Emile Zola
Das Gelübde einer Sterbenden
Emile Zola

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XII.

In Paris angelangt, begab sich Daniel zu Georg.

»Was?« Du bist's!« rief sein Freund, der ihn nicht erwartet hatte. Er empfing ihn wie einen verlorenen Sohn, mit tausenderlei Freundschaftsbezeigungen und inniger Freude.

Ihn auszufragen wagte er jedoch nicht, aus Furcht von einer baldigen, neuen Trennung hören zu müssen. Aber Daniel beschwichtigte dergleichen Besorgnisse, indem er ihm ankündigte, daß er an dem gemeinschaftlichen Werk mit ihm weiter arbeiten wolle. Das gemütliche Leben, das sie früher geführt hatten, sollte also seinen Fortgang haben.

Während der Rückreise hatte sich Daniel reiflich überlegt, welches Verfahren er behufs Erreichung seines Zieles einschlagen solle. Daß er jetzt die unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen wollte, gehörte zu dem Plan, den er sich ausgedacht hatte und der sich wieder auf Jeanne bezog. Er hatte ihr, als er es für nötig hielt, die Wissenschaft und die Zukunft, die ihm winkte, geopfert, war bescheiden und demütig geworden. Jetzt, wo die Umstände sich verändert hatten, durfte er nicht mehr ein simpler Schreiber bleiben, mußte er sich zu einer höheren Lebensstellung empor arbeiten, berühmt werden, sich den Zutritt zu den Salons der besseren Gesellschaft erzwingen. Daher die wiedererwachte Liebe zur Arbeit die ihm nur ein Mittel zum Zweck sein sollte.

Georg und er machten sich also mit Feuereifer an's Werk und übersandten bald der Akademie mehrere Abhandlungen, mit denen sie die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf sich zogen.

Jetzt fand sich auch Daniel bereit, der ehemaligen Anonymität zu entsagen, so daß von nun an sein Name stets mit dem seines schon berühmten Freundes genannt wurde. Endlich gedieh so das große Werk, an dem sie so lange gearbeitet hatten, zum Abschluß und machte gleich bei seiner Veröffentlichung so großes Aufsehen, daß sogar, was bei wissenschaftlichen Werken selten geschieht, in den Salons der höhern Gesellschaft davon gesprochen wurde. Hatte doch Daniel, der die endgültige Abschaffung übernommen, seine ganze Seele hineingelegt.

Nun sie den Gipfel des Ruhmes erklommen hatten, wurden die beiden Gelehrten überall mit besonderer Zuvorkommenheit aufgenommen, ein Erfolg, der auf sie sehr verschieden einwirkte. Georg, der ein seit langer Zeit erstrebtes Ziel endlich erreicht hatte, schwamm in Seligkeit, während Daniel sich den Ruhm nur als etwas Notwendiges gefallen ließ, sich sozusagen nur einer Pflicht unterzog, die ihn innerlich kalt ließ.

Eines Tages nahm ihn Georg zu einer Soiree mit, die eine hochgestellte Persönlichkeit gab. Daniel begleitete ihn, weil eine innere Ahnung ihn dazu trieb.

Die erste Dame, auf die beim Eintritt in den Salon sein Blick fiel, war Jeanne am Arme Lorins. Er war ihr erst ein- oder zweimal seit seiner Rückkehr begegnet und machte sich Sorgen, weil sie etwas Gedrücktes in ihrem Wesen hatte. Sie lachte nicht mehr so leicht wie früher, scherzte und spottete nicht; das Lächeln ihrer Lippen war matt, die Augenlider dick von den Thränen geworden, die sie heimlich weinte.

Als Lorin seine ehemaligen Freunde gewahr wurde, eilte er raschen Schrittes auf sie zu. Es war ihm sehr lieb, daß er mit ihnen einen vertraulichen Händedruck in Gegenwart so vieler Freunde und Bekannten austauschen konnte.

