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Nach dem Sturze Napoleons war Antoine Macquart nach Plassans zurückgekehrt. Er hatte das unglaubliche Glück gehabt, keinen einzigen der letzten mörderischen Feldzüge des Kaiserreiches mitzumachen. Er hatte sich von Depot zu Depot geschleppt, nichts hatte ihn seinem trägen Soldatenleben entfremdet. Dieses Leben entwickelte vollends seine natürlichen Laster. Seine Trägheit ward zur Methode, seine Trunksucht, die ihm eine zahllose Menge von Abstrafungen eingetragen hatte, wurde von da ab für ihn eine wahre Religion. Aber den schlimmsten Kerl machte aus ihm seine große Mißachtung für die armen Teufel, die durch ihre ehrliche Arbeit ihr Brot verdienten.
Ich habe Geld in meiner Heimat, sagte er oft zu seinen Kameraden; wenn meine Dienstzeit um ist, werde ich zu Hause ein Spießbürgerleben führen.
Diese Zuversicht und seine krasse Unwissenheit hinderten ihn, auch nur den Grad eines Korporals zu erreichen.
Seitdem er zum Kriegsdienst eingerückt war, hatte er keinen einzigen Tag in Plassans zugebracht, weil sein Bruder tausend Vorwände zu ersinnen wußte, um ihn von da fernzuhalten. Darum wußte er auch nichts von der pfiffigen Art und Weise, wie Peter sich das Vermögen ihrer Mutter angeeignet hatte. In der tiefen Gleichgültigkeit, in welcher Adelaide lebte, hatte sie ihrem Sohn Antoine kaum dreimal geschrieben und auch dann nur, um ihm einfach mitzuteilen, daß sie sich wohl befinde. Das Stillschweigen, mit dem seine häufigen Geldforderungen aufgenommen wurden, machte ihn nicht argwöhnisch, denn er kannte zur Genüge den Geiz Peters, um sich die Schwierigkeit zu erklären, mit welcher er von Zeit zu Zeit ein elendes Zwanzigfrankenstück zu erpressen vermochte. Dies steigerte übrigens nur noch seinen Groll gegen seinen Bruder, der ihn beim Militär verkommen ließ, obgleich er ihm in aller Form versprochen hatte, ihn loszukaufen. Als er heimkehrte, schwor er unterwegs, nimmer zu gehorchen, wie ein Knabe, sondern keck seinen Anteil zu fordern, um behaglich leben zu können. In dem Stellwagen, der ihn nach Hause brachte, träumte er ein köstliches Leben der Trägheit. Der Einsturz seiner Luftschlösser war schrecklich für ihn. Als er in der Vorstadt ankam und die Gartenwirtschaft der Foucque nicht wiedererkannte, stand er wie vom Donner gerührt da. Er mußte sich nach der neuen Wohnung seiner Mutter erkundigen. Hier gab es dann eine schreckliche Szene. Adelaide erzählte ihm ganz ruhig, daß das unbewegliche Gut verkauft worden sei. Darob erboste er sich in dem Maße, daß er die Hand gegen seine Mutter erhob.
Doch die arme Frau versicherte ihm ein um das andere Mal:
Dein Bruder hat alles genommen und wird für dich Sorge tragen, das ist ausbedungen worden.
Endlich ging er und eilte zu Peter, den er von seiner Heimkehr verständigt hatte und der sich darauf vorbereitete, ihn in einer Weise zu empfangen, daß er beim ersten groben Worte für immer mit ihm fertig werden solle.
Hören Sie, sagte ihm der Ölhändler, indem er tat, als wolle er ihn nicht mehr duzen, regen Sie mir nicht die Galle auf, sonst setze ich Sie vor die Türe. Im Grunde kenne ich Sie gar nicht, wir führen nicht den nämlichen Namen. Es ist schon schlimm genug für mich, daß meine Mutter sich schlecht aufgeführt hat; ihre Bastarde brauchen nicht noch hierher zu kommen, um mich zu beschimpfen. Ich hatte gute Absichten mit Ihnen; da Sie aber unverschämt sind, werde ich nichts, gar nichts für Sie tun.
Antoine glaubte vor Zorn ersticken zu müssen.
Und mein Geld! schrie er. Willst du es mir zurückgeben, oder muß ich dich vor die Gerichte zerren?
Peter zuckte mit den Achseln.
Ich habe kein Geld von Ihnen, erwiderte er immer ruhiger. Meine Mutter hat über ihr Vermögen verfügt, wie sie es für gut fand. Es steht mir nicht zu, mich in ihre Angelegenheiten zu mengen. Ich habe freiwillig auf alle Erbschaftshoffnungen verzichtet und habe Ihre schmutzigen Anklagen nicht zu fürchten.
Als der andere, durch die Kaltblütigkeit erbittert, unzusammenhängendes Zeug stammelte und nicht mehr wußte, was er glauben sollte, hielt er ihm den Empfangschein vor die Nase, den Adelaide unterschrieben hatte. Dieses Schriftstück schmetterte Antoine vollends nieder.
Es ist gut, sagte er fast ruhig, ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.
In Wahrheit wußte er aber nicht, wozu er sich entschließen solle. Seine Ohnmacht, ein Mittel zu finden, wie er sich sogleich in den Besitz seines Anteils setzen und sich rächen sollte, stachelte seine Wut noch mehr an. Er kehrte zu seiner Mutter zurück und unterzog sie einem schmachvollen Verhör. Die unglückliche Frau konnte aber nichts tun, als ihn wieder zu Peter schicken.
Glaubt ihr, ihr würdet mich mit leeren Reden abfertigen können? schrie er. Ich will es schon herauskriegen, wer von euch beiden das Geld hat. Du hast vielleicht schon alles aufgefressen?
Indem er Anspielungen auf ihre frühere unordentliche Lebensführung machte, fragte er sie, ob sie nicht irgendeinen Schatz habe, dem sie ihre letzten Pfennige zustecke? Er schonte selbst seinen Vater nicht, diesen Trunkenbold Macquart, wie er ihn nannte, der sicherlich bis zu seinem Tode gesoffen und dann seine Kinder im Elend zurückgelassen habe. Das arme Weib hörte mit blöder Miene diese Reden an, und schwere Tränen rannen über ihre Wangen hinab. Sie verteidigte sich in kindischem Schrecken und antwortete auf die Fragen ihres Sohnes wie auf die eines Richters; sie schwor, daß sie sich ordentlich aufführe, und wiederholte immer wieder, daß sie keinen Sou besitze, daß Peter alles genommen habe. Schließlich schenkte ihr Antoine fast Glauben.
Ist das ein Gauner! brummte er, deswegen also hat er mich nicht losgekauft!
Er mußte in der Behausung seiner Mutter übernachten, auf einem Strohsack, den man ihm in einen Winkel geworfen hatte. Er war mit ganz leeren Taschen heimgekehrt; am meisten erbitterte ihn das Gefühl, ohne jede Hilfe und ohne Obdach zu sein, verlassen wie ein Hund auf der Gasse, während sein Bruder – wie er meinte – schöne Geschäfte machte und ein Schlemmerleben führte. Da er kein Geld hatte, um sich Kleider zu kaufen, ging er am nächsten Tage mit seiner Soldatenhose und seinem Käppi aus. Dazu trug er eine alte Jacke von gelbem Samt, die er in einem Schrank gefunden und die einst Macquart gehört hatte. In diesem seltsamen Anzug rannte er durch die Straßen der Stadt, erzählte jedermann sein Schicksal und forderte laut Gerechtigkeit.
Die Leute, die er zu Rate zog, empfingen ihn mit einer Geringschätzung, die ihm Tränen der Wut erpreßte. In der Provinz ist man unerbittlich gegen zugrunde gegangene Familien. Die öffentliche Meinung sagte, daß die Rougon-Macquart sich untereinander auffräßen; die Umgebung würde, anstatt sie zu trennen, sie weit eher angeeifert haben, einander zu zerfleischen. Nur Peter begann sich von dem Erbmakel zu reinigen. Man lachte über seinen Gaunerstreich. Einige gingen so weit zu behaupten, daß er recht getan, wenn er sich wirklich des Geldes bemächtigt hätte, und daß dies für die verlumpten Leute in der Stadt eine gute Lehre sei.
Antoine kehrte entmutigt heim. Ein Advokat hatte ihm voll Widerwillen geraten, die Familie möge ihre schmutzige Wäsche zu Hause besorgen. Der Rechtsanwalt hatte dieses Gutachten abgegeben, nachdem er sich erkundigt hatte, ob Antoine auch die Mittel zur Führung eines Prozesses besitze. Er meinte, die Angelegenheit sei sehr verworren, werde sehr viele Scherereien verursachen, und der Erfolg sei schließlich dennoch zweifelhaft, und im übrigen sei dazu Geld, viel Geld notwendig.
Am Abend dieses Tages war Antoine noch härter gegen seine Mutter; da er nicht wußte, an wem er sich rächen solle, wiederholte er seine gestrigen Anklagen gegen sie. Er hielt die Unglückliche bis Mitternacht fest, daß sie vor Angst am ganzen Leibe zitterte. Da sie ihm erzählt hatte, daß Peter ihr eine Pension zahle, wurde es für ihn zur Gewißheit, daß sein Bruder die fünfzigtausend Franken eingesackt habe. Allein in seiner Erregtheit tat er, als zweifle er noch. Diese Steigerung der Bosheit bot ihm Erleichterung.
Er hörte nicht auf, sie mit argwöhnischer Miene zu befragen, indem er tat, als glaube er noch immer, daß sie sein Vermögen mit Liebhabern vergeudet habe.
Mein Vater war wohl nicht der einzige, sagte er endlich roh.
Bei diesem letzten Schlage sank sie auf eine alte Kiste hin, wo sie die ganze Nacht schluchzend liegen blieb.
Antoine begriff alsbald, daß er allein und ohne Hilfsmittel den Kampf mit seinem Bruder nicht aufnehmen könne. Er versuchte anfänglich, Adelaide für seine Sache zu gewinnen. Eine von ihr ausgehende Klage würde sicherlich ernste Folgen für Peter gehabt haben; allein das arme Weib in seiner Schwäche und seinem Stumpfsinn lehnte bei den ersten Worten Antoines energisch die Zumutung ab, ihren ältesten Sohn zu behelligen.
Ich bin eine Unglückliche, stammelte sie, du hast ganz recht, wenn du dich erzürnst. Allein es wäre zu viel für mein Gewissen, wenn ich eines meiner Kinder dem Gefängnisse überliefern müßte. Nein, da ist es mir lieber, daß du mich prügelst.
Er begriff, daß er ihr höchstens Tränen erpressen könne und begnügte sich daher hinzuzufügen, daß die gerechte Strafe sie ereilt habe und daß er kein Mitleid mit ihr fühle. Von dem fortwährenden Gezänk ihres Sohnes erschüttert, bekam Adelaide am Abend einen ihrer nervösen Anfälle, der sie steif, mit offenen Augen, wie eine Tote hinstreckte. Der junge Mensch warf sie auf ihr Lager, ohne ihr auch nur durch Lösung des Schnürleibes einige Erleichterung zu verschaffen; dann begann er im Hause zu suchen, ob die Unglückliche nicht irgendwo Ersparnisse verborgen habe. Er fand eine Summe von ungefähr vierzig Franken. Er bemächtigte sich dieses Geldes; während seine Mutter starr und bewußtlos liegen blieb, mietete er sich auf dem nach Marseille verkehrenden Stellwagen ein.
Er dachte sich, daß Mouret, jener Hutmacher, der seine Schwester Ursula geheiratet hatte, über den Gaunerstreich Peters entrüstet sein müsse und sicherlich bereit sein werde, die Interessen seiner Gattin zu verteidigen. Allein er fand in Mouret nicht den Mann, auf den er gezählt hatte. Der Hutmacher erklärte rund heraus, er habe sich an den Gedanken gewöhnt, Ursula als eine Waise zu betrachten, und daß er unter keinen Umständen mit seiner Familie zu schaffen haben wolle. Die Verhältnisse des Ehepaares gestalteten sich übrigens erfreulich. Als Antoine sah, daß er sehr kühl empfangen wurde, beeilte er sich, seinen Platz auf dem Stellwagen für die Rückfahrt sicherzustellen. Doch ehe er abfuhr, wollte er sich noch rächen für die stille Verachtung, die er in den Blicken des Hutmachers las. Da er seine Schwester bleich und beklommen gefunden, hatte er die Grausamkeit, ihrem Gatten zu sagen:
Haben Sie acht! Meine Schwester war stets schwach und ich habe sie sehr verändert gefunden; Sie könnten sie leicht verlieren.
Die Tränen, die Mouret in die Augen traten, bewiesen ihm, daß er den Finger in eine offene Wunde gelegt habe. Warum prahlte auch dieses Arbeitervolk dermaßen mit seinem Wohlstande!
Nach Plassans zurückgekehrt, nahm Antoine, der jetzt die Gewißheit hatte, daß ihm die Hände gebunden seien, eine noch drohendere Haltung an. Einen Monat hindurch sah man ihn ständig in der Stadt. Er lief durch alle Straßen und erzählte seine Geschichte jedem, der sie hören wollte. Wenn er seiner Mutter ein Zwanzig-Sous-Stück abgepreßt hatte, lief er in eine Schenke, um das Geld zu vertrinken und schrie laut, daß sein Bruder ein Halunke sei, der in Bälde von ihm zu hören bekommen solle. Die weinselige Freundschaft, die unter Trunkenbolden herrscht, verschaffte ihm an solchen Orten eine willfährige Zuhörerschaft; der ganze Pöbel der Stadt eignete sich seine Streitsache an und es wurden Schmähungen ohne Ende gegen diesen Lumpen Rougon laut, der einen tapferen Soldaten hungern lasse und solches Gerede endigte gewöhnlich mit einer allgemeinen Verdammung aller Reichen. Um seine Rache zu verschärfen, fuhr Antoine fort, sein Käppi, seine Soldatenhose und dazu die alte, gelbe Jacke zu tragen, obgleich seine Mutter sich anheischig gemacht hatte, ihm anständigere Kleider zu kaufen. Er trug in auffälliger Weise seine Fetzen zur Schau und machte am Sonntag auf der Promenade Sauvaire, wo alle Welt spazieren ging, damit Staat.
Eine seiner liebsten Freuden war, täglich zehnmal an dem Laden Peters vorüberzugehen. Er vergrößerte mit seinen Fingern die Löcher in seiner Jacke, verlangsamte seine Schritte und blieb manchmal laut plaudernd vor der Türe stehen, um länger in der Straße zu bleiben. An solchen Tagen brachte er irgendeinen Saufbruder mit, um jemanden zu haben, mit dem er sich ausreden konnte; er erzählte ihm dann den Diebstahl der fünfzigtausend Franken und begleitete seine Erzählung mit Beschimpfungen und lauten Drohungen, so daß die ganze Straße ihn hörte und seine Scheltworte an die rechte Adresse bis in das Hinterstübchen des Ladens gelangten.
Er wird endlich noch an unserer Türe betteln, sagte Felicité verzweifelt.
Die eitle kleine Frau litt schrecklich unter diesem Ärgernis. Zu jener Zeit geschah es wohl nicht selten, daß sie es bereute, Rougon geheiratet zu haben; die Familie ihres Gatten war gar zu schrecklich. Sie hätte alles in der Welt dafür gegeben, daß Antoine aufhöre, seine Lumpen spazieren zu führen. Allein Peter, den die Aufführung seines Bruders zum Äußersten ergrimmte, litt nicht, daß man auch nur seinen Namen vor ihm ausspreche. Wenn seine Frau ihm zu verstehen gab, daß es vielleicht besser sei, sich seiner zu entledigen, indem man ihm einiges Geld gebe, schrie er wütend:
Nein! Nicht einen Heller! Er mag krepieren!
Indes gab er schließlich selber zu, daß das Verhalten Antoines unerträglich werde. Eines Tages wollte Felicité der Sache ein Ende machen und rief »den Menschen«, wie sie ihn gewöhnlich mit geringschätziger Miene nannte. Dieser Mensch hatte sie soeben, mitten in der Straße stehend, eine Gaunerin genannt; einer seiner Saufbrüder, noch zerlumpter als er, war in seiner Gesellschaft, und beide waren volltrunken.
Komm mal, man ruft uns da hinein, sprach Antoine vergnügt zu seinem Genossen.
Felicité wich zurück und flüsterte:
Mit Ihnen allein wünschen wir zu sprechen.
Bah, erwiderte der junge Mensch, mein Kamerad ist ein guter Kerl, der darf alles hören, er ist mein Zeuge.
Der Zeuge ließ sich schwerfällig auf einem Sessel nieder, behielt die Mütze auf und begann umherzublicken mit dem milden Lächeln der Trunkenbolde und der rohen Menschen, die sich ihrer Frechheit bewußt sind. Felicité schämte sich und stellte sich in die Türe des Ladens, damit man nicht von außen sehen könne, welche seltsame Gesellschaft sie empfange. Glücklicherweise kam ihr Gatte ihr zu Hilfe. Ein heftiger Streit entbrannte zwischen ihm und seinem Bruder. Der letztere, dessen weinschwere Zunge sich in Beschimpfungen verwickelte, wiederholte wohl an die zwanzig Male die nämlichen Beschwerden. Schließlich begann er gar zu flennen, und es fehlte nicht viel, daß auch seinen Kameraden die Rührung übermannt hätte. Peter hatte sich in sehr würdiger Weise verteidigt.
