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Sechstes Kapitel.

Acht Tage später glaubte Florent, er könne nun zur Tat übergehen. Es bot sich eine genügende Gelegenheit zur Unzufriedenheit dar, um die aufrührerischen Banden über Paris loszulassen. Der gesetzgebende Körper, wegen eines Dotationsgesetzes in seinem Innern zerklüftet, beriet eben über einen sehr mißliebigen Steuerentwurf, der die Vorstädte in Aufruhr brachte. Einen Mißerfolg fürchtend, kämpfte die Regierung mit voller Kraft. Es mochte eine lange Zeit verstreichen, ehe ein besserer Vorwand sich darbieten werde.

Eines Morgens – bei Tagesanbruch – trieb sich Florent in der Umgebung des Palastes Bourbon herum. Er vergaß seine Obliegenheiten als Aufseher, blieb da bis acht Uhr und prüfte die Örtlichkeiten, ohne auch nur daran zu denken, daß seine Abwesenheit den Fischmarkt in Aufruhr bringen müsse. Er besichtigte jede Straße, die Lille-Straße, die Universitätsstraße, die Burgund-Straße, die Dominikusstraße; er ging bis zum Invalidenplatz, blieb bei manchen Straßenkreuzungen stehen und maß die Entfernungen mit großen Schritten ab. Dann kehrte er über das Orsay-Ufer zurück, setzte sich auf die Brüstung und entschied, daß der Angriff gleichzeitig von allen Seiten geschehen solle; die Banden aus dem Groben Kiesel sollten über das Marsfeld marschieren, die Abteilungen aus dem Norden von Paris über die Magdalenenallee, die aus dem Westen und Süden würden ihren Weg über die Uferstraße nehmen oder in kleinen Gruppen durch die Straßen der Vorstadt Saint-Germain ziehen. Doch ihn beunruhigten die Champs-Elysées jenseits des Flusses mit ihren offenen Alleen; er sah voraus, daß man dort die Geschütze auffahren werde, um die Uferstraßen reinzufegen. Da änderte er einige Einzelheiten des Planes und verzeichnete in einem Notizbüchlein, das er in der Hand hielt, die Aufstellungspunkte der einzelnen Abteilungen. Der Hauptangriff mußte jedenfalls durch die Burgund-Straße und die Universitätsstraße erfolgen, während von der Seine her ein Seitenangriff versucht werden sollte. Die Morgensonne, die ihm den Nacken wärmte, warf ihr heiteres, goldiges Licht auf die Säulen des monumentalen Baues, den er vor sich hatte. Schon sah er den Kampf, Gruppen von Männern, die die Säulen erkletterten; er sah die Gittertore zerbrochen, den Vorplatz von den Stürmenden überflutet, dann schließlich magere Arme, die ganz oben ein Banner aufpflanzten.

Langsam, gesenkten Hauptes trat er den Rückweg an. Ein Girren, das er vernahm, ließ ihn aufblicken. Er bemerkte, daß er durch den Tuilerien-Garten schritt. Auf einem Rasenplatze wackelte eine Schar Holztauben dahin. Er lehnte sich einen Augenblick an den Kübel eines Orangenbaumes und betrachtete das Gras und die in Sonnenlicht gebadeten Holztauben. Ihm gegenüber warfen die Kastanienbäume einen tiefdunklen Schatten. Eine heiße Stille lagerte über dem Parke, nur unterbrochen durch fernes Wagenrollen hinter dem Gittertor, das sich auf die Rivoli-Straße öffnete. Der Grasgeruch stimmte ihn weich; er dachte an den Gemüsegarten der Frau Francois. Ein kleines Mädchen, das seinen Reifen vor sich her trieb, verscheuchte die Holztauben; sie flogen davon und ließen sich in einer Reihe auf dem marmornen Arm eines antiken Ringkämpfers inmitten des Rasenplatzes nieder, lebhafter girrend und schnäbelnd.

Als Florent durch die Vauvilliers-Straße nach den Hallen zurückkehrte, hörte er die Stimme Claude Lantiers ihn rufen. Der Maler stieg in den Geflügelkeller hinab.

Kommen Sie mit? rief er. Ich suche den Tölpel Marjolin.

Florent folgte ihm, um noch einen Augenblick des Vergessens zu genießen, um einige Minuten seine Rückkehr nach dem Fischpavillon zu verzögern. Claude sagte, sein Freund Marjolin habe jetzt nichts mehr zu wünschen; er sei ein Tier. Der Maler hatte vor, den Jungen auf allen vieren mit seinem blöden, harmlosen Lächeln Modell stehen zu lassen. Wenn er wütend eine Leinwand zerrissen hatte, verbrachte er ganze Stunden in Gesellschaft des Idioten, ohne ein Wort zu reden, und wartete auf sein tierisches Gelächter.