»Endlich sehe ich Euch mal wieder!« rief er so laut daß man ihn weithin hören mußte. »Sagt mal, ist das hübsch, daß Ihr einen alten Kameraden so vernachlässigt?«

Georg sah ihn an und besann sich, ob er lachen oder böse werden sollte. Aber Daniel, der Jeanne betrachtete, kam ihm zuvor und antwortete:

»Wir haben viel zu thun und fürchteten auch, Sie zu belästigen.«

»Na aber!« entgegnete Lorin mit Nachdruck. »Ihr wißt doch, daß Ihr mein Haus als das Eurige betrachten dürft. Also kommt mir nicht mit Entschuldigungen und besucht uns an unserm nächsten Empfangstage. — Sagt mal, ein schweres Geld müßt Ihr jetzt verdienen, nun Ihr so berühmt geworden seid?«

Nun erinnerte er sich auch, daß seine Frau zugegen war, und wandte sich an sie.

»Liebe Frau, ich stelle Dir zwei unserer berühmtesten Gelehrten, die Herren Raimbault und Georg Raymond, vor.«

Jeanne verneigte sich leicht und fügte mit einem Blick auf Daniel:

»Ich hatte schon das Vergnügen.«

»Ach ja, ich entsinne mich jetzt,« rief Lorin mit einem impertinenten Lachen. »Er hat dich oft genug auf der Seine spazieren gefahren. Ja, ja, lieber Daniel, das ist sehr gescheit von Ihnen, daß Sie auf die Leiter des Ruhmes gestiegen sind. Sie thaten mir von Herzen leid, als Sie noch Sekretär bei Tellier waren. Sie wissen doch, daß er kürzlich gestorben ist? Die Einen sagen, infolge eines Gehirnschlags, die Andern behaupten, infolge einer verhaltenen Rede. Gestern habe ich auch gehöre, daß seine Frau ins Kloster gehen wollte. So endigen alle Modelöwinnen.«

Jeanne schien unbehaglich zu Mute zu sein. Die schreiende Stimme ihres Mannes fiel ihr auf die Nerven. Es zuckte um ihre Lippen, und sie wandte sich ab, als wollte sie sich der Unannehmlichkeit entziehen, einen solchen Mann untergefaßt zu halten.

Lorin war nicht mehr der galante Anbeter, der seine Schwerenöterrolle so hübsch gespielt hatte. Nach der Hochzeit brauchte er ja nicht mehr zu gefallen und so war er wieder zu gemeinen Instinkten, zu der Rohheit der Geldmenschen zurückgekehrt. Daniel machte sogar die Beobachtung, daß er sich nicht mehr so elegant kleidete wie früher, und daß seine Stimme etwas heiser klang, Er fand, daß Jeanne zu bedauern war.

»Nun gut!« sagte er. »Wir werden uns die Ehre geben, und zwar recht bald.«

Mit diesen Worten ging er davon und zog Georg mit sich fort, der den Mund nicht aufgethan und fortwährend Jeanne mit sympathischer Bewunderung angeschaut hatte.

Als sie sich einige Schritte entfernt hatten, fragte Georg:

»Du bist also mit Lorins Frau bekannt?«

»Ja wohl,« lautete Daniels kurze Anwort. »Sie ist die Nichte des Abgeordneten, bei dem ich als Sekretär angestellt war.«

»Ich bedaure sie von ganzem Herzen, denn ein so roher Patron wie ihr Mann, kann sie doch nicht glücklich machen. Du gedenkst sie bald wieder zu besuchen?«

»Freilich!«

»Dann komme ich mit. Die arme junge Frau schaute mit ihren großen Augen so traurig drein, daß ich mich tief bewegt davon fühle.«

Daniel lenkte das Gespräch auf ein andres Gebiet, aber auch er war tief bewegt und empfand eine bittere Freude bei dem Gedanken, daß, was seiner Liebe nicht gelungen war, das Unglück jetzt zu bewirken anfange. Er sah ja, daß Jeanne's Gemüt erwacht war, da sie weinen gelernt hatte.

Eine Woche lang fragte Georg jeden Tag:

»Nun, wie ist's? Gehen wir morgen zu Lorin?« Aber Daniels Mut reichte zu dem Besuch nicht aus; hatte er doch das Gefühl, daß ihn dann sein altes Liebesfieber von Neuem befallen würde. Seit der Soiree, wo er ihr wieder begegnet war, schwebte ihm ihr Bild beständig vor Augen und lächelte ihn schmerzlich an. Sein armes Herz pochte wieder stürmischer und tolle Hoffnungen wirbelten ihm im Kopf herum.

Indessen raffte er sich endlich zusammen und eines Abends machte er sich mit Georg auf den Weg. Sie fielen gerade auf einen Empfangstag und fanden den Salon schon voller Gäste, denen Lorin die beiden Gelehrten wie merkwürdige Tiere zeigte.