Hören Sie mal, sagte er schließlich, Sie sind im Unglück und ich habe Mitleid mit Ihnen. Obgleich Sie mich schwer beschimpft haben, will ich doch nicht vergessen, daß wir dieselbe Mutter haben. Aber wenn ich Ihnen etwas gebe, so sollen Sie wissen, daß ich es aus Mildherzigkeit tue und nicht aus Furcht. Wollen Sie hundert Franken annehmen, um sich aus der Not zu helfen?
Dieses plötzliche Anerbieten von hundert Franken blendete den Kameraden Antoines. Er schaute den letzteren mit verklärter Miene an, als wollte er sagen: Ja, wenn der Spießbürger hundert Franken hergeben will, hast du weiter keine Dummheiten zu machen. Allein Antoine gedachte die Nachgiebigkeit seines Bruders besser auszunützen. Er fragte, ob jener sich über ihn lustig machen wolle und forderte seinen Anteil: zehntausend Franken.
Du tust nicht recht, du tust nicht recht, stammelte sein Genosse.
Als Peter die Geduld verlor und davon sprach, alle beide auf die Gasse setzen zu wollen, ging Antoine mit seinen Forderungen herab und verlangte mit einem Schlage nur tausend Franken. Über diese Summe stritten sie dann noch eine gute Weile hin und her, bis Felicité sich ins Mittel legte, weil allmählich Leute sich vor dem Laden ansammelten.
Hören Sie, sagte sie lebhaft, mein Mann wird Ihnen zweihundert Franken geben, und ich mache mich überdies anheischig, Ihnen einen neuen Anzug zu kaufen und auf ein ganzes Jahr eine Wohnung zu mieten.
Darüber geriet Rougon in Zorn; doch der Genosse Antoines schrie entzückt:
Abgemacht, mein Freund nimmt es an.
Antoine erklärte in der Tat mit süßsaurer Miene, daß er das Anerbieten annehme. Er mochte wohl fühlen, daß er nicht mehr herauskriege. Es wurde vereinbart, daß man ihm am folgenden Tage das Geld und die Kleider sende und daß er einige Tage später, sobald Felicité für ihn eine geeignete Wohnung gefunden habe, sein eigenes Heim beziehen werde.
Während sie sich zurückzogen, benahm sich der Trunkenbold, der Antoine begleitete, ebenso respektvoll, wie er bei seinem Eintritte frech gewesen. Mehr als zehnmal lüftete er die Mütze vor den Herrschaften in untertäniger und linkischer Haltung und stammelte unverständliche Dankesworte, als ob die Geschenke des Rougonschen Ehepaares für ihn bestimmt seien.
Eine Woche später bezog Antoine eine große Stube im alten Quartier. Da der junge Mensch sich in aller Form verpflichtet hatte, sie künftig in Ruhe zu lassen, war Felicité über ihre Versprechungen hinausgegangen und hatte ein Bett, einen Tisch und mehrere Stühle in seine Stube schaffen lassen.
Adelaide sah ohne Kummer ihren Sohn scheiden; durch den kurzen Aufenthalt, den er bei ihr genommen, war sie für länger als drei Monate zu Wasser und Brot verurteilt gewesen.
Antoine hatte die zweihundert Franken bald aufgezehrt und vertrunken. Keinen Augenblick hatte er daran gedacht, sie in irgendeinem kleinen Handel anzulegen, der ihn ernährt hätte. Als er von neuem ohne Pfennig dastand und da er keinerlei Gewerbe hatte, überdies auch jede Arbeit scheute, wollte er noch einmal aus Rougons Börse schöpfen. Allein die Umstände waren nicht mehr die nämlichen; es gelang ihm nicht, das Ehepaar ins Bockshorn zu jagen. Peter benützte sogar diese Gelegenheit, ihn an die Luft zu setzen, und verbot ihm, sich jemals wieder bei ihm sehen zu lassen. Vergebens kramte Antoine seine Beschwerden weiter aus; in der Stadt kannte man jetzt die Großmut Rougons, für deren Verbreitung Felicité gesorgt hatte; darum gab man Antoine unrecht und behandelte ihn als Taugenichts. Allein ihn bedrängte der Hunger. Er drohte Schmuggler zu werden, wie sein Vater gewesen und irgendeinen schlimmen Streich zu begehen, der die ganze Familie entehren würde. Die Rougons zuckten mit den Achseln; sie wußten, daß er zu feig sei, um seine Haut zu wagen. In dumpfer Wut gegen seine Anverwandten und gegen die ganze Gesellschaft entschloß sich Antoine endlich, Arbeit zu suchen.
In einer Vorstadtschenke hatte er die Bekanntschaft eines Korbflechters gemacht, der zu Hause arbeitete. Diesem bot er seine Hilfe an. In kurzer Zeit hatte er erlernt, Trag- und Handkörbe zu flechten, grobe Arbeiten, die zu wohlfeilen Preisen leicht Absatz fanden. Bald arbeitete er für eigene Rechnung. Diese wenig ermüdende Arbeit gefiel ihm. Er konnte faulenzen, wann es ihm beliebte und das wollte er hauptsächlich. Er arbeitete, wenn er nicht mehr anders konnte, flocht in der Eile ein Dutzend Körbe und brachte sie auf den Markt. Solange das Geld vorhielt, ging er müßig, lungerte er in den Straßen und Wirtshäusern herum; wenn er einen Tag gehungert hatte, griff er wieder zu seinen Weidenruten, nicht ohne über die Reichen zu schimpfen, die ohne Arbeit leben. In dieser Weise betrieben, ist die Korbflechterei ein sehr undankbares Gewerbe; der Ertrag seiner Arbeit würde nicht hingereicht haben, die Kosten seiner Sauferei zu decken; allein er wußte es so einzurichten, daß er sich die Weidenruten sehr billig verschaffte. Da er sie niemals in Plassans kaufte, gab er vor, daß er sich allmonatlich einmal in einer benachbarten Stadt damit versorge, wo sie billiger zu haben seien. Die Wahrheit war, daß er sich in finsteren Nächten in den Weidengebüschen an der Viorne damit versorgte. Einmal ertappte ihn der Feldheger dabei, und damals ward er mit einigen Tagen Gefängnis bestraft. Seit jenem Augenblicke gebärdete er sich in der Stadt als wütender Republikaner. Er behauptete, er habe am Ufer des Flusses ruhig seine Pfeife geraucht, als der Feldheger ihn festnahm. Und er fügte hinzu:
Sie möchten sich meiner entledigen, weil sie meine Gesinnung kennen; aber ich fürchte nicht die schurkigen Reichen.
Allein nach zehn Jahren solchen Müßiggangs fand Antonie, daß er zuviel arbeite. Sein ewiger Traum war, wie er gut leben könne, ohne etwas zu tun. Seine Trägheit würde sich mit Brot und Wasser nicht begnügen wie bei gewissen Nichtstuern, die sich mit dem Hungerleiden befreunden, wenn sie nur nicht arbeiten müssen. Er wollte seine Tage müßig verleben und feine Mahlzeiten halten. Einen Augenblick sprach er davon, bei irgendeinem Edelmann im Sankt-Markus-Viertel als Diener einzutreten. Allein ein ihm befreundeter Reitknecht verleidete ihm diese Absicht, indem er ihm von den maßlosen Forderungen seiner Gebieter erzählte. Da er seiner Körbe überdrüssig geworden war und den Tag kommen sah, an dem er genötigt sein würde, die Weidenruten zu kaufen, war Macquart entschlossen, sich als Stellvertreter zu verkaufen und sein Soldatenleben wieder aufzunehmen, das ihm tausendmal lieber war als das Arbeiterleben, als er die Bekanntschaft einer Frauensperson machte und infolge dieser Begegnung seine Pläne änderte.
Josefine Gavandau, die man in der Stadt nur mit dem vertraulichen Namen »Fine« nannte, war ein großes, starkes Weib von etwa dreißig Jahren. Ihr breites, männliches Gesicht war am Kinn mit einigen wenigen, aber schrecklich langen Haaren geziert. Man kannte sie als ein Weib, das im Notfalle mit den Fäusten dreinschlug. Ihre breiten Schultern und starken Arme jagten denn auch den Burschen einen heillosen Respekt ein, so daß diese es kaum wagten, sich über ihren Geißbart lustig zu machen. Dabei hatte »Fine« eine dünne Kinderstimme, hell und klar. Ihre Bekannten behaupteten, daß sie trotz ihres fürchterlichen Aussehens sanftmütig sei wie ein Lamm. Da sie bei der Arbeit sehr tüchtig war, hätte sie einiges Geld erübrigen können, wenn sie nicht eine tief wurzelnde Neigung für geistige Getränke gehabt hätte; den Kümmel liebte sie ganz besonders. Am Sonntag pflegte sie sich dermaßen zu betrinken, daß man genötigt war, sie nach ihrer Wohnung zu schaffen. Die ganze Woche arbeitete sie mit tierischer Unverdrossenheit. Sie übte drei oder vier Gewerbe aus, verkaufte in der Halle Obst oder gesottene Kastanien je nach der Jahreszeit, besorgte bei einigen Rentiers die Hauswirtschaft, ging an Festtagen in die Bürgerhäuser, um das Eßgeschirr zu reinigen; in ihrer freien Zeit flocht sie alte Sessel ein. Besonders als Sesselflechterin war sie in der ganzen Stadt bekannt. In Südfrankreich sind Strohsessel allgemein in Gebrauch; und daher ist der Bedarf an solchen sehr groß.
In der Halle machte Antoine Macquart die Bekanntschaft der Fine. Wenn er im Winter seine Körbe dahin zu Markte brachte, wählte er, um nicht zu frieren, seinen Platz neben dem Ofen, auf dem sie ihre Kastanien briet. Er, den die geringste Arbeit entsetzte, war von Bewunderung erfüllt für ihren Eifer und ihre Arbeitslust. Unter der scheinbaren Rauheit dieses Mannweibes entdeckte er allmählich so manchen Zug von Schüchternheit und Gutmütigkeit. Oft sah er, wie sie ein paar Händevoll Kastanien an die armen Kinder verteilte, die gierig vor ihrem rauchenden Ofen standen. Ein andermal wieder, wenn der Marktinspektor sie herumstieß, weinte sie beinahe und vergaß, daß sie zwei derbe Fäuste habe. Schließlich sagte sich Antoine, dies sei das Weib, dessen er bedürfe. Sie werde für zwei arbeiten und er der Herr im Hause sein. Sie werde sein unermüdliches und gehorsames Lasttier sein. Ihren Geschmack für geistige Getränke fand er sehr natürlich. Nachdem er die Vorteile einer solchen ehelichen Verbindung erwogen hatte, erklärte er seine Absicht. Fine war entzückt. Niemals hatte ein Mann sich an sie herangewagt. Vergebens sagte man ihr, daß Antoine der böseste Halunke sei; sie hatte nicht den Mut, diese Ehe abzuschlagen, nach der ihre robuste Natur sich schon lange sehnte. Am Hochzeitstage bezog er die Wohnung seines Weibes in der Civadière-Straße in der Nähe der Markthalle; sie bestand aus drei Gelassen und war viel bequemer eingerichtet als die seinige. Mit einem Seufzer der Befriedigung streckte sich Antoine auf den zwei weichen Matratzen aus, die sich im Bette befanden.
In den ersten Tagen dieser Ehe ging alles gut. Fine ging wie bisher ihren vielfachen Beschäftigungen nach und Antoine, von einer Art hausväterlicher Eitelkeit erfaßt, die ihn selbst in Staunen versetzte, flocht in einer Woche mehr Körbe, als er früher in einem Monate fertig gebracht hatte. Aber am Sonntag brach der Krieg aus. Es war ein hübsches Stück Geld im Hause, und beide Eheleute taten einen tüchtigen Griff in den Säckel. Des Nachts waren beide volltrunken und prügelten sich, was sie konnten; am folgenden Tage wußten sie nicht mehr, wie der Streit entstanden war. Bis zehn Uhr abends waren sie sehr freundschaftlich miteinander gewesen, dann habe Antoine auf Fine loszuschlagen begonnen, worauf diese ihre sonstige Sanftmut vergaß und seine Maulschellen mit ausgiebigen Püffen vergalt. Am andern Morgen ging sie wieder wacker an die Arbeit, als ob nichts vorgefallen sei. Der Gatte aber hatte einen dumpfen Groll bewahrt, war um zehn Uhr aufgestanden und hatte müßig rauchend den Tag vertrödelt.
Von diesem Augenblicke an befreundete sich das Macquartsche Ehepaar mit dieser Lebensweise. Es war eine stillschweigend ausgemachte Sache, daß das Weib sich rackere, um den Mann zu erhalten. Fine, die aus Instinkt die Arbeit liebte, fand sich darein. Sie war von einer engelhaften Geduld, solange sie nicht trank, fand es ganz natürlich, daß ihr Mann träge sei, und bemühte sich, ihm selbst die kleinsten Verrichtungen zu ersparen. Ihr kleines Laster, der Kümmel, machte sie nicht boshaft, nur gerecht; wenn an einem Abende, wo sie sich bei ihrer Schnapsflasche vergaß, Antoine Streit mit ihr suchte, setzte sie sich tapfer zur Wehr und warf ihm seinen Müßiggang und seine Undankbarkeit vor. Die Nachbarn waren schon daran gewöhnt, in dem Zimmer der Macquartschen Ehegatten von Zeit zu Zeit den Krieg ausbrechen zu sehen. Sie hieben sehr gewissenhaft aufeinander los; das Weib prügelte nach Art einer Mutter, die ihren Rangen züchtigt. Der Gatte aber, falsch und gehässig wie er war, berechnete seine Hiebe und es geschah öfter, daß er die Unglückliche schier zum Krüppel schlug.
Du wirst weit kommen, wenn du mir ein Bein oder eine Hand zerschlägst, pflegte sie ihm zu sagen. Wer wird dich dann ernähren, Taugenichts?
Von diesen stürmischen Szenen abgesehen begann Antonie seine neue Lebensweise erträglich zu finden. Er war gut gekleidet, aß, wenn er Hunger hatte und trank, wenn er Durst hatte. Die Korbflechterei hatte er vollständig aufgegeben; manchmal, wenn er sich allzu sehr langweilte, nahm er sich vor, für den nächsten Markt ein Dutzend Körbe zu flechten, oft aber brachte er den ersten nicht fertig. Er bewahrte unter einem Kanapee ein Bündel Weidenruten, das er in zwanzig Jahren nicht aufbrauchte.
Das Ehepaar Macquart bekam drei Kinder: zwei Töchter und einen Sohn.
Lisa, die Erstgeborene, im Jahre 1827, ein Jahr nach der Heirat zur Welt gekommen, blieb wenig im Hause. Es war ein starkes, schönes Mädchen, gesund, vollblütig, sehr der Mutter gleichend. Aber sie sollte von dieser die Hingebung des Lasttieres nicht erben. Von ihrem Vater hatte sie einen ausgesprochenen Hang nach Wohlleben geerbt. Noch als Kind war sie bereit, einen ganzen Tag zu arbeiten, um einen Kuchen zu bekommen. Sie war noch nicht sieben Jahre alt, als die benachbarte Postverwalterin sie liebgewann. Diese machte aus Lisa eine kleine Hausmagd, und als sie im Jahre 1839 ihren Gatten verlor und nach Paris übersiedelte, nahm sie das Mädchen mit. Die Eltern hatten sie ihr gleichsam für immer überlassen.
Die zweite Tochter, Gervaise, die im nächsten Jahre kam, war von Geburt lahm. Im Rausche empfangen, ohne Zweifel in einer jener schmählichen Nächte, wenn die Ehegatten einander halb tot prügelten, hatte sie den rechten Schenkel verrenkt und verkümmert, eine seltsame Vererbung der Brutalitäten, die ihre Mutter in einer Stunde des wütenden Kampfes und der Trunkenheit zu erdulden hatte. Gervaise blieb schwächlich, und Fine, als sie das Kind so bleich und so mager sah, zog es bei Kümmel auf, unter dem Vorwande, daß das Kind Kräfte sammeln müsse. Dabei verkümmerte das arme Wesen noch mehr. Es ward ein hoch aufgeschossenes, schmächtiges Mädchen aus ihr, dem alle Kleider zu weit waren. Auf dem ausgetrockneten, schiefen Rumpfe saß ein reizender Puppenkopf, mit einem runden, blassen Gesichtchen von köstlicher Zartheit. Ihre Gebrechlichkeit gereichte ihr fast zum Vorteil; ihre Taille wiegte sich bei jedem Schritt in einer Art abgemessenen Schaukelns.
Der Sohn der Macquart, Jean mit Namen, ward drei Jahre später geboren. Es war ein starker Bursche, der in nichts an die Magerkeiten seiner Schwester Gervaise erinnerte. Er ähnelte seiner Mutter wie die ältere Tochter, ohne aber ihre leibliche Ähnlichkeit zu haben. Er war in der Familie der Rougon-Macquart der erste, der ein Gesicht mit regelmäßigen Zügen zur Welt brachte und die behäbige Kälte einer ernsten Natur von beschränkter Vernunft hatte. Dieser Bursche wuchs mit dem festen Willen auf, sich eines Tages eine unabhängige Stellung zu schaffen. Er ging fleißig in die Schule und zerbrach sich da den harten Kopf, um etwas Orthographie und Arithmetik hineinzubringen. Dann ging er in die Lehre und erneuerte hier seine Anstrengungen, die um so mehr am Platze waren, als er einen Tag brauchte, um etwas zu erlernen, was andere in einer Stunde sich aneigneten.
Solange die Kinder dem Hause zur Last fielen, murrte Antoine darüber. Es waren unnütze Mäuler, die ihm seinen Teil verkürzten. Er hatte gleich seinem Bruder geschworen, nicht mehr Kinder zu haben, die alles aufessen und ihre Eltern zugrunde richten. Man mußte ihn nur wüten hören, seitdem sie ihrer fünf zu Tische gingen und die Hausmutter die besten Bissen Lisa, Jean und Gervaise gab.
