen Toren begeben, um sie doppelt und dreifach schließen zu lassen. Als die Nationalgarden zurückgekehrt waren, gestanden mehrere Mitglieder der einstweiligen Vertretung, daß sie jetzt wirklich ruhiger seien; und als Peter ihnen sagte, die kritische Lage der Stadt bürde ihnen die Pflicht auf, auf ihrem Posten zu verbleiben, trafen einige ihre Vorkehrungen, um die Nacht in einem Lehnsessel zuzubringen. Granoux setzte eine Mütze von schwarzer Seide auf, die er aus Vorsicht von Hause mitgebracht hatte. Gegen elf Uhr schlief die Hälfte der Herren rings um das Schreibpult des Herrn Garçonnet. Die sich wach erhielten, lauschten den gleichmäßigen Schritten der im Hofe Wache haltenden Nationalgarden und träumten dabei, daß sie Helden seien und Auszeichnungen erhielten. Eine Lampe, die auf dem Schreibpulte stand, beleuchtete diese seltsame bewaffnete Nachtwache. Rougon, der zu schlummern schien, erhob sich plötzlich und sandte nach Vuillet. Er hatte sich erinnert, daß er die Zeitung nicht erhalten habe.

Der Buchhändler erschien in sehr mürrischer Laune. Rougon nahm ihn beiseite.

Was ist's mit dem Artikel, den Sie mir versprochen haben? fragte er. Ich habe das Blatt nicht gesehen.

Deshalb stören Sie mich? erwiderte Vuillet zornig. Die Zeitung ist nicht erschienen; ich habe keine Lust, mich morgen, wenn die Aufständischen zurückkommen, abschlachten zu lassen.

Rougon versuchte zu lächeln und sagte: Man schlachtet, Gott sei Dank, niemanden ab. Eben deshalb, weil falsche und beunruhigende Gerüchte im Umlauf sind, würde der fragliche Artikel der guten Sache einen großen Dienst erwiesen haben.

Möglich, sagte Vuillet; aber die beste Sache ist in diesem Augenblicke, seinen Kopf auf den Schultern zu behalten.

Mit schneidiger Bosheit fuhr er fort:

Ich glaubte, sie hätten alle Aufständischen getötet; aber Sie haben zu viele übriggelassen, als daß ich meine Haut wagen sollte.

Als Rougon wieder allein geblieben, war er erstaunt über die Auflehnung dieses sonst so platten und unterwürfigen Mannes. Die Haltung Vuillets schien ihm verdächtig; aber er hatte keine Zeit, eine Erklärung zu suchen. Kaum hatte er sich in seinem Lehnsessel wieder ausgestreckt, als Roudier eintrat, wobei ein großer Säbel, mit welchem er sich umgürtet hatte, geräuschvoll an seine Schenkel schlug. Die Schläfer fuhren entsetzt auf; Granoux glaubte, man rufe zu den Waffen.

Wie, was gibt's? fragte er, indem er hastig das schwarze Käppchen in die Tasche steckte.

Meine Herren, sagte Roudier atemlos, alle rednerischen Formen außer acht lassend, ich glaube, daß eine Bande Aufrührer sich der Stadt nähert.

Diese Worte wurden mit schreckensvollem Stillschweigen aufgenommen. Rougon allein fand die Kraft, zu fragen:

Haben Sie sie gesehen?

Nein, erwiderte der ehemalige Schlafmützenfabrikant, aber wir hören seltsame Gerüchte aus der Gegend. Einer meiner Leute hat mir versichert, daß er am Abhänge des Garriguesgebirges Lauffeuer gesehen habe.

Während die Herren einander bleich und stumm ansahen, fügte er hinzu:

Ich kehre auf meinen Posten zurück, denn ich fürchte einen Angriff. Seid eurerseits auf der Hut!

Rougon wollte ihm nacheilen, um noch mehr von ihm zu erfahren, allein jener war schon fern. Der einstweiligen Vertretung war nunmehr die Schlaflust völlig vergangen. Seltsame Gerüchte! Lauffeuer! Ein Angriff! Und all das mitten in der Nacht! Auf der Hut sein, das war leicht zu sagen; aber was sollte man anfangen. Granoux war nahe daran, dasselbe Verfahren zu empfehlen, das gestern so wohl gelungen war: sich zu verbergen, und abzuwarten, bis die Aufständischen die Stadt durchzogen hatten und hernach in den verlassenen Straßen zu triumphieren. Glücklicherweise erinnerte sich Peter der Ratschläge seiner Frau und sagte, Roudier könne sich geirrt haben, und es sei das beste zu sehen, was es gebe. Einige Vertreter verzogen das Gesicht bei diesem Vorschlage; aber als vereinbart war, daß eine bewaffnete Schar den Vertretern das Geleit geben solle, gingen alle sehr mutig hinunter. Sie ließen bloß einige Mann im Hofe zurück und umgaben sich mit etwa dreißig Mann Nationalgarde; so wagten sie sich durch die schlafende Stadt. Das Mondlicht floß über die Hausdächer und warf ihre Schatten auf die Straßen. Vergebens gingen sie die Stadtwälle entlang von Tor zu Tor; sie sahen nichts und hörten nichts hinter ihrer Stadtmauer, die sie von der Welt abschloß. Die Nationalgarden der verschiedenen Posten sagten ihnen zwar, daß aus der Landschaft seltsame Winde über die geschlossenen Tore hinweg herüberwehen; aber wie sie die Ohren auch spitzen mochten, sie hörten nichts als ein fernes Geräusch, in dem Granoux das Plätschern der Viorne zu erkennen vorgab.

Indes blieben sie unruhig; sie schickten sich an, nach dem Bürgermeisteramte zurückzukehren – beklommenen Herzens, wenngleich sie zum Schein mit den Achseln zuckten und Roudier als Hasenfuß und Gespensterseher bezeichneten – als Rougon, der bemüht war, seine Freunde vollständig zu beruhigen, auf den Einfall kam, ihnen den Anblick der Ebene, auf eine Entfernung von mehreren Meilen zu zeigen. Er führte die kleine Gruppe nach dem Sankt Markusviertel und pochte an das Tor des Palastes des Grafen Valqueyras.

Der Graf war bei den ersten Unruhen nach seinem Schlosse Corbière abgereist. Im Palaste war nur der Marquis von Carnavant anwesend. Seit dem gestrigen Tage hatte er sich vorsichtigerweise verborgen gehalten, nicht aus Furcht, sondern weil es ihm widerstrebte, in der entscheidenden Stunde in die Machenschaften der Rougon verwickelt zu erscheinen. Im Grunde verzehrte ihn die Neugierde; er hatte sich einschließen müssen, um nicht hinzulaufen und sich das seltsame Schauspiel der Ränke des gelben Salons zu gönnen. Als ein Kammerdiener ihm mitten in der Nacht meldete, daß unten Herren seien, die ihn zu sprechen wünschten, ließ er alle Vorsicht fahren, erhob sich und eilte hinab.

Mein teurer Marquis, sagte Peter, ihm die Mitglieder der Stadtvertretung vorstellend, wir kommen, Sie um einen Dienst zu bitten. Könnten Sie uns in den Garten des Hauses führen lassen?

Gewiß, erwiderte der Marquis erstaunt; ich selbst will Sie dahin führen.

Unterwegs ließ er sich die Sache erzählen. Der Garten endete in einer Terrasse, welche die Ebene beherrschte; an dieser Stelle war ein breites Stück der Ringmauer eingestürzt, so daß man einen unbegrenzten Ausblick hatte. Rougon hatte begriffen, daß dies ein vorzüglicher Beobachtungsposten sei. Die Nationalgarden waren vor dem Haustore zurückgeblieben. Die Mitglieder der Stadtvertretung hatten, während sie ihre Gedanken austauschten, sich an die Brüstung der Terrasse gelehnt. Das seltsame Schauspiel, das sich da vor ihnen entrollte, machte sie sprachlos. In der Ferne, im Tale der Viorne, in dem ungeheuren Kessel, der gegen Westen zwischen der Garrigueshügelkette und den Bergen der Seille lag, ergoß sich der Mondschein wie ein breiter Strom breiten Lichtes. Die Baumgruppen und die dunkeln Felsen bildeten stellenweise Inseln, Landzungen in diesem Lichtmeere. Je nach den Krümmungen der Viorne sah man einzelne Stücke des Flusses, die mit dem blanken Widerschein der Harnische in dem silberhellen Lichtstaube auftauchten, der vom Himmel niederfloß. Es war ein Ozean, eine Welt, durch die Nacht, die Kälte, die schleichende Furcht ins Unendliche ausgedehnt. Anfänglich sahen und hörten die Herren nichts. Es erschien am Firmament ein Zittern von Licht und von fernen Stimmen, das sie betäubte und blendete. Granoux, ein wenig poetischer Natur, murmelte, von dem stillen Frieden dieser Winternacht ergriffen:

Welch schöne Nacht, meine Herren!

Ganz entschieden: Roudier hat geträumt! rief Rougon geringschätzig.

Doch der Marquis spitzte seine feinen Ohren.

Ei! Ich höre Sturm läuten, sagte er mit seiner klaren Stimme.

Alle beugten sich über die Brüstung und lauschten mit angehaltenem Atem. Leicht, mit der Reinheit des Kristalls stiegen die fernen Schläge einer Glocke aus der Ebene auf. Die Herren konnten es nicht leugnen: es war Sturmgeläute. Rougon behauptete, er erkenne den Klang der Glocke von Béage, einem Dorfe in einer Entfernung von einer Meile bei Plassans. Er sagte dies, um seine Gefährten zu beruhigen.

Horch! Horch! unterbrach ihn der Marquis; jetzt ist's die Glocke von Saint-Maur.

Er zeigte nach einem anderen Punkte des Horizontes. In der Tat wimmerte jetzt eine zweite Glocke in die helle Nacht hinaus. Dann wurden es bald zehn Glocken, zwanzig Glocken, deren verzweifeltes Gebimmel an ihre Ohren schlug, die sich mit dem weithin ziehenden Beben des Schattens vertraut gemacht hatten. Düstere Rufe stiegen von allen Seiten auf, geschwächt wie das Stöhnen von Sterbenden. Bald schluchzte die ganze Ebene. Die Herren scherzten nicht mehr über Roudier. Der Marquis, der seine boshafte Freude daran fand, sie zu erschrecken, wollte ihnen die Ursache dieses Geläutes erklären:

Es sind die Nachbardörfer, sagte er, die sich vereinigen, um bei Tagesanbruch Plassans anzugreifen.

Granoux riß die Augen auf.

Habt Ihr dort unten nichts bemerkt? fragte er plötzlich. Niemand hatte hingeschaut; die Herren hatten die Augen geschlossen, um besser hören zu können.

Dort, dort! rief er nach einer Weile wieder; jenseits der Viorne, neben jener schwarzen Masse!...

Ja, ich sehe, erwiderte Rougon verzweifelt, ein Feuer wird angezündet.

Fast unmittelbar darauf ward ein zweites Feuer dem ersten gegenüber angezündet; dann ein drittes und ein viertes. Rote Flecken tauchten in der ganzen Länge des Tales auf, in fast gleichen Zwischenräumen, den Laternen einer riesigen Straße gleichend. Im Mondlichte, das ihren Schein milderte, breiteten sie sich wie Blutlachen aus. Diese düstere Beleuchtung vollendete die Bestürzung der Gemeindevertretung.

Bei Gott, die Räuber geben einander Zeichen, brummte der Marquis mit seinem schneidendsten Hohnlächeln.

Und er zählte wohlgefällig die Feuer, um zu erfahren – wie er sagte – mit wie viel Leuten ungefähr »die wackere Nationalgarde von Plassans es zu tun bekommen werde«. Rougon wollte Zweifel erheben und sagte, daß die Dörfer zu den Waffen griffen, um zu den Aufständischen zu stoßen, und nicht um die Stadt anzugreifen. Allein die Herren zeigten durch ihr bestürztes Stillschweigen, daß ihre Meinung feststehe und daß sie jeden Trost zurückwiesen.

Jetzt höre ich die Marseillaise, sagte Granoux mit erlöschender Stimme.

Es war richtig. Der Gesang kam von einer Rotte, die den Fluß entlang marschierte und in diesem Augenblicke unterhalb der Stadt über die Brücke ging. Der Schrei: »Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons!« drang mit schneidiger Klarheit herüber. Es war eine schreckliche Nacht. Die Herren verbrachten sie an der Brüstung der Terrasse gelehnt, schier erstarrt durch die bitterböse Kälte, unfähig, sich dem Anblick dieser Ebene zu entziehen, die das Sturmgeläute und die Marseillaise erzittern machten, und die vom lodernden Schein der Signalfeuer erhellt war. Sie konnten sich nicht sattsehen an diesem Meer von Licht, in dem da und dort blutigrote Flammen aufloderten; sie ließen den unbestimmten Lärm in ihren Ohren gellen, daß ihre Sinne sich verwirrten und sie schauerliche Dinge sahen und hörten. Um nichts in der Welt würden sie den Platz verlassen haben; den Rücken wendend, würden sie sich von einer Armee verfolgt geglaubt haben. Wie gewisse Feiglinge wollten sie die Gefahr sehen, um im richtigen Augenblicke die Flucht ergreifen zu können. Als gegen Tagesanbruch der Mond untergegangen war und sie nichts mehr vor sich sahen, als einen schwarzen Abgrund, wurden sie denn auch von furchtbarer Angst ergriffen. Sie sahen sich von unsichtbaren Feinden umgeben, die im Schatten dahinschlichen, bereit, ihnen an die Kehle zu springen. Bei dem geringsten Geräusche wähnten sie, es seien Männer am Fuße der Terrasse, die sich beratschlagten, ehe sie heraufklettern. Aber es war nichts, nichts als die tiefe Finsternis, in welche sie die verzweifelten Blicke bohrten. Wie um sie zu trösten, sagte ihnen der Marquis mit spöttischer Stimme:

Ängstigen Sie sich nicht; die Meuterer werden den Tagesanbruch erwarten.

Rougon war in übler Stimmung; er fühlte, wie die Furcht sich seiner wieder bemächtigte. Granoux' Haare bleichten vollends. Endlich brach der Tag mit verzweifelter Langsamkeit an. Es war wieder ein böser Augenblick. Die Herren waren darauf gefaßt, beim ersten Morgenstrahl eine in Schlachtordnung aufgestellte Armee vor der Stadt zu erblicken. Gerade an diesem Tage wollte der Morgen nicht kommen und zögerte eine Ewigkeit am Saume des Horizontes. Mit ausgestrecktem Halse und gespannten Blickes beobachteten sie die verschwommene Helle; und sie glaubten im Schatten ungeheuerliche Gestalten zu erblicken, die Ebene verwandelte sich in einen See von Blut, die Felsen in Leichname, die an der Oberfläche schwammen, die Baumgruppen in Bataillone, die noch drohend aufrecht standen. Dann, als die wachsende Helle endlich diese Gespenster verscheucht hatte, brach der Tag an, so bleich und trübselig, daß der Marquis selbst sein Herz beklommen fühlte. Man sah keine Aufständischen, die Straßen waren frei; aber das völlig graue Tal bot den trostlos öden Anblick eines Hohlweges. Die Feuer waren erloschen, die Glocken klangen noch immer. Gegen acht Uhr bemerkte Rougon eine einzige Bande von mehreren Männern, die sich längs der Viorne entfernten.

Die Herren war halb tot vor Kälte und Mattigkeit. Da sie keine unmittelbare Gefahr sahen, beschlossen sie, sich einige Stunden Ruhe zu gönnen. Ein Nationalgardist wurde auf der Terrasse als Schildwache zurückgelassen mit der Weisung, sogleich Roudier zu verständigen, wenn er in der Ferne irgendeine Bande wahrnehme. Von den Aufregungen dieser Nacht gebrochen, begaben sich Granoux und Rougon, einander unterstützend, nach ihren Behausungen, die nebeneinander lagen.

Felicité brachte ihren Mann mit großer Sorgfalt zu Bette; sie nannte ihn ihr »armes Kätzchen« und wiederholte ihm, er solle sich doch nicht so schwere Sorgen machen; es werde sicherlich alles gut ablaufen. Allein, Peter schüttelte den Kopf; er hege ernste Befürchtungen, versicherte er. Sie ließ ihn bis elf Uhr schlafen. Nachdem er gegessen hatte, schob sie ihn sachte hinaus und gab ihm zu verstehen, er müsse bis ans Ende gehen. Auf dem Bürgermeisteramte traf Rougon nur vier Mitglieder von der Stadtvertretung an; die anderen ließen sich entschuldigen, sie seien ernstlich krank. Seit dem Morgen fuhr ein noch heftigerer Zug des Schreckens über die Stadt dahin. Die Herren hatten die Erzählung von der denkwürdigen Nacht, die sie auf der Terrasse des Hotel Valqueyras verbacht, nicht bei sich behalten können. Ihre Mägde hatten sich beeilt, diese Nachricht, mit allerlei dramatischen Einzelheiten aufgeputzt, in der Stadt zu verbreiten. Jetzt war es schon eine der Weltgeschichte angehörende Tatsache, daß man von den Höhen von Plassans in der Ebene den Tanz von Kannibalen, die ihre Gefangenen verzehrten, gesehen habe und den Reigen von Hexen, die ihre Kessel umkreisten, in denen Säuglinge sotten, endlose Reihen von Banditen, deren Waffen im Mondlichte glänzten. Und man sprach von den Glocken, die von selbst in die trübe Luft hinaus Sturm läuteten und man behauptete, die Aufständischen hätten die Wälder ringsumher in Brand gesetzt und die ganze Landschaft stehe in Flammen.