Er füttert wohl seine Tauben, murmelte er. Aber ich weiß nicht, wo die Geflügelzelle Gavards liegt.

Sie durchsuchten den ganzen Keller. Im Mittelpunkte stehen zwei Brunnen im Halbschatten. Die Zellen sind hier ausschließlich den Tauben vorbehalten. Längs der Drahtgitter tönt ein ewiges klagendes Girren und Zwitschern wie der halblaute Gesang der Vögel im Laube, wenn der Tag zur Rüste geht. Claude begann zu lachen, als er diese Musik hörte. Er bemerkte seinem Begleiter:

Man möchte schwören, daß alle Liebespaare von Paris sich hier küssen.

Doch keine einzige Zelle war offen, und schon glaubte der Maler, Marjolin sei nicht im Keller, als ein Geräusch von Küssen, aber von laut schmatzenden Küssen ihn vor einer halb offenen Tür festhielt. Er öffnete die Tür und bemerkte den Tölpel Marjolin, den Cadine auf den mit Streu belegten Erdboden hatte niederknien heißen, so daß das Gesicht des Jungen genau ihre Lippen erreichte. Sie küßte ihn überall zärtlich ab. Sie strich seine langen, blonden Haare zur Seite, küßte ihn hinter den Ohren, unter dem Kinn, auf den Nacken, kehrte zu den Augen und zu den Lippen zurück, ohne sich zu beeilen, genoß dieses Gesicht in kleinen Liebkosungen wie eine ihr gehörende gute Sache, über die sie nach Belieben verfügte. Er verharrte ruhig in der Stellung, die sie ihm gegeben. Er wußte nichts mehr, gab sich hin, fürchtete selbst das Kitzeln nicht mehr.

Ganz recht! Ganz recht! rief Claude. Tut euch keinen Zwang an! ... Schämst du dich nicht, großer Nichtsnutz, ihn so im Schmutze zu peinigen? Seine Knie sind ja ganz d.....g!

Ach, das quält ihn nicht, erwiderte Cadine keck. Er hat es gern, wenn man ihn küßt, weil er die Orte fürchtet, wo es dunkel ist. Nicht wahr, du fürchtest dich?

Sie hatte ihn aufgehoben; er fuhr mit den Händen über sein Gesicht, als wollte er die Küsse suchen, die die Kleine auf seine Wangen gedrückt hatte. Er stammelte, daß er Furcht habe, sie aber fügte hinzu:

Ich habe ihm übrigens geholfen, ich fütterte die Tauben.

Florent betrachtete die armen Tiere. In der Zelle ringsumher standen auf Brettern deckellose Kisten, in denen die Tauben, dicht zusammengedrängt, ihr scheckiges Gefieder zeigten. Von Zeit zu Zeit ging ein Zittern durch das bewegliche Feld, dann drängten die Tiere in dichten Haufen zusammen und man hörte nichts als ein verworrenes Girren und Gackern. Cadine hatte ein Gefäß voll Wasser und Körner zur Hand; sie nahm einen Mundvoll davon, nahm die Tauben, eine nach der anderen, und blies ihnen einen Schluck davon in den Schnabel. Die armen Tiere sträubten sich, erstickten schier und fielen in die Kiste zurück, wobei sie das Weiße der Augen zeigten, ganz betäubt von dieser gewaltsamen Fütterung.

Die armen, unschuldigen Tiere! sagte Claude.

Um so schlimmer für sie, meinte Cadine, die jetzt fertig war. Wenn sie gut gefüttert werden, sind sie weit besser ... Nach zwei Stunden wird man ihnen Salzwasser geben; dies macht ihr Fleisch weiß und zart. Zwei Stunden später werden sie geschlachtet ... Wenn Sie mit ansehen wollen, wie geschlachtet wird, so sind einige da, die Marjolin abtut.