Ganz recht, brummte er; füttere sie nur, bis sie bersten.
Wenn Fine ein Kleidungsstück oder ein Paar Schuhe für eines der Kinder anschaffte, konnte er tagelang zürnen. O, wenn er das gewußt hätte! Nie hätte er dieses Pack gehabt, das ihn nötigte, sich mit Tabak um vier Sous täglich zu bescheiden, und die Familie zwang, viermal die Woche Kartoffelmus zu essen, ein Gericht, das er verabscheute.
Später, als Jean und Gervaise die ersten Fünffrankenstücke ins Haus brachten, fand er, daß es mit den Kindern auch sein Gutes habe. Lisa war schon aus dem Hause. Er ließ sich von seinen zwei Kindern ernähren, die jetzt ohne jeden Skrupel im Hause bleiben durften, wie er sich früher schon von ihrer Mutter hatte ernähren lassen. Es war dies von seiner Seite eine ausgemachte Spekulation. Kaum acht Jahre alt ging Gervaise schon zu einem benachbarten Kaufmanne Mandelkerne aufschlagen. Sie erwarb täglich zehn Sous, die er mit königlicher Würde einsackte, ohne daß Fine auch nur zu fragen wagte, wohin das Geld geraten sei. Später ging das Mädchen zu einer Wäscherin in die Lehre, und als sie schon eine fertige Arbeiterin war und zwei Franken täglich bekam, verschwanden auch die zwei Franken in den Taschen Antoines. Jean, der das Tischlerhandwerk erlernt hatte, wurde an den Zahltagen gleichfalls ausgeplündert, wenn es Macquart gelang, ihn vor der Türe seiner Werkstätte zu erwischen, bevor der Junge das Geld seiner Mutter übergeben hatte. Wenn das Geld ihm entging, was manchmal geschah, war er furchtbar verdrossen. Eine Woche lang sah er Weib und Kinder mit wütenden Blicken an, suchte Händel mit ihnen, hatte aber doch so viel Scham, die Ursache seines Zornes nicht einzugestehen. Am nächsten Zahlungstage legte er sich dann auf die Lauer, und wenn es ihm gelungen war, den Arbeitslohn der Kinder in seine Taschen zu spielen, war er tagelang nicht mehr sichtbar.
Gervaise, das geprügelte Mädchen, das auf der Straße, unter den Burschen der Nachbarschaft aufwuchs, ward mit vierzehn Jahren schwanger. Der Vater des Kindes war noch nicht achtzehn Jahre alt. Es war ein Gerbergehilfe namens Lantier. Macquart geriet in Wut darüber. Als er erfuhr, daß Lantiers Mutter, die eine wackere Frau war, bereit sei, das Kind zu sich zu nehmen, beruhigte er sich wieder. Allein er behielt Gervaise bei sich, die jetzt schon 25 Sous täglich verdiente, und wollte von einer Heirat nichts hören. Vier Jahre später gebar sie einen zweiten Sohn, den die alte Lantier ebenfalls zu sich ins Haus nahm. Diesmal drückte Macquart beide Augen zu; und als Fine schüchtern bemerkte, es sei gut, mit dem Gerber zu reden und das Verhältnis, das schon zu allerlei Gerede Anlaß gebe, in Ordnung zu bringen, erklärte er rundheraus, daß seine Tochter ihn nicht verlassen und daß er sie ihrem Verführer später geben werde, »wenn er ihrer wert sei und die Mittel habe, Mobiliar zu kaufen«.
Diese Zeit war die schönste Antoine Macquarts. Er kleidete sich wie ein Spießbürger, trug Leibröcke und Beinkleider von feinem Tuch. Sorgfältig rasiert und fast dick geworden, war er nicht mehr der hagere und zerlumpte Vagabund, der sich in den Kneipen herumtrieb. Er besuchte die Kaffeehäuser, las die Zeitungen, ging auf der Promenade Sauvaire spazieren. Er spielte jetzt den Herrn, solange er Geld in der Tasche hatte. In den Tagen der Not blieb er zu Hause; er war dann wütend, daß er in seiner Höhle hocken müsse und nicht fortgehen könne, sein Schälchen Kaffee zu trinken. An solchen Tagen schimpfte er auf das ganze Menschengeschlecht wegen seiner Armut; er machte sich krank vor Zorn und Neid, so daß Fine aus Mitleid ihm oft das letzte Silberstück gab, das sie im Hause hatte, nur damit er seinen Abend im Kaffeehause zubringen könne. Der liebe Mann war von einer rücksichtslosen Selbstsucht. Gervaise brachte bis zu sechzig Franken monatlich nach Hause und trug ärmliche Kattunkleidchen, während er sich seidene Westen bei einem der ersten Schneider von Plassans bestellte. Jean, der lange, kräftige Bursche, der drei bis vier Franken täglich verdiente, wurde vielleicht mit noch größerer Schamlosigkeit ausgeplündert. Das Kaffeehaus, wo sein Vater ganze Tage zubrachte, lag just dem Laden seines Dienstgebers gegenüber und während er den Hobel oder die Säge handhabte, konnte er sehen, wie »Herr« Macquart drüben seinen Kaffee zuckerte und eine Partie Piquet mit irgendeinem kleinen Rentier der Stadt spielte. Sein Geld war es, um das der alte Taugenichts spielte. Er selbst ging niemals ins Kaffeehaus; er besaß nicht die fünf Sous, um ein Glas Kümmel zu trinken. Antoine behandelte ihn wie ein Mädchen, ließ ihm keinen Heller in der Tasche und forderte von ihm Rechenschaft über seine Zeit.
Wenn der Unglückliche, von Kameraden verleitet, einen Arbeitstag versäumte, um einen Ausflug zum Ufer der Viorne oder in das Garriguesgebirge zu machen, geriet sein Vater in Zorn, erhob die Hand und grollte ihm lange wegen der vier Franken, die er am Ende des halben Monats weniger nach Hause brachte. So erhielt er seinen Sohn in einem Zustande eigennütziger Abhängigkeit und ging hierin manchmal so weit, daß er die Dirnen, um deren Gunst Jean sich bewarb, als die seinigen betrachtete. In das Macquartsche Haus kamen mehrere Freundinnen der Gervaise, Arbeiterinnen im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren, kecke, übermütige Mädchen, deren Mannbarkeit in herausfordernder Begehrlichkeit sich äußerte und die an manchen Abenden mit ihrem jugendlichen Gelächter und Geplauder die Stube erfüllten. Jedes Vergnügens beraubt, durch den Geldmangel zu Hause festgehalten, betrachtete der arme Jean diese Mädchen mit den gierig funkelnden Augen; allein zur Lebensführung eines Knaben verdammt, war er von einer unüberwindlichen Schüchternheit; er spielte mit den Genossinnen seiner Schwester und wagte kaum, sie mit den Fingerspitzen zu berühren. Macquart zuckte mitleidig mit den Achseln:
Ist das ein Einfaltspinsel! brummte er mit einer Miene spöttischer Überlegenheit.
Er selbst küßte die Mädchen auf den Nacken, wenn seine Frau den Rücken kehrte. Mit einer kleinen Wäscherin, die Jean eifriger verfolgte als die anderen, trieb er es noch schlimmer. Er holte sie sich eines Abends fast aus den Armen seines Sohnes. Der alte Halunke gönnte sich noch galante Abenteuer.
Es gibt Männer, die von einer Geliebten leben. So lebte Macquart von seiner Frau und seinen Kindern, mit ebensovieler Schmach und Unverschämtheit. Ohne das geringste Bedenken plünderte er das Haus und ging fort, um zu schwelgen, wenn im Hause nichts zu holen war. Und dabei bekundete er noch ein gewisses überlegenes Benehmen; er kam aus dem Kaffeehaus nur heim, um das Elend, das zu Hause seiner harrte, bitter zu verhöhnen. Er fand das Essen abscheulich; er erklärte, Gervaise sei eine dumme Gans und Jean werde niemals ein Mann sein. Im Besitze seiner selbstsüchtigen häuslichen Gewalt rieb er sich zufrieden die Hände, wenn er die besten Bissen verzehrt hatte; dann rauchte er seine Pfeife, mit kurzen Zügen den Rauch hervorstoßend, während die zwei armen Kinder, von der Müdigkeit übermannt, auf dem Tische einschliefen. So flossen in müßiger Zufriedenheit seine Tage dahin. Er fand es ganz natürlich, daß man ihn aushalte, wie eine Dirne, damit er auf den Sitzbänken der Kneipen herumlungern oder auf der Promenade Sauvaire lustwandeln könne. Er ging endlich so weit, seine galanten Streiche in Gegenwart seines Sohnes zu erzählen, der mit den verlangenden Augen eines Hungrigen ihn anschaute. Die Kinder sagten nichts, denn sie waren daran gewöhnt, ihre Mutter als die untertänige Magd ihres Gatten zu sehen. Fine, das Weib mit den derben Fäusten, das ihm über war, wenn beide betrunken waren, zitterte vor ihm, wenn sie bei Sinnen war und ließ ihn als unumschränkten Herrscher im Hause schalten und walten. Er stahl ihr zu nachtschlafender Zeit die paar Groschen, die sie tagsüber auf dem Markte erworben hatte, und sie wagte dagegen nur schüchterne Bemerkungen vorzubringen. Manchmal, wenn er im voraus den Wochenerwerb aufgezehrt hatte, beschuldigte er das unglückliche Weib, das sich mit der Arbeit schier aufrieb, daß sie ein Taugenichts, ein unbeholfenes Geschöpf sei. Sanft wie ein Lamm erwiderte Fine mit einer unterwürfigen Stimme, die, aus diesem großen Körper kommend, einen seltsamen Eindruck machte, daß sie nicht mehr zwanzig Jahre alt und das Geld gar zu schwer zu erwerben sei. Um sich zu trösten, kaufte sie einen Liter Kümmel und trank den Schnaps gläschenweise in Gesellschaft ihrer Tochter, während Antoine ins Kaffeehaus zurückkehrte. Das war ihr Vergnügen. Jean ging zu Bett; die beiden Frauen blieben bei Tische und tranken und spitzten die Ohren, um bei dem geringsten Geräusch Flaschen und Gläser verschwinden zu lassen. Wenn Macquart länger ausblieb, geschah es wohl, daß sie sich allmählich betranken, ohne es zu merken. Mit blödem Lächeln schauten sich dann Mutter und Tochter an; die Zungen wurden schwer und vermochten nur mehr zu lallen. Gervaisens Wangen färbten sich rot; ihr kleines, rotes Puppengesicht zerfloß in einer Miene blöden Behagens; man konnte sich keinen ergreifenderen Anblick denken als dieses schwächliche, bleiche, von Trunkenheit glühende Kind mit dem Säuferlächeln auf den feuchten Lippen. Fine saß schwer und träge auf ihrem Sessel. Zuweilen vergaßen sie aufzupassen, oder hatten nicht mehr die Kraft, die Flasche und die Gläser wegzuräumen, wenn sie die Schritte Antoines im Treppenhause hörten. An solchen Tagen gab es bei Macquarts Keile. Jean mußte aufstehen, um Vater und Mutter zu trennen und seine Schwester zu Bett zu bringen, die sonst auf den Fliesen des Fußbodens geschlafen hätte.
Jede Partei hat auch ihre schlechten und ungebildeten Anhänger. Von Neid und Haß verzehrt, Rache gegen die ganze Gesellschaft brütend, sah Antoine Macquart in der Republik eine neue, glückverheißende Zeit, in der es endlich gestattet sei, seine Taschen aus der Kasse des Nachbars zu füllen, ja selbst diesen zu erwürgen, wenn er darüber im mindesten mißvergnügt wäre. Sein Kaffeehausleben, die Zeitungen, die er las, ohne sie zu verstehen, hatten aus ihm einen schrecklichen Schwätzer gemacht, der in der Politik die seltsamsten Ansichten von der Welt bekundete. Man muß in der Provinz, in einer Kneipe, einen dieser neiderfüllten Gesellen, die das Gelesene halb verdaut haben, reden hören, um sich vorzustellen, bis zu welchem Grade boshafter Torheit Macquart gelangt war. Da er viel sprach, beim Militär gedient hatte und für einen energischen Mann galt, hatte er unter den Einfältigen eine große Zuhörerschaft. Ohne gerade ein Parteiführer zu sein, hatte er doch eine kleine Gruppe von Arbeitern um sich zu scharen gewußt, die seine neidvollen Wutausbrüche für rechtschaffene, überzeugungstreue Entrüstung nahmen.
Seit dem Monate Februar galt es als eine ausgemachte Sache, daß die Stadt Plassans ihm gehörte; die verschmitzte Art, in der er, wenn er durch die Straßen ging, die kleinen Krämer anblickte, die furchtsam auf der Schwelle ihres Ladens standen, besagte ganz deutlich: Unsere Zeit ist gekommen, meine Lämmlein; wir werden euch famos zum Tanze aufspielen! Er trug eine unglaubliche Frechheit zur Schau, spielte die Rolle eines Eroberers und Despoten in dem Maße, daß er aufhörte seine Erfrischungen im Kaffeehause zu bezahlen, und der Patron, ein Trottel, der vor dem Augenrollen Antoines erzitterte, wagte niemals, ihm die Rechnung vorzulegen. Er trank zu jener Zeit unzählige »Schwarze«; zuweilen lud er sich Freunde dazu ein, und man hörte ihn stundenlang schreien, daß das Volk Hungers sterbe und daß die Reichen mit den Armen teilen müßten. Er selbst aber gab den Armen niemals einen Heller.
Was aus ihm einen wütenden Republikaner machte, war ganz besonders die Hoffnung, sich endlich an den Rougons zu rächen, die sich offen als Anhänger der Reaktion bekannten. Ach, welcher Triumph, wenn er eines Tages Peter und Felicité in seiner Gewalt hat! Obgleich die letzteren ziemlich schlechte Geschäfte machten, waren sie doch Bürgersleute geworden, während er, Macquart, ein Arbeiter geblieben war. Dies erbitterte ihn. Noch verdrießlicher war, daß von ihren Söhnen einer Advokat, der zweite Arzt, der dritte Beamter war, während sein Jean bei einem Tischler und seine Gervaise bei einer Wäscherin arbeitete. Wenn er vollends die Macquart mit den Rougon verglich, empfand er eine tiefe Schmach darob, daß sein Weib in der Markthalle gebratene Kastanien feilbot und des Abends die alten, schmierigen Strohsessel des Stadtviertels einflocht. Und doch war Peter sein Bruder und hatte nicht mehr Recht als er, von seinen Renten fein zu leben. Überdies hatte er ihm das Geld gestohlen, mit dem er heute den Herrn spielte. Wenn er diesen Gegenstand berührte, geriet sein ganzes Wesen in Aufruhr; stundenlang schimpfte er, brachte immer wieder seine bis zum Überdruß gehörten Beschuldigungen vor, ward nie müde zu sagen:
Wenn mein Bruder dort wäre, wo er zu sein verdient, dann wäre ich heute ein Rentenbesitzer.
Wenn man ihn fragte, wo denn sein Bruder sein müßte, schrie er mit furchtbarer Stimme:
Auf der Galeere!
Sein Haß steigerte sich noch, als die Rougon die Konservativen um sich scharten und einen gewissen Einfluß in Plassans gewannen. In diesem unsinnigen Kaffeehausgeschwätz ward der gelbe Salon eine Räuberhöhle, eine Vereinigung von Missetätern, die allabendlich auf ihre Dolche schworen, das Volk zu erwürgen. Um die Hungrigen gegen Peter aufzuhetzen, ging er so weit, das Gerücht zu verbreiten, daß der alte Ölhändler nicht so arm sei, wie er glauben machen möchte, und daß er aus Geiz und aus Furcht vor Dieben seine Schätze verberge. Seine Taktik ging dahin, die armen Leute durch ungeheuerliche Geschichten aufzustacheln, an die schließlich er selbst glaubte. Seine persönlichen Rachegelüste verbarg er ziemlich schlecht unter einer Hülle des lautersten Patriotismus; aber er vervielfältigte sich dermaßen, er hatte eine so volltönende Stimme, daß niemand gewagt hätte, an seinen Überzeugungen zu zweifeln.
Im Grunde hatten alle Mitglieder dieser Familie dieselben brutalen Begierden. Felicité, die begriff, daß die überschwenglichen politischen Meinungen Macquarts nichts weiter seien, als verhaltener Groll und alter Neid, hätte ihn erkaufen mögen, um ihn still zu machen. Unglücklicherweise fehlte es ihr an Geld und sie wagte nicht, ihn für das gefährliche Spiel zu interessieren, das ihr Mann spielte. Bei den Rentiers der Neustadt schadete ihnen Antoine sehr. Daß er ihr Verwandter war, genügte an sich schon. Granoux und Roudier warfen ihnen unter fortwährender Geringschätzung vor, einen solchen Menschen in der Familie zu haben. Und darum fragte sich auch Felicité besorgt, wie sie es anfangen müßten, um sich dieses Makels zu entledigen.
Es schien ihr ungeheuerlich und unanständig, daß Rougon – später– einen Bruder haben sollte, dessen Weib Kastanien feilbot und der selbst in lotterhaftem Müßiggange dahin lebte. Schließlich begann ihr um den Erfolg ihrer geheimen Machenschaften bange zu werden, den Antoine gleichsam zu seinem Vergnügen verscherzte; wenn man ihr die Brandreden hinterbrachte, die dieser Mensch an öffentlichen Orten gegen den gelben Salon führte, erbebte sie bei dem Gedanken, daß er imstande war, ihre Hoffnungen durch das Ärgernis zunichte zu machen.