Es war just Dienstag, der Markttag zu Plassans. Roudier hatte geglaubt, die Stadttore weit öffnen lassen zu sollen, um die wenigen Bäuerinnen einzulassen, welche Gemüse, Butter und Eier brachten. Die Gemeindevertretung, die nunmehr bloß fünf Mitglieder zählte – den Präsidenten mit inbegriffen – erklärte dies für eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit. Obgleich die auf der Terrasse des Hotel Valqueyras zurückgelassene Schildwache nichts gesehen, solle die Stadt dennoch geschlossen bleiben. Da beschloß Rougon, der öffentliche Ausrufer solle, von einem Trommler begleitet, in den Straßen verkünden, daß die Stadt im Belagerungszustande sei; wer sie verlasse, könne nicht zurückkehren. Die Tore wurden am hellen Mittag von Amts wegen geschlossen. Diese zur Beruhigung der Bevölkerung getroffene Maßregel steigerte den Schreck bis zum Gipfelpunkte. Man konnte sich nichts Seltsameres denken, als diese Stadt, die mitten im neunzehnten Jahrhundert sich am hellen Mittag verrammelte.

Als Plassans den abgenutzten Gürtel seiner Wälle geschlossen und sich verriegelt hatte wie eine belagerte Festung bei der Annäherung eines Sturmes, strich eine tödliche Angst über die düsteren Häuser hinweg. Vom Mittelpunkte der Stadt glaubte man jede Stunde Gewehrgeknatter in den Vorstädten losbrechen zu hören. Man wußte nichts mehr; man war wie in einem Keller, wie in einem vermauerten Loche, in der beklommenen Erwartung, durch eine gnädige Fügung erlöst zu werden. Aufständische Scharen, die das Land durchzogen, hatten seit zwei Tagen jeden Verkehr unterbrochen. In der Sackgasse eingepfercht, wo sie erbaut worden, war die Stadt Plassans von dem übrigen Frankreich getrennt. Sie hatte das Gefühl, sich mitten in einem aufrührerischen Lande zu befinden; rings um sie her tönten die Sturmglocken, grollte die Marseillaise mit dem Tosen eines Stromes, der seine Ufer überschwemmt hat. Die verlassene und zitternde Stadt war wie eine den Siegern preisgegebene Beute und die Spaziergänger von der Promenade gingen vom Schrecken zur Hoffnung über, je nachdem sie vor dem großen Tore die Blusen von Aufständischen oder die Uniformen von Soldaten zu bemerken glaubten. Noch nie hatte eine Unterpräfektursstadt inmitten des Gepolters ihrer sinkenden Mauern eine schmerzlichere Todesangst zu überstehen gehabt.

Gegen zwei Uhr verbreitete sich das Gerücht, daß der Staatsstreich mißglückt sei. Der Prinzpräsident sitze im Turm von Vincennes gefangen, Paris befinde sich in der Gewalt der fortgeschrittensten Demagogie, Marseille, Toulon, Draguignan, der ganze Süden gehöre der siegreichen Aufstandsarmee. Die Aufständischen sollten abends eintreffen und ganz Plassans über die Klinge springen lassen.

Da begab sich eine Abordnung der Bürger nach dem Rathause, um der Stadtvertretung wegen der Schließung der Tore Vorstellungen zu machen; diese Maßregel, hieß es, könne nur dazu führen, die Aufständischen noch mehr gegen die Stadt zu erbittern. Rougon, der den Kopf verlor, verteidigte seine Weisung mit der äußersten Energie; diese sorgfältige Abschließung der Stadt schien ihm einer der scharfsinnigsten Akte seiner Verwaltung zu sein; er fand zu ihrer Rechtfertigung Worte der innigsten Überzeugung. Allein man brachte ihn in Verwirrung mit der Frage, wo die Soldaten seien, das Regiment, das er versprochen. Da log er; er habe nichts versprochen, sagte er rundheraus. Das Ausbleiben dieses fabelhaften Regiments, das die Einwohner dermaßen herbeisehnten, daß sie von seiner Annäherung träumten, war die große Ursache der Angst. Die gut unterrichteten Leute nannten genau den Ort, wo die Soldaten niedergemetzelt worden.

Um vier Uhr begab sich Rougon, gefolgt von Granoux, nach dem Hotel Valqueyras. Kleine Banden, die in Orchères zu den Aufständischen stießen, durchzogen in der Ferne noch immer das Viornetal. Den ganzen Tag waren Straßenjungen auf den Mauern herumgeklettert und Spießbürger herbeigekommen, um bei den Schießscharten hinauszuspähen. Diese freiwilligen Schildwachen nährten das Entsetzen der Stadt, indem sie ganz laut die Banden zählten, welche für ebenso viele starke Bataillone gehalten wurden. Dieses feige Volk glaubte von der Höhe der Stadtmauern den Vorbereitungen zu irgendeinem allgemeinen Gemetzel beizuwohnen. Des Abends strich, wie am vorhergehenden Tage, die Furcht noch kälter über die Stadt hin.

Nach dem Bürgermeisteramte zurückkehrend begriffen Rougon und der von ihm unzertrennliche Granoux, daß die Lage unhaltbar war. Während ihrer Abwesenheit war abermals ein Mitglied der Vertretung verschwunden. Sie waren nur mehr ihrer vier. Sie fanden sich lächerlich, wie sie so mit bleichen Gesichtern sich stundenlang gegenseitig betrachteten, ohne ein Wort zu sagen. Dann kam eine grause Furcht über sie, daß sie noch eine zweite Nacht auf der Terrasse des Hotel Valqueyras zubringen müßten.

Rougon erklärte ernst, daß, nachdem die Lage unverändert, kein Grund vorhanden sei, dauernd auf dem Posten zu bleiben. Wenn ein großes Ereignis eintreten solle, werde man sie benachrichtigen. Durch einen Beschluß, der gebührendermaßen von der Kommission gefaßt wurde, übertrug er die Sorgen der Verwaltung auf Roudier. Der arme Roudier, der sich erinnerte, unter Louis Philipp Nationalgardist zu Paris gewesen zu sein, hielt mit Überzeugung am großen Tore die Nachtwache.

Peter kehrte kleinlaut heim, im Schatten der Häuser dahinschleichend. Er fühlte um sich her die Stadt ihm feindselig werden. Er hörte seinen Namen durch die Gruppen gehen, begleitet von Worten des Grolls und der Verachtung. Wankend und mit dem Angstschweiß auf der Stirne stieg er die Treppe seiner Wohnung empor. Felicité empfing ihn still, mit verstörter Miene. Auch ihr begann der Mut zu sinken. Ihr ganzer Traum zerflatterte. Sie saßen im gelben Salon einander gegenüber. Der Tag ging zur Neige, ein trüber Wintertag, der graue Farben auf das orangegelbe Papier der mit großen Zweigen gezierten Wandtapeten warf; nie war ihnen dieses Gemach verfallender, scheußlicher, beschämender vorgekommen. Sie waren jetzt allein und hatten nicht wie gestern eine Schar von Höflingen um sich, die sie beglückwünschten. Ein Tag hatte genügt, um sie zu besiegen, in dem Augenblicke, da sie schon Triumph schrien. Wenn am folgenden Tage die Lage sich nicht änderte, war das Spiel verloren. Felicité, die gestern beim Anblicke der Trümmer des gelben Salons an die Ebenen von Austerlitz dachte, erinnerte sich jetzt, als sie ihn so trübselig und verlassen sah, der verdammten Gefilde von Waterloo.

Als ihr Gatte gar nichts sagte, begab sie sich ans Fenster, an jenes Fenster, wo sie mit Wonne den Weihrauch einer ganzen Unterpräfektur eingeatmet hatte. Sie bemerkte zahlreiche Gruppen unten auf dem Marktplatze. Sie schloß die Vorhänge, als sie sah, daß Köpfe sich nach ihrem Hause wandten, weil sie fürchtete, daß sie verhöhnt werden könne. Sie ahnte, daß man von ihnen spreche.

Stimmen stiegen in der Dämmerung empor. Ein Advokat schrie im Tone eines triumphierenden Anklägers:

Ich hatte es ja gesagt; die Aufständischen sind allein fort und wenn sie wiederkommen wollen, holen sie nicht erst die Erlaubnis der Einundvierzig ein. Die Einundvierzig, Narrenspossen! Ich glaube, es waren ihrer wenigstens zweihundert.

Nein, nein, sagte ein dicker Kaufmann, der mit Öl und hoher Politik Handel trieb, es waren ihrer vielleicht nicht zehn. Denn schließlich haben sie sich doch nicht geschlagen; man würde am Morgen doch Blut gesehen haben. Ich, der ich hier zu euch spreche, bin auf das Rathaus gegangen, um nachzusehen; der Hof war rein wie meine Hand.

Ein Arbeiter, der sich schüchtern in die Gruppe geschlichen hatte, fügte hinzu:

Es gehörte nicht viel dazu, vom Rathause Besitz zu ergreifen; das Tor war nicht einmal geschlossen.

Diese Worte wurden mit einem Gelächter aufgenommen, und als der Arbeiter sich ermutigt sah, fuhr er fort:

Man kennt ja die Rougon; es sind Taugenichtse!

Dieser Schimpf traf Felicité im Herzen. Der Undank dieses Volkes kränkte sie, denn schließlich hatte sie selbst an die Sendung der Rougon zu glauben begonnen. Sie rief ihren Gatten herbei, denn sie wollte, daß er die Unbeständigkeit der Menge kennenlerne.

Es war gerade so wie mit ihrem Spiegel, fuhr der Advokat fort. Was haben sie nicht für einen Lärm mit dem unglückseligen, zerbrochenen Spiegel geschlagen! Ihr müßt wissen: dieser Rougon ist sehr wohl fähig, einen Flintenschuß nach dem Spiegel abzufeuern, um an eine Schlacht glauben zu machen.

Peter unterdrückte einen Schmerzensschrei. Man glaubte selbst an seinen Spiegel nicht mehr. Bald geht man so weit zu behaupten, daß er keine Kugel an seinem Ohre hat vorübersausen hören! Die Legende der Rougon wird verblassen, nichts wird von ihrem Ruhme übrig bleiben. Allein er war noch nicht am Ende seiner Leiden. Die Volksgruppen waren jetzt ebenso glühend in ihrer Verbitterung wie gestern in ihrer Begeisterung. Ein ehemaliger Hutmacher, ein Greis von siebenzig Jahren, dessen Fabrik einst in der Vorstadt gewesen, forschte in der Vergangenheit der Rougon. Er sprach ganz unbestimmt, mit den Vorbehalten eines schwindenden Gedächtnisses, von dem Krautgarten der Fouque, von Adelaide, von ihren Liebschaften mit einem Schmuggler. Er sagte genug, um dem Geschwätz neue Nahrung zu bieten. Die Sprecher näherten sich jetzt und die Worte: Hundsfötter, Diebe, schamlose Ränkeschmiede drangen deutlich bis zu den Fenstervorhängen empor, hinter denen Peter und Felicité standen und vor Furcht und Zorn schwitzten. Man ging so weit, Macquart zu beklagen. Das war der letzte Schlag. Gestern war Rougon ein Brutus, eine Heldenseele, die ihre Gefühle dem Vaterlande opferte; heute war Rougon nur mehr ein von niedrigem Ehrgeiz erfüllter Mensch, der seinen armen Bruder mit Füßen trat und sich seiner als Staffel bediente, um zum Glück emporzusteigen.

Hörst du? Hörst du? sagte Peter mit erstickter Stimme. Die Bösewichte töten uns! Niemals werden wir uns davon erholen!

Felicité trommelte mit gekrümmten Fingern wütend auf den Fensterläden herum und erwiderte:

Laß sie reden! Sind wir erst die Stärkeren, dann sollen sie sehen, aus welchem Holze ich geschnitzt bin. Ich weiß, woher der Wind weht. Die Neustadt ist uns übel gesinnt.

Sie vermutete richtig. Die plötzliche Unbeliebtheit der Rougon war das Werk einer Gruppe von Advokaten, die sehr ärgerlich waren über die Bedeutung, die ein ehemaliger, ganz ungebildeter Ölhändler, der nahe am Bankerott gewesen, erlangt hatte. Das Sankt Markusviertel war seit zwei Tagen wie ausgestorben. Das alte Viertel und die Neustadt blieben allein da. Die letztere hatte die allgemeine Panik dazu benutzt, um den gelben Salon in den Augen der Kaufleute und Handwerker zugrunde zu richten. Roudier und Granoux waren ausgezeichnete Männer, ehrenhafte Bürger, die von diesen Rougon, diesen Ränkeschmieden, getäuscht wurden. Aber man wird ihnen die Augen öffnen. An Stelle dieses dickwanstigen Bettlers, der keinen Heller besaß, hätte Isidor Granoux den Sitz des Bürgermeisters einnehmen müssen. Dies nahmen die Neider zum Ausgangspunkte, um Rougon alle Handlungen seiner Verwaltung vorzuwerfen, die ja erst seit gestern datierte. Er habe den früheren Gemeinderat nicht behalten wollen; er habe einen schweren Fehler begangen, als er die Tore schließen ließ; seine Schuld sei es, daß fünf Stadträte sich auf der Terrasse des Hotel Valqueyras einen bösen Schnupfen geholt hätten. Es wollte kein Ende nehmen. Auch die Republikaner erhoben die Häupter. Man sprach von der Möglichkeit eines Handstreiches der Vorstadtarbeiter gegen das Bürgermeisteramt. Die Reaktion lag in den letzten Zügen.

Als Peter so seine Hoffnungen schwinden sah, dachte er an die wenigen Stützen, auf die er bei Gelegenheit noch zählen zu können glaubte.

Sollte nicht Aristide heute abend kommen, um seinen Frieden mit uns zu machen? fragte er.

Ja, erwiderte Felicité. Er hatte mir einen schönen Artikel versprochen. Der »Unabhängige« ist nicht erschienen...

Doch ihr Gatte unterbrach sie mit den Worten:

Ei, kommt er nicht gerade dort aus der Unterpräfektur heraus?

Die alte Frau warf nur einen Blick auf die Straße.

Er hat seine Binde wiedergenommen! rief sie.

In der Tat verbarg Aristide seine Hand wieder in seinem Seidentuche. Mit dem Kaiserreiche ging es schief, ohne daß die Republik triumphierte; und er hatte es für gut erachtet, seine Rolle als Verstümmelter wieder aufzunehmen. Er huschte über den Platz, ohne aufzublicken. Als er ohne Zweifel die gefährlichen und kompromittierenden Worte hörte, die in den Gruppen gesprochen wurden, beeilte er sich, an der Ecke der Banne-Straße zu verschwinden.

Laß, er wird nicht heraufkommen, sagte Felicité bitter... Wir sind zugrunde gerichtet... Selbst unsere Kinder verlassen uns.

Und sie schloß hastig das Fenster, um nichts mehr zu sehen und zu hören. Dann zündete sie die Lampen an, und sie aßen, aber entmutigt und ohne Hunger; es wollte nicht recht schmecken, und sie ließen die Hälfte auf dem Teller stehen. Es blieben ihnen nur wenige Stunden übrig, um einen Entschluß zu fassen. Es galt, am nächsten Morgen Plassans zu ihren Füßen und um Verzeihung flehend zu sehen, wenn sie nicht auf ihren Glückstraum verzichten wollten. Der vollständige Mangel an bestimmten Nachrichten war die einzige Ursache ihrer Angst und Unentschlossenheit. Felicité mit ihrem Scharfsinn sah dies bald ein. Hätten sie das Ergebnis des Staatsstreiches wissen können, sie hätten ihren Mut eingesetzt und trotz alledem ihre Retterrolle weitergespielt; oder sie hätten sich beeilt, nach Möglichkeit ihren unglücklichen Feldzug in Vergessenheit zu bringen. Aber sie wußten nichts Genaues: sie verloren den Kopf und der Angstschweiß trat ihnen auf die Stirne, wenn sie daran dachten, daß bei ihrer völligen Unkenntnis der Ereignisse ihr Glück auf dem Spiele stehe.