Diese Soiree brachte Daniel viel Herzeleid. Bestätigten doch die Beobachtungen, die er machte, nur zu sehr seine schlimmsten Vermutungen.

Er fand, daß Jeanne in ihrem ganzen Wesen eine fieberhafte Unruhe bekundete. Die einstige Sorglosigkeit, die jugendliche Leichtfertigkeit, die alle tieferen Gefühle einfach ignorirte, war dahin; schwerer Kummer hatte das Herz zum Leben entfaltet, aber nur, damit es alsbald verbluten sollte. So lange die zarteren Empfindungen in ihr geschlummert hatten, war sie ein kokettes Zierpüppchen gewesen, das mit feiner kalten Satire alle Angriffe auf seine Seelenruhe leicht abschlug. Jetzt aber hatte sich ihr Herz geregt; es verlangte nach Liebe und fand Niemanden, den es lieben konnte. Da empörte es sich und machte sich bittre Vorwürfe, weil es zu lange geschlafen hatte.

Jeannes Erwachen war ein sehr grausames gewesen. Zwei oder drei Monate nach ihrer Hochzeit entdeckte sie in sich eine Seele, von der sie bisher nichts gewußt hatte. Hervorgerufen wurde diese Erkenntnis durch ihren Mann, dessen niedrige, bösartige Denkweise sie anwiderte und ihr die Augen öffnete. Als sie inne wurde, was für ein Mensch er war, empörte sich ihr Stolz, der Stolz, den sie ihrer Mutter verdankte, und wuchs ihr innerer Mensch über den äußerlichen hinaus, den nur die Umstände geschaffen hatten, und nun zerriß der Schleier. Nun verstand sie, was es hieß, für immer an solch einen Mann gebunden zu sein; nun erzitterte sie vor Furcht und Zorn. War sie doch selber Schuld an ihrer trostlosen Lage, hatte sie doch mit ihrem Leichtsinn all das Herzeleid möglich gemacht, dem sie jetzt überantwortet war. Und keine Rettung! Denn jetzt, wo sie einen gebieterischen Drang nach Liebe empfand, konnte sie diesem Drange nicht folgen, weil sie den einzigen Mann, den sie lieben durfte, verachtete.

Als ihr dies klar wurde, jammerte sie laut und verzweifelte am Glück.

Auf derartige Krisen folgten Anwandlungen von moralischer Erschlaffung und Feigheit. Sie glaubte dann, ihre Kraft würde nicht hinreichen, solch ein Leben lange zu ertragen, und fürchtete sich vor der Vereinsamung. Da entspann sich ein Kampf zwiespältiger Gefühle in ihrem Innern. Ihr Pflichtgefühl als Gattin, ihr sittlicher Stolz erhob Einspruch gegen die Forderung des darbenden Herzens, das nach Liebe lechzte und ihr riet, sich in die Arme eines andern Mannes zu flüchten.

Es gab jetzt Tage, wo sie sich darauf berief, daß die Liebe frei sein soll, und daß die Gesetze der Menschen sie nicht bloß auf die hochmütige Gleichgültigkeit ihrer Mädchenzeit verweisen dürften. Aber den nächsten Tag erhob dann wieder die Pflicht ihre Stimme und dann schauderte sie vor der Sünde zurück und nahm ihr Kreuz auf sich als eine gerechte Strafe für ihre ehemalige Verblendung.

Beinahe sechs Monate lang dauerte dieser Kampf, der sie zu zermalmen drohte. Jeden Morgen kam sie, trotz alles Sträubens, dem Abgrund einen Schritt näher. Sie klammerte sich überall an, sie stemmte sich rückwärts; aber der Schwindel packte sie und riß sie fort. Schon war sie nahe daran zu fallen, als Daniel wieder auf ihrem Lebensweg erschien.

Der junge Mann erriet beim ersten Anblick ihrer heißen roten Augen, daß sie große Seelenqualen zu erdulden hatte. Andrerseits bemerkte er bei Lorin die ersten Spuren der Dickleibigkeit und Vertrottelung. Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, er solle Streit mit ihm anfangen, sich mit ihm duelliren und ihn über den Haufen stechen, damit seine Frau ihn los würde.

Er hielt diesen Plan nicht fest, sah sich aber veranlaßt, sein Innres zu prüfen, und erkannte darin mit Schrecken, daß die Liebe wieder Gewalt über ihn bekam.