Antoine war sich dessen bewußt, wie sehr sein Betragen den Rougon mißliebig sein mußte und nur um sie zur Verzweiflung zu treiben, bekundete er von Tag zu Tag wildere Gesinnungen. Im Kaffeehause nannte er Peter »mein Bruder« mit einer Stimme, daß alle Gäste sich umwandten; wenn er in der Straße einem der reaktionären Anhänger des gelben Salons begegnete, brummte er halblaute Beschuldigungen vor sich hin, die der würdige Spießbürger, durch so viel Kühnheit verwirrt, des Abends den Rougon wiederholte, die er für diese unangenehme Begegnung gleichsam verantwortlich machte.
Eines Tages traf Granoux wütend im gelben Salon ein.
Es ist wirklich unerträglich! rief er schon auf der Schwelle; man wird auf Schritt und Tritt beschimpft.
Und zu Peter gewandt, fügte er hinzu:
Mein Herr, wenn man einen Bruder hat wie den Ihrigen, dann befreit man die Gesellschaft von ihm. Ich ging ganz friedlich über den Platz vor der Unterpräfektur, als dieser Elende, an mir vorbeigehend, einige Worte brummte, worunter ich ganz deutlich die Beschimpfung »alter Schuft!« vernahm.
Felicité erbleichte und glaubte Granoux hierfür um Entschuldigung bitten zu müssen; allein der gute Mann wollte nichts hören und erklärte, er werde nach Hause gehen. Der Marquis beeilte sich, die Sache beizulegen.
Es ist sehr erstaunlich, sagte er, daß dieser Unglücksmensch Sie einen »alten Schuft!« genannt hat. Sind Sie auch sicher, daß dieser Schimpf Ihnen galt?
Granoux wurde ganz perplex; er gab zu, daß Antoine vielleicht gesagt hatte: »Du gehst noch immer zu diesem alten Schuft?«
Herr von Carnavant streichelte sich das Kinn, um das Lächeln zu maskieren, das sich ihm unwillkürlich auf die Lippen drängte.
Da sagte Rougon mit dem ruhigsten, schönsten Gleichmute:
Ich vermutete sogleich, daß ich dieser alte Schuft sei. Es freut mich, daß das Mißverständnis aufgeklärt wurde, und bitte Sie, meine Herren, gehen Sie diesem Menschen aus dem Wege, den ich hiermit in aller Form verleugne.
Allein Felicité nahm die Dinge nicht so kühl; bei jedem Skandal des Macquart ward sie krank; ganze Nächte hindurch quälte sie sich mit der Frage, was die Herren wohl denken mögen.
Einige Monate vor dem Staatsstreiche erhielten die Rougon einen anonymen Brief, drei Seiten voll unflätiger Schmähungen. Unter anderem drohte man ihnen für den Fall, daß ihre Partei triumphieren sollte, in einer Zeitung die skandalöse Geschichte der ehemaligen Liebschaften Adelaides zu erzählen, und den Diebstahl, durch den Peter seiner Mutter fünfzigtausend Franken abgenommen hatte, indem er das durch die Ausschweifungen halb irrsinnig gewordene Weib einen Empfangschein unterzeichnen ließ. Dieser Brief wirkte auf Rougon selbst wie ein Keulenschlag. Felicité konnte sich nicht enthalten, ihrem Manne seine schmutzige und schmähliche Familie vorzuwerfen; denn die Ehegatten zweifelten keinen Augenblick daran, daß dieser Brief das Werk Antoines sei.
Wir müssen uns dieses Halunken um jeden Preis entledigen, sagte Peter ernst; er ist uns gar zu lästig.
Indes nahm Macquart seine alte Handlungsweise wieder auf und suchte in der eigenen Familie Genossen gegen die Rougon. Anfänglich hatte er auf Aristides gezählt, als er dessen Brandartikel im »Unabhängigen« las. Allein, wenn gleich geblendet durch seinen grimmigen Neid, war der junge Mensch doch nicht so töricht, mit einem Menschen vom Schlage seines Oheims gemeinsame Sache zu machen. Er nahm sich nicht einmal die Mühe, ihn zu schonen, und hielt sich ihn vom Leibe, weshalb Antoine ihn als einen Verdächtigen behandelte. In den Kneipen, wo Macquart das große Wort führte, ging man so weit, zu behaupten, daß der Journalist ein Lockspitzel sei. Von dieser Seite abgewiesen, blieb Macquart nichts anderes übrig, als bei den Kindern seiner Schwester Ursula auf den Busch zu klopfen.
Ursula war im Jahre 1839 gestorben und hatte so die traurige Prophezeiung ihres Bruders zur Wahrheit gemacht. Das Nervenleiden ihrer Mutter war bei ihr zu einer schleichenden Lungenkrankheit geworden, die sie allmählich aufzehrte. Sie ließ drei Kinder zurück: eine Tochter von achtzehn Jahren, namens Helene, die mit einem Beamten verheiratet war, und zwei Söhne, den Ältesten, namens Franz, einen jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren, und Silvère, den Jüngsten, ein Bürschchen von kaum sechs Jahren. Für Mouret war der Tod seiner Frau, die er sehr liebte, ein Donnerschlag. Er schleppte sich untätig ein Jahr dahin, vernachlässigte sein Geschäft und zehrte seine Ersparnisse auf. Eines Morgens aber fand man ihn erhenkt in einer Kammer, wo Ursulas Kleider hingen. Sein ältester Sohn, dem er eine gute kaufmännische Erziehung hatte geben lassen, trat als Kommis in das Geschäft seines Onkels Rougon ein, wo er Aristides ersetzte, der eben das Haus verlassen hatte.
Trotz seines tiefen Hasses für die Macquart nahm Rougon seinen Neffen gut auf, weil er wußte, daß er arbeitsam und nüchtern sei. Er fühlte das Bedürfnis nach einem ergebenen Gehilfen, der ihm beistehe, seine Geschäfte wieder in Schwung zu bringen. Überdies hatte er, weil es den Mouret gut gegangen war, eine hohe Wertschätzung für dieses Ehepaar gefaßt, das Geld zu erwerben verstand, und sich mit seiner Schwester sehr schnell ausgesöhnt. Vielleicht auch wollte er, indem er Franz ins Haus nahm, diesem eine Entschädigung bieten; er hatte die Mutter beraubt, er ersparte sich Gewissensbisse, indem er dem Sohne Arbeit gab. Die Gauner legen sich manchmal die Rechtschaffenheit in dieser Weise zurecht. In Wirklichkeit war es für ihn ein gutes Geschäft. Er fand in seinem Neffen den Gehilfen, den er gesucht hatte. Wenn zu jener Zeit das Haus Rougon nicht reich ward, so war es wahrlich nicht die Schuld dieses stillen und ängstlichen Jünglings, der dazu geschaffen schien, sein Leben hinter dem Ladenpulte eines Gewürzkrämers zu verbringen, zwischen einem Ölfaß und einem Stoß geräucherter Schellfische. Leiblich seiner Mutter gleichend, hatte er von seinem Vater den schlichten, beschränkten Sinn; er liebte unwillkürlich das geregelte Leben, die sichere Berechnung des Kleinhandels. Seinem Entschädigungssystem getreu gab ihm Peter drei Monate nach seinem Entritt ins Geschäft seine jüngere Tochter Martha zur Frau, die er nicht anders loszuwerden wußte. Die beiden jungen Leute hatten einander gleich in den ersten Tagen liebgewonnen. Ein seltsamer Umstand war für ihre Liebe entscheidend: sie sahen einander zum Erstaunen ähnlich; man glaubte Bruder und Schwester zu sehen. Durch Ursula hatte Franz das Gesicht der Großmutter. Seltsamer war die Ähnlichkeit bei Martha; auch sie war das vollkommene Ebenbild Adelaidens, obgleich Peter keinen bestimmten Zug von seiner Mutter hatte. Die leibliche Ähnlichkeit hatte hier Peter übersprungen, um bei seiner Tochter nur um so kräftiger zum Vorschein zu kommen. Die Verwandtschaft der jungen Ehegatten prägte sich übrigens nur im Gesichte aus; fand man in Franz den würdigen Sohn des Hutmachers Mouret wieder, einen ordnungsliebenden, etwas schwerfälligen Burschen, so hatte Martha ganz die Scheu und innere Haltlosigkeit ihrer Großmutter, deren genaues und seltsames Ebenbild sie war. Vielleicht war es ihre physische Ähnlichkeit und ihre moralische Verschiedenheit, was sie einander in die Arme trieb. In den Jahren 1840-44 hatten sie drei Kinder. Franz blieb bei seinem Oheim bis zu dem Tage, wo dieser sich zurückzog. Peter wollte ihm sein Geschäft überlassen; allein der junge Mann wußte, was er von den Aussichten des Handels in Plassans zu halten habe; er lehnte das Anerbieten ab und ging mit seinen Ersparnissen nach Marseille, um sich da niederzulassen.
Macquart mußte bald darauf verzichten, in seinen Kampf gegen die Rougon diesen fleißigen Burschen hineinzuziehen, den er in seinem Müßiggängerunmute einen Geizigen und Duckmäuser nannte. Doch glaubte er den gesuchten Mitschuldigen in dem zweiten Mouret, dem fünfzehnjährigen Knaben Silvère, entdeckt zu haben. Als man den Hutmacher Mouret zwischen den Röcken seiner Frau erhenkt fand, ging der kleine Silvère noch nicht zur Schule. Sein älterer Bruder wußte nichts mit ihm anzufangen und nahm ihn zu seinem Oheim mit. Dieser verzog das Gesicht, als er das Kind ankommen sah; er wollte die Entschädigung keineswegs so weit treiben, einen unnützen Mund zu nähren. Silvère, den auch Felicité als eine Last ansah, wuchs so unter Jammer und Tränen auf wie ein unglücklicher Verlassener, bis seine Großmutter, gelegentlich eines ihrer seltenen Besuche bei den Rougon, sich des Kindes erbarmte und es mitnahm. Peter war darob entzückt; er ließ das Kind ziehen, ohne daran zu denken, die geringe Summe zu erhöhen, die er der Witwe zahlte und die fürder für zwei ausreichen sollte.
Adelaide war damals nahezu fünfundsiebzig Jahre alt. In klösterlicher Einsamkeit alt geworden, war sie längst nicht mehr das magere, feurige Frauenzimmer, das sich einst dem Wilderer Macquart an den Hals geworfen hatte. Sie war steif und starr geworden in ihrer Hütte im Saint-Mittre-Gäßchen, in diesem stillen, düsteren Loche, wo sie völlig einsam lebte, um es kaum einmal im Monat zu verlassen, und wo sie mit Kartoffeln und trockenem Gemüse sich nährte. Wenn man sie vorübergehen sah, glaubte man eine alte Nonne mit ihrer wächsernen Weiße und ihrem gleichmäßigen Gange zu sehen, die in ihrem Klosterleben alles Interesse für die Welt verloren hat. Ihr blasses Antlitz, stets kunstgerecht eingerahmt von einer weißen Haube, war wie das Gesicht einer Sterbenden, eine friedliche, unbestimmte Maske von äußerstem Gleichmute. Die lange Gewohnheit des Stillschweigens hatte sie stumm gemacht; das Dunkel ihrer Behausung, das fortwährende Betrachten der nämlichen Gegenstände hatten ihre Blicke getrübt und ihren Augen die Klarheit einer Quelle verliehen. Es war ein vollständiger Verzicht, ein langsames geistiges und leibliches Absterben, das aus dem haltlosen, liebegierigen Weibe allmählich eine ernste Matrone machte. Wenn diese Augen starr ins Leere schauten, konnte man durch diese hellen, tiefen Löcher die große, innere Leere sehen. Nichts war übrig geblieben von der ehemaligen sinnlichen Glut als eine Verweichlichung des Fleisches, ein greisenhaftes Zittern der Hände. Sie hatte mit der Wildheit einer Wölfin geliebt und von ihrem armen, abgenützten, in Auflösung begriffenen Wesen, das reif war für die Bahre, strömte der widerliche Geruch dürren Laubes aus. Es war eine seltsame Arbeit der Nerven, der unbändigen Gelüste, die in einer gebieterischen und widerwilligen Keuschheit sich selbst aufzehrten. Ihre Liebesbegierden hatten nach dem Tode Macquarts, dieses für ihr Leben so notwendigen Mannes, in ihr fortgelodert und sie verzehrt wie eine Nonne, die in ihrem Kloster dahinlebt, ohne einen Augenblick daran zu denken, diese Begierden zu befriedigen. Ein Leben der Schmach würde sie vielleicht weniger erschöpft, weniger verblödet haben als dieses Lechzen, das sich schließlich durch die langsame, stete Zerstörung ihres Organismus rächte.
Diese Tote, diese blasse Greisin, die keinen Tropfen Blut mehr zu haben schien, hatte zuweilen Nervenanfälle gleich elektrischen Strömen, die sie durchfuhren und ihr auf eine Stunde ein Leben schrecklicher Aufrüttelung brachten.
Sie blieb dann starr, mit offenen Augen auf dem Bette liegen; ein Schluchzen und Aufstoßen erfaßte und erschütterte sie; sie hatte die furchtbare Kraft der hysterischen Irren, die man anbinden muß, damit sie sich nicht an der Wand den Kopf einrennen. Dieser Rückfall in die ehemaligen Begierden, diese plötzlichen Anfälle schüttelten ihren armen, siechen Leib zum Erbarmen. Es war, als ob ihre ganze von heißer Leidenschaft durchglühte Jugend durch die Kälte dieser Sechzigjährigen durchbrechen würde. Wenn sie sich dann ganz betäubt von ihrem Lager wieder erhob, schwankte sie und schien so scheu und verstört, daß die Nachbarinnen sagten: Die alte Närrin hat wieder getrunken.
Das kindliche Lächeln des kleinen Silvère war für sie ein letzter blasser Strahl, der ihre erstarrten Glieder ein wenig erwärmte. Sie hatte das Kind verlangt, weil sie ihrer Einsamkeit überdrüssig war und der Gedanke sie entsetzte, daß sie einsam in einem ihrer Anfälle sterben könne. Dieser Knabe in ihrer Nähe schien ihr ein Schutz gegen den Tod. Ohne aus ihrem Stumpfsinn zu erwachen, ohne in ihren automatischen Bewegungen geschmeidiger zu werden, faßte sie eine unaussprechliche Zuneigung für das Kind. Stumm und steif sah sie stundenlang seinen Spielen zu, mit Entzücken den Lärm hörend, mit dem er die alte Hütte erfüllte, seitdem er auf einem Besenstiel kreuz und quer herumritt, sich an den Türen stoßend, bald weinend, bald lachend. Er führte Adelaide wieder auf die Erde zurück; sie beschäftigte sich mit ihm in drolliger Unbeholfenheit; sie, die in ihrer Jugend vergessen hatte, Mutter zu sein, um nur Geliebte zu sein, fühlte jetzt die himmlischen Freuden einer jungen Mutter, wenn sie ihn wusch, ankleidete, wenn sie über seine schwächliche Gesundheit wachte. Es war ein letztes Wiedererwachen der Liebe, eine letzte, gemilderte Leidenschaft, die der Himmel diesem vom Bedürfnis zur Liebe verheerten Weibe schenkte. Es war das ergreifende Absterben eines Herzens, das in den überschäumendsten Begierden gelebt hatte und in der Liebe zu einem Kinde endete.
Sie war schon zu siech, um die gesprächige Zärtlichkeit der guten, behäbigen Großmütter zu besitzen; sie liebte das verwaiste Kind heimlich mit der Schamhaftigkeit eines jungen Mädchens, ohne Liebkosungen für Silvère zu finden. Zuweilen setzte sie ihn auf ihre Knie und betrachtete ihn lange mit ihren blassen Augen. Wenn der Kleine, erschreckt durch dieses bleiche, stumme Gesicht, zu schluchzen begann, schien sie ganz verwirrt über das, was sie getan hatte und setzte ihn schnell zu Boden, ohne ihn zu küssen. Vielleicht fand sie bei ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Wilderer Macquart.
Silvère wuchs in einem ewigen Alleinsein mit Adelaide heran. In kindlicher Verzärtelung nannte er sie Tante Dide und dieser Name blieb der Alten; der Name Tante in dieser Anwendung bedeutet in der Provence eine Schmeichelei. Das Kind empfand für seine Großmutter eine seltsame Zärtlichkeit, gemengt mit einer respektvollen Furcht. Wenn sie, als er noch klein war, einen ihrer Nervenanfälle bekam, lief er weinend davon, entsetzt durch die Verzerrung ihres Gesichtes; wenn der Anfall vorüber war, kam er scheu wieder zurück, jeden Augenblick bereit, wieder zu entfliehen, als ob die Alte imstande gewesen wäre, ihn zu prügeln. Als er zwölf Jahre zählte, blieb er mutig da und wachte, daß sie nicht vom Bette falle und sich beschädige. Stundenlang hielt er sie fest in seinen Armen, um die Zuckungen zu mildern, in denen ihre Glieder sich krümmten. Während der ruhigen Pausen betrachtete er mitleidsvoll ihr verstörtes Gesicht, ihren mageren Körper, an dem die Röcke gleich einem Leichentuche klebten. Diese allmonatlich wiederkehrenden Anfälle, diese leichenstarre Greisin und dieses Kind, das sich über sie neigte, still lauschend, ob das Leben wiederkehrt: sie nahmen im Dunkel dieser Hütte einen seltsamen Charakter düsteren Schreckens und tief bewegter Güte an. Wenn Tante Dide das Bewußtsein wiedererlangte, erhob sie sich mühselig, band ihre Röcke fest und begann wieder durch das Haus zu schwanken, ohne eine Frage an das Kind zu richten. Sie erinnerte sich an nichts, und das Kind vermied in instinktiver Klugheit selbst die geringste Anspielung auf die soeben stattgehabte Szene. Besonders diese immer wiederkehrenden Anfälle ließen in dem Enkelkinde eine tiefe Anhänglichkeit für die Großmutter entstehen. Allein gleichwie sie ihn ohne geschwätzige Zutunlichkeit liebte, empfand er für sie eine geheime, schier verschämte Zärtlichkeit. Obgleich er Dankbarkeit für sie hegte, weil sie ihn aufgenommen und erzogen hatte, fuhr er dennoch fort, in ihr ein ungewöhnliches Wesen zu sehen, eine Beute unbekannter Übel, die man beklagen und ehren mußte. Es war gewiß in Adelaide nicht mehr genug des Menschlichen, sie war zu weiß und zu steif, als daß Silvère es gewagt hätte, sich ihr an den Hals zu hängen. So lebten sie in einer düsteren Stille dahin, in der sie gleichsam das Beben einer ewigen Liebe vernahmen.