Marjolin trug ein halbes Hundert Tauben in einer der Kisten fort. Claude und Florent folgten ihm. Er ließ sich neben einem der Brunnen nieder, stellte die Kiste neben sich hin und legte auf eine Art Becken von Zink einen Rahmen von dünnen Lattenwerk. Dann ging er ans Schlachten. Mit raschem Griffe - wobei das Messer in seinen Händen spielte – faßte er die Tauben bei den Flügeln, versetzte ihnen mit dem Hefte des Messers einen Schlag auf den Kopf, der sie betäubte und führte dann die Spitze des Messers in den Hals ein. Die Tauben zitterten kurz und sträubten das Gefieder, während er sie der Reihe nach hinlegte, mit dem Kopfe auf die Latten des Holzrahmens, über dem Becken von Zink, in das das Blut Tropfen um Tropfen hineinfiel. Das geschah mit einer gleichmäßigen Bewegung, mit dem Ticktack des Messerheftes, das die Schädel der Tiere spaltete, mit der ebenmäßigen Bewegung der Hand, die auf der einen Seite die lebenden Tiere ergriff, um sie auf der anderen Seite tot hinzulegen. Nach und nach machte Marjolin seine Sache rascher; er fand seine Freude an dem Gemetzel; seine Augen leuchteten, er hockte da, wie eine riesige Dogge. Schließlich lachte er hell auf und sang: Ticktack, ticktack! die Schläge des Messerheftes mit einem Schnalzen der Zunge begleitend. Die Tauben hingen da wie Seidenfetzen.

Das macht dir Spaß, großer Tölpel? rief Cadine. Die Tauben sind so drollig, wenn sie den Kopf einziehen, daß man den Hals nicht finden kann ... Die Tiere sind schlimm; sie würden kneipen, wenn sie könnten.

Sie lachte über die immer mehr fieberhafte Hast Marjolins und fuhr fort:

Ich habe es auch versucht, aber ich kann es nicht so rasch machen wie er ... Eines Tages hat er hundert in zehn Minuten geschlachtet.

Der Holzrahmen füllte sich; man hörte die Blutstropfen in das Becken fallen. Als Claude sich umwandte, fand er Florent dermaßen blaß, daß er sich beeilte, ihn hinwegzuführen. Oben ließ er ihn auf einer Treppenstufe niedersitzen.

Was ist's denn? rief er. Sie fallen in Ohnmacht wie ein Weib?

Das macht der Kellergeruch, sagte Florent ein wenig beschämt.

Diese Tauben, die man mit Körnern füttert und mit Salzwasser tränkt, um sie nachher zu erwürgen, hatten ihn an die Holztauben in den Tuilerien erinnert, die in ihrem seidenweichen Federkleide von wechselnder Farbe auf dem sonnenhellen Rasen sich ergingen. Er sah sie wieder, wie sie auf dem Arme des antiken Ringkämpfers girrten inmitten der tiefen Stille des Gartens, während im dunklen Schatten der Kastanienbäume kleine Mädchen ihre Radreifen trieben. Der große, blonde Lümmel, der in dem stinkenden Keller ein Gemetzel anrichtete, indem er mit dem Messerhefte schlug und mit der Klinge stach, hatte ihm das Mark in den Beinen erstarren lassen; seine Beine schlotterten, und er fürchtete hinzufallen.

Teufel! rief Claude, als der andere sich ein wenig erholt hatte, – Sie wären kein guter Soldat ... Die Sie nach Cayenne gesandt haben, mögen auch tapfere Leute sein, da sie vor Ihnen Furcht hatten. Mein Bester! Wenn Sie sich jemals an die Spitze eines Aufruhrs stellen, wagen Sie gar nicht eine Pistole abzufeuern aus Furcht, daß Sie jemanden töten könnten.

Florent erhob sich, ohne zu antworten. Er war tiefernst geworden, und Runzeln der Verzweiflung durchfurchten sein Antlitz. Er ging fort und ließ Claude wieder in den Keller hinabsteigen. Während er nach dem Fischpavillon zurückkehrte, dachte er abermals an seinen Angriffsplan, an die bewaffneten Banden, die sich des Palastes Bourbon bemächtigen sollten. In den Champs-Elysées würden die Kanonen donnern, die Gittertore würden zerbrochen werden; es gäbe Blut auf den Stufen, Gehirnfetzen an den Säulen. Es war das plötzlich auftauchende Bild einer Schlacht. Er selbst würde sehr bleich mitten darin stehen, könnte es nicht mit ansehen und würde mit den Händen sein Gesicht verdecken.

Als er über den Pont-Neuf ging, glaubte er an der Ecke des Früchtepavillons das blasse Gesicht Augusts zu bemerken, der den Hals reckte. Er schien nach jemanden auszuspähen und riß dabei in seiner tölpelhaften Aufregung die Augen weit auf. Plötzlich verschwand er und kehrte laufend nach dem Wurstladen zurück.

Was hat er denn? dachte Florent. Fürchtet er sich vor mir?