In der That verwandte er den ganzen Abend kein Auge von Jeanne, beobachtete mit unsäglichem Wohlgefallen jede ihrer Bewegungen und vergaß darüber alles um sich her. Da bemerkte er, daß Jeanne die Augen fortwährend nach der Thür hinwandte. Offenbar erwartete sie Jemand und er hatte bei diesem Gedanken die Empfindung, als fahre ihm ein glühendes Eisen durch die Brust. So viel war ihm klar, daß die junge Frau sich in einem fieberhaften Zustande befand; sie erschauerte oft, jedenfalls war der Entscheidungskampf nahe. Da trat Daniel auf sie zu und knüpfte ein Gespräch über die Billeggiatur in Le Mesnil-Rouge an:

»Entsinnen Sie sich noch jener schönen, milden Abende? Wie angenehm kühl war es unter den Bäumen und eine wie friedliche Stille senkte sich vom Himmel herab!«

Jeanne lächelte bei der Erinnerung an jene friedvolle Zeit.

»Ich bin wieder in Le Mesnil-Rouge gewesen,« sagte sie, »und habe an Sie gedacht. Es war Niemand da, der mich nach den Inseln hinüberruderte.«

In demselben Augenblick wandte sie sich wieder rasch nach der Thür hin. Daniel fühlte abermals einen brennenden Schmerz in der Brust; er sah sich um und erblickte einen hochgewachsenen jungen Mann, der auf der Schwelle stand und lächelnd einen klaren Blick in den Salon hineinsandte.

Dieser junge Mann bemerkte Lorin, ging auf ihn zu und begrüßte ihn mit übertriebener Freundlichkeit, unterhielt sich scherzend mit ihm und kam dann auf Jeanne zu. Die junge Frau erbebte.

Daniel trat zurück und musterte den Ankömmling. Es wurde ihm nicht schwer, ein Urteil über ihn zu fällen: Er gehörte zu derselben Klasse von Menschen, wie von Rionne, nur daß er die schiefe Ebene noch nicht hinuntergeglitten war. Offenbar hatte sich Jeanne nur durch die Eleganz und die glatte Beredsamkeit des Taugenichts bestechen lassen.

Die Beiden tauschten einige Höflichkeitsphrasen aus, wobei die junge Frau Unruhe und Ungeduld bezeigte, als wartete sie mit Spannung auf etwas, das er zu ihr sagen sollte. Daniel bedachte nicht, daß er sich schicklicher Weise hätte entfernen sollen, sondern wartete gleichfalls und blickte, Argwohn und Verzweiflung im Herzen, auf Jeanne.

Der junge Mann achtete nicht auf den zudringlichen Dritten, dessen verhaltenen Mißmut er nicht einmal bemerkte, und plauderte ruhig weiter, plötzlich aber neigte er sich mitten in einer banalen Rede rasch zu Jeanne nieder und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Gnädige Frau, gestatten Sie, daß ich morgen komme?«

Jeanne erblaßte und wollte eben antworten, als ihr Blick auf Daniels strengem und verstörtem Gesicht haften blieb. Da erzitterten ihre Lippen; sie fuhr zurück, besann sich eine Weile und ging davon, ohne eine Antwort gegeben zu haben. Der junge Mann aber drehte sich auf den Fersen herum und murmelte:

»Ich sehe schon, die Frucht ist noch nicht reif, ich muß warten.«

Daniel, der alles gehört und verstanden hatte, trat der kalte Schweiß an den Schläfen heraus. Er glich einem Menschen, der soeben einer großen Gefahr entronnen ist und aufatmet, aber sich noch umsieht, ob wirklich nichts mehr zu fürchten ist.

Noch war ihm aber beklommen zu Mute, und da er frischer Luft bedurfte und in dem schwülen Salon nicht nachdenken konnte, suchte er Georg auf und nötigte ihn, mit ihm auf die Straße hinauszugehen.

Georg willfahrte ihm, aber mit Widerstreben. Es gefiel ihm in dem Hause, in der Nähe der jungen Frau, die mit ihren großen Augen so traurig dreinschaute, daß er sich tief bewegt davon fühlte. Wäre Lorin nicht da gewesen und hätte ihm seine tiefe Bewegung verdorben, so wäre er ganz gern geblieben und hätte Jeanne immerzu angesehen.