Und dieser vertrackte Eugen schreibt mir auch nicht! rief Rougon in einer verzweifelten Aufwallung, ohne zu bedenken, daß er das Geheimnis seines Briefwechsels preisgab.

Doch Felicité tat, als habe sie nichts gehört. Der Ausruf ihres Gatten hatte sie im Innersten getroffen. In der Tat: warum schrieb Eugen seinem Vater nicht? Nachdem er ihn über die Erfolge der bonapartistischen Sache so getreulich auf dem laufenden gehalten, hätte er sich jetzt beeilen müssen, ihn von dem Triumph oder der Niederlage des Prinzen Louis zu benachrichtigen. Die einfachste Vorsicht mußte ihm raten, dem Vater diese Nachricht mitzuteilen. Wenn er schwieg, so bedeutete dies, daß die siegreiche Republik ihn zu dem Thronprätendenten in die Gefängnisse von Vincennes sandte. Felicité fühlte ihr Blut erstarren; das Stillschweigen ihres Sohnes tötete ihre letzte Hoffnungen.

In diesem Augenblicke brachte man die Zeitung; das Blatt war noch ganz feucht.

Wie? rief Peter sehr überrascht; Vuillet hat sein Blatt erscheinen lassen?

Er zerriß die Adreßschleife, las den Leitartikel und beendete ihn, bleich wie sein Hemd und kraftlos in seinem Sessel zurücksinkend.

Da, lies, hauchte er, das Blatte Felicité überreichend.

Es war ein prächtiger Artikel von unerhörter Heftigkeit gegen die Aufständischen; niemals war so viel Galle, so viel Lüge, so viel heuchlerischer Unflat aus einer Feder geflossen. Vuillet begann mit einer Schilderung des Eindringens der Bande in die Stadt Plassans. Die Schilderung war meisterhaft. Man sah darin, wie »diese Banditen, diese Galgengesichter, dieser Abschaum der Galeeren die Stadt überschwemmten, berauscht von Schnaps, Ausschweifungen und Plünderung«; dann zeigte er sie, wie sie »ihre Gemeinheit in den Straßen zur Schau trugen, die Bevölkerung durch ihr wildes Geheul in Schrecken versetzten, nur auf Mord und Notzucht ausgingen«. Dann folgte das schauerliche Drama der Szene im Rathause und der Verhaftung der Behörden. »Sie packten die ehrwürdigsten Männer an der Gurgel und der Bürgermeister, der tapfere Kommandant der Nationalgarde, der Postdirektor, dieser so wohlwollende Beamte: sie wurden wie der Heiland von diesen Elenden mit Dornen gekrönt angespien.« Der Absatz, der Miette und ihren roten Mantel behandelte, war in eine ganz lyrische Stimmung getaucht. Vuillet hatte zehn, zwanzig blutrünstige Dirnen gesehen. »Wer hat nicht unter diesen Ungeheuern infame, rot gekleidete Geschöpfe bemerkt, die sich sicherlich im Blute der Märtyrer gewälzt haben, die von den Räubern und Mördern unterwegs hingeschlachtet worden sind? Sie schwangen Fahnen, sie überließen sich auf offener Straße den scheußlichen Liebkosungen der ganzen Horde.« Und Vuillet fügte mit religiösem Eifer hinzu: »Die Republik findet stets nur bei Mord und Prostitution ihr Gedeihen.« Das war nur der erste Teil des Artikels. Am Schlusse dieser Schilderung fragte der Buchhändler in einem heftigen Aufrufe, ob das Land noch länger »die Schmach dieser wilden Tiere, die weder Leben noch Eigentum schonten«, dulden wolle. Er wandte sich an alle guten Bürger und meinte, eine fernere Duldsamkeit wäre gleichbedeutend mit einer Ermutigung, und die Aufständischen würden dann »die Tochter aus den Armen der Mutter, die Gattin aus den Armen des Gatten reißen«. Zum Schlusse, nach einer frommen Redensart, in der er erklärte, daß Gott die Ausrottung der Bösen wolle, stieß er in die Posaune: »Man sagt, daß diese Elenden abermals vor unseren Toren erscheinen werden; wohlan, jeder von uns ergreife ein Gewehr, und man töte sie wie die Hunde. Mich wird man in der vordersten Reihe sehen und ich werde mich glücklich preisen, die Erde von diesem Gewürm zu befreien.«

Dieser Artikel, in dem die Schwerfälligkeit des Provinzjournalismus unflätige Umschreibungen aneinander reihte, hatte Rougon in die größte Bestürzung versetzt. Als Felicité die Zeitung auf den Tisch hinlegte, murmelte er:

Ach, der Unglückliche! Er gibt uns den Gnadenstoß; man wird glauben, ich hätte diese Diatribe ihm eingegeben.

Aber, sagte seine Frau nachdenklich, hast du mir nicht heute morgen angekündigt, daß er sich weigere, die Republikaner anzugreifen? Die Nachrichten sollten ihn erschreckt haben und du behauptest, daß er bleich wäre, wie ein Toter.

Freilich, ja; ich begreife auch nichts von der Sache. Da ich in ihn drang, ging er so weit, mir Vorwürfe zu machen, weil ich nicht alle Aufständischen getötet hatte. Gestern hätte er seinen Artikel schreiben müssen; heute wird er damit ein Gemetzel über uns bringen.

Felicité verlor sich völlig in ihrem Erstaunen. Was hat denn diesen Vuillet angefochten? Dieser verdorbene Mesner mit einer Flinte in der Hand und auf den Stadtmauern nach den Aufständischen schießend: das war die drolligste Sache, die man sich vorstellen konnte. Dahinter mußte etwas stecken, das ihr entging. Vuillet verriet da einen frischen Mut und eine Keckheit der Schmähungen, die bewiesen, daß die Aufständischen doch nicht hart vor den Toren der Stadt stehen konnten.

Das ist ein böser Mensch, ich habe es immer gesagt, fuhr Rougon fort, nachdem er den Artikel noch einmal gelesen. Er hat vielleicht nur uns einen Streich versetzen wollen. Ich war vielleicht zu gut, daß ich ihm die Postverwaltung überließ.

Dies war ein Lichtblick. Felicité erhob sich hastig wie von einem plötzlichen Gedanken erhellt; sie setzte eine Haube auf und legte einen Schal um ihre Schultern.

Wohin gehst du? fragte ihr Gatte erstaunt. Neun Uhr ist vorüber.

Du wirst dich schlafen legen, erwiderte sie einigermaßen rauh. Du bist leidend und mußt ausruhen. Schlafe, bis ich zurückkomme; wenn es nötig ist, werde ich dich wecken und dann wollen wir weiter sprechen.

Sie verließ mit eiligen Schritten das Haus und begab sich nach dem Postamte. Hier betrat sie plötzlich das Zimmer, wo Vuillet noch arbeitete. Als er ihrer ansichtig ward, machte er eine verdrießliche Gebärde.

Niemals war Vuillet glücklicher gewesen als in diesen Tagen. Seitdem er mit seinen dünnen Fingern in den Postpaketen wühlen konnte, genoß er die tiefe Wollust des neugierigen Priesters, der sich anschickt, die Geständnisse der Büßerinnen zu hören. Alle listigen Indiskretionen, alle unbestimmten Geschwätze der Sakristeien umsummten seine Ohren. Er näherte seine lange, bleiche Nase den Briefen, betrachtete mit seinen schielenden Augen begierig die Adresse und prüfte die Umschläge, wie die kleinen Abbés in den Seelen der Jungfrauen forschen. Es waren unendliche Freuden und prickelnde Versuchungen. Die tausende Geheimnisse von Plassans waren da; er betastete die Ehre der Frauen, das Vermögen der Männer; er brauchte nur die Siegel zu erbrechen, um ebensoviel davon zu erfahren, wie der Großvikar der Kathedralkirche, der Beichtvater der vornehmen Leute der Stadt. Vuillet gehörte zu jenen furchtbaren, kalten, mörderisch schneidigen Fraubasen, die alles wissen, sich alles sagen lassen und die Gerüchte nur wiedererzählen, um die Leute damit zu töten. Darum hatte er gar oft davon geträumt, den Arm bis zur Schulter in den Briefkasten zu stecken. Für ihn war das Arbeitszimmer des Postverwalters seit dem gestrigen Tage ein großer Beichtstuhl, erfüllt von Schatten und religiösem Geheimnis, wo er schwelgte, indem er die verschleierten Geflüster, die bebenden Geständnisse einsog, die den Briefschaften entströmten. Der Buchhändler betrieb übrigens dieses Geschäft mit vollendeter Schamlosigkeit. Die Krise, die das Land durchmachte, sicherte ihm Straflosigkeit. Wenn einzelne Briefe zu spät kamen, andere in Verlust gerieten, so war es die Schuld dieser republikanischen Räuber, die den Verkehr unsicher machten. Das Schließen der Stadttore hatte ihn einen Augenblick geärgert; allein er hatte sich mit Roudier dahin verständigt, daß die Post eingelassen und mit Umgehung des Bürgermeisteramtes direkt zu ihm gebracht wurde.

In Wahrheit hatte er nur einige Briefe entsiegelt, und zwar die guten, d. h. die, welche seine Küsterwitterung ihm als solche bezeichnete, deren Inhalt vor allen anderen Leuten zu erfahren von Nutzen sein könne. Er hatte sich dann damit begnügt, bis zu späterer Verteilung die Briefe in einem Schubfache zurückzubehalten, welche die Leute beunruhigen und ihm das Verdienst rauben könnten, Mut zu haben, während die ganze Stadt zitterte. Dieser fromme Herr hatte mit dem Eintritt in die Postverwaltung die Lage in seltsamer Weise erfaßt.

Als Madame Rougon eintrat, traf er eben seine Auswahl in einem großen Haufen von Briefen und Zeitungen, ohne Zweifel unter dem Vorwande, sie ordnen und einteilen zu wollen.

Er erhob sich mit seinem untertänigen Lächeln und schob einen Sessel näher; seine geröteten Augenlider zuckten in beängstigender Weise. Allein Felicité setzte sich nicht.

Ich will den Brief haben! sprach sie in schroffem Tone.

Vuillet riß die Augen auf und spielte den Unschuldigen.

Welchen Brief, liebe Frau? fragte er.

Den Brief, den Sie heute morgen für meinen Mann erhalten haben ... Rasch, rasch, Herr Vuillet, ich habe Eile.

Und da er stammelte, daß er nichts wisse, nichts gesehen habe und daß die ganze Sache sehr verwunderlich sei, fuhr Felicité mit leiser Drohung in der Stimme fort:

Ein Brief aus Paris, von meinem Sohne Eugen; Sie wissen wohl, was ich sagen will, nicht wahr? Ich werde selbst suchen.

Und sie machte Miene, die verschiedenen Bündel zu ergreifen, die auf dem Pulte lagen. Da beeilte er sich und sagte, er wolle nachsehen; der Dienst sei jetzt notgedrungen so schlecht versehen und es sei immerhin möglich, daß ein Brief da sei. In diesem Falle werde man ihn schon finden. Er selbst schwor, keinen Brief gesehen zu haben. Indem er so sprach, machte er die Runde im Arbeitszimmer und durchstöberte alle Papiere. Dann öffnete er alle Schubfächer und Kasten. Felicité wartete ruhig.

Meiner Treu, Sie haben recht, da ist ein Brief für Sie, rief er endlich, indem er einige Papiere aus einem Kasten hervorzog. Diese vertrackten Beamten benutzen die Lage, um alles verkehrt zu machen.

Felicité nahm den Brief und prüfte aufmerksam das Siegel, völlig unbekümmert darum, daß dieser Vorgang für Vuillet verletzend sein müsse. Sie sah deutlich, daß der Umschlag geöffnet war; der Buchhändler, in diesem Geschäfte noch ungeschickt, hatte ein dunkleres Wachs genommen, um den Brief wieder zu versiegeln. Sie schnitt den Umschlag an der Seite auf, um das Siegel unberührt zu lassen, das bei Gelegenheit als Beweismittel dienen konnte. Eugen kündete in wenigen Worten den vollständigen Erfolg des Staatsstreiches an; er stimmte einen Siegesgesang an, Paris war bezwungen, die Provinz rührte sich nicht, und er riet seinen Eltern eine feste Haltung angesichts der teilweisen Erhebung im Süden an. Zum Schlusse sagte er ihnen, ihr Glück sei begründet, wenn sie nicht wankten.

Frau Rougon schob den Brief in ihre Tasche und setzte sich langsam, wobei sie Vuillet ins Gesicht schaute. Dieser hatte, als sei er sehr beschäftigt, sich fieberhaft wieder an das Aussuchen gemacht.

Hören Sie mich an, Herr Vuillet, sagte sie ihm.

Als jener die Ohren spitzte, fuhr sie fort:

Wir wollen offen miteinander reden. Sie tun unrecht, daß Sie Verrat treiben; es könnte Ihnen ein Unglück zustoßen. Wenn Sie, anstatt Briefe zu erbrechen ...

Da fuhr er auf und tat beleidigt; doch sie fuhr in ruhigem Tone fort:

Ich weiß; ich kenne Ihre Schule, Sie werden niemals gestehen. Nur keine überflüssigen Worte ... Welches Interesse können Sie daran haben, dem Staatsstreiche zu dienen?

Da er noch immer von seiner vollkommenen Ehrenhaftigkeit sprach, verlor sie schließlich die Geduld.

Halten Sie mich denn für albern? rief sie. Ich habe Ihren Artikel gelesen ... Sie täten besser, sich mit uns zu verständigen.

Ohne etwas zu gestehen, sagte er jetzt rundheraus, daß er die Kundschaft des Kollegiums haben wolle. Ehemals hatte er der Anstalt klassische Bücher geliefert. Aber man hatte in Erfahrung gebracht, daß er im geheimen den Schülern Schmutzliteratur in solcher Menge verkaufte, daß die Pulte mit gemeinen Büchern und Bildern vollgestopft waren. Bei dieser Gelegenheit war er nahe daran, vor der Zuchtpolizei zu erscheinen. Seither war es der ewige Gegenstand seiner neidischen Träume, das Wohlwollen der Verwaltung des Kollegiums zu erlangen.

Felicité schien erstaunt über die Bescheidenheit seines Ehrgeizes; ja, sie gab es ihm sogar zu verstehen. Briefe erbrechen, das Bagno riskieren, um einige Wörterbücher verkaufen zu dürfen!

Ei, sagte er mit herber Stimme, es handelt sich um einen gesicherten Absatz von vier- bis fünftausend Franken jährlich. Ich träume nichts Unmögliches wie gewisse Leute.

Sie tat, als überhöre sie das Wort. Von den erbrochenen Briefen war nicht mehr die Rede. Sie schlossen ein Bündnis, kraft dessen Vuillet sich verpflichtete, keine Nachricht in Umlauf zu bringen und sich nicht in den Vordergrund zu drängen unter der Bedingung, daß die Rougon ihm die Kundschaft des Kollegiums verschaffen würden. Als sie ihn verließ, riet ihm Felicité, sich nicht weiter zu kompromittieren. Es genüge, daß er die Briefe behalte und erst am zweitnächsten Tage austeilen lasse.

Welch ein Gauner! murmelte sie auf der Straße, ohne zu bedenken, daß sie selbst soeben den Postbeutel in Beschlag genommen hatte.

Mit langsamen Schritten und nachdenklich kehrte sie heim. Sie machte sogar einen Umweg, ging über die Promenade Sauvaire, wie um länger und bequemer nachdenken zu können. Unter den Bäumen der Wandelbahn begegnete sie dem Herrn von Carnavant, der die Nacht dazu benutzte, in der Stadt herumzuspüren, ohne sich zu kompromittieren. Die Geistlichkeit von Plassans, der jede Tätigkeit widerstrebte, beobachtete seit der Kunde vom Staatsstreiche die vollkommenste Neutralität. Für sie war das Kaiserreich eine vollendete Tatsache, und sie harrte nur der Stunde, um in einer neuen Richtung ihre hundertjährigen Ränke wiederaufzunehmen. Der Marquis, fortan ein überflüssiger Agent, war nur mehr von einer Neugierde geplagt: zu erfahren, wie der Trubel enden und wie die Rougon ihre Rolle zu Ende führen würden.

Bist du es Kleine? sprach er, als er Felicité erkannte. Ich wollte dich besuchen. Deine Angelegenheiten verwirren sich.

Nein, alles geht gut, erwiderte sie nachdenklich.

Um so besser. Du wirst mir die Sache erzählen. Ach, ich muß es dir beichten: ich habe die vorige Nacht deinem Gatten und seinen Genossen eine wahnsinnige Furcht eingejagt. Wenn du gesehen hättest, wie drollig sie waren auf der Terrasse, während ich sie in jedem Baumdickicht des Tales eine Bande Aufständische sehen ließ! ... Du vergibst es mir, nicht wahr?

Ich danke Ihnen, erwiderte Felicité lebhaft. Sie hätten sie vor Angst sterben lassen sollen. Mein Mann ist ein plumper Schlaumeier. Kommen Sie doch nächstens an einem Vormittag, wenn ich allein bin.