Die ernst und schwermütig stimmende Luft, die er seit seiner Kindheit einatmete, zeitigte in Silvère eine starke Seele, die jede Begeisterung in sich verschloß. Aus ihm ward ein ernster, überlegender Bursche, der mit einer Art Eigensinn den Unterricht besuchte. Er lernte in der Klosterschule nur ein wenig Rechtschreibung und Rechnen. Mit zwölf Jahren mußte er die Schule verlassen, um in die Lehre zu gehen. Die ersten Elemente des Unterrichtes fehlten ihm daher; dies hinderte ihn aber nicht, alle zerrissenen Bücher zu lesen, die ihm in die Hände fielen, und sich so eine eigentümliche Sprache anzugewöhnen. Er kannte Einzelheiten über eine Menge von Dingen, aber unvollständige, schlecht verdaute Einzelheiten, die er in seinem Schädel niemals klar zu verteilen wußte. Als er noch klein war, spielte er oft bei dem Stellmacher, Meister Vian, einem wackern Manne, dessen Werkstätte sich am Eingange des Sackgäßchens befand dem Saint-Mittre-Felde gegenüber, wo der Wagner sein Holz ablagerte. Er erkletterte die Räder der Karren, die man zur Ausbesserung hierher gebracht hatte; er schleppte die schweren Werkzeuge herum, die seine kleinen Hände kaum zu tragen vermochten; zu seinem größten Vergnügen gehörte es, den Arbeitern zu helfen, indem er ein Stück Holz hielt oder ihnen einen Reif herbeischleppte, dessen sie bedurften. Als er größer geworden war, trat er natürlich bei Vian in die Lehre, der eine Zuneigung zu dem Bürschchen gefaßt hatte, das ihn immerwährend zwischen den Beinen herumlief, und der ihn von Adelaide zur Lehre verlangte, ohne dafür ein Entgelt anzunehmen. Silvère folgte willig dem Rufe; er sah den Augenblick voraus, wo er der armen Tante Dide wiedererstatten werde, was sie für ihn ausgegeben hatte. Binnen kurzer Zeit ward er ein vorzüglicher Arbeiter. Doch sein Ehrgeiz strebte höher. Als er eines Tages bei einem Wagner in Plassans eine schöne, neue, glänzend lackierte Kalesche sah, sagte er sich, daß er eines Tages ähnliche Kaleschen bauen werde. Diese Kalesche behielt er in der Erinnerung wie einen seltenen, einzigartigen Kunstgegenstand, wie ein Ideal, welches sein Arbeiterehrgeiz erstrebte. Die Karren, an denen er bei Vian arbeitete, an die er sein Herz gehängt hatte, schienen ihm jetzt seiner Gunst unwürdig. Er begann die Zeichenschule zu besuchen, wo er sich einem jungen Menschen anschloß, der der Schule entsprungen war und ihm ein altes Handbuch der Geometrie lieh. Da vertiefte er sich ohne Führer in dieses Studium, zerbrach sich wochenlang den Kopf, um die einfachsten Dinge von der Welt zu begreifen. So ward er einer jener halbgebildeten Arbeiter, die kaum ihren Namen zu unterschreiben wissen und von der Algebra sprechen wie von einer ihnen bekannten Person. Nichts vermag einen Verstand dermaßen aus den Fugen zu bringen als eine so gewaltsame, auf keiner soliden Grundlage ruhende Bildung. In den meisten Fällen geben diese Brosamen des Wissens eine falsche Vorstellung von den hohen Wahrheiten und machen aus den Armen im Geiste unerträgliche Dickschädel. Bei Silvère steigerten diese Trümmer zusammengerafften Wissens nur die edlen Gesinnungen. Er war sich dessen bewußt, welche Gesichtskreise ihm verschlossen waren, machte sich eine ehrfurchtsvolle Vorstellung von den Dingen, an die hinanzureichen ihm versagt war und lebte in einem tiefen und gläubigen Kultus der großen Gedanken und großen Worte, nach denen er strebte, ohne sie jemals zu begreifen. Er war ein begeisterter Unschuldiger, der auf der Schwelle des Tempels blieb, vor den Kerzen kniend, die er aus der Ferne für Sternlein hielt.
Adelaidens Hütte im Saint-Mittre-Gäßchen bestand zunächst aus einer großen Stube, in die man unmittelbar von der Straße gelangte. Dieser mit Quadern gepflasterte Raum diente als Küche und Eßzimmer zugleich und war ausgestattet mit einigen Strohsesseln, einem Tische, dessen Platte quer auf einem Bocke lag, und einem alten, großen Koffer, den Adelaide in ein Sofa umgestaltet hatte, indem sie ein altes Stück Wollstoff darüber breitete. In einem Winkel links vom Ofen war ein Muttergottesbild aus Gips angebracht, umgeben von Kunstblumen, die Schutzpatronin, die bei den sonst nicht übermäßig frommen alten Provençalinen niemals fehlt. Ein Gang führte von diesem Zimmer nach dem kleinen Hofe, der hinter dem Hause lag, und in dem sich ein Brunnen befand. Links von dem Gange lag die Schlafkammer der Tante Dide, ein schmales Gelaß, wo sich nichts als ein eisernes Bett und ein Sessel befand. Rechts in einem noch engeren Räume, wo knapp für ein Gurtbett Platz war, schlief Silvère, der ein ganzes Brettergerüst, das bis an die Decke reichte, ersonnen hatte, um seine teueren Bücher behalten zu dürfen, die er um seine Sparpfennige bei einem benachbarten Trödler erstanden hatte. Nachts, wenn er las, hängte er seine Lampe an einen Nagel, den er zu Häupten seines Bettes eingeschlagen hatte. Ward die Großmutter von einem Anfall ereilt, so war er mit einem Sprung bei ihr.
Der junge Mann lebte, wie er als Kind gelebt hatte. Dieser verlorene Winkel umschloß sein ganzes Dasein. Wie einst seinem Vater, war auch ihm das Wirtshausleben und der Müßiggang am Sonntag zuwider. Die geräuschvollen Vergnügen seiner Kameraden verletzten seine sanfteren Neigungen. Er zog es vor, zu lesen oder sich an einer einfachen geometrischen Aufgabe den Kopf zu zerbrechen. Seitdem Tante Dide ihn damit betraute, die kleinen Besorgungen für das Hauswesen zu machen, ging sie nicht mehr aus und war ihrer eigenen Familie fremd geworden. Zuweilen dachte der junge Mensch an die Verlassenheit; er betrachtete die arme Alte, die so nahe bei ihren Kindern wohnte, und welche diese zu vergessen suchten, als ob sie tot sei; dann liebte er sie noch mehr; er liebte sie für sich und für die anderen. Wenn er manchmal das unbestimmte Gefühl hatte, daß Tante Dide alte Sünden büße, dachte er: Ich bin geboren, um ihr zu verzeihen.
In einem so lebhaften, verschlossenen Geiste mußten die republikanischen Gedanken naturgemäß zu heller Begeisterung auflodern. Nachts las Silvère in seiner Höhle immer wieder einen Band Rousseau, den er bei einem benachbarten Trödler unter altem Eisen entdeckt hatte. Dieses Buch hielt ihn oft bis zum Morgen wach. In seinem Traume vom Glücke aller – diesem Traume, der allen Unglücklichen so teuer ist – schlugen die Worte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit dem hellen und heiligen Klang der Glocken an sein Ohr, deren Schall die Gläubigen in die Knie sinken läßt. Als er vernahm, daß in Frankreich die Republik ausgerufen sei, glaubte er denn auch, daß nunmehr alle Welt in himmlischer Glückseligkeit leben werde. Seine Halbbildung ließ ihn weiter schauen als die übrigen Arbeiter; bei dem täglichen Brote machte sein Ehrgeiz nicht halt. Doch seine treuherzige Einfalt, seine völlige Unkenntnis der Menschen erhielten ihn in einem unwirklichen Traum, in einem Paradiese, wo die ewige Gerechtigkeit herrschte. Sein Himmelreich war für ihn lange Zeit ein Ort der Freuden, wo er gerne weilte. Wenn er zu bemerken glaubte, daß nicht alles zum besten bestellt sei in der besten der Republiken, empfand er unsägliches Leid. Er träumte dann einen andern Traum, in dem die Menschen gewaltsam genötigt wurden, glücklich zu sein. Jede Tat, die in seinen Augen die Interessen des Volkes zu verletzen schien, erregte in ihm eine Entrüstung, die nach Rache dürstete. Kindlich sanft im Gemüte, war er doch eines wütenden, politischen Hasses fähig. Er, der nicht eine Fliege getötet hätte, sprach davon, die Waffen zu ergreifen. Die Freiheit war seine Leidenschaft, eine sinnlose, gewalttätige Leidenschaft, in die er alle fieberhafte Glut seines Blutes legte. Geblendet durch seine Begeisterung, zu unwissend und zu unterrichtet zugleich, um duldsam zu sein, wollte er mit den Menschen nicht rechnen; er verlangte eine vollkommene Regierung, die lauter Gerechtigkeit und Freiheit sein solle. Um diese Zeit kam sein Oheim Macquart auf den Gedanken, ihn gegen die Rougon loszulassen. Er sagte sich, daß dieser junge Narr, wenn er gehörig erbittert würde, schreckliche Arbeit tun werde. Und diese Berechnung war nicht so dumm.
Antoine trachtete denn, Silvere an sich zu locken, indem er eine maßlose Bewunderung für die Gedanken des jungen Menschen zur Schau trug. Zu Beginn war er nahe daran, sein ganzes Spiel zu verderben; er hatte eine eigene selbstsüchtige Art, den Sieg der Republik als eine glückliche Zeit des Nichtstuns und der ewigen Freßgelage zu betrachten; dies beleidigte aber die rein sittlichen Bestrebungen seines Neffen. Er begriff sogleich, daß er einen falschen Weg eingeschlagen habe, und stürzte sich kopfüber in eine seltsame Begeisterung, in einen endlosen Schwall von hochtönenden, leeren Worten, die Silvère als eine genügende Probe seines Bürgersinnes annahm. Oheim und Neffe fanden sich bald zwei-, dreimal in der Woche zusammen. Während ihrer langen Gespräche, in denen das Schicksal des Landes schlankweg entschieden wurde, versuchte Antoine den jungen Menschen zu überzeugen, daß der Salon der Rougon das hauptsächlichste Hindernis sei, das dem Glücke Frankreichs im Wege stehe. Doch er geriet von neuem auf einen Abweg, als er seine Mutter vor Silvère eine alte Gaunerin nannte. Er ging so weit, dem Burschen die ehemalige Ärgernis erregende Aufführung der armen Alten zu erzählen. Rot vor Scham hörte der Junge ihn an, ohne ihn zu unterbrechen. Er hatte ihn nach diesen Dingen nicht gefragt; ein solches Bekenntnis schmerzte ihn und verletzte seine respektvolle Anhänglichkeit an Tante Dide. Seit jenem Tage umgab er seine Großmutter mit noch mehr Sorgfalt; er betrachtete sie oft mit einem gütigen Lächeln und mit Blicken der Verzeihung. Macquart hatte übrigens gemerkt, daß er eine Dummheit begangen und bemühte sich, die Zuneigung des Burschen für seine Großmutter auszunutzen, indem er den Rougons die Vereinsamung und Armut der Alten schuld gab. Wenn man ihn hörte, war er stets der beste der Söhne gewesen, während sein Bruder sich unwürdig betragen habe; dieser habe seine Mutter ausgeplündert und heute, da sie keinen Sou besitze, schäme er sich ihrer. Über diesen Gegenstand fanden endlose Gespräche zwischen ihnen statt. Silvère ward entrüstet gegen seinen Oheim Peter – zur großen Befriedigung seines Oheims Antoine.
Bei jedem Besuche des jungen Mannes wiederholten sich dieselben Szenen. Er kam abends, während die Familie Macquart beim Essen saß. Der Vater würgte brummend irgendein Kartoffelmus hinab; er nahm die Speckstücke für sich und sah es mit mißgünstigen Augen, wenn die Schüssel an Jean und Gervaise kam.
Du siehst, Silvère, sagte er mit einer verhaltenen Wut, die er nur schlecht unter einer Miene spöttischer Gleichgültigkeit verbarg, wieder Kartoffeln, nichts als Kartoffeln! Das Fleisch ist für die reichen Leute da. Es ist schwer, sein Auskommen zu finden mit Kindern, die einen so höllischen Appetit haben.
Dann schauten Jean und Gervaise bestürzt auf ihren Teller und wagten nicht mehr, sich Brot abzuschneiden. Doch Silvère, der in nebelhaften Träumen lebte, hatte kein Verständnis für die Vorgänge um ihn her. Er sprach mit ruhiger Stimme die wetterschwülen Worte:
Sie sollten eben arbeiten, Oheim!
Ach so! fuhr der im Innersten Getroffene auf, du sagst, ich solle arbeiten? Damit die schurkischen Reichen mich noch weiter auszunützen? Wenn ich mich zu Tode rackere, kann ich vielleicht zwanzig Sous täglich erwerben. Das lohnt doch wohl die Mühe!...
Man erwirbt so viel wie man kann, erwiderte der junge Mann. Zwanzig Sous sind zwanzig Sous, auch ein Zuschuß in einem Haushalte... Sie sind übrigens Soldat gewesen, warum suchen Sie nicht irgendeine Anstellung?
Da mengte Fine sich in das Gespräch mit einer Unbesonnenheit, die sie bald bereuen sollte.
Das wiederhole ich ihm ja alle Tage, sagte sie. Der Marktaufseher braucht jetzt gerade einen Gehilfen; ich habe ihm meinen Mann vorgeschlagen, und er scheint uns günstig gesinnt zu sein...
Macquart sandte ihr einen niederschmetternden Blick zu.
Schweig! rief er ihr mit verhaltenem Zorne zu. Die Weiber wissen nie, was sie reden! Man nimmt mich gewiß nicht, denn man kennt meine Gesinnungen.
Jedesmal, wenn man ihm irgendeinen Dienstplatz anbot, geriet er in heftigen Zorn. Doch hörte er nicht auf, Anstellungen zu fordern, und fand man eine solche für ihn, so lehnte er sie mit den sonderbarsten Begründungen ab. Wenn man ihm in diesem Punkte schärfer zusetzte, konnte er schrecklich werden.
Wenn Jean nach dem Essen eine Zeitung zur Hand nahm, sagte er ihm:
Du tätest auch besser, schlafen zu gehen; sonst verschläfst du morgen früh die rechte Stunde und hast einen Tag verloren. Würde man es glauben, daß dieser Nichtsnutz die vergangene Woche acht Franken weniger heimgebracht hat? Doch ich habe seinen Meister gebeten, ihm nicht mehr das Geld zu geben; ich selbst werde es künftig in Empfang nehmen.
Und Jean ging schlafen, um die Scheltreden seines Vaters nicht länger anhören zu müssen. Er hatte wenig Zuneigung für Silvère; die Politik langweilte ihn und er fand, daß bei seinem Vetter »nicht alles richtig sei«. Wenn dann die Frauen allein da geblieben waren und nach Abräumung des Tisches halblaut miteinander plauderten, schrie Macquart:
Da sieht man die Tagediebe! Gibt es nichts auszubessern im Hause? Wir gehen ja in Lumpen einher... Höre mal, Gervaise, ich habe bei deiner Patronin Nachfrage gehalten und da saubere Dinge erfahren. Du bist eine nichtsnutzige Herumstreicherin.
Gervaise, schon ein erwachsenes Mädchen von zwanzig Jahren, errötete, wenn sie in solcher Weise vor Silvère ausgescholten wurde. Dieser saß ihr gegenüber und empfand darob gleichfalls ein Mißbehagen. Als er eines Abends, an dem der Oheim abwesend war, spät kam, fand er Mutter und Tochter zu Tode betrunken vor einer leeren Schnapsflasche. Seither konnte er seine Base nicht wiedersehen, ohne sich des schmählichen Anblicks zu erinnern, den dieses Kind bot mit seinem plumpen Gelächter und den breiten, roten Flecken auf den blassen, mageren Backen. Auch war er durch die häßlichen Geschichten eingeschüchtert, die über Gervaise im Umlauf waren. In köstlicher Keuschheit aufgewachsen, betrachtete er sie zuweilen von der Seite mit dem scheuen Erstaunen eines Schülers, den man mit einer Dirne zusammengeführt hat.