»Warum in aller Welt läufst Du so davon?« fragte er seinen Freund auf der Straße.

»Ich kann Lorin nicht leiden,« stotterte Daniel.

»Ich auch nicht, aber ich hätte doch noch gern wissen mögen, warum seine Frau immer so schwermütig, so leidend aussieht. Wir besuchen sie aber öfter, nicht wahr?«

»Ja freilich!«

Sie legten den Heimweg zu Fuß zurück. Georg war nachdenklich und hatte ab und zu unbekannte Empfindungen, die ihm das Blut heiß und schnell ins Gesicht emportrieben, und gleichzeitig hing er lieblichen Träumereien nach, was bei ihm etwas ganz neues war. Daniel ging gesenkten Hauptes und mit schnellen Schritten, um so bald wie möglich allein sein zu können.

Als er in seinem Zimmer angelangt war, setzte er sich nieder und weinte los. Er machte sich Vorwürfe, weil er zu spät gekommen sei. Denn er fühlte wohl, daß Jeanne sich noch nicht vergangen hatte, wußte aber nicht, wie er es anfangen sollte, um der Gefahr sofort und energisch zu begegnen. Es fielen ihm jetzt wieder die Worte ein, die seine Wohlthäterin auf dem Sterbebett zu ihm geredet hatte: »Als Mann werden Sie sich einst meiner erinnern und dann werden Sie inne werden, wie furchtbar eine Frau leiden kann. — Ich weiß, wie schwer die Einsamkeit zu ertragen ist und wieviel Energie dazu gehört, um nicht auf Abwege zu geraten.« Und nun war es eingetroffen: Jeanne ermangelte der sittlichen Energie und war im Begriff, Abwege zu betreten.

Daniel hatte schon zu viel gelitten, um sich noch betrügen zu können. Er sah ein, daß die Liebe von Neuem sein Innerstes beherrschte, und nur aus Schamgefühl, aus Feigheit sagte er es nicht laut. In Le Mesnil- Rouge hatte er in einer finstern Nacht im kalten Regen einen ähnlichen Anfall gehabt. Damals wollte er in der Raserei der Eifersucht Jeanne vor Lorin retten. Heute strebte er, sie gegen sie selbst zu verteidigen, zu verhindern, daß sie sich einen Liebhaber nahm, und heute litt und stöhnte er so wie damals.

Um sich selber zu täuschen, schützte er die ihm anvertraute Mission vor, behauptete er, eine heilige Pflicht zu erfüllen. Dieses Mal handle es sich um die Ehre der jungen Frau, um ihren Seelenfrieden. Nie sei der Kampf aufregender und entscheidungsvoller gewesen.

Aber schon im nächsten Augenblick lachte er über den Vorwand, that er sich selber leid, gestand er sich, daß er sich belog und daß die Liebe allein ihn dazu treibe, sich auf diese Weise um Jeanne's Glück zu bekümmern. Er sah die Tiefen seiner Seele nur zu deutlich: Der gewissenhafte Tugendwächter hatte sich in einen leidenschaftlichen Anbeter verwandelt, der nur aus Eifersucht über die Frau wachte, zu deren Hüter er bestellt war.

Dies alles sagte er sich und drückte das Gesicht in die Hände, weinte, schluchzte, sann qualvoll nach, wie er sie, wie er sich retten solle.

Endlich als er weiter keinen Ausweg fand, nahm er einen Bogen Papier und setzte einen Brief an die junge Frau auf. Jetzt trockneten die Thränen, die seine Wangen benetzten, denn das Fieber ging in die Hand über, die eilig über das Papier hinglitt.

Zwei Stunden lang blickte er nicht auf, zwei Stunden brauchte er, um seine Seele zu entlasten. Er ergoß in den Brief den Strom seiner Gefühle ohne Scheu, rückhaltslos, ohne irgend welche Schranken zu beachten. Alles, alles sagte er, getrieben von der innern Kraft, die ihn mit sich fortriß; er schüttete sein Herz aus, weil er zu ersticken drohte und der Luft bedurfte. Erst als der Sturm in seinem Innern ausgetobt hatte, hielt er Inne. Er las den Brief nicht wieder durch und unterschrieb ihn nicht.

Am nächsten Tage ließ er das Schreiben Jeanne zustellen. Was die Wirkung sein würde, wußte er nicht, aber er hoffte.


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