Sie eilte davon und ging mit raschen Schritten dahin, als habe die Begegnung mit dem Marquis sie zu einer Entscheidung gedrängt. Ihre ganze kleine Person drückte einen unerbittlich festen Willen aus. Endlich wird sie sich rächen wegen Peters Geheimtuerei, endlich wird sie ihn unterkriegen und für immer ihre Herrschaft im Hause sichern. Es war dies eine notwendige kleine Szene, eine Komödie, deren tiefen Spott sie im voraus genoß und deren Plan sie mit dem Scharfsinn einer verletzten Frau zeitigte.

Sie fand Peter zu Bette, in tiefem Schlafe; sie brachte einen Augenblick eine Kerze herbei und betrachtete mitleidig sein schwerfälliges Gesicht, über das von Zeit zu Zeit ein leichtes Zittern flog: dann setzte sie sich an das Kopfende des Bettes, legte die Haube ab, löste ihr Haar und begann mit verzweifelter Miene bitterlich zu schluchzen.

Was ist's? Warum weinst du? fragte Peter, der plötzlich erwachte.

Sie antwortete nicht und weinte nur noch heftiger.

So antworte doch um Gottes willen! fuhr ihr Mann fort, den diese stumme Verzweiflung entsetzte. Wo warst du? Hast du die Aufständischen gesehen?

Sie verneinte stumm; dann flüsterte sie mit erstickter Stimme:

Ich komme aus dem Hotel Valqueyras; ich wollte Herrn von Carnavant zu Rate ziehen. Ach, mein armer Mann, alles ist verloren!

Peter setzte sich ganz blaß im Bette auf. Sein Stierhals, den sein offenes Hemd sehen ließ, sein schlaffes Fleisch war von der Angst aufgedunsen. Bleich und jämmerlich hockte er da in dem zerwühlten Bette wie eine chinesische Götzenfigur.

Der Marquis glaubt, Prinz Louis Napoleon sei unterlegen, fuhr Felicité fort. Wir sind zugrunde gerichtet, wir bekommen niemals einen Sou!

Da geriet Peter in Zorn, wie es bei Feiglingen zuweilen vorkommt. Es sei die Schuld des Marquis, die Schuld seines Weibes, die Schuld seiner ganzen Familie. Habe er an Politik gedacht, als Herr von Carnavant und Felicité ihn in diese Dinge hineindrängten?

Ich wasche mir die Hände, rief er. Ihr beide habt die Dummheit gemacht. Ist es nicht vernünftiger, in aller Ruhe seine kleine Rente zu verzehren? Du hast immer herrschen wollen. Nun siehst du, wohin es uns geführt hat.

Er verlor den Kopf; er vergaß, daß er sich ebenso habgierig gezeigt hatte wie sein Weib. Er empfand nur das unbändige Verlangen, sich selbst zu erleichtern, indem er die anderen wegen seiner Niederlage beschuldigt.

Konnten wir denn mit Kindern wie den unserigen überhaupt Erfolge haben? Eugen läßt uns im entscheidenden Augenblick im Stich; Aristide hat uns in den Schmutz gezogen und selbst der alte Einfaltspinsel Pascal kompromittiert uns, indem er als großer Menschenfreund hinter den Aufständischen einherzieht ... Und wenn man bedenkt, daß wir uns zugrunde gerichtet haben, um sie ihre Studien machen zu lassen! ...

In seiner Erbitterung gebrauchte er Worte, wie er sie früher nie gesprochen. Als Felicité ihn Atem schöpfen sah, bemerkte sie sanft:

Du vergißt Macquart.

Ach ja, den vergaß ich, fuhr er noch heftiger fort. Auch einer, an den ich nur denken muß, um außer mir zu geraten! ... Doch das ist nicht alles. Der kleine Silvère ... Du weißt ja ... Ich sah ihn neulich abends bei meiner Mutter mit blutbedeckten Händen... Er hat einem Gendarm ein Auge ausgeschlagen. Ich habe es dir noch nicht erzählt, um dich nicht zu erschrecken. Ich sehe schon den Tag, an dem einer meiner Neffen vor dem Strafgerichte stehen wird ... Macquart ist uns dermaßen im Wege, daß ich neulich, als ich meine Flinte hatte, Lust verspürte, ihm den Schädel zu zerschmettern ... Jawohl, das habe ich tun wollen.

Felicité ließ diese Redeflut vorübergehen. Sie hatte die Vorwürfe ihres Gatten mit engelgleicher Geduld aufgenommen, das Haupt gesenkt wie eine Sünderin, was ihr ermöglichte, im stillen zu jubilieren. Durch ihre Haltung trieb sie Peter zum äußersten. Als dem armen Manne die Stimme versagte, seufzte sie schwer und heuchelte tiefe Reue. Dann wiederholte sie mit trostloser Stimme:

Mein Gott! Was werden wir anfangen? ... was werden wir anfangen? ... Die Schulden erdrücken uns ...

Es ist deine Schuld! schrie Peter mit dem letzten Aufgebote seiner Kräfte.

In der Tat hatten die Rougon auf allen Seiten Schulden. Die Hoffnung auf den nahen Erfolg hatte sie alle Vorsicht vergessen lassen. Seit Beginn des Jahres 1851 waren sie so weit gegangen, den Gästen des gelben Salons allabendlich Fruchtsaft, Punsch und kleinen Kuchen vorzusetzen, förmliche Mahlzeiten, bei denen man auf den baldigen Untergang der Republik anstieß. Überdies hatte Peter den vierten Teil seines Vermögens der Reaktion zur Verfügung gestellt um zum Ankauf von Gewehren und Schießbedarf beizutragen.

Die Rechnung des Pastetenbäckers beträgt mindestens tausend Franken, fuhr Felicité in ihrem süßlichen Tone fort; der Likörhändler hat vielleicht das Doppelte zu fordern. Dann kommt der Metzger, der Bäcker, der Obsthändler ...

Peter glaubte vergehen zu müssen; da versetzte Felicité ihm den letzten Streich, indem sie hinzufügte:

Ich spreche gar nicht von jenen zehntausend Franken, die du für die Waffen hingegeben hast.

Ich? ... ich? ... stammelte er. Man hat mich betrogen, man hat mich bestohlen. Der Tölpel Sicardot hat mich in die Patsche gebracht, indem er mir schwor, daß die Napoleons Sieger bleiben werden. Ich glaubte nur einen Vorschuß zu geben ... Doch der alte Esel muß mir mein Geld zurückgeben.

Ach, man gibt dir gar nichts zurück, sprach seine Frau, mit den Achseln zuckend. Wir werden das Kriegsgeschick zu tragen haben. Wenn wir alles bezahlt haben, bleibt uns nicht so viel übrig, daß wir Brot essen können. Ach, es ist ein sauberer Feldzug! Wir müssen künftig in einer Hütte des alten Stadtviertels hausen.

Dieser letztere Satz klang unheilvoll; er war das Totengeläute ihres Daseins. Peter sah schon die erbärmliche Hütte im alten Stadtviertel, von der seine Frau sprach. Dort also sollte er auf einem ärmlichen Strohsack enden, nachdem er sein Leben lang nach reichlichen und leichten Genüssen gestrebt! Er sollte vergebens seine Mutter bestohlen, sich in die schmutzigsten Ränke eingemengt, jahrelang gelogen haben! Das Kaiserreich sollte seine Schulden nicht bezahlen, dieses Kaiserreich, das allein ihn von dem Ruin retten konnte. Er sprang aus dem Bette, im Hemde wie er war, und schrie:

Nein, ich werde ein Gewehr ergreifen; es ist mir lieber, daß die Aufständischen mich töten.

Das kannst du morgen oder übermorgen tun, entgegnete Felicité mit großer Ruhe; denn die Aufständischen sind nicht fern. Es ist ein Mittel wie ein anderes, um ein Ende zu machen.

Peter war erstarrt. Ihm war, als gieße man plötzlich einen großen Kübel kalten Wassers ihm über die Schultern. Langsam ging er wieder zu Bette und als er sich in den warmen Bettüchern befand, begann er zu weinen. Dieser dicke, schwerfällige Mensch brach leicht in Tränen aus, in sanfte, unversiegbare Tränen, die ohne Anstrengung aus seinen Augen flossen. Es vollzog sich in ihm eine verhängnisvolle Reaktion. Sein Groll stürzte ihn in eine Entmutigung, in ein kindisches Wehklagen. Felicité, dieser Krise gewärtig, frohlockte innerlich, als sie ihn so weich, so hohl, so platt sah.

Sie bewahrte ihre stumme Haltung, ihre verzweiflungsvolle Ergebung. Diese Ergebenheit, der Anblick dieses in seinem stummen Schmerze versunkenen Weibes trieb den in Tränen aufgelösten Peter zum äußersten.

Aber so sprich doch! flehte er; laß uns zusammen einen Ausweg suchen. Gibt es denn wirklich keinen Rettungsanker?

Nein es gibt keinen, du weißt es wohl, entgegnete sie; du selbst hast ja die Lage soeben geschildert. Wir haben von niemandem Hilfe zu erwarten. Unsere Kinder selbst haben uns betrogen.

Nun, was dann? ... Wollen wir noch diese Nacht Plassans verlassen?

Fliehen? Aber mein armer Freund! Morgen wären wir in aller Leute Munde ... Hast du schon vergessen, daß du die Stadttore schließen ließest?

Peter wand und krümmte sich und spannte seine Einbildungskraft ganz außerordentlich an; dann murmelte er, wie besiegt, in flehendem Tone:

Ich bitte dich, finde einen Gedanken; du hast noch nichts gesagt.

Felicité erhob das Haupt und tat sehr überrascht; dann erwiderte sie mit einer Gebärde vollständigen Unvermögens:

Ich bin in diesen Dingen eine Törin; ich verstehe nichts von Politik. Du hast es mir oft genug gesagt.

Da ihr Mann verlegen und gesenkten Blickes schwieg, fuhr sie langsam, jeden Ton des Vorwurfs vermeidend, fort:

Du hast mich in deinen Geschäften nicht auf dem laufenden erhalten; ich weiß nichts, ich kann dir nicht einmal einen Rat geben. Du hast übrigens recht gehandelt; die Frauen sind zuweilen geschwätzig, und es ist weit besser, wenn die Männer allein das Steuer handhaben.

Sie sagte dies mit einem so feinen Spott, daß ihr Mann den Stachel nicht herausfühlte. Er empfand nur schwere Gewissensbisse. Und jetzt beichtete er plötzlich. Er sprach von Eugens Briefen, erläuterte ihr seine Pläne und sein Verhalten mit der Redseligkeit eines Menschen, der sich vor seinem Beichtiger befindet und nach einem Retter fleht. Jeden Augenblick unterbrach er sich, um sie zu fragen: »Was würdest du an meiner Stelle getan haben?« oder er rief aus: »Nicht wahr, ich hatte recht? Ich konnte nicht anders handeln.« Felicité blieb unempfindlich und ließ sich nicht einmal zu einem Kopfnicken herbei. Sie hörte mit der strengen Schroffheit eines Richters zu. Im Grunde fühlte sie sich überglücklich; endlich hatte sie ihn in ihrer Gewalt, diesen plumpen Schlaumeier; sie spielte mit ihm wie eine Katze mit einer papiernen Kugel und er streckte ihr die Hände hin, damit sie ihm Fesseln anlege.

Doch warte, sagte er, lebhaft aus dem Bette springend, ich will dich die Briefe Eugens lesen lassen. Du wirst dann die Lage besser beurteilen.

Vergebens versuchte sie, an einem Zipfel seines Hemdes ihn festzuhalten. Er breitete die Briefe auf dem Nachtkästchen aus, legte sich wieder ins Bett, las ganze Seiten und nötigte sie gleichfalls, mehrere zu lesen. Sie hielt ein Lächeln zurück und fühlte allgemach Mitleid mit dem armen Manne.

Nun, sagte er ängstlich, nachdem er zu Ende gelesen, jetzt weißt du alles; siehst du jetzt keine Möglichkeit, uns vor dem Ruin zu retten?

Sie antwortete noch immer nicht. Sie schien tief nachzudenken.

Du bist eine kluge Frau, fuhr er fort, um ihr zu schmeicheln; ich tat unrecht, die Sache vor dir geheim zu halten, ich erkenne es jetzt.

Reden wir nicht davon, erwiderte sie ... Wenn du viel Mut hättest ...

Da er sie mit gieriger Miene anblickte, unterbrach sie sich und sagte mit einem Lächeln:

Aber du versprichst mir, kein Mißtrauen mehr gegen mich zu haben. Du sagst mir alles und tust nichts, ohne mich zu fragen?

Er schwur und unterwarf sich den härtesten Bedingungen. Jetzt ging auch Felicité zu Bette; ihr war kalt, darum streckte sie sich an seiner Seite aus; mit leiser Stimme, als hätte man sie hören können, erläuterte sie ihm ausführlich ihren Feldzugsplan. Sie meinte, der Schrecken müsse heftiger durch die Stadt fahren und Peter müsse unter den bestürzten Bewohnern die Haltung eines Helden bewahren. Eine Ahnung sagte ihr, daß die Aufständischen noch fern seien. Übrigens werde früher oder später die Ordnungspartei den Sieg davon tragen und dann werden die Rougon belohnt. Nach der Rolle der Retter sei die Rolle der Märtyrer nicht zu verachten. Sie betrieb ihre Sache so geschickt, sie sprach mit so viel Überzeugung, daß ihr Gatte, anfänglich überrascht von der Einfachheit ihres Planes, der darin bestand, seinen Mut einzusetzen, schließlich ein wunderbares Geschick darin erblickte und versprach, sich dem Plane zu unterwerfen und allen möglichen Mut zu zeigen.

Und vergiß nicht, daß ich dich rette, flüsterte die Alte mit ihrer Schmeichelstimme. Du erweist dich dankbar?

Sie küßten sich und sagten einander »Gute Nacht!« Neue Hoffnung blühte den beiden Alten, die von der Habgier verzehrt wurden. Doch keiner von beiden konnte einschlafen. Peter blickte starr nach dem Lichtkreise, den die Nachtlampe auf die Decke warf und hing seinen Gedanken nach. Endlich wandte er sich um und teilte mit leiser Stimme seiner Frau einen Gedanken mit, der ihm durch den Kopf gegangen war.

Nein, nein, murmelte Felicité mit einem Frösteln. Das wäre zu grausam.

Du willst ja, daß die Bewohner der Stadt erschreckt werden! ... Wenn das, was ich dir sage, geschehe, würde man mich ernst nehmen.

Dann fügte er, gleichsam zur Vervollständigung seines Planes, hinzu:

Man könnte Macquart dazu benützen ... Das wäre ein Mittel, sich seiner zu entledigen.

Felicité wurde von diesem Gedanken gebannt. Sie sann nach, zögerte und sagte endlich mit stockender Stimme:

Du hast vielleicht recht. Wir wollen sehen... Schließlich wäre es dumm von uns, Gewissensbisse zu haben; es handelt sich für uns um Leben und Tod ... Laß mich nur machen; ich werde morgen Macquart aufsuchen und will sehen, ob man sich mit ihm verständigen kann. Du würdest mit ihm in Streit geraten und alles verderben. Gute Nacht! Schlafe wohl, mein armer, guter Mann! Sei ruhig, unsere Not soll ein Ende haben.

Sie küßten sich noch einmal und schliefen dann ein. Der Lichtkreis an der Decke glich einem entsetzten Auge, das lange Zeit den Schlaf dieses bleichen, spießbürgerlichen Ehepaares beobachtet, das in seinem Bette über Verbrechen nachsann und in seinen Träumen einen Blutregen niedergehen sah, dessen Tropfen sich am Boden in Goldstücke verwandelten.

Am anderen Morgen, vor Tagesanbruch, begab sich Felicité nach dem Bürgermeisteramte, ausgerüstet mit den Weisungen Peters, um zu Macquart zu gelangen. Sie brachte in einem Tafeltuche die Nationalgardistenuniform ihres Gatten mit. Übrigens sah sie nur einige Leute, die auf ihren Posten schliefen. Der Pförtner, der den Auftrag hatte, den Gefangenen die Nahrung zu bringen, ging hinauf, um ihr das zu einer Zelle umgewandelte Ankleidezimmer zu öffnen.