Am Morgen dieses Tages hatten im Hause der Quenu- Gradelle sehr ernste Dinge sich zugetragen. Bei Tagesanbruch kam August ganz betroffen und weckte seine Herrin, der er sagte, die Polizei sei gekommen, um Florent zu holen. Dann erzählte er ihr stotternd und immer verwirrter, daß Florent fort, wahrscheinlich geflüchtet sei. Die schöne Lisa, unbekümmert darum, daß sie noch im Nacht Jäckchen ohne Mieder sei, ging eilig in die Stube ihres Schwagers hinauf und nahm die Photographie der Normännin an sich, nachdem sie sich durch einen raschen Blick überzeugt hatte, daß nichts da sei, was sie kompromittieren könnte. Als sie wieder hinabging, begegnete sie im zweiten Stock den Polizisten. Der Kommissar bat Lisa, sie zu begleiten. Er sprach eine Weile leise mit ihr, blieb mit seinen Leuten in der Stube und empfahl ihr, den Laden wie gewöhnlich zu öffnen, um kein Aufsehen zu machen. Die Mäusefalle war gestellt.

Bei diesem Vorkommnis war die einzige Sorge Lisas, daß der arme Quenu den Schlag hart empfinden könne. Sie fürchtete überdies, er könne durch seine Tränen alles verderben, wenn er erfahre, daß die Polizei da sei. Sie ließ daher August schwören, daß er unbedingtes Schweigen beobachte. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, um ihr Mieder anzulegen und erzählte dem schläfrigen Quenu irgendeine Geschichte. Eine halbe Stunde später stand sie angekleidet, frisiert, pomadisiert, mit blühenden Wangen auf der Schwelle des Wurstladens. August ordnete ruhig das Schaufenster. Quenu erschien einen Augenblick auf dem Fußsteige vor dem Laden, gähnte leicht und erwachte vollends in der frischen Morgenluft. Nichts ließ das Verhängnis vermuten, das oben sich vorbereitete.

Allein der Polizeikommissar selbst machte das Stadtviertel aufmerksam, indem er eine Haussuchung bei den Méhudin in der Pirouette-Straße vornahm. Er besaß die genauesten Angaben. In den unterschriftslosen Briefen, die die Polizeiverwaltung erhalten, wurde behauptet, daß Florent zumeist bei der schönen Normännin übernachte. Vielleicht hatte er dort Unterschlupf gesucht. Von zweien seiner Leute begleitet, erschien der Kommissar in der Wohnung der Méhudin und begehrte Einlaß im Namen des Gesetzes. Die Frauen waren eben erst aufgestanden. Die Alte öffnete wütend, war aber sogleich beruhigt und grinste zufrieden, als sie erfuhr, um was es sich handle. Sie setzte sich, band ihre Röcke fest und sagte zu den Leuten der Polizei:

Wir sind rechtschaffene Menschen, wir haben nichts zu fürchten; Sie können suchen.

Da die Normännin ihre Tür nicht rasch genug öffnete, ließ der Kommissar sie einstoßen. Sie kleidete sich eben an und hielt einen Rock zwischen den Zähnen; der volle Busen und die herrlichen Schultern waren entblößt. Dieser rohe Einbruch, den sie sich nicht erklären konnte, erbitterte sie. Sie ließ den Rock fahren und wollte sich auf die Männer stürzen, im bloßen Hemde, rot vor Zorn mehr als vor Scham. Als der Kommissar sich diesem großen, nackten Weibe gegenübersah, trat er vor, um seine Leute zu schützen und wiederholte mit seiner ruhigen, kühlen Stimme:

Im Namen des Gesetzes! Im Namen des Gesetzes!

Da sank sie schluchzend in einen Lehnsessel, von einem Nervenanfall geschüttelt, weil sie sich zu schwach fühlte und nicht wußte, was man von ihr wolle. Ihre Haare hatten sich aufgelöst, ihr Hemd reichte ihr nicht bis zu den Knien; die Polizisten schielten nach ihr. Der Kommissar nahm einen Schal, der an der Wand hing, und warf ihn ihr zu. Aber sie hüllte sich nicht hinein; sie weinte jetzt stärker, während sie zusah, wie die Männer ungeniert das Bett durchwühlten, die Kopfpolster betasteten, die Bettücher untersuchten.

Was habe ich denn getan? stammelte sie schließlich. Was suchen Sie in meinem Bette?

Der Kommissar sprach den Namen Florents aus; als die Normännin die alte Méhudin sah, die auf der Schwelle stehen geblieben war, rief sie: »Oh, die Elende! Sie ist's!« – und wollte sich auf sie stürzen.