Wenn die beiden Frauenzimmer ihr Nähzeug genommen hatten, sich die Augen dabei heraussahen, ihm seine alten Hemden auszubessern, warf Macquart sich bequem in den besten Sessel zurück, den es im Hause gab, schlürfte seinen Kaffee und rauchte dazu seine Pfeife wie einer, der mit Behagen seine Faulenzerei genießt. In solchen Stunden pflegte der alte Halunke die reichen Leute anzuklagen, daß sie sich mit dem Schweiße der Armen mästeten. Er erging sich in großartigen Zornesausbrüchen gegen die Herren in der Neustadt, die im Nichtstun dahin lebten und sich von den armen Leuten ernähren ließen. Die Brocken von kommunistischen Gedanken, die er am Vormittag sich aus den Zeitungen geholt hatte, klangen aus seinem Munde plump und ungeheuerlich. Er sprach von einer nahen Zeit, in der niemand mehr werde arbeiten müssen. Doch bewahrte er den Rougon seinen grausamsten Haß. Er konnte eben die Kartoffeln durchaus nicht verdauen.
Heute morgen sah ich die Gaunerin Felicité in der Markthalle ein Huhn kaufen, erzählte er; diese Erbschleicher nähren sich mit Hühnerfleisch!
Tante Dide behauptet, erwiderte Silvère, daß mein Oheim Peter gut zu Euch gewesen, als Ihr vom Militärdienst heimkehrtet. Hat er nicht eine beträchtliche Summe ausgegeben, um Euch Kleidung und Wohnung zu verschaffen?
Eine beträchtliche Summe? heulte Macquart erbittert. Deine Großmutter ist verrückt. Diese Räuber haben selbst solche Geschichten in Umlauf gebracht, um mir das Maul zu schließen. Gar nichts habe ich bekommen!
Hier beging Fine abermals die Unbesonnenheit sich einzumengen, indem sie ihren Mann daran erinnerte, daß er zweihundert Franken erhalten habe, ferner einen vollständigen Anzug und die Wohnungsmiete für ein Jahr. Antoine schrie ihr zu, sie solle schweigen, und fuhr mit steigendem Zorne fort:
Zweihundert Franken! Was ist das? Ich verlange was mir gebührt, das sind zehntausend Franken! Ja, ja; es rede mir nur einer von dem Loch, in das sie mich geworfen haben, wie einen Hund, und von dem alten Überrock, den Peter nicht mehr tragen wollte, weil er schon zu schmierig und löcherig war.
Er log; allein angesichts seiner Wut wagte niemand ihm zu widersprechen. Dann wandte er sich zu Silvère und sagte:
Du bist noch einfältig genug, sie zu verteidigen? Sie haben ja auch deine Muter beraubt, und das arme Weib wäre nicht gestorben, wenn sie die Mittel gehabt hätte, sich besser zu pflegen.
Nein, Ihr seid nicht gerecht, Oheim, sprach der junge Mann; meine Mutter ist nicht wegen mangelnder Pflege gestorben, und ich weiß auch, daß mein Vater niemals einen Sou von der Familie seines Weibes angenommen haben würde.
Ach, laß mich zufrieden! Dein Vater hätte das Geld gerade so angenommen wie jeder andere. Wir sind in unwürdiger Weise ausgeplündert worden und müssen unser Gut wiederbekommen.
Und Macquart begann zum hundertstenmal die Geschichte mit den fünfzigtausend Franken. Sein Neffe, der sie schon auswendig wußte, geschmückt mit allen Abweichungen, hörte ihm ungeduldig zu.
Wenn du ein Mann wärest, sagte Antoine schließlich, würdest du eines Tages mit mir kommen, und wir würden zusammen bei den Rougon einen hübschen Krawall machen. Wir würden nicht eher wieder fortgehen, als bis man uns Geld gäbe.
Doch Silvère wurde ernst und erwiderte mit klarer Stimme:
Wenn diese Elenden uns geplündert haben, dann um so schlimmer für sie! Ich mag ihr Geld nicht. Hört, Oheim! es ist nicht unsere Sache, unsere Familie zu züchtigen. Wenn sie schlecht gehandelt haben, werden sie eines Tags schrecklich gestraft werden.
Oh, welch ein großer Einfaltspinsel! schrie der Oheim. Laß uns nur erst die Stärkeren sein, dann sollst du sehen, wie ich meine Rechnung mit diesen Leuten mache. Der liebe Gott kümmert sich wenig um uns! Es ist eine gar schmutzige Familie, die unsrige! Wenn ich Hungers stürbe, würde keiner dieser Schelme mir auch nur einen Bissen trockenen Brotes zuwerfen.
Wenn Macquart diesen Gegenstand berührte, konnte er nimmer aufhören. Er zeigte die blutenden Schwären seines Neides ganz offen. Er ward wild, wie ein Stier, wenn er daran dachte, daß er allein in der Familie Pech hatte und daß er Kartoffeln aß, während die anderen nach Belieben Fleisch haben konnten. Alle seine Anverwandten, selbst seine Großneffen, gingen bei solchen Gelegenheiten durch seine Hände und gegen jeden wußte er Anschuldigungen und Drohungen vorzubringen.
Ja, ja, wiederholte er bitter, sie würden mich verrecken lassen, wie einen Hund.
Zuweilen bemerkte Gervaise schüchtern und ohne von ihrer Arbeit aufzublicken:
Und doch, Vater, hat Vetter Pascal sich gut zu uns erwiesen, als du im vorigen Jahr krank warst.
Er hat dich ärztlich behandelt, ohne einen Sou Entgelt zu fordern, fügte Fine hinzu, indem sie ihrer Tochter zu Hilfe kam; oft genug hat er mir ein Fünffrankenstück in die Hand gedrückt, damit ich dir Kraftbrühen bereiten könne.
Er! Er hätte mich krepieren lassen, wenn ich nicht von so starker Leibesbeschaffenheit wäre! rief Macquart. Schweiget, ihr dummen Weiber! Ihr würdet euch »einfädeln« lassen, wie die kleinen Kinder. Alle möchten mich am liebsten tot sehen. Wenn ich wieder krank würde, sollt ihr mir nicht meinen Neffen holen, denn ich fühlte mich nicht ganz sicher in seinen Händen. Das ist ein Arzt für die Bettler; er hat keinen einzigen »anständigen« Menschen in seiner ganzen Praxis.
Und weil er einmal im Schwünge war, ließ er sich immer mehr gehen.
Gerade so wie die Schlange Aristid! fuhr er fort. Der ist ein falscher Bruder, ein Verräter. Oder gehst du etwa seinen Artikeln im »Unabhängigen« auf dem Leim, Silvère? Da wärest du ein nicht gewöhnlicher Schafskopf! Ich habe immer behauptet, daß dieser eingeschmuggelte Republikaner mit seinem würdigen Vater unter einer Decke spielt und daß es bei diesem Spiele um unsere Haut geht. Du wirst schon sehen, wie er den Mantel dreht. Und erst sein Bruder, der berühmte Eugen, dieser dicke Tölpel, mit dem sie so viel Staat machen! Von diesem verbreiten sie gar, er habe eine schöne Stellung in Paris! Ach ja, ich kenne diese schöne Stellung. Als Spitzel ist er angestellt in der Jerusalem-Straße.
Wer hat Euch das gesagt? Ihr wißt nichts davon, unterbrach ihn Silvère, dessen schlichter Sinn endlich durch die erlogenen Beschuldigungen seines Oheims beleidigt wurde.
So? Ich weiß nichts davon? Glaubst du? Und ich sage dir, er ist ein Spitzel ... Du in deiner Gutmütigkeit würdest dich scheren lassen, wie ein Schaf. Du bist kein Mann. Ich will von deinem Bruder Franz nichts Schlimmes sagen; aber wenn ich an deiner Stelle wäre, würde es mich doch arg verdrießen, so schmutzig behandelt zu werden, wie er dich behandelt. Er erwirbt in Marseille schweres Geld, und es fällt ihm nie ein, dir ein Zwanzigfrankenstück zu senden, damit du dir dann und wann ein kleines Vergnügen gönnen könntest. Wahrhaftig, wenn du eines Tages in Not wärest, würdest du dich an ihn vergeblich um Hilfe wenden.
Ich brauche niemanden, entgegnete der junge Mann stolz und gereizt. Meine Arbeit genügt, um mich und Tante Dide zu erhalten. Ihr seid grausam, Ohm!
Ich sage nur die Wahrheit und möchte dir die Augen öffnen. Unsere Familie ist eine schmutzige Familie; das ist traurig, aber es ist so. Selbst der kleine Maxime, der Sohn Aristids, dieser neunjährige Balg, streckt die Zunge gegen mich heraus, wenn er mich sieht. Dieser Knirps wird eines Tages seine Mutter prügeln, und das wird recht sein. Du magst sagen was du willst: diese Leute verdienen ihr Glück nicht. Aber so ist es in allen Familien; die Guten verkümmern, und die Schlechten gedeihen.
All die schmutzige Wäsche, die Macquart mit so vielem Behagen vor seinem Neffen wusch, widerte den jungen Menschen in der Seele an. Er hätte lieber seine Träume weitergesponnen. Wenn er sich allzu ungeduldig zeigte, wandte Antoine die großen Mittel an, um ihn gegen seine Anverwandten zu erbittern.
Verteidige sie nur, sagte er und wurde scheinbar ruhiger. Ich habe mich darauf eingerichtet, nichts mehr mit ihnen zu tun zu haben. Was ich dir darüber sage, geschieht nur aus Liebe zu meiner armen Mutter, die diese ganze Sippe in einer wahrhaft empörenden Weise behandelt.
Es sind Elende! murmelte Silvère.
Oh, du weißt nichts davon. Es gibt nichts so Schmachvolles, was die Rougon nicht von der armen Alten sagen. Aristides hat seinem Sohne verboten, sie zu grüßen. Felicité spricht davon, die Alte in ein Narrenhaus stecken zu lassen.
Bleich wie sein Hemd, hörte der junge Mensch diese Reden.
Genug! rief er; ich mag nichts mehr wissen. All dies muß ein Ende nehmen.
Gut, gut, ich schweige schon, da es dich ärgert, sagte der alte Halunke, einen gemütlicheren Ton anschlagend. Es gibt aber doch Dinge, die du wissen mußt, wenn du nicht eines Tages die Rolle eines Tölpels spielen willst.
Indem er sich so bemühte, Silvère gegen die Rougon aufzuhetzen, war es Macquart ein auserlesener Genuß, dem jungen Menschen Tränen des Schmerzes zu erpressen. Er verabscheute diesen vielleicht noch mehr als die übrigen, weil er ein vorzüglicher Arbeiter war und niemals trank. Darum strengte er seinen boshaftesten Scharfsinn an, um die grausamsten Lügen zu erfinden, die den armen Burschen im Herzen trafen; er ergötzte sich dann an seiner Blässe, an dem Zittern seiner Hände, an seinen trostlosen Blicken mit der Wollust eines bösen Geistes, der seine Schläge berechnet und sein Opfer an der empfindlichsten Stelle getroffen hat. Wenn er Silvère genügend verletzt und verbittert zu haben glaubte, ging er endlich auf die Politik über.
Man hat mir versichert, sagte er halblaut, daß die Rougon einen bösen Streich vorbereiten.
Einen bösen Streich?
Ja; in einer der nächsten Nächte wird man sich aller guten Bürger der Stadt bemächtigen und sie in den Kerker werfen.
Der junge Mann zweifelte zunächst. Doch sein Oheim lieferte genaue Einzelheiten; er sprach von angefertigten Listen und nannte Personen, die auf den Listen stünden; er gab Andeutungen darüber, in welcher Weise, zu welcher Stunde und unter welchen Umständen die Verschwörung ins Werk gesetzt werden solle. Allmählich ließ Silvère sich durch dieses Altweibermärchen fangen, und bald begann er gegen die Feinde der Republik zu zetern.
Wir müssen sie ohnmächtig machen, wenn sie fortfahren, das Land zu verraten! rief er. Und was wollen sie mit den Bürgern anfangen, die eingekerkert werden sollen?
Was sie mit ihnen anfangen wollen? erwiderte Macquart mit einem trockenen Lachen. Man wird sie in den Gräben und Gängen der Kerker über den Haufen schießen.
Da der junge Mensch, starr vor Schrecken, ihn anschaute, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden, fuhr er fort:
Sie werden nicht die ersten sein, die man dort mordet. Wenn du dich des Abends ein wenig in der Nähe des Justizpalastes herumtreiben willst, wirst du dort Schüsse und Todesgestöhn hören.
Diese Schurken! murmelte Silvère.
Und jetzt stürzten sich Oheim und Neffe in die hohe Politik. Als Fine und Gervaise sich in ihre Erörterung vertieft sahen, schlichen sie unbemerkt davon und gingen schlafen. Bis Mitternacht blieben die beiden Männer so beisammen und besprachen die Pariser Nachrichten und den bevorstehenden unausbleiblichen Kampf. Macquart ließ sich bitter über die Männer seiner Partei aus; Silvère träumte ganz laut seinen Traum von der vollkommenen Freiheit für sich hin. Es waren seltsame Unterhaltungen, bei denen der Oheim sich unzählige Gläschen einschenkte, während der Neffe sich an seiner Begeisterung berauschte. Indes vermochte Antoine von dem jungen Republikaner niemals einen treulosen Anschlag, einen Feldzugsplan gegen die Rougon zu erlangen; vergebens drängte er ihn; er hörte aus seinem Munde nur Hinweise auf die ewige Gerechtigkeit, die früher oder später die Bösen strafen würde.
Der Knabe in seinen edelmütigen Regungen sprach mit fieberhaftem Eifer davon, zu den Waffen zu greifen und die Feinde der Republik zu morden; aber sobald diese Feinde aus dem Reich seiner Träume heraustraten und sich in seinem Oheim Peter oder einem andern seiner Bekanntschaft verkörperten, rechnete er auf den Himmel, daß dieser es ihm ersparen werde, Blut zu vergießen. Man darf annehmen, daß er aufgehört hätte, Macquart zu besuchen, dessen wilde Neidausbrüche ihm ein gewisses Mißbehagen verursachten, wenn er sich nicht der Freude hätte hingeben können, bei ihm ganz frei von seiner lieben Republik zu reden. Immerhin übte sein Oheim einen entscheidenden Einfluß auf sein Geschick; er erregte seine Nerven durch sein ewiges Schimpfen und brachte es schließlich dahin, daß der Knabe heftiges Verlangen trug nach dem Kampfe mit bewaffneter Hand, nach dem gewaltsamen Erringen des allgemeinen Glücks.
Als Silvère sein sechzehntes Lebensjahr erreichte, ließ Macquart ihn unter die »Bergbewohner« aufnehmen, in diesen mächtigen Bund, der über den ganzen Süden verbreitet war. Seit diesem Augenblicke schielte der junge Republikaner nach dem Karabiner des Schmugglers, den Adelaide über den Kamin an die Wand gehängt hatte. Eines Nachts, während seine Großmutter schlief, putzte er die Waffe und setzte sie instand. Dann hängte er sie wieder an den Nagel und wartete. Und er wiegte sich in seinen begeisterten Träumen, ersann in seiner Einbildung riesenhafte Heldengedichte, eine Art ritterlicher Turniere, aus denen die Verteidiger der Freiheit als Sieger hervorgingen, bejubelt von der ganzen Welt.
Trotz der Erfolglosigkeit seiner Anstrengungen verlor Macquart den Mut nicht. Er sagte sich, daß er allein es zuwege bringen werde, die Rougon zu erwürgen, wenn er sie jemals in irgendeinem Winkel in seiner Gewalt haben würde. Seine Wut eines neidischen und hungernden Müßiggängers wuchs noch infolge einer Reihe von Unglücksfällen, die ihn nötigten, wieder zur Arbeit zu greifen. In den ersten Tagen des Jahres 1850 starb Fine an den Folgen einer Erkältung, die sie sich holte, als sie eines Abends die Wäsche der Familie in der Viorne wusch und dann in nassem Zustande auf dem Rücken heimtrug. Triefend von Wasser und Schweiß, keuchend unter der schweren Bürde war sie heimgekehrt und hatte das Siechbett nicht mehr verlassen. Dieser Todesfall versetzte Macquart in nicht geringe Bestürzung. Sein sicherstes Einkommen war weg. Als er nach einigen Tagen den Ofen verkaufte, auf dem Fine die Kastanien briet, und das Holzgestell, dessen sie sich bei dem Einflechten der Strohsessel zu bedienen pflegte, klagte er in rohen Worten den lieben Gott an, daß er ihm sein Weib genommen, diese starke Person, deren er sich stets geschämt hatte und deren ganzen Wert er jetzt erkannte. Um so gieriger warf er sich jetzt auf den Erwerb seiner Kinder. Allein Gervaise ward seiner unaufhörlichen Geldforderungen bald überdrüssig und ging einen Monat später ihrer Wege, mit ihren zwei Kindern und mit Lantier, dessen Mutter ebenfalls gestorben war. Das Liebespaar floh nach Paris. Niedergeschmettert von dieser Handlungsweise seiner Tochter geriet Antoine in schreckliche Wut und wünschte ihr, sie möge im Krankenhause enden wie ihresgleichen. Allein diese Lästerungen gestalteten seine Lage nicht besser, die eine entschieden schlimme war. Jean folgte bald dem Beispiele seiner Schwester. Er wartete einen Lohntag ab und wußte es so einzurichten, daß er selbst seinen Lohn in Empfang nahm. Beim Fortgehen sagte er einem seiner Freunde, der es dann Antoine wiedersagte, er wolle nicht langer seinen Taugenichts von Vater ernähren; wenn dieser ihn durch die Gendarmen zurückführen lassen solle, werde er Säge und Hobel nicht mehr anrühren. Als Antoine ihn am folgenden Tage vergebens suchte und sich ohne einen Sou allein sah in der Behausung, wo er sich zwanzig Jahre lang hatte aushalten lassen, geriet er in eine schreckliche Wut, stieß mit den Füßen nach den Möbeln und lästerte in ungeheuerlicher Weise. Dann sank er hin und stöhnte wie ein zu Tode Getroffener. Die Furcht, sein Brot verdienen zu müssen, machte ihn krank. Als Silvère zu Besuch kam, beklagte er sich weinend über die Undankbarkeit seiner Kinder. War er denn nicht immer ein guter Vater gewesen? Jean und Gervaise seien Ungeheuer, die ihm schlecht all das lohnten, was er für sie getan. Jetzt verließen sie ihn, weil er alt sei und sie ihn nicht mehr ausnützen konnten.