Macquart war dort seit zwei Tagen und zwei Nächten eingeschlossen. Er hatte Muße gehabt, seinen Gedanken nachzuhängen. Nachdem er sich ausgeschlafen, galten die ersten Stunden dem Zorne, der ohnmächtigen Wut. Bei dem Gedanken, daß sein Bruder sich in dem Nebenraume befinde, überkam ihn eine Anwandlung, die Türe einzurennen. Er nahm sich vor, ihn mit eigenen Händen zu erwürgen, wenn die Aufständischen kommen würden, ihn zu befreien. Doch als es am Abend zu dunkeln begann, ward er ruhiger und hörte auf, mit wütenden Schritten das Zimmer zu messen. Er sog einen milden Geruch von Behagen ein, der seine Nerven besänftigte. Herr Garçonnet, der sehr reich war und auf sein Äußeres viele Sorgfalt verwendete, hatte diesen Raum in einer sehr eleganten Weise einrichten lassen. Das Sofa war weich und warm; wohlriechende Parfüms, Salben und Seifen zierten die Marmorplatte des Waschtisches, und das matte Tageslicht fiel mit wollüstiger Weiche von der Decke herab gleich dem Schein einer Ampel in einem Schlafzimmer. In dieser scharf duftenden, faden und dumpfen Luft, wie sie in den Ankleidezimmern zu finden ist, schlief Macquart ein, indem er sich dachte, daß diese verrückten Reichen »denn doch ein feines Leben führen«. Er hatte sich mit einer Bettdecke zugedeckt, die man ihm gegeben hatte. Bis zum Morgen wälzte er sich auf dem Sofa herum, Kopf, Rücken und Arme auf die Polster stützend. Als er die Augen öffnete, fiel ein dünner Sonnenstrahl durch den Spalt der Fensterläden herein. Er verließ das behagliche warme Sofa nicht und gab sich seinen Gedanken hin, während er das Zimmer musterte. Er sagte sich, daß er niemals einen so herrlichen Ort besitzen werde, um sich zu waschen. Der Waschtisch interessierte ihn ganz besonders; es sei leicht, sich sauber zu halten, meinte er, wenn man so viel Töpfchen und Fläschchen zur Verfügung habe. Dies führte ihn zu bitteren Gedanken über sein verfehltes Leben. Er dachte sich, daß er vielleicht einen falschen Weg eingeschlagen; bei dem Umgang mit dem Bettelvolke sei nichts zu gewinnen; er habe nicht bösartig sein und sich mit den Rougon verständigen sollen. Dann wies er diesen Gedanken wieder von sich. Die Rougon seien Bösewichte, die ihn bestohlen hatten. Allein, in der behaglichen Wärme des Sofas ward er doch wieder sanfter, und abermals hatte er eine Regung von Reue. Schließlich sei er von den Aufständischen doch verlassen; sie ließen sich schlagen, die erbärmlichen Tröpfe. Er kam zu dem Schlusse, daß die Republik nichts als Betrug sei. Diese Rougon haben Glück. Und er erinnerte sich seiner nutzlosen Bosheiten, seines verbissenen Kampfes; niemand in der Familie habe ihn unterstützt, weder Aristide, noch Silvères Bruder, noch Silvère selbst, der ein Narr war, daß er sich für die Republikaner begeisterte; er werde niemals zu etwas kommen. Seine Frau war jetzt tot, seine Kinder hatten ihn verlassen, einsam wird er sterben, in einem Winkel ohne Sou wie ein Hund. Entschieden hätte er sich der Reaktion verkaufen sollen. Unter solchen Gedanken schielte er nach dem Waschtische, von starker Begierde erfaßt, sich die Hände mit einem gewissen Seifenpulver zu waschen, das in einer Büchse von Kristall enthalten war. Wie alle Taugenichtse, die sich von Frau und Kinder aushalten lassen, hatte Macquart gewisse Haarkünstlergelüste. Obgleich er geflickte Hosen trug, liebte er es, sich mit duftigen Ölen zu salben. Ganze Stunden brachte er bei seinem Barbier zu, bei dem von Politik gesprochen wurde und der zwischen einer Kannegießerei und der anderen ihm den Kopf zurecht machte. Die Versuchung wurde zu stark; Macquart begab sich zu dem Waschtische. Er wusch sich Hände und Gesicht; er kämmte und parfümierte sich, machte vollständige Toilette. Er benützte alle Fläschchen, alle Seifen, alle Pulver. Sein größter Genuß aber war, sich mit den Tüchern des Bürgermeisters abzutrocknen; sie waren geschmeidig und dicht. Er bettete sein feuchtes Gesicht hinein und sog da alle Düfte des Reichtums ein. Als er gewaschen und gesalbt war, als er duftete vom Kopfe bis zu den Füßen, streckte er sich wieder auf dem Sofa aus, verjüngt und zur Versöhnlichkeit neigend. Seitdem er die Nase in die Flaschen des Herrn Garconnet gesteckt, fühlte er noch mehr Verachtung gegen die Republik. Er kam auf den Gedanken, daß es vielleicht noch Zeit sei, mit seinem Bruder Frieden zu machen. Er erwog, welchen Preis er für einen Verrat fordern könne. Die Erbitterung gegen die Rougon nagte ihm noch immer am Herzen; aber er war in einer jener Stimmungen, wo man, in stiller Einsamkeit auf dem Rücken liegend, geneigt ist, sich harte Wahrheiten zu sagen, und wo man sich Vorwürfe darüber macht, daß man nicht – selbst mit Aufopferung seiner teuersten Vergeltungsgelüste – sich ein warmes Nest gebaut habe, um sich, feig an Leib und Seele, behaglich darin auszustrecken. Gegen Abend entschloß sich Antoine, am nächsten Tage seinen Bruder rufen zu lassen. Als er aber am folgenden Tage Felicité eintreten sah, begriff er, daß man seiner bedürfe, und war auf seiner Hut.

Die Unterhandlung währte lange und ward von beiden Seiten mit vieler Schlauheit und zahllosen Kniffen geführt. Zuerst tauschten sie unbestimmte Klagen aus. Felicité war überrascht, Antoine fast höflich zu finden nach der rohen Szene, die er ihr am Sonntag abend gemacht hatte, und darum sprach sie in einem Tone sanften Vorwurfes zu ihm. Sie beklagte die Gehässigkeiten, die die Familien entzweiten. Aber er habe seinen Bruder verleumdet und verfolgt mit einer Verbissenheit, die Rougon außer sich gebracht habe.

Ei, mein Bruder hat sich gegen mich niemals als Bruder betragen, erwiderte Macquart mit verhaltener Heftigkeit. Ist er mir zu Hilfe gekommen? Seinethalben hätte ich in meiner Höhle zugrunde gehen können. Als er sich besser benahm, zurzeit, da er mir zweihundert Franken gab, konnte mir niemand vorwerfen, daß ich ihm Übles nachgesagt hätte. Ich wiederholte überall, er habe ein gutes Herz.

Dies bedeutete klar:

Wenn ihr fortgefahren wäret, mich mit Geld zu versorgen, wäre ich euch ergeben gewesen und würde euch geholfen haben, anstatt euch zu bekämpfen. Es ist eure Schuld. Ihr hättet mich erkaufen sollen.

Felicité begriff dies so gut, daß sie erwiderte:

Ich weiß, Sie haben uns der Hartherzigkeit angeklagt, weil man glaubt, wir seien wohlhabend. Aber man irrt, lieber Bruder: wir sind arme Leute; wir haben niemals so an Ihnen handeln können, wie unser Herz es gewünscht hätte.

Sie zögerte einen Augenblick und fuhr dann fort:

Wenn es sein müßte, unter ernsten Umständen könnten wir ein Opfer bringen; aber wahrhaftig, wir sind so arm, so arm! ...

Macquart spitzte die Ohren. Ich halte sie fest – dachte er. Er tat, als habe er das verhüllte Anerbieten seiner Schwägerin überhört und verbreitete sich in klagendem Tone über sein Elend, erzählte von dem Tode seiner Frau, von der Flucht seiner Kinder. Felicité ihrerseits sprach von der Krise, die das Land durchmache. Sie behauptete, die Republik habe sie vollends zugrunde gerichtet. Allmählich kam sie so weit, eine Zeit zu verwünschen, die den Bruder zwinge den Bruder gefangen zu halten. Das Herz werde ihnen bluten, wenn die Justiz ihre Beute nicht herausgeben wolle! Und sie ließ das Wort »Galeeren« fallen.

Laßt es nur darauf ankommen, sagte Macquart ruhig.

Doch sie entgegnete energisch:

Mit meinem Blute möchte ich lieber die Ehre der Familie erkaufen. Ich spreche mit Ihnen nur, um Ihnen zu zeigen, daß wir Sie nicht verlassen werden ... Ich komme, um Ihnen die Mittel zur Flucht zu bieten, mein lieber Antoine.

Sie schauten einander eine Sekunde in die Augen, um sich gegenseitig mit den Blicken zu prüfen, ehe sie den Kampf aufnahmen.

Ohne Bedingung? fragte er endlich.

Ohne jede Bedingung, erwiderte sie.

Sie setzte sich zu ihm auf das Sofa und fuhr mit entschlossener Stimme fort:

Ja, wenn Sie vor Überschreiten der Grenze noch einen Tausendfrankenschein erwerben wollen, kann ich Ihnen auch dazu verhelfen.

Neues Stillschweigen.

Wenn es ein sauberes Geschäft ist, murmelte Antoine nachdenklich, warum nicht? ... Aber in eure Machenschaften mag ich mich nicht einmengen.

Da gibt es keinerlei Machenschaften, fuhr Felicité fort, indem sie die Skrupel des alten Gauners belächelte. Nichts ist einfacher: Sie verlassen sogleich dieses Zimmer, verstecken sich bei ihrer Mutter, versammeln heute abend Ihre Anhänger und nehmen das Rathaus wieder ein.

Macquart konnte seine große Überraschung nicht unterdrücken. Er begriff die Sache nicht.

Ich dachte, ihr wäret die Sieger, bemerkte er.

Ich habe keine Zeit, Ihnen jetzt alles zu erzählen, erwiderte die Alte ungeduldig. Nehmen Sie an, oder nehmen Sie nicht an?

Nein, ich nehme nicht an ... Ich will mir die Sache überlegen. Es wäre doch sehr dumm von mir, für tausend Franken vielleicht ein Vermögen auf das Spiel zu setzen.

Felicité erhob sich.

Wie Sie wollen, mein Lieber, sprach sie kühl. Sie übersehen wirklich nicht das Gefährliche Ihrer Lage. Sie sind zu mir gekommen und haben mich eine alte Gaunerin genannt; jetzt, da ich so gutmütig bin, Ihnen die Hand zu reichen, um Ihnen aus der Grube zu helfen, in die Sie törichterweise gestürzt sind, machen Sie Umstände und wollen nicht gerettet werden. Gut, bleiben Sie da und warten Sie, bis die Behörden zurückkehren. Ich wasche meine Hände.

Sie stand schon an der Türe.

Aber geben Sie mir doch einige Aufklärungen, bat er. Ich kann doch in Unkenntnis der Dinge keinen Handel mit Ihnen abschließen. Ich weiß nicht, was seit zwei Tagen geschehen ist. Kann ich wissen, ob Sie mich nicht betrügen?

Sie sind ein Einfaltspinsel, sagte Felicité, die dieser Herzensschrei Antoines bewog, von der Schwelle zurückzukommen. Sie taten sehr unrecht, sich nicht blindlings auf unsere Seite zu stellen. Tausend Franken sind eine schöne Summe und man wagt sie nur für eine gewonnene Sache. Ich rate Ihnen, sie anzunehmen.

Er zögerte noch immer.

Wenn wir erscheinen, um von dem Rathause Besitz zu ergreifen, wird man uns ruhig einziehen lassen?

Das weiß ich nicht, erwiderte sie mit einem Lächeln. Es wird vielleicht Flintenschüsse geben.

Er blickte sie fest an.

Ei, sagen Sie doch, Mütterchen, fuhr er mit rauher Stimme fort, haben Sie etwa die Absicht, mir eine Kugel in den Kopf senden zu lassen?

Felicité errötete. Sie dachte in der Tat eben daran, daß eine Kugel, die beim Angriff auf das Rathaus sie von Antoine befreien würde, ihnen einen großen Dienst erweisen würde. Die tausend Franken wären gewonnen. Doch tat sie sehr gekränkt und erwiderte:

Welcher Einfall! ... Wahrhaftig, es ist unmenschlich, solche Gedanken zu haben.

Dann fügte sie ruhiger hinzu:

Nehmen Sie an? ... Sie haben begriffen, nicht wahr?

Macquart hatte vollkommen begriffen. Was man ihm vorschlug, war ein Hinterhalt. Er begriff die Beweggründe nicht, noch die Folgen, und dies bestimmte ihn zu feilschen. Nachdem er von der Republik wie von einer Geliebten gesprochen, die er zu seinem Leidwesen nicht mehr lieben könne, rückte er mit den Gefahren heraus, die er lief, und forderte schließlich zweitausend Franken. Allein Felicité blieb fest, und sie unterhandelten so lange, bis sie ihm versprochen hatte, daß er bei seiner Rückkehr nach Frankreich eine Stelle erhalten solle, die ihm nichts zu arbeiten gebe und ein schönes Einkommen sichere. Dann erst wurde der Handel abgeschlossen. Sie ließ ihn die mitgebrachte Nationalgardistenuniform anlegen. Er solle sich bei Tante Dide ruhig im Versteck halten und gegen Mitternacht alle Republikaner, die er finden werde, nach dem Marktplatze führen und ihnen versichern, daß das Rathaus verlassen sei und daß es genüge, die Türe zu öffnen, um sich seiner zu bemächtigen. Antoine verlangte Vorschuß und erhielt zweihundert Franken; die übrigen achthundert Franken verpflichtete sie sich am nächsten Tage zu bezahlen. Die Rougon setzten ihr letztes verfügbares Geld ein.

Als Felicité wieder hinabgegangen war, verweilte sie einen Augenblick auf dem Marktplatze, um Macquart weggehen zu sehen. Er kam, sich schneuzend, ruhig an dem Posten vorüber. Vor seinem Abgang hatte er in dem Arbeitszimmer des Oberbürgermeisters die Oberlichtscheibe zertrümmert, um glauben zu machen, daß er da hinausgeflüchtet sei.

Es ist abgemacht, sagte Felicité ihrem Gatten, als sie heimgekehrt war. Um Mitternacht wird es geschehen ... Aber mich kümmert es nicht weiter; ich möchte sie alle erschossen sehen. Sie sind gestern in der Straße unbarmherzig genug mit uns umgesprungen.

Du warst zu gutmütig, daß du noch zögertest; jedermann an unserer Stelle würde so handeln, erwiderte Peter, der sich eben rasierte.

Diesen Morgen – es war an einem Mittwoch – machte er ganz besonders sorgfältig Toilette. Seine Frau kämmte ihn und ordnete ihm die Halsbinde. Sie drehte ihn hin und her wie ein Kind, das sich zur Schulprüfung schmückt. Als er fertig war, betrachtete sie ihn und erklärte, daß er sehr gut aussehe und er eine sehr gute Figur machen werde inmitten der ernsten Ereignisse, die sich vorbereiteten. Sein breites, fahles Antlitz hatte in der Tat einen Ausdruck großer Würde und heldenhafter Entschlossenheit. Sie gab ihm das Geleite bis zum ersten Stockwerke und erteilte ihm dabei ihre letzten Ratschläge; er solle seine mutige Haltung bewahren, wie groß auch der Schrecken sein werde; die Stadttore müßten fester denn je geschlossen, die Bewohner innerhalb ihrer Wälle der Todesangst überlassen werden, und es wäre ausgezeichnet, wenn er als einziger dastände, der bereit ist, für die Sache der Ordnung zu sterben.

Welch ein Tag! Die Rougon erzählen heute noch davon, wie von einer ruhmvollen Entscheidungsschlacht. Peter begab sich geradeswegs nach dem Rathause, unbekümmert um die Blicke und Worte, die er unterwegs auffing. Er richtete sich da häuslich ein wie einer, der entschlossen ist, nicht mehr vom Platze zu weichen. Er sandte bloß ein kurzes Schreiben an Roudier, um diesen zu benachrichtigen, daß er wieder an die Spitze der Macht trete. Da er wußte, daß diese wenigen Zeilen in die Öffentlichkeit gelangen würden, schrieb er: Wachen Sie an den Stadttoren; ich will im Innern der Stadt wachen, um Leben und Eigentum zu schützen. In dem Augenblicke, da die bösen Leidenschaften erwachen und überhand zu nehmen drohen, müssen die guten Bürger sie unterdrücken und selbst ihr Leben daran wagen. Der Stil und die orthographischen Fehler verliehen diesem mit antiker Kürze abgefaßten Schreiben einen heldenmütigen Schwung. Kein einziges Mitglied der einstweiligen Kommission erschien. Die zwei letzten Getreuen und Granoux selbst blieben vorsichtigerweise zu Hause. Von dieser Kommission, deren Mitglieder sich in dem Maße verflüchtigten, in welchem der allgemeine Schrecken zunahm, blieb Rougon allein auf seinem Posten, auf seinem Präsidentenstuhl. Er ließ sich nicht herbei, eine Einberufung zu versenden. Er allein genügte. Er bot ein erhabenes Schauspiel, das ein Lokalblatt später mit den Worten kennzeichnete: Der Mut reichte der Pflicht die Hand.