Aber Oheim, Sie sind doch noch in dem Alter, um arbeiten zu können, bemerkte Silvère.
Macquart hüstelte, krümmte sich und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen, daß er selbst der mindesten Anstrengung nimmer fähig sei. In dem Augenblicke, als sein Neffe sich zum Gehen anschickte, borgte er zehn Franken von ihm. Einen Monat lebte er davon, daß er die alten Kleider seiner Kinder, ein Stück nach dem andern, zum Trödler trug; ebenso verschacherte er nach und nach die kleinen Gegenstände des Hausrates. Bald hatte er nichts, als einen Tisch, einen Sessel, sein Bett und die Kleider, die er am Leibe trug. Schließlich ging er so weit, das aus Nußholz gemachte Bett gegen ein solches von weichem Holze zu vertauschen. Als er mit allen Hilfsquellen zu Ende war, holte er wütend und mit der Miene eines Menschen, der sich zum Selbstmorde entschließt, das Bündel Weidenruten hervor, das seit einem Vierteljahrhundert in einem Winkel vergessen gelegen hatte.
Als er es aufhob, schien er einen Berg von der Stelle zu rücken. Und jetzt begann er wieder, Hand- und Holzkörbe zu flechten, wobei er die Menschheit wegen seiner Verlassenheit anklagte. Zu dieser Zeit hauptsächlich sprach er davon, mit den Reichen teilen zu wollen. Er zeigte sich als ein Schreckensmensch. Mit seinen Brandreden entzündete er die Kneipe fast, wo seine wilden Blicke ihm einen unbeschränkten Kredit verschafften. Übrigens arbeitete er nur dann, wenn es ihm nicht gelingen wollte, bei Silvère oder einem Saufkameraden ein Hundertsoustück zu pumpen. Er war nicht mehr »Herr« Macquart, der täglich rasierte und sauber gekleidete Arbeiter, der sich auf den Spießbürger aufspielte; er war jetzt wieder der schmutzige Geselle von ehemals, der auf seine Lumpen spekulierte. Jetzt, da er sich mit seinen Körben fast auf jedem Wochenmarkte einfand, wagte Felicité nicht mehr, in der Markthalle zu erscheinen. Einmal machte er ihr eine schreckliche Szene. Mit seinem Elend wuchs auch sein Haß gegen die Rougon. Er schwor unter fürchterlichen Drohungen, sich selbst Gerechtigkeit verschaffen zu wollen, da die Reichen sich untereinander verständigten, ihn zur Arbeit zu zwingen.
Unter so bewandten Umständen nahm Macquart die Kunde von dem Staatsstreiche mit der geräuschvollen Freude eines Hundes auf, der den Trieb wittert. Da die wenigen anständigen Liberalen in der Stadt sich nicht hatten verständigen können und sich daher abseits hielten, war es nur natürlich, daß Antoine einer der vordersten Agenten der Erhebung wurde. Trotz ihrer abfälligen Meinung von diesem Müßiggänger mußten ihn die Arbeiter bei dieser Gelegenheit für ein Banner ansehen, unter welchem sie sich scharten. Doch als die Stadt in den ersten Tagen ruhig blieb, glaubte Macquart, seine Pläne seien vereitelt worden. Erst bei der Nachricht von der Erhebung der Landbevölkerung begann er wieder zu hoffen. Um keinen Preis der Welt würde er Plassans verlassen haben. Darum ersann er einen Vorwand, um den Arbeitern nicht zu folgen, die am Sonntag morgen zu der aufrührerischen Bande von La Palud und von Saint-Martin-de-Vaulx stießen. Am Abende desselben Tages befand er sich mit einigen Getreuen in einer verdächtigen Kneipe der Altstadt, als ein Genosse herbeieilte, um sie zu benachrichtigen, daß die Aufrührer wenige Kilometer von Plassans stünden. Diese Kunde sei soeben durch einen Eilboten gebracht worden, dem es gelungen war, in die Stadt zu kommen, und der beauftragt war, der Bande die Stadttore öffnen zu lassen. Diese Kunde erregte ein Jubelgeheul. Besonders Macquart schien toll vor Begeisterung. Dieses unerwartete Eintreffen der Aufständischen betrachtete er wie eine gnädige Fügung der Vorsehung. Seine Hände zitterten vor Wonne bei dem Gedanken, daß er diese Rougon bald an der Gurgel haben werde.
Indes beeilten sich Antoine und seine Genossen, das Kaffeehaus zu verlassen. Alle Republikaner, die die Stadt noch nicht verlassen hatten, fanden sich alsbald auf der Promenade Sauvaire ein. Es war die Rotte, die Rougon gesehen hatte, als er in die Behausung seiner Mutter lief, um sich da zu verbergen. Als die Bande auf der Höhe der Banne-Straße ankam, hieß Macquart, der in der Nachhut geblieben war, vier seiner Genossen zurückbleiben; es waren dies kräftige Burschen mit wenig Grütze, die er mit seinen Kaffeehausreden beherrschte. Er redete ihnen ohne Mühe ein, daß man unverzüglich die Feinde der Republik dingfest machen müsse, wenn man schweren Unglücksfällen vorbeugen wolle. Die Wahrheit war, daß er fürchtete, Peter könnte in den Trubel, den der Einmarsch der Aufständischen in der Stadt verursachen mußte, ihm entrinnen. Die vier Burschen folgten ihm mit musterhafter Fügsamkeit und pochten an der Türe der Rougon. Unter diesen kritischen Umständen benahm sich Felicité mit bewundernswürdigem Mute. Sie ging hinab und öffnete die Haustür.
Wir wollen zu dir hinauf gehen, sagte ihr Macquart barsch.
Es ist gut, meine Herren, gehen Sie hinauf, erwiderte sie mit spöttischer Höflichkeit, indem sie tat, als erkenne sie ihren Schwager nicht.
Oben in der Wohnung gebot ihr Macquart, ihren Mann zu holen.
Mein Mann ist nicht da, sagte sie sehr ruhig; er ist in Geschäften verreist; um sechs Uhr abends ist er mit der Eilpost nach Marseille gefahren.
Antoine fuhr wütend auf, als er diese mit klarer Stimme abgegebene Erklärung vernahm. Hastigen Schrittes trat er in das Empfangszimmer, von da in das Schlafzimmer, durchwühlte das Bett, schaute unter die Vorhänge und unter die Möbel. Die vier langen Burschen waren ihm bei diesem Tun behilflich. Eine Viertelstunde lang durchstöberten sie die ganze Wohnung. Felicité hatte sich inzwischen ruhig auf dem Sofa im Empfangszimmer niedergelassen und machte sich mit dem Schnüren ihrer Röcke zu schaffen, wie eine Person, die in ihrer Nachtruhe gestört worden ist und noch nicht Zeit gefunden hat, sich in schicklicher Weise anzukleiden.
Es ist also wahr, der Feigling hat sich geflüchtet? stotterte Macquart, in den Salon zurückkehrend.
Dabei fuhr er fort, argwöhnisch um sich zu blicken. Er hatte das Gefühl, daß Peter unmöglich das Spiel im entscheidenden Momente aufgegeben haben konnte. Er näherte sich Felicité und sagte:
Zeige uns den Ort, wo dein Mann versteckt ist und ich verspreche dir, daß ihm kein Leid zugefügt werden soll.
Ich habe euch die Wahrheit gesagt, erwiderte sie ungeduldig. Ich kann euch meinen Mann nicht ausliefern, wenn er nicht da ist. Ihr habt überall gesucht, laßt mich jetzt in Frieden.
Durch Felicités Kaltblütigkeit zum äußersten getrieben, war Macquart auf dem Sprunge, sie zu mißhandeln, als von der Straße her ein dumpfes Geräusch sich vernehmbar machte. Es war die Rotte der Aufständischen, die in die Banne-Straße einmarschierte.
Antoine verließ nun das gelbe Zimmer, nicht ohne vorher seine Schwägerin mit der Faust zu bedrohen und der »alten Gaunerin« seine Wiederkehr in Aussicht zu stellen. Am Fuße der Treppe nahm er einen der Männer, die ihn begleitet hatten, einen Erdarbeiter namens Cassoute, beiseite und gebot ihm, sich auf der ersten Treppenstufe niederzulassen und bis auf weitere Weisung sich nicht vom Fleck zu rühren.
Wenn der Halunke heimkehrt, wirst du mich davon benachrichtigen, sagte er.
Der Mann ließ sich schwerfällig auf der Treppenstufe nieder.
Als Macquart wieder auf der Straße war, sah er Felicité, an eines der Fenster des gelben Zimmers gelehnt, neugierig den Zug der Aufständischen betrachten, als habe es sich um ein Regiment gehandelt, das mit klingendem Spiel durch die Stadt zieht. Dieser letzte Beweis ihrer vollkommenen Ruhe reizte ihn dermaßen, daß er sich versucht fühlte, wieder hinaufzugehen und die alte Frau auf die Straße hinabzuwerfen. Er folgte indes der Bande und brummte mit dumpfer Stimme vor sich hin:
Ja, ja, schau nur zu; wir wollen sehen, ob du morgen noch an deinem Balkon stehst.
Es war nahezu elf Uhr, als die Aufständischen durch das römische Tor die Stadt betraten. Die in Plassans zurückgebliebenen Arbeiter öffneten ihnen dieses Tor angelweit trotz des Jammerns des Torwarts, dem man gewaltsam die Schlüssel entreißen mußte. Dieser auf sein Amt sehr eifersüchtige Mann war völlig vernichtet angesichts dieser großen Menschenmenge. Er, der sonst nur einen Menschen auf einmal einließ, und auch dann erst, nachdem er ihn lange betrachtet hatte, brummte jetzt, er sei entehrt. An der Spitze der Truppe marschierten die Männer von Plassans als Führer der anderen. In der vordersten Reihe ging Miette zur Linken Silvères, stolz das Banner schwingend, seitdem sie merkte, daß hinter den geschlossenen Fenstervorhängen die aus dem Schlafe aufgestörten Spießbürger mit erschrockenen Blicken den Zug betrachteten. Die Aufständischen schritten mit bedächtiger Langsamkeit durch die Rom- und die Banne-Straße; bei jeder Straßenkreuzung fürchteten sie mit Gewehrschüssen empfangen zu werden, obgleich ihnen die ruhige Gemütsart der Bewohner von Plassans wohlbekannt war. Doch die Stadt schien ausgestorben; nur hier und da vernahm man einen halb unterdrückten Ausruf an einem Fenster. In einigen wenigen Häusern wurde der Vorhang aufgezogen, und es ward irgendein alter Rentenbesitzer sichtbar, der im Hemde mit einer Kerze in der Hand sich vorneigte, um besser zu sehen. Wenn der alte Mann aber das große, rote Mädchen sah, das diese Menge schwarzer Teufel hinter sich einherzuschleppen schien, schloß er rasch sein Fenster, entsetzt über diese teuflische Erscheinung. Die Stille der schlafenden Stadt beruhigte die Aufständischen, die sich nun auch in die Gäßchen der Altstadt wagten und so auf dem Marktplatze und dem Rathausplatze ankamen, die eine kurze, breite Straße miteinander verbindet. Diese beiden mit kümmerlich gedeihenden Bäumen bepflanzten Plätze waren vom Mondschein hell erleuchtet. Das eben erst instand gesetzte Rathausgebäude bildete am Saume des klaren Nachthimmels einen großen, grellweißen Fleck, von dem der Balkon des ersten Stockwerkes die Verschlingungen seines schmiedeeisernen Geländers in dünnen, schwarzen Linien abhob. Man bemerkte ganz deutlich mehrere Personen auf dem Balkon stehen: den Bürgermeister, den Major Sicardot, drei oder vier Gemeinderäte und andere Beamte. Die Tore des Hauses waren geschlossen. Die dreitausend Republikaner, die die beiden Plätze füllten, blieben stehen, reckten die Hälse und waren bereit, mit dem ersten Ansturm die Tore einzurennen.
Die Ankunft der Aufständischen zu solcher Stunde traf die Stadtbehörde unvorbereitet. Der Major Sicardot hatte, ehe er sich aufs Rathaus begab, rasch seine Uniform angezogen. Er mußte dann noch zum Bürgermeister laufen, um diesen zu wecken. Als der Wächter am römischen Tor, den die Aufständischen freigelassen hatten, gelaufen kam, um zu melden, daß die Bösewichte in der Stadt seien, hatte der Major mit vieler Mühe kaum zwanzig Mann der Bürgerwehr zusammengebracht. Selbst die Gendarmen, deren Kaserne ganz in der Nähe lag, hatte man noch nicht benachrichtigen können. Man hatte nur rasch die Tore zugeworfen, um zu beratschlagen. Fünf Minuten später verkündete ein dumpfes und anhaltendes Geräusch das Herannahen der Bande.
Aus Haß gegen die Republik hätte Herr Garçonnet sich am liebsten zur Wehre gesetzt. Doch er war ein vorsichtiger Mann, der die Nutzlosigkeit des Kampfes begriff, als er sich von einigen bleichen und schlaftrunkenen Männern umgeben sah. Die Beratung dauerte nicht lange. Herr Sicardot allein zeigte sich widerspenstig; er wollte sich schlagen und behauptete, zwanzig Mann genügten, um diesen dreitausend Halunken die Köpfe zurecht zu setzen. Herr Garçonnet zuckte mit den Achseln und erklärte, man könne nichts tun, als sich ehrenhaft unterwerfen. Da das Getöse der Menge immer mehr anwuchs, begab er sich auf den Balkon, wohin alle anwesenden Personen ihm folgten. Allmählich trat Stille ein. In der dunkeln und wimmelnden Menge der Aufständischen unten auf dem Platze glänzten die Gewehrläufe und Sensen im Mondlichte.
Wer seid ihr und was wollt ihr? rief der Bürgermeister mit kräftiger Stimme.
Da trat ein Mann im Überrock, ein kleiner Landwirt aus La Palud, aus der Menge hervor.
Öffnet das Tor, antwortete er, die Frage des Herrn Garçonnet unbeachtet lassend, öffnet und vermeidet einen brudermörderischen Kampf.
Ich befehle euch, eures Weges zu ziehen, rief der Bürgermeister. Ich verwahre mich im Namen des Gesetzes!
Diese Worte erregten ein betäubendes Geschrei in der Menge. Als der Lärm sich ein wenig gelegt hatte, wurden ungestüme Fragen zu dem Balkon hinaufgeschrien. Einige riefen:
Wir sind ja eben im Namen des Gesetzes gekommen!
Sie haben als erster Beamter der Stadt die Pflicht, dem schmählich verletzten Grundgesetze des Landes, der Verfassung, Achtung zu verschaffen!
Hoch die Verfassung! Es lebe die Republik!
Als Herr Garçonnet versuchte, sich Gehör zu verschaffen, und sich weiterhin auf sein Amt berief, unterbrach ihn der Mann aus La Palud, der unter dem Balkon stehen geblieben war, sehr energisch.
Sie sind nur mehr der Beamte eines abgesetzten Beamten; wir sind gekommen, Sie Ihrer Stellung zu entheben.
Der Major Sicardot hatte bisher unter stillen Flüchen an seinem Schnurrbarte gekaut. Der Anblick der Stöcke und Sensen machte ihn wütend. Er mußte sich ungeheure Gewalt antun, um nicht dieses Gesindel, das nicht einmal für jeden Mann eine Flinte hatte, nach Gebühr zu behandeln. Doch als er hören mußte, wie ein Mensch im einfachen Überrock davon zu sprechen wagte, einen Bürgermeister, der mit seiner Amtsschärpe umgürtet war, seines Amtes entheben zu wollen, konnte er nicht länger an sich halten und schrie hinab:
Elendes Bettelvolk! Hätte ich nur vier Mann und einen Korporal, ich würde hinabgehen und euch bei den Ohren nehmen, um euch Respekt zu lehren.
Das war mehr als genug, um sehr ernste Dinge herbeizuführen. Ein lang anhaltender Schrei ertönte aus der Menge, die sich jetzt auf die Tore des Rathauses stürzte. Herr Garçonnet verließ bestürzt den Balkon und bat den Major, sich vernünftig zu benehmen, wenn er nicht wolle, daß sie alle niedergemetzelt würden. In zwei Minuten hatte die Menge die Tore gesprengt, überflutete den Hof des Rathauses und entwaffnete die Bürgerwehr. Der Bürgermeister und die übrigen anwesenden Beamten wurden in Haft genommen. Sicardot, der sich weigerte, seinen Säbel zu übergeben, mußte durch den Anführer der Abteilung aus Tulettes, einen Mann von großer Kaltblütigkeit, gegen die Wut einiger Aufständischer geschützt werden. Als das Rathaus sich in der Gewalt der Republikaner befand, wurden die Gefangenen in ein kleines Kaffeehaus geführt, das auf dem Marktplatze lag, und hier bewacht.