Den ganzen Vormittag sah man Peter unablässig im Bürgermeisteramte kommen und gehen. Er war ganz allein in diesem großen, leeren Gebäude, dessen Säle von dem Geräusche seiner Schritte lange widerhallten. Übrigens waren alle Türen offen. Inmitten dieser Öde wandelte er wie ein von seinem Rate im Stiche gelassener Präsident einher mit einer von seinem Berufe dermaßen durchdrungenen Miene, daß der Pförtner, als er ihm einige Male auf den Gängen begegnete, ihn überrascht und respektvoll grüßte. Man konnte ihn hinter jedem Fenster sehen und trotz der großen Kälte erschien er wiederholt auf dem Balkon, mit Schriftenbündeln in der Hand wie ein vielbeschäftigter Mann, der wichtige Botschaften erwartet.

Gegen Mittag durcheilte er die Stadt; er besichtigte die Posten, sprach von der Möglichkeit eines Angriffes, gab zu verstehen, daß die Aufständischen nicht fern seien; doch zähle er auf die Tapferkeit der Nationalgardisten, fügte er hinzu; wenn nötig, müßten sie für die gute Sache sterben bis zum letzten Mann. Als er von diesem Rundgang zurückkehrte, langsam, ernst, mit der Haltung eines Helden, der die Angelegenheiten seines Vaterlandes in Ordnung gebracht hat und nunmehr dem Tode entgegensieht, konnte er auf seinem Wege eine wahrhafte Erstarrung sehen. Die Spaziergänger von der Promenade Sauvaire, die unverbesserlichen kleinen Rentiers, die keine Katastrophe hätte hindern können, zu gewohnter Stunde auf den Straßen Maulaffen feil zu haben, sahen mit verblüffter Miene ihn vorüberziehen, als kennten sie ihn nicht und als könnten sie nicht glauben, daß einer der Ihrigen, ein ehemaliger Ölhändler, den Mut habe, einer ganzen Armee Trotz zu bieten.

In der Stadt war die Angst auf ihrem Höhepunkte. Von einem Augenblick zum andern erwartete man die Bande der Aufständischen. Die Nachricht von der Flucht Macquarts wurde in einer schrecklichen Weise ausgelegt. Man behauptete, daß er durch seine Freunde, die »Roten«, befreit worden sei und daß er in irgendeinem Winkel die Nacht abwarte, um sich auf die Bewohner zu stürzen und die Stadt an allen vier Enden anzuzünden. Das eingeschlossene Plassans, das völlig den Kopf verloren und innerhalb seiner Mauern verging, wußte nicht mehr, was es erfinden solle, um Furcht zu haben. Angesichts der mutigen Haltung Rougons wurden die Republikaner von einem vorübergehenden Mißtrauen ergriffen. Die Neustadt, die Advokaten und Kaufleute im Ruhestande, die noch gestern gegen den gelben Salon losgegangen waren, waren dermaßen überrascht, daß sie es nicht wagten, einen Mann von solchem Mute offen zu bekämpfen. Sie begnügten sich zu sagen, daß es Wahnwitz sei, den siegreichen Aufständischen in dieser Weise Trotz zu bieten und dieser nutzlose Heldenmut das größte Unglück über Plassans bringen werde. Gegen drei Uhr entsandten sie eine Abordnung. Peter, der vor Begierde brannte, seinen Mitbürgern seinen Mut zu bekunden, hatte nicht gewagt, auf eine so schöne Gelegenheit zu hoffen.

Er fand erhabene Worte. In dem Arbeitszimmer des Bürgermeisters empfing der Präsident der einstweiligen Kommission die Abordnung der Neustadt. Die Herren huldigten seinem Patriotismus, baten ihn jedoch, an einen Widerstand nicht zu denken. Er aber sprach mit erhobener Stimme von der Pflicht, vom Vaterlande, von der Ordnung, der Freiheit und anderen erhabenen Dingen. Übrigens zwinge er niemanden, seinem Beispiele zu folgen; er tue ganz einfach, was sein Gewissen, sein Herz ihm gebiete.

Sie sehen, meine Herren, ich bin allein, schloß er seine Rede. Ich will die ganze Verantwortlichkeit tragen, damit kein anderer außer mir kompromittiert sei. Wenn ein Opfer nötig sei, biete ich mich freiwillig an; ich wünsche, mit meinem Leben das meiner Mitbürger erkaufen zu können.

Ein Notar, der stärkste Kopf in der Gruppe, bemerkte, daß er dem sicheren Tode entgegengehe.

Ich weiß es und bin bereit, erwiderte er in ernstem Tone.

Die Herren schauten einander an. Dieses »Ich bin bereit« erfüllte sie mit Bewunderung. Fürwahr, dieser Mann war tapfer. Der Notar beschwor ihn, die Gendarmen an seine Seite zu nehmen; allein er erwiderte, das Blut dieser Soldaten sei kostbar, und er werde es nur im Falle der äußersten Not vergießen lassen. Langsam und in sehr bewegter Stimmung zog die Abordnung sich zurück. Eine Stunde später sah ganz Plassans in Rougon einen Helden; die Feigsten nannten ihn einen »alten Narren«.

Gegen Abend sah Peter zu seinem nicht geringen Erstaunen Granoux herbeieilen. Der ehemalige Mandelhändler warf sich in seine Arme, nannte ihn »großer Mann!« und sagte, er wolle »mit ihm sterben«. Die Worte »Ich bin bereit«, welche seine Magd von der Obsthändlerin mit heimbrachte, hatten diese große Begeisterung in ihm hervorgerufen. Dieser scheue, plumpe Mensch hatte solche kindliche Anwandlungen. Peter behielt ihn bei sich und dachte, die Sache habe weiter nichts zu bedeuten. Er war sogar gerührt von der Ergebenheit des armen Mannes und nahm sich vor, ihn öffentlich durch den Präfekten beloben zu lassen, worüber die anderen Spießbürger, die ihn so schmählich verlassen, vor Ärger bersten würden. Und jetzt erwarteten beide in dem verlassenen Rathause die Nacht.

Zur nämlichen Stunde ging Aristide zu Hause mit sehr unruhiger Miene hin und her. Vuillets Artikel hatte ihn überrascht. Die Haltung seines Vaters verblüffte ihn. Er hatte ihn an einem Fenster in schwarzem Rock und mit weißer Halsbinde gesehen, so ruhig bei der Annäherung der Gefahr, daß alle seine Gedanken in seinem armen Kopfe sich verwirrten. Die Aufständischen würden siegreich zurückkehren, dies war die Meinung der ganzen Stadt. Allein es tauchten Zweifel in ihm auf und er witterte irgendeinen schlimmen Streich. Da er nicht mehr wagte, sich bei seinen Eltern zu zeigen, hatte er seine Frau hingesandt. Als Angela zurückkehrte, sagte sie mit ihrer schleppenden Stimme:

Deine Mutter erwartet dich; sie ist keineswegs erzürnt, aber es scheint, daß sie sich über dich lustig macht. Sie sagte mir wiederholt, du könntest deine Schärpe wieder in die Tasche stecken.

Aristide war arg verlegen. Übrigens eilte er nach dem Hause seiner Eltern, zu jeder Unterwerfung bereit. Seine Mutter begnügte sich, ihn mit einem verächtlichen Lachen zu empfangen.

Ach, mein armer Junge, sprach sie, als sie ihn sah, du bist wahrhaftig nicht sehr klug.

Kann man denn wissen, was geschieht ... in diesem Neste Plassans? rief er verdrossen. Ich werde ganz dumm, auf Ehre! Man hat keine Nachricht, und alle Welt zittert vor Angst. Das kommt davon, wenn man innerhalb seiner Wälle eingeschlossen ist. Ach! hätte ich doch mit Eugen nach Paris gehen können! ...

Als er seine Mutter noch immer lachen sah, fügte er bitter hinzu:

Du warst nicht gut zu mir, Mutter. Ich weiß so manche Dinge ... Mein Bruder hat euch von allen Vorgängen auf dem laufenden erhalten und niemals hast du mir einen Fingerzeig gegeben, der mir von Nutzen hätte sein können.

Du weißt das? rief Felicité ernst und mißtrauisch. Dann bist du freilich weniger dumm, als ich gedacht. Entsiegelst du vielleicht Briefe wie ein Herr, den ich kenne?

Nein, aber ich horche an den Türen, erwiderte Aristide keck.

Diese Offenheit gefiel der alten Frau. Sie lächelte wieder und fragte in sanfterem Tone:

Wie kommt es dann, daß du dich nicht schon früher uns angeschlossen hast?

Weil ich wenig Vertrauen zu euch hatte, erwiderte der junge Mann verlegen. Ihr empfinget solche Dummköpfe wie meinen Schwiegervater, Granoux und andere ... Auch wollte ich mich nicht zu weit vorwagen.

Er zögerte. Dann fuhr er mit unruhiger Stimme fort:

Seid ihr heute wenigstens des Erfolges des Staatsstreiches sicher?

Ich bin seiner Sache sicher, erwiderte Felicité, durch die Zweifel ihres Sohnes verletzt.

Du ließest mir doch sagen, ich möge die Schärpe ablegen?

Ja, weil die Herren sich über dich lustig machen.

Aristide blieb nachdenklich stehen und schien die Zeichnung der Tapete sehr aufmerksam zu betrachten. Seine Mutter ward, als sie ihn in dieser unschlüssigen Haltung sah, von einer plötzlichen Unruhe ergriffen.

Ich komme doch zu meiner ersten Meinung zurück, sprach sie. Du bist nicht recht gescheit. Und da sollte man dich die Briefe Eugens lesen lassen. Unglücklicher! Mit deinem ewigen Schwanken würdest du alles verdorben haben. Du zauderst jetzt noch immer ...

Ich zaudere? unterbrach er seine Mutter mit einem kühlen, klaren Blick. Da kennst du mich schlecht. Ich würde die Stadt anzünden, wenn ich Lust hätte, mir die Füße zu wärmen. Aber begreife doch, daß ich keinen falschen Weg einschlagen will! Ich bin es müde, mein schweres Brot zu essen und will dem Glück ein Schnippchen schlagen. Ich werde nur sicher gehen.

Diese Worte hatte er mit einer solchen Erbitterung gesprochen, daß seine Mutter in diesem Heißhunger nach dem Erfolge die Stimme ihres Blutes erkannte.

Dein Vater ist ein Mann von Mut, murmelte sie.

Ja, ich habe es gesehen, entgegnete er höhnisch. Er macht eine gute Figur und erinnert an Leonidas in den Thermopylen. Hast du ihm diese Maske zurecht gemacht, Mutter?

Dann fügte er heiter und mit einer entschlossenen Gebärde hinzu:

Um so schlimmer! Ich bin Bonapartist ... Papa wird sich gewiß nicht dem Tode aussetzen, wenn die Sache nicht sehr einträglich ist.

Du hast recht, sagte seine Mutter. Ich darf nicht reden, aber morgen wirst du mehr sehen.

Er drang nicht in sie, aber schwur, daß sie bald stolz auf ihn sein solle; dann ging er. Felicité blickte ihm vom Fenster aus nach; die alte Vorliebe für ihn erwachte wieder, und sie sagte sich, daß er einen verteufelten Verstand habe und sie nicht den Mut finden werde, ihn den unrichtigen Weg einschlagen zu lassen.

Zum dritten Male senkte sich die Nacht über Plassans herab, eine Nacht voll Angst und Schrecken. Die Stadt lag in den letzten Zügen. Die Bürger eilten nach Hause und verrammelten ihre Häuser mit einem lauten Geräusch von Riegeln und Eisenstangen. Die allgemeine Meinung war die, daß Plassans am nächsten Tage nicht mehr bestehen, daß die Stadt entweder in der Erde versunken oder in Dunst aufgegangen sein werde. Als Rougon zum Essen heimkehrte, fand er die Straße verödet. Diese Einsamkeit stimmte ihn traurig. Es überkam ihn denn auch bei Tische eine Anwandlung von Schwäche und er fragte seine Frau, ob es nötig sei, den durch Macquart vorbereiteten Aufstand vor sich gehen zu lassen.

Man kläfft nicht mehr gegen uns, sagte er. Wenn du gesehen hättest, mit welcher Ehrfurcht die Herren von der Neustadt mich begrüßt haben ... Es scheint mir nunmehr unnötig, Leute zu töten. Wie denkst du? Wir werden unser Schäfchen auch so ins trockene bringen.

Ach, was bist du für ein Schwächling! rief Felicité wütend. Du hattest den Einfall, und jetzt weichst du selbst zurück. Ich sage dir, daß du ohne mich nie etwas ausführen wirst! ... Geh deines Weges! Würden etwa die Republikaner deiner schonen, wenn sie dich in ihrer Gewalt hätten?

Auf dem Rathause ging Rougon daran, den Hinterhalt vorzubereiten. Granoux war ihm dabei sehr nützlich. Er sandte durch ihn seine Weisungen an die verschiedenen Posten, welche die Wälle bewachten. Die Nationalgardisten sollten sich in kleinen Gruppen und verstohlen nach dem Rathause begeben. Roudier, dieser nach der Provinz verschlagene Pariser Spießbürger, der die ganze Sache hätte verderben können, indem er Menschlichkeit predigte, wurde gar nicht benachrichtigt. Gegen elf Uhr war der Hof des Rathauses voll Nationalgardisten. Rougon jagte ihnen Entsetzen ein; er erzählte ihnen, daß die in Plassans gebliebenen Republikaner einen verzweifelten Handstreich versuchen würden; er schätzte sich glücklich, durch seine Geheimpolizei rechtzeitig Wind bekommen zu haben. Nachdem er ein bluttriefendes Bild von dem Gemetzel geliefert hatte, dessen Opfer die Stadt werde, wenn die Elenden sich der Gewalt bemächtigen würden, gab er den Befehl, kein Wort mehr zu sprechen und alle Lichter auszulöschen. Er selbst ergriff eine Flinte. Seit dem Morgen ging er wie in einem Traume umher; er erkannte sich selbst nicht mehr; er fühlte Felicité hinter sich, in deren Hände die Krise der Nacht ihn geschleudert hatte und würde sich haben hängen lassen mit den Worten: Tut nichts; meine Frau wird schon kommen, mich loszumachen. Um das Getöse zu verstärken und den Schrecken über der schlafenden Nacht zu verlängern, bat er Granoux, sich nach der Kathedrale zu begeben und bei den ersten Flintenschüssen Sturm läuten zu lassen. Der Name des Marquis sollte ihm die Türe des Mesners öffnen. Im Schatten und in der Stille des Hofes harrten die geängstigten Nationalgardisten, die Augen auf das Tor gerichtet und von Ungeduld gefoltert, ihre Gewehre abzuschießen, wie auf der Lauer nach Wölfen.

Inzwischen hatte Macquart den Tag bei Tante Dide zugebracht. Er hatte sich auf dem alten Koffer ausgestreckt und bedauerte, daß er nicht mehr auf dem weichen Sofa des Herrn Garçonnet liegen könne. Wiederholt überkam ihn ein wahnsinniges Verlangen, in ein benachbartes Kaffeehaus zu gehen und dort seine zweihundert Franken anzuzapfen. Dieses Geld, das er in eine Westentasche gesteckt hatte, brannte ihm die Seite; er benützte seine Muße dazu, es im Geiste auszugeben. Seine Mutter, die seit einigen Tagen ihre Kinder schreckensbleich in ihr Haus kommen sah, ohne deshalb aus ihrem Stillschweigen herauszutreten und die Unbeweglichkeit ihres Gesichtes zu verlieren, ging vor ihm hin und her mit ihren steilen, unbewußten Bewegungen und schien seine Anwesenheit nicht zu bemerken. Sie wußte nichts von dem Schreck, der die ganze verschlossene Stadt im Banne hielt; sie war tausend Meilen weit von Plassans, jenem steten Gedanken nachhängend, der ihre Augen weit offen, ihre Sinne leer erhielt. Und doch brachte in jener Stunde eine Unruhe, eine menschliche Sorge einen Augenblick ihre Wimpern zum Zucken. Antoine, der dem Verlangen, einen guten Bissen zu essen, nicht widerstehen konnte, sandte sie aus, um von einem Gastwirte der Vorstadt ein gebratenes Huhn zu holen. Als er bei Tische sitzend sich damit gütlich tat, sagte er zu der Alten:

Du ißt nicht oft Huhn, wie? Das ist für solche, die da arbeiten und ihr Geschäft verstehen. Du aber hast nur immer alles vergeudet ... Ich wette, daß du deine Ersparnisse diesem frommen Rührmichnichtan Silvère gibst. Der Duckmäuser hat eine Geliebte. Hast du irgendwo etwas Geld verborgen, so wird er eines Tages sicher den Schatz heben.

Er trieb seinen Spott mit ihr; eine wilde Freude durchloderte ihn. Das Geld, das er in der Tasche hatte; der Verrat, den er vorbereitete, die Gewißheit, sich teuer verkauft zu haben: sie erfüllten ihn mit der Zufriedenheit der Bösewichte, die im Schlechten ihre natürliche Heiterkeit und ihre Spottsucht wiederfinden. Aber Tante Dide hörte aus all dem nur den Namen Silvère heraus.

Hast du ihn gesehen? fragte sie, endlich die Lippen öffnend.

Wen? Silvère? entgegnete Antoine. Er spazierte unter den Aufständischen umher mit einem großen, roten Mädchen am Arm. Wenn er eine blaue Bohne erwischt, wird ihm ganz recht geschehen.

Die Alte blickte ihn starr an.

Warum? fragte sie in ernstem Tone.

Ei, weil er ein Tölpel ist, erwiderte Antoine verlegen. Hat man je gehört, daß man für solche Sachen seine Haut riskiert? Ich habe meine Sache in Ordnung gebracht; ich bin kein Kind.

Doch Tante Dide hörte ihn nicht.

Er hatte schon die Hände voll Blut, murmelte sie. Man wird mir ihn töten wie man den andern getötet hat. Seine Oheime werden die Gendarmen nach ihm aussenden.

Was plappert Ihr da? sagte ihr Sohn, den Rest des Huhns verzehrend. Ich verlange, daß man es mir ins Gesicht sagt, wenn man etwas wider mich hat. Wenn ich manchmal mit dem Kleinen von der Republik sprach, so geschah es nur, um ihn auf vernünftigere Gedanken zu bringen. Er war rein närrisch. Ich liebe die Freiheit, aber ich will nicht, daß sie in Zügellosigkeit ausartet. Und Rougon hat meine Achtung; das ist ein Mann von Mut und Klugheit.

Er hatte die Flinte bei sich, nicht wahr? unterbrach ihn Tante Dide, deren trüber Geist dem fernen Silvère auf seinem Wege zu folgen schien.

Die Flinte? Ach ja, Macquarts Flinte, fuhr Antoine fort, nachdem er einen Blick auf den Kaminmantel geworfen, wo sonst die Waffe hing. Ich glaube, sie in seinen Händen gesehen zu haben. Ein nettes Ding, um mit einem Mädchen im Arm in Wald und Feld herumzustreifen. Welch ein Tor!

Er glaubte einige plumpe Späße machen zu sollen. Tante Dide ging jetzt wieder im Zimmer ab und zu. Sie sprach kein Wort mehr. Gegen den Abend entfernte sich Antoine, nachdem er eine Bluse angezogen und eine tiefe Mütze, die seine Mutter ihm gekauft, aufgesetzt und über die Augen herabgezogen hatte. Er betrat die Stadt, wie er sie verlassen, indem er den Nationalgardisten, die das römische Tor bewachten, irgendeine Geschichte vormachte. Dann begab er sich nach dem alten Stadtviertel, wo er verstohlen von Tür zu Tür schlich. Alle eifrigen Republikaner, alle Genossen, die den Aufständischen nicht gefolgt waren, fanden sich gegen neun Uhr in einem Winkelkaffeehause ein, wohin Macquart sie bestellt hatte. Als ihrer etwa fünfzig beisammen waren, hielt er ihnen eine Rede, in welcher er von einer persönlichen Rache sprach, die befriedigt, von einem Siege, der errungen, von einem Joche, das abgeschüttelt werden mußte; zum Schlusse machte er sich anheischig, ihnen binnen zehn Minuten das Rathaus in die Hände zu liefern. Er komme soeben von dort, und es sei leer, versicherte er; wenn sie wollten, würde noch diese Nacht die rote Fahne vom Giebel des Rathauses flattern. Die Arbeiter berieten untereinander; zu dieser Stunde liege die Reaktion in den letzten Zügen, die Aufständischen ständen vor den Toren der Stadt; die Ehre gebiete, sich der Gewalt zu bemächtigen, ehe sie zurückkehren; dies werde gestatten, sie als Brüder zu empfangen, mit offenen Toren und geschmückten Straßen und Häusern. Überdies hatte niemand Mißtrauen gegen Macquart; sein Haß gegen die Rougon, die persönliche Rache, von der er sprach, bürgten für seine Aufrichtigkeit. Es wurde vereinbart, daß alle jene, die zu jagen pflegten und eine Flinte besaßen, ihre Waffen holen sollten und daß man sich um Mitternacht auf dem Rathausplatze treffen werde. Es gab allerdings ein kleines Hindernis, das sie stutzig machte: sie hatten keine Kugeln; doch sie beschlossen, ihre Gewehre mit Schrot zu laden, was schließlich auch überflüssig sei, da sie doch nicht auf einen Widerstand stoßen würden.

Wieder einmal sah Plassans bewaffnete Männer in den vom Monde erhellten Straßen die Häuser entlang huschen. Als die Bande vor dem Rathause versammelt war, trat Macquart kühn, aber vorsichtig offenen Auges hervor. Er klopfte an das Tor und als der Pförtner, der von Rougon abgerichtet worden, fragte, was man wolle, stieß der andere solche furchtbare Drohungen aus, daß der Pförtner ganz erschreckt tat und sogleich öffnete. Langsam taten sich die beiden Torflügel auf. Leer und hohl klaffte das weite Torgewölbe.

Da rief Macquart mit lauter Stimme:

Kommt, ihr Freunde!

Dies war das Signal. Er selbst trat rasch zur Seite und während die Republikaner hereinstürzten, blitzten vom finsteren Hofe her Flammen auf und krachten Schüsse, die unter der Torwölbung dumpf widerhallten. Das Tor spie den Tod. Erbittert durch das lange Warten, nach Erlösung von dem Alp lechzend, der in diesem finsteren Hofe sie bedrückte, hatten die Nationalgardisten in fieberhafter Hast alle zugleich ihre Flinten abgeschossen. Der Blitz war so hell, daß Macquart in dem fahlen Scheine des Schießpulvers deutlich sah, wie Rougon zu zielen suchte. Er glaubte den Lauf seines Gewehres auf sich gerichtet, erinnerte sich des Errötens Felicités und flüchtete, indem er brummte:

Nur keine Dummheiten! Der Schuft wäre imstande mich zu töten; er schuldet mir achthundert Franken.

Indes war in dem nächtlichen Dunkel ein Geheul entstanden. Die überraschten Republikaner schrien Verrat und schossen auch ihrerseits. Ein Nationalgardist fiel unter der Torwölbung; die Republikaner hatten drei Tote. Über die Leichen stolpernd ergriffen sie in tollem Schreck die Flucht und schrien durch die stillen Gassen: »Man tötet unsere Brüder!« – mit einer verzweifelten Stimme, die keinen Widerhall fand. Die Verteidiger der Ordnung hatten Zeit gefunden, ihre Gewehre wieder zu laden, stürmten wütend auf den leeren Platz hinaus und sandten Kugeln nach allen Straßenecken, nach allen Punkten, wo das Dunkel einer Pforte, der Schatten einer Laterne, der Vorsprung eines Ecksteines sie Aufständische vermuten ließ. Das währte etwa zehn Minuten, bis sie ihre Flinten in das Leere abgeschossen hatten.

Der Hinterhalt wirkte wie ein Donnerschlag in der schlafenden Stadt. Durch die höllische Schießerei aus dem Schlafe geweckt, hatten die Bewohner der benachbarten Straßen sich zähneklappernd in ihren Betten aufgesetzt. Um keinen Preis der Welt würden sie sich ans Fenster gewagt haben. Inmitten der Flintenschüsse, die durch die Nachtluft krachten, ertönte langsam das Sturmläuten einer Glocke der Kathedrale in einem so unregelmäßigen, seltsamen Rhythmus, daß es klang wie das Hämmern auf einen Amboß, oder wie ein riesiger Kessel, auf den ein zorniges Kind lospaukt. Diese heulende Glocke, welche die Bewohner nicht erkannten, entsetzte sie noch mehr als die Flintenschüsse; manche glaubten eine endlose Reihe von Kanonen über das Straßenpflaster rollen zu hören. Sie legten sich wieder nieder, streckten sich unter ihren Bettdecken aus, als sei es gefährlich gewesen, im Bett aufrecht zu sitzen; bis zum Kinn zugedeckt, den Atem zurückhaltend, machten sie sich ganz klein, während die Zipfel ihrer Kopftücher ihnen auf die Augen herabfielen und ihre Gattinnen an ihrer Seite angstvoll den Kopf in den Kissen vergruben.

Die auf den Wällen verbliebenen Nationalgardisten hatten ebenfalls die Schüsse gehört. Sie eilten in regellosen Haufen herbei, in der Meinung, daß die Aufständischen durch irgendeinen unterirdischen Gang in die Stadt eingedrungen seien. Mit dem Getöse ihres wilden Laufes störten sie die nächtliche Stille der Straßen. Roudier kam als einer der ersten an. Allein Rougon sandte sie auf ihre Posten zurück, indem er streng bemerkte, man dürfe nicht in solcher Weise die Tore einer Stadt verlassen. Betroffen von diesem Vorwurfe – denn in ihrem Schrecken hatten sie tatsächlich die Tore ohne Verteidiger gelassen – kehrten sie in vollem Laufe mit noch größerem Getöse auf ihren Posten zurück. Eine Stunde lang mochte Plassans glauben, daß eine Armee in wütendem Kriegsgetümmel durch die Stadt rase. Das Schießen, das Sturmläuten, das Hinundherlaufen der Nationalgardisten, ihre Waffen, die sie schleppten wie die Knüttel, ihre Schreckensrufe im nächtlichen Dunkel: all dies verursachte ein betäubendes Getöse, daß man glauben mochte, in einer überrumpelten und geplünderten Stadt zu sein. Dies gab den unglücklichen Bewohnern, die da wähnten, die Aufständischen seien wieder da, den Gnadenstoß; sie hatten ja gesagt, dies werde die letzte Nacht sein und Plassans werde noch vor Tagesanbruch in der Erde versinken oder in Rauch aufgehen. Wahnsinnig vor Angst harrten sie in ihren Betten der Katastrophe und wähnten Jeden Augenblick, daß ihre Häuser wankten.

Granoux bearbeitete noch immer die Sturmglocke. Als in der Stadt wieder Stille eingetreten war, klang dieses Läuten schauerlich. Rougon, der in fieberhafter Aufregung war, geriet durch dieses ferne Gebimmel außer sich. Er eilte zur Kathedrale, deren Türe er offen fand. Der Mesner stand auf der Schwelle.

Genug! Genug! schrie er dem Manne zu. Es klingt, als ob ein Mensch heult; es geht einem an die Nerven.

Es ist nicht meine Schuld, entgegnete der Küster mit verzweifelter Miene. Herr Granoux selbst ist in den Glockenturm hinaufgegangen. Ich hatte auf Befehl des Herrn Pfarrers den Klöppel entfernt, damit nicht Sturm geläutet werden könne, allein Herr Granoux wollte keine Vernunft annehmen und ist dennoch hinaufgestiegen; ich weiß wahrhaftig nicht, womit er den höllischen Lärm macht.

Rougon eilte die Stiege hinauf, die zu den Glocken führte, und schrie:

Genug! Genug! Um Gottes willen, hören Sie auf.

Oben angelangt sah er im Lichte eines Mondstrahles, der durch das Zackenwerk eines Fensterbogens hereinfiel, Granoux, wie er ohne Hut, wütend mit einem großen Hammer losschlug. Mit allen Kräften widmete er sich diesem Geschäfte. Er warf sich zurück, nahm einen Anlauf und stürzte sich auf die Bronze, als wollte er sie spalten. Seine ganze dicke Gestalt zog sich zusammen; wenn er sich auf die große, unbewegliche Glocke gestürzt hatte, ließen die Tonschwingungen ihn zurückweichen, und er warf sich mit erneuerter Wut auf die Glocke. Man glaubte einen Schmied zu sehen, der auf ein glühendes Eisen loshämmert, aber einen Schmied im Leibrock, kurz und kahl, in ungeschickter, drohender Haltung.

Vor Überraschung stand Rougon einen Augenblick vor diesem verteufelten Spießbürger, der im Mondenschein mit einer Glocke kämpfte. Jetzt verstand er das Kesselgetöse, mit welchem dieser seltsame Glöckner die Stadt erfüllte. Er mußte ihn bei den Rockschößen fassen, und als Granoux ihn erkannte, rief er in triumphierendem Tone:

Habt ihr gehört? Anfänglich versuchte ich mit den Fäusten auf die Glocke einzuhauen, aber das tat mir weh. Glücklicherweise fand ich diesen Hammer. Noch einige Schläge, nicht wahr?

Doch Rougon schleppte ihn fort. Granoux strahlte von Stolz. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne und nahm seinem Genossen das Versprechen ab, in der Stadt zu verlautbaren, daß er mit einem bloßen Hammer den Höllenlärm hervorgebracht habe. Welche Bedeutung mußte dieses wütende Geläute ihm künftig verleihen!

Gegen Tagesanbruch dachte Rougon daran, Felicité zu beruhigen. Auf seinen Befehl hatten die Nationalgardisten sich im Rathause eingeschlossen; er hatte verboten, die Toten vom Straßenpflaster aufzulesen, unter dem Vorwande, daß der Bevölkerung des alten Stadtviertels ein Beispiel geliefert werden müsse. Als er, um nach der Banne-Straße zu eilen, wo er wohnte, über den Rathausplatz schritt, trat er auf die Hand einer Leiche, die zusammengeballt am Rande des Bürgersteiges lag. Er wäre dabei schier hingefallen. Diese weiche Hand, die sein Stiefelabsatz zerquetschte, verursachte ihm ein unerklärliches Gefühl des Ekels und Abscheues. Mit großen Schritten eilte er durch die öden Straßen und er glaubte hinter seinem Rücken eine blutige Faust zu fühlen, die ihn verfolgte.

Vier liegen am Boden, sagte er zu Hause angekommen.

Sie betrachteten einander, gleichsam erstaunt über ihr Verbrechen. Das Lampenlicht verlieh ihrer Blässe die Farbe des Wachses.

Hast du sie liegen lassen? fragte Felicité. Man muß sie da liegen lassen, wo sie gefallen sind.

Ich habe sie nicht aufgelesen, sie liegen auf dem Rücken, erwiderte er. Ich bin auf etwas Weiches getreten ...

Er betrachtete seinen Stiefel. Der Absatz war voll Blut. Während er die Schuhe wechselte, sagte Felicité:

Ganz recht so; nun wird man doch nicht sagen, daß du in die Spiegel schießest.

Die Schießerei, welche die Rougon ersonnen hatten, um endgültig als die Retter von Plassans anerkannt zu werden, legte ihnen die entsetzte und dankbare Stadt zu Füßen. Düster und trübselig wie die Wintertage sind, brach der Morgen an. Die Bürger, die nichts mehr hörten und es müde geworden waren, in ihren Betten zu zittern, wagten sich heraus. Es kamen ihrer zehn, fünfzehn zum Vorschein; hernach, als ruchbar wurde, daß die Aufständischen die Flucht ergriffen und in allen Gassen Tote zurückgelassen hatten, erhob sich ganz Plassans und strömte auf dem Marktplatz zusammen. Den ganzen Vormittag machten die Neugierigen die Runde um die vier Toten. Sie waren furchtbar verstümmelt, besonders einer, der drei Kugeln im Kopfe hatte; hob man den Schädel auf, so konnte man das Gehirn bloßliegen sehen. Am furchtbarsten war der Nationalgardist anzuschauen, der unter der Torwölbung gefallen war. Er hatte eine ganze Ladung Schrot ins Gesicht bekommen; dieses Gesicht war voll mit Löchern und triefte von Blut. Die Menge weidete sich lange an diesen Scheußlichkeiten mit der Neugierde der Feiglinge für widrige Schauspiele dieser Art. Man erkannte den Nationalgardisten; es war der Wurstmacher Dubruel, den Roudier am Montag morgen beschuldigt hatte, besonders heftig geschossen zu haben. Von den drei anderen Toten waren zwei Hutmacher, der dritte blieb unbekannt. Vor den roten Pfützen, die das Pflaster beschmutzten, standen Gruppen, gaffend und zitternd, von Zeit zu Zeit argwöhnisch hinter sich blickend, als ob diese summarische Justiz, die im Finstern mit Gewehrschüssen die Ordnung hergestellt hatte, sie beobachtete, ihre Worte und Gebärden erspähte, bereit auch sie niederzustrecken, wenn sie nicht mit Begeisterung die Hand küssen wollten, die sie aus der Gewalt der Volksherrschaft errettet hatte.