Die Aufständischen wären an Plassans vorbeigezogen, wenn die Anführer nicht gefunden hätten, daß einige Nahrungsmittel und einige Stunden Ruhe für ihre Leute unbedingt notwendig seien. Anstatt geraden Weges auf den Hauptort des Bezirkes loszugehen, machte die Rotte dank der Unerfahrenheit und unverzeihlichen Schwäche ihres Anführers eine Schwenkung nach links, einen großen Umweg, der sie ins Verderben führen mußte. Sie richtete ihren Marsch nach der Hochebene von Sainte-Roure, die noch etwa zehn Meilen entfernt war, und die Aussicht auf diesen langen Marsch war es, die die Leute bestimmt hatte, trotz der späten Nachtstunde die Stadt zu betreten. Es mochte halb zwölf Uhr sein.
Als Herr Garçonnet erfuhr, daß die Bande Lebensmittel wolle, machte er sich erbötig, solche herbeizuschaffen. Dieser Beamte zeigte unter diesen schwierigen Umständen eine sehr klare Auffassung der Lage. Diese dreitausend Hungrigen mußten gesättigt werden; die Stadt durfte nicht bei ihrem Erwachen sie in den Straßen herumlungern sehen; wenn sie vor Tagesanbruch wieder weiterzogen, hatten sie ganz einfach zu nachtschlafender Zeit die Stadt passiert wie ein böser Traum, wie ein Alpdruck, den die Dämmerung verscheucht. Obgleich Gefangener, begab sich Herr Garçonnet in Begleitung von zwei Wächtern zu den Bäckern der Stadt und ließ alles vorrätige Brot an die Aufständischen verteilen.
Gegen ein Uhr morgens hockten die dreitausend Mann am Boden ihre Waffen zwischen den Beinen und aßen. Der Marktplatz und der Rathausplatz waren in riesige Speiseräume verwandelt. Trotz der schneidenden Kühle ging ein Zug von Frohsinn durch diese Menge, deren einzelne Gruppen im Mondlichte deutlich sichtbar waren. Die armen Hungrigen verzehrten munter ihren Anteil und hauchten sich auf die erstarrten Finger; auch aus den benachbarten Gassen, wo man unbestimmte dunkle Gestalten auf den weißen Türschwellen der Häuser sitzen sah, drangen plötzliche Heiterkeitsausbrüche hervor, die aus dem Dunkel der Straßen kommend, sich in der großen Menge verloren. An den Fenstern standen neugierige Frauenzimmer in Tücher gehüllt und schauten zu, wie diese schrecklichen Meuterer sich sättigten, diese Bluttrinker, die einer nach dem anderen zum öffentlichen Brunnen gingen, um da ihren Durst zu löschen.
Während die Aufständischen von dem Rathause Besitz ergriffen, fiel auch die Gendarmerie, in der nahen Cauquoin-Straße gelegen, die auf die Markthalle mündet, in die Gewalt des Volkes. Die Gendarmen wurden im Bett überrumpelt und binnen wenigen Minuten entwaffnet. Das Drängen der Menge hatte Miette und Silvère nach dieser Seite mitgezogen. Das Mädchen, das den Schaft der Fahne noch immer an die Brust drückte, wurde an die Mauer der Kaserne gestellt, während der Bursche, von dem Strom mitgerissen, in das Haus eindrang und seinen Gefährten behilflich war, den Gendarmen ihre Karabiner zu entreißen, deren die Menge sich sogleich bemächtigte. Silvère war wild geworden; betäubt von dem Ansturm der Bande, stürzte er sich auf einen langen Gendarm, namens Rengade, mit dem er einige Sekunden rang. Es gelang ihm, mit einer plötzlichen Bewegung dem andern den Karabiner zu entreißen. Während des Ringens traf das Rohr der Waffe das Gesicht des Gendarmen und stieß ihm das rechte Auge aus. Das Blut floß herab und spritzte auch auf die Hände Silvères, der dadurch sogleich ernüchtert wurde. Er betrachtete seine Hände und ließ den Karabiner fahren; dann lief er, wie kopflos und die Hände schüttelnd aus dem Hause.
Du bist verwundet? rief Miette.
Nein, nein, erwiderte er mit erstickter Stimme; ich habe soeben einen Gendarm getötet.
Ist er tot?
Ich weiß es nicht. Sein Gesicht war voll Blut. Komm rasch!
Er zog das Mädchen fort. Bei der Markthalle hieß er sie auf einer Steinbank Platz nehmen und ihn da erwarten. Dabei betrachtete er immerfort seine Hände und stotterte. An seinen abgerissenen Worten merkte Miette endlich, daß er vor dem Aufbruch noch einmal seine Großmutter umarmen wolle.
Ja, geh, sagte sie, kümmere dich nicht um mich, wasche deine Hände.
Er entfernte sich mit raschen Schritten, spreizte die Finger auseinander und dachte nicht daran, sie in die Brunnenbecken zu tauchen, an denen er vorbeikam. Seitdem er auf seiner Haut das warme Blut des Gendarmen Rengade fühlte, hatte er nur den einen Gedanken, zu Tante Dide zu laufen und an der Brunnenrinne in dem kleinen Hofe seine Hände zu waschen. Da bloß glaubte er die Blutflecke wegbringen zu können. Seine ganze ruhige, zarte Kindheit stieg vor ihm auf; er empfand ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich hinter die Röcke Großmütterchens zu flüchten, und wäre es auch nur eine Minute lang. Keuchend kam er in dem Hause an. Tante Dide war noch nicht zu Bette, was Silvère an jedem andern Abend überrascht haben würde. Doch er hatte bei seinem Eintritt seinen Oheim Rougon übersehen, der in einem Winkel auf einem alten Koffer saß. Der Bursche wartete die Fragen der armen Alten nicht ab.
Großmutter, sagte er hastig, Ihr müßt mir vergeben ... ich ziehe mit den anderen fort... Ihr seht, meine Hände sind blutig... Ich glaube, ich habe einen Gendarm getötet.
Du hast einen Gendarm getötet? wiederholte Tante Dide verwundert.
In ihren müden Augen, die auf seinen blutbefleckten Händen hafteten, ward es plötzlich hell. Sie warf einen Blick auf die Wand oberhalb des Kamins.
Du hast die Flinte genommen? fragte sie. Wo ist die Flinte?
Silvère, der den Karabiner bei Miette zurückgelassen hatte, schwor ihr, daß die Waffe in Sicherheit sei. Zum ersten Male machte Adelaide vor ihrem Enkelkinde eine Anspielung auf den Schmuggler Macquart.
Du wirst mir das Gewehr wiederbringen, du mußt es mir versprechen, sagte sie seltsam bestimmt... Es ist alles, was mir von ihm geblieben ist... Du hast einen Gendarm getötet; er ist von den Gendarmen getötet worden.
Sie fuhr fort, Silvère anzustarren mit einer Miene grausamer Genugtuung, und schien nicht daran zu denken, ihn zurückhalten zu wollen. Sie verlangte keinerlei Erklärung von ihm und weinte nicht wie die guten Großmütter, die ihre Enkel gleich auf der Totenbahre liegen zu sehen glauben, wenn sie irgendwo eine Schramme davongetragen haben. Ihr ganzes Wesen drängte nach einem einzigen Gedanken, dem sie schließlich mit heißer Begier Worte lieh.
Hast du den Gendarm mit dem Gewehr getötet? fragte sie.
Silvère hatte schlecht gehört oder schlecht verstanden.
Ja, erwiderte er, ich will mir die Hände waschen.
Erst als er vom Brunnen zurückkehrte, gewahrte er seinen Oheim. Peter hatte erbleichend die Worte des Burschen vernommen. Wahrhaftig, Felicité hatte recht: seine Familie fand eine Freude daran, ihn bloßzustellen. Einer seiner Neffen tötete die Gendarmen. Wenn er den Burschen nicht hindert, zu den Aufrührern zu stoßen, erhält er niemals das Amt eines Generaleinnehmers. Er stellte sich vor die Türe und schien entschlossen, den Jungen nicht fortzulassen.
Hört, sagte er zu Silvère, der sehr überrascht war, ihn hier zu finden, ich bin das Oberhaupt der Familie und verbiete Euch, dieses Haus zu verlassen. Morgen will ich Euch behilflich sein, über die Grenze zu entkommen.
Silvère zuckte mit den Achseln.
Laßt mich meiner Wege ziehen, sagte er ruhig. Ich bin kein Spion und werde Euer Versteck nicht verraten; seid ohne Sorgen.
Als Rougon fortfuhr, von der Würde der Familie zu sprechen und von der Macht, die ihm als dem Ältesten zukomme, unterbrach ihn der junge Mann.
Gehöre ich denn zu Eurer Familie? rief er. Ihr habt mich stets verleugnet. Heute hat Euch die Angst hierher gejagt, weil Ihr fühlt, daß der Tag der Vergeltung gekommen ist. Macht Platz! Ich verberge mich nicht, denn ich habe eine Pflicht zu erfüllen.
Rougon rührte sich nicht. Da legte Tante Dide, die die heftigen Worte Silvères mit einem gewissen Entzücken hörte, ihre dürre Hand auf den Arm ihres Sohnes.
Tritt beiseite! sprach sie; das Kind muß fort.
Der Bursche schob sachte seinen Oheim beiseite und stürzte hinaus.
Rougon schloß sorgfältig die Tür und sagte mit zornbebender und drohender Stimme seiner Mutter:
Wenn ihm ein Unglück zustößt, ist es Eure Schuld ... ihr seid eine alte Närrin und wißt nicht, was Ihr soeben getan habt.
Doch Adelaide schien ihn nicht zu hören; sie warf einen Klotz auf das Feuer, das zu verlöschen drohte und murmelte mit einem unbestimmten Lächeln:
Ich kenne das... Er ist ganze Monate fortgeblieben und dann frisch und munter zurückgekehrt.
Sie sprach ohne Zweifel von Macquart.
Inzwischen lief Silvère wieder nach der Markthalle. Als er sich dem Orte näherte, wo er Miette zurückgelassen hatte, vernahm er ein lautes Geräusch von Stimmen und sah eine Ansammlung von Leuten, was ihn veranlaßte, seine Schritte zu beschleunigen. Eine peinliche Szene hatte sich soeben abgespielt. Während die Aufständischen ruhig ihr Abendbrot verzehrten, hatte sich viel neugieriges Volk unter sie gemengt. Unter diesen Neugierigen war auch Justin, der Sohn des Krautgärtners Rébufat, ein Bursche von etwa zwanzig Jahren, ein schwächlicher und mißgünstiger Kerl, der gegen seine Base Miette einen unversöhnlichen Haß nährte. Im Hause warf er ihr das Brot vor, das sie aß und behandelte sie als eine Bettlerin, die man aus Mitleid auf der Straße aufgelesen. Man darf annehmen, daß das Kind sich geweigert hatte, seine Geliebte zu werden. Schwächlich, bleich, mit zu lang gediehenen Gliedern und verschrobenem Gesichte, wie er war, rächte er sich an Miette für die eigene Häßlichkeit und für die Mißachtung, die das schöne, kräftige Mädchen ihm bezeigte. Sein liebster Traum war, sie von seinem Vater auf die Straße gejagt zu sehen. Darum spähte er ihr ohne Unterlaß nach. Seit einiger Zeit hatte er ihre Zusammenkünfte mit Silvère entdeckt und wartete nur auf eine entscheidende Gelegenheit, um seinem Vater alles zu erzählen. Als er an diesem Abend gegen acht Uhr sie aus dem Hause schleichen sah, überkam ihn der Haß, und er konnte nicht länger an sich halten. Seine Erzählung versetzte Rébufat in einen furchtbaren Zorn, und der Gärtner schwor hoch und teuer, daß er die Landstreicherin mit Fußtritten hinausjagen werde, wenn sie es wagen solle, wiederzukommen. Justin ging zu Bette und freute sich im voraus des schönen Auftrittes, den es am folgenden Tage geben werde. Dann erfaßte ihn eine wilde Gier nach einem Vorgeschmack seiner Rache. Er kleidete sich wieder an und verließ das Haus. Er hoffte Miette zu treffen, und war entschlossen, sehr unverschämt gegen sie zu sein. So geschah es, daß er Zeuge des Einzuges der Aufständischen war, denen er bis zum Rathause folgte, in der unbestimmten Ahnung, das Liebespärchen hier zu treffen. In der Tat bemerkte er schließlich seine Base auf der Bank, wo sie Silvère erwartete. Als er sie sah, bekleidet mit ihrem großen Mantel, neben sich die rote Fahne, die sie an einen Pfeiler der Markthalle gelehnt hatte, begann er sie mit plumpen Späßen zu verhöhnen. Betroffen von seinem Anblick, vermochte das Mädchen kein Wort hervorzubringen. Schluchzend ertrug sie seine Beschimpfungen, während sie gebeugten Hauptes, das Antlitz in ihren Händen verborgen, ihren Tränen freien Lauf ließ, nannte Justin sie die Tochter eines Zuchthäuslers und schrie ihr zu, sein Vater werde sie mit einer gehörigen Tracht Prügel empfangen, wenn sie sich jemals erdreisten solle, nach dem Jas-Meiffren zurückzukehren. Eine volle Viertelstunde hielt er die Zitternde und Gequälte so in seiner Gewalt. Die Leute machten einen Kreis um die beiden und lachten blöde über diese peinliche Szene. Endlich traten einige Aufständische dazwischen und drohten dem Burschen, ihn weidlich durchzuwalken, wenn er Miette nicht in Frieden lasse. Justin wich zurück, erklärte aber, daß er sie nicht fürchte. In diesem Augenblick erschien Silvère. Als der junge Rébufat ihn erblickte, machte er einen Sprung, als ob er die Flucht ergreifen wolle. Er fürchtete ihn, weil er wußte, daß jener ihm an Kraft weit überlegen sei. Doch konnte er der Versuchung nicht widerstehen, das Mädchen ein letztes Mal vor seinem Geliebten zu beschimpfen.
Ach, ich wußte ja, rief er, daß der Stellmacher nicht weit sein kann! Um diesem Narren zu folgen, hast du uns verlassen, nicht wahr? Die Unglückliche! Sie ist kaum sechzehn Jahre alt! Wann halten wir Kindtaufe?
Als er Silvère mit geballten Fäusten auf sich zukommen sah, wich er noch weiter zurück.
Aber, fuhr er mit widrigem Kichern fort, zu uns darfst du nicht kommen, um dein Kindbett zu halten, denn mein Vater würde dich mit einigen Fußtritten entbinden, daß du keiner Hebamme bedürftest, hörst du?
Doch nun flüchtete er heulend, mit zerschlagenem Gesichte. Silvère hatte sich mit einem Satze auf ihn gestürzt und ihm einen furchtbaren Faustschlag ins Gesicht versetzt. Er verfolgte ihn nicht weiter. Als er zu Miette zurückkehrte, fand er sie aufrecht mit der flachen Hand sich hastig die Tränen trocknend. Als er sie wie zum Troste sanft anblickte, machte sie eine Bewegung plötzlicher Energie.
Nein, sagte sie, ich weine nicht. Es ist mir lieber so. Jetzt habe ich mir keine Vorwürfe darüber zu machen, daß ich fortgegangen bin. Ich bin frei.
Sie ergriff die Fahne und führte Silvère in die Mitte der Aufrührer. Es war bald zwei Uhr morgens; die Kälte war so schneidend, daß die Republikaner sich erhoben hatten, ihr Brot stehend aßen und auf dem Platze umhertrippelten, um sich ein wenig zu wärmen. Endlich gaben die Führer das Zeichen zum Aufbruch. Die Abteilung trat wieder in Reih und Glied. Die Gefangenen wurden in die Mitte gebracht; außer Herrn Garçonnet und dem Major Sicardot führten die Aufständischen noch den Steuereinnehmer Peyrotte und mehrere andere Beamten mit.
In diesem Augenblicke sah man Aristide zwischen den Gruppen herumgehen. Angesichts dieser ungeheuren Erhebung hatte der liebe Junge gedacht, es sei unklug, nicht der Freund der Republikaner zu bleiben; da er aber anderseits sich mit ihnen nicht allzusehr bloßstellen wollte, war er nur zum Abschiede gekommen; dabei trug er den Arm in der Blinde und beklagte sich bitter über die Wunde, die ihn hinderte, eine Waffe zu tragen. In der Menge traf er seinen Bruder Pascal, mit einem Arzneikästchen und einem Instrumentensacke ausgerüstet. Der Arzt teilte ihm mit seiner ruhigen Stimme mit, daß er den Aufständischen folgen wolle. Aristide sagte ihm ganz leise, er sei ein Narr. Schließlich verduftete er, weil er fürchtete, man könne ihm die Obhut über die Stadt anvertrauen, was ihm ein überaus gefährliches Amt dünkte.
Die Aufständischen konnten nicht daran denken, Plassans in ihrer Gewalt zu behalten. Die Stadt war zu sehr von einem reaktionären Geiste belebt, als daß sie auch nur hätten versuchen dürfen, eine demokratische Behörde daselbst einzusetzen, wie sie anderwärts getan hatten. Sie wären ganz einfach weitergezogen, wenn nicht Macquart, durch seine Rachegelüste getrieben und ermutigt, sich erbötig gemacht hätte, Plassans in Schach zu halten, wenn man zwanzig entschlossene Männer seinen Befehlen unterstellen wolle. Man gab ihm die zwanzig Männer, an deren Spitze er siegreich in das Bürgermeisteramt einzog. Mittlerweile stieg die Abteilung die Promenade Sauvaire hinab und verließ die Stadt durch das Haupttor, in nächtlicher Stille und Öde die Straßen zurücklassend, die sie wie ein Windstoß durchzogen hatte. In der Ferne dehnten sich im Mondlichte die weißen Straßen. Miette hatte es abgelehnt, sich auf Silvères Arm zu stützen; kühn und fest marschierte sie dahin, mit beiden Händen die rote Fahne haltend.