Der Schrecken der Nacht steigerte noch den furchtbaren Eindruck, den am Morgen der Anblick der vier Leichen hervorgebracht hatte. Die wahre Geschichte dieses kleinen Nachtgefechtes wurde nie bekannt. Die Schüsse der Kämpfenden, Granoux' Glockenschläge, der tolle Lauf der Nationalgardisten durch die Straßen: sie hatten die Ohren mit so fürchterlichem Lärm erfüllt, daß die meisten noch immer von einer Riesenschlacht träumten, die einer unermeßlichen Anzahl von Feinden geliefert war. Als die Sieger in unbewußter Prahlerei die Zahl ihrer Gegner vergrößernd, von ungefähr fünfhundert Mann sprachen, ward dies heftig bestritten und es gab Bürger, die da behaupteten, von ihrem Fenster eine Stunde hindurch die Menge der Flüchtigen beobachtet zu haben. Übrigens wollten alle den wilden Lauf der Banditen unter ihren Fenstern gehört haben. Unmöglich hätten fünfhundert Mann eine ganze Stadt so plötzlich aus ihrer Ruhe aufscheuchen können. Es war eine Armee, eine vollständige und große Armee, durch die tapfere Bürgerwehr von Plassans hinweggefegt. Das Wort »hinweggefegt« fand man sehr zutreffend; denn die mit der Verteidigung der Stadtwälle betrauten Posten schworen bei allen großen Göttern, daß kein einziger Mann herein- noch hinausgekommen sei. Dieser Umstand verlieh der Waffentat noch einen Schimmer von Geheimnis; man dachte an gehörnte Teufel, die sich in die Flammen stürzten; kurz, die Geister gerieten vollends auf Abwege. Allerdings schwiegen die Posten von ihrem wütenden Galopp durch die Stadt. Darum hielten sich selbst die vernünftigsten Leute an den Gedanken, daß eine Aufrührerbande bei einer Bresche oder durch irgendein Loch eingedrungen sein müsse. Später munkelte man von Verrat, von einem Hinterhalte; die Leute, die Macquart auf die Schlachtbank geführt, konnten die grause Wahrheit allerdings nicht erfassen; aber es herrschte noch ein solcher Schrecken, der Anblick des Blutes hatte der Reaktion eine solche Anzahl von Feiglingen zugeführt, daß man diese Gerüchte der Wut der besiegten Republikaner zuschrieb. Von anderer Seite wurde behauptet, daß Macquart der Gefangene Rougons sei, daß dieser ihn in einem feuchten Verlies gefangen halte und daselbst eines langsamen Hungertodes sterben lasse. Diese Schreckensmär bewirkte, daß Rougon mit ehrerbietigsten Bücklingen begrüßt wurde.

So kam es, daß dieser plumpe, schlappe, bleiche, dickwanstige Spießbürger in einer Nacht zu einem furchtbaren Herrn wurde, über den niemand zu lachen wagte. Er hatte im Blute gewatet. Die Bevölkerung der Altstadt blieb angesichts der Toten stumm vor Entsetzen. Doch gegen zehn Uhr, als die vornehmeren Leute aus der Neustadt kamen, hörte man auf dem Rathausplatze halblaute Gespräche, unterdrückte Ausrufe. Man sprach von dem anderen Angriff, von jener Einnahme des Rathauses, bei der bloß ein Spiegel zertrümmert worden war; und jetzt scherzte man nicht mehr über Rougon, man nannte seinen Namen mit ehrerbietigem Schreck; er war wirklich ein Held, ein Retter. Die Leichen starrten mit ihren offenen Augen auf die Herren Advokaten und Rentenbesitzer, die zusammenschauerten, indem sie sich sagten, daß der Bürgerkrieg seine traurigen Notwendigkeiten habe. Der Notar, der gestern die Abordnung der Bürger nach dem Rathause geführt hatte, ging von Gruppe zu Gruppe und erzählte von dem »Ich bin bereit« des energischen Mannes, dem man das Heil der Stadt verdankte. Alle hatten sich ergeben. Die sich über die Einundvierzig am grausamsten lustig gemacht, besonders die, die Rougon Ränkestifter und Feiglinge genannt hatten, die nur in die Luft schießen, sprachen zuerst davon, einen Lorbeerkranz »dem großen Manne zu widmen, der Plassans zu ewigem Ruhme gereichen werde«. Denn die Blutlachen trockneten auf dem Straßenpflaster; die Toten kündeten durch ihre Wunden, bis zu welcher Kühnheit die Partei der Unordnung, der Plünderung, des Mordes gediehen war, und welcher starken Hand es bedurfte, um den Aufstand zu unterdrücken.

Granoux nahm in der Menge Beglückwünschungen und Händedrücke entgegen. Die Geschichte mit dem Hammer war bekannt geworden. Vermöge einer harmlosen Lüge, an die er selbst bald zu glauben begann, gab er vor, daß er zuerst die Aufständischen gesehen und Sturm geläutet habe; sei er nicht gewesen, so wären die Nationalgardisten niedergemetzelt worden. Dies verdoppelte noch seine Wichtigkeit. Sein Auskunftsmittel wurde als wunderbar bezeichnet. Man nannte ihn nur mehr »Herr Isidor; der Herr, der mit dem Hammer Sturm geläutet hat«. Obgleich der Satz etwas lang war, würde Herr Granoux ihn gern als Adelstitel angenommen haben; man konnte fortan das Wort »Hammer« nicht vor ihm aussprechen, ohne daß er an eine zarte Schmeichelei glaubte.

In dem Augenblick, als man die Leichen fortschaffte, kam Aristide hinzu, um zu sehen. Er betrachtete die Leichen von allen Seiten, forschte und schnupperte herum, befragte alle Gesichter. Seine Miene war ruhig, seine Augen hell. Mit seiner gestern noch verbundenen, jetzt freien Hand hob er die Bluse eines der Toten in die Höhe, um die Wunde besser betrachten zu können. Diese Prüfung schien ihn zu überzeugen, ihm jeden Zweifel zu benehmen. Er kniff die Lippen zusammen und stand eine Weile wortlos da: dann ging er, um die Ausgabe des »Unabhängigen« zu beschleunigen, in dem er einen großen Artikel veröffentlichte. Während er die Häuser entlang dahinschritt, erinnerte er sich des Wortes seiner Mutter: »Morgen sollst du sehen.« Was er gesehen, war sehr stark; es schreckte ihn sogar ein wenig. Indes begann Rougon sich in seinem Siege unbehaglich zu fühlen. Im Kabinett des Herrn Garçonnet allein, das dumpfe Geräusch der Menge hörend, hatte er eine seltsame Empfindung, die ihn abhielt, sich auf dem Balkon zu zeigen. Das Blut, in dem er gewatet, machte ihm die Beine schwer. Er fragte sich, was er bis zum Abend anfangen solle. Sein armer, leerer Kopf, durch die Krise der Nacht völlig verstört, suchte verzweifelt eine Beschäftigung, eine Weisung, die er erteilen, eine Maßregel, die er ergreifen könne und die ihn zerstreuen werde. Aber er wußte nichts mehr. Wohin führte ihn Felicité? War es jetzt aus oder wird er noch mehr Leute töten müssen? Die Furcht erfaßte ihn wieder: schreckliche Zweifel tauchten in ihm auf; schon sah er die Stadtmauern auf allen Seiten von der rächenden Armee der Republikaner beschossen, als ein ungeheurer Schrei: »Die Aufständischen, die Aufständischen!« unter den Fenstern des Rathauses ertönte. Er fuhr auf und hob einen Vorhang in die Höhe. Da konnte er die Menge verzweifelt über den Platz rennen sehen. Bei diesem Donnerschlag sah er sich in weniger denn einer Sekunde ruiniert, geplündert, ermordet; er fluchte seiner Frau, er fluchte der ganzen Stadt. Als er einen Ausweg suchend, mißtrauisch um sich blickte, hörte er das Volk in einen Jubel ausbrechen, daß die Scheiben erzitterten. Er trat wieder ans Fenster; die Frauen ließen ihre Tücher flattern, die Männer sanken einander in die Arme; einige faßten sich bei den Händen und tanzten. Er war ganz blöde, begriff nichts von all dem, sein armer Kopf drehte sich im Kreise, er fühlte sich furchtbar geängstigt in diesem großen, öden, stillen Rathause.

Als Rougon später seiner Frau beichtete, vermochte er niemals zu sagen, wie lange seine Marter gedauert hatte. Er erinnerte sich bloß, daß laute Tritte, die in den weiten Sälen widerhallten, ihn aus seiner Bestürzung geweckt hatten. Er erwartete die mit Sensen und Knütteln bewaffneten Blusenmänner und sah die Gemeindevertretung eintreten, ehrsam, schwarz gekleidet, mit strahlender Miene. Nicht ein Mitglied fehlte. Eine glückliche Nachricht hatte alle die Herren mit einem Male geheilt. Granoux warf sich seinem teuren Präsidenten in die Arme.

Die Soldaten sind da! stammelte er; die Soldaten!

In der Tat war ein Regiment eingetroffen, das den Befehlen des Obersten Masson und des Bezirkspräfekten, Herrn von Blériot gehorchte. Die von den Wällen in der fernen Ebene wahrgenommenen Gewehre hatten anfänglich den Glauben erweckt, daß die Aufständischen sich näherten. Die Erregung Rougons war so groß, daß zwei schwere Tränen ihm über die Wangen rannen. Der große Bürger weinte! Die Gemeindevertretung sah mit respektvoller Bewunderung diese Tränen. Doch Granoux warf sich von neuem seinem Freunde an den Hals und rief:

Wie glücklich bin ich! Sie wissen, ich bin ein freier Mann. Nun denn: wir alle hatten Furcht; nicht wahr, meine Herren, wir alle? Sie allein waren groß, mutig, erhaben. Welche Energie mußten Sie besitzen! Ich sagte vorhin zu meiner Frau: Rougon ist ein großer Mann; er verdient eine Auszeichnung.

Jetzt schlugen die Herren vor, dem Präfekten entgegen zu gehen. Betäubt, fassungslos, an einen so plötzlichen Triumph nicht glauben wollend, stammelte Rougon wie ein Kind. Jetzt erst kam er wieder zu Atem. Ruhig, und mit der Würde, welche die feierliche Gelegenheit erheischte, ging er hinab. Doch die Begeisterung, mit der die Gemeindevertretung und deren Obmann auf dem Rathausplatze empfangen wurden, brachte diesen Würdenträger abermals in Verwirrung. Sein Name machte die Runde in der Menge, diesmal von den wärmsten Lobsprüchen begleitet. Er hörte ein ganzes Volk den Wunsch Granoux' wiederholen, ihn wie einen Helden zu feiern, der inmitten des allgemeinen Schreckens allein unerschütterlich aufrecht geblieben. Und bis zum Platze vor der Unterpräfektur, wo die Vertretung dem Präfekten begegnete, genoß er seine Volkstümlichkeit, seinen Ruhm mit der geheimen Wonne eines verliebten Weibes, dessen Begierden endlich befriedigt wurden.

Herr von Bleriot und der Oberst Masson kamen allein in die Stadt und ließen die Truppe auf der Lyoner Straße kampieren. Über die Richtung des Marsches der Aufständischen getäuscht, hatten sie erheblich Zeit verloren. Übrigens wußten sie jetzt, daß die Aufständischen in Orchères seien, und wollten sich nur eine Stunde in Plassans aufhalten, um die Bevölkerung zu beruhigen und die grausamen Befehle zu veröffentlichen, welche die Beschlagnahme des Vermögens der Aufständischen verfügten und allen jenen, die mit den Waffen in der Hand ergriffen würden, mit der Todesstrafe drohten. Der Oberst Masson lächelte, als der Kommandant der Nationalgarde die rostigen Riegel von dem römischen Tor unter lautem Knarren zurückschieben ließ. Der Posten gab dem Präfekten und dem Obersten als Ehrenwache das Geleite. Unterwegs über die ganze Promenade Sauvaire erzählte Roudier den Herren von der Heldentat Rougons, von den drei Schreckenstagen, die mit dem glanzvollen Siege der letzten Nacht endeten. Als dann die beiden Gruppen einander gegenüberstanden, schritt Herr von Blériot lebhaft auf den Obmann der Gemeindevertretung zu, drückte ihm die Hände, beglückwünschte ihn und bat ihn, noch bis zur Rückkehr der Behörden über die Stadt zu wachen. Rougon grüßte, während der Präfekt an dem Tore der Präfektur, wo er einen Augenblick ausruhen wollte, mit lauter Stimme versicherte, er werde es nicht unterlassen, in seinem Berichte der schönen und mutigen Haltung Rougons zu gedenken.

Inzwischen stand trotz der schneidenden Kälte die ganze Bevölkerung an den Fenstern. Felicité, die sich soweit vorneigte, daß sie schier hinausfiel, war bleich vor Freude. Soeben war Aristide mit einer Nummer des »Unabhängigen« angekommen, in der er sich rundheraus für den Staatsstreich erklärte, den er als »die Morgenröte der Freiheit in der Ordnung und der Ordnung in der Freiheit« begrüßte. Auch hatte er eine leise Anspielung auf den gelben Salon gemacht, hatte sein Unrecht bekannt und gesagt: »die Jugend sei dünkelhaft, die großen Bürger aber schweigen, überlegen im stillen, lassen die Beschimpfungen über sich ergehen, um sich am Tage des Kampfes in ihrem Heldenmut aufzurichten.« Er war mit dem letzten Satze ganz besonders zufrieden. Seine Mutter fand den Artikel vorzüglich geschrieben. Sie küßte den lieben Sohn und wies ihm zu ihrer Rechten einen Platz an. Der Marquis von Carnavant, der müde der Einsamkeit und von der Neugierde getrieben ebenfalls zu Besuch gekommen war, lehnte sich zu ihrer Linken an das Fenster.

Als Herr von Blériot auf dem Marktplatze Peter die Hand reichte, brach Felicité in Tränen aus.

Ach schau nur, schau! sagte sie zu Aristide. Er hat ihm die Hand gedrückt. Schau, wieder ergreift er seine Hand.

Während sie nach den Fenstern ausblickte, wo die Leute Kopf an Kopf standen, fuhr sie fort:

Wie müssen sie sich ärgern. Schau nur die Frau des Herrn Peirotte: sie beißt ordentlich in ihr Taschentuch. Und dort die Töchter des Notars, und weiterhin Frau Massicot und die Familie Brunet: welche Gesichter! Wie ihre Nasen lang werden! Ach ja, jetzt ist unsere Zeit gekommen! Sie folgte der Szene am Tore der Unterpräfektur mit Wonne; ein Zucken ging durch ihren unruhigen Heuschreckenleib. Sie deutete die geringsten Gebärden; sie erfand die Worte, die sie nicht hören konnte; sie sagte, daß Peter sehr schicklich grüße. Einen Augenblick war sie verdrossen, als der Präfekt das Wort an den armen Granoux richtete, der nach einem Lobe lechzend ihn umkreiste. Ohne Zweifel kannte Herr von Blériot schon die Geschichte mit dem Hammer; der ehemalige Mandelhändler errötete wie ein Mädchen und schien zu sagen, daß er nur seine Pflicht getan habe. Was sie noch mehr ärgerte, war die übergroße Güte ihres Gatten, der Vuillet den Herren vorstellte; allerdings hatte sich Vuillet herangedrängt, und Rougon war gezwungen, ihn zu nennen.

Welch ein Ränkeschmied! brummte Felicité. Überall schleicht er sich ein ... Mein armer Mann muß in arger Verlegenheit sein! ... Jetzt spricht der Oberst mit ihm. Was er ihm wohl sagen mag?

Ei, Kleine, erwiderte der Marquis mit feiner Ironie, er macht ihm Komplimente, weil er die Stadttore so fest hatte schließen lassen.

Mein Vater hat die Stadt gerettet, bemerkte Aristide in trockenem Tone. Haben Sie die Leichen gesehen, mein Herr?

Herr von Carnavant antwortete nicht. Er trat vom Fenster zurück und setzte sich in einen Lehnstuhl, wobei er mit einer Miene des Verdrusses den Kopf schüttelte. Da der Präfekt inzwischen den Platz verlassen hatte, eilte jetzt auch Peter herbei. Er warf sich seiner Frau an den Hals und stammelte:

Ach, Beste! ...

Mehr vermochte er nicht zu sagen. Felicité drängte ihn, daß er auch Aristide umarme; sie erzählte ihm von dem herrlichen Artikel des »Unabhängigen«. Peter würde in seiner tiefen Rührung auch den Marquis auf beide Wangen geküßt haben; allein seine Frau nahm ihn beiseite und gab ihm Eugens Brief, den sie wieder in den Umschlag gesteckt hatte. Sie behauptete, man habe den Brief soeben gebracht. Peter reichte ihn ihr, nachdem er ihn gelesen, mit triumphierender Miene und sagte lachend:

Du bist eine Zauberin. Du hast alles erraten. Welche Dummheit hätte ich ohne dich begangen! Künftig wollen wir unsere Angelegenheiten zusammen erledigen. Küsse mich, du bist eine wackere Frau.

Er schloß sie in seine Arme, während sie mit dem Marquis ein verstohlenes Lächeln tauschte.


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