Sie würde ihre Mutter sicher geprügelt haben; aber man hielt sie zurück und hüllte sie mit Gewalt in den Schal. Sie wehrte sich und sagte mit stockender Stimme:

Für wen hält man mich denn? ... Florent hat niemals dieses Zimmer betreten, hören Sie? Zwischen uns hat es nichts gegeben. Man ist mir feindselig gesinnt im Stadtviertel; aber man sage mir etwas ins Gesicht, dann sollen Sie sehen! ... Wenn ich hinterher in den Kerker komme, mir liegt nichts daran ... Ach, Florent! ... Ich habe Besseres. Ich kann heiraten, wen ich will. Und die Sie hergesandt haben, sollen noch vor Wut bersten.

Dieser Wortschwall erleichterte sie. Ihre Wut kehrte sich gegen Florent, der die Ursache von allem war. Sie wandte sich an den Kommissar und sagte zu ihrer Rechtfertigung:

Ich wußte nicht, mein Herr ... Er sah so sanft aus; er hat uns getäuscht. Ich wollte nicht hören, was man erzählte, denn die Menschen sind so schlecht ... Er gab meinem Kleinen Unterricht, dann ging er seines Weges. Er speiste hier; ich schenkte ihm manchmal einen schönen Fisch. Das war alles ... Nein, ich will nicht mehr so gut sein.

Aber, er muß Ihnen doch Papiere zur Aufbewahrung übergeben haben? fragte der Kommissar.

Nein, ich schwöre es Ihnen. Ich würde Ihnen diese Papiere sofort ausliefern; denn ich habe es satt zu sehen, wie hier alles von unterst zu oberst gekehrt wird ... Lassen Sie es doch sein, es ist unnütz.

Die Polizisten, die jedes Stück Möbel untersucht hatten, wollten in das Kabinett eindringen, wo Feinchen schlief. Seit einigen Augenblicken hörte man das Kind, durch den Lärm erweckt, bitterlich weinen; es glaubte sicherlich, man wolle es umbringen.

Das ist die Kammer des Kleinen, sagte die Normännin und öffnete die Tür.

Feinchen, nur mit seinem Hemdchen bekleidet, lief zu seiner Mutter und hängte sich an ihren Hals. Sie beruhigte das Kind und legte es in ihr eigenes Bett. Die Polizisten verließen sogleich wieder die Kammer, und der Kommissar schickte sich an zu gehen, als das Kind noch ganz trostlos seiner Mutter ins Ohr flüsterte:

Sie werden mir meine Hefte nehmen; gib ihnen meine Hefte nicht.

Ach ja, die Hefte! rief die Normännin. Warten Sie, meine Herren, ich will Ihnen die Hefte übergeben, damit Sie sehen, wie wenig mir daran liegt ... Da finden Sie seine Schrift. Meinethalben kann man ihn hängen; ich schneide ihn nicht los.

Sie gab die Hefte des Knaben und die Schriftmuster hin. Doch der Kleine erhob sich wütend und biß und kratzte seine Mutter, die ihm eins auf den Hintern geben mußte, um ihn zur Ruhe zubringen. Da begann er zu heulen. Mitten in dem Spektakel erschien Fräulein Saget auf der Schwelle und steckte den Kopf zur Tür herein. Sie habe alle Türen offen gefunden, sagte sie, und sei hereingekommen, um der Mutter Méhudin ihre Dienste anzubieten. Sie schaute und lauschte und beklagte die armen Frauen, die niemanden hatten, um sie verteidigen. Inzwischen las der Kommissar mit ernster Miene die Schriftmuster. Bei den Worten: »Tyrannisch, freiheitsmörderisch, verfassungswidrig, revolutionär« legte er die Stirne in Falten. Als er den Satz las: »Wenn die Stunde schlägt, wird der Schuldige fallen« – schlug er mit der flachen Hand auf die Papiere und sagte:

Das ist sehr ernst, sehr ernst.

Er übergab die Schreibhefte einem seiner Untergebenen und ging. Claire, die sich noch nicht gezeigt hatte, öffnete jetzt ihre Türe und sah die Polizisten die Treppe hinabgehen. Dann kam sie in das Zimmer ihrer Schwester, das sie seit einem Jahre nicht betreten hatte. Fräulein Saget benahm sich, als stehe sie mit der Normännin auf dem besten Fuße; sie machte sich ganz zärtlich um sie zu schaffen, zog die Zipfel des Schals herauf, um sie besser zu verhüllen, und empfing mit teilnahmvoller Miene die ersten Geständnisse ihres Zornes.

Du bist recht feige, sagte Claire und pflanzte sich vor ihre Schwester hin.

Diese erhob sich in furchtbarem Zorne und ließ den Schal herabgleiten.

Du spionierst? rief sie. Wiederhole einmal, was du gesagt hast.

Du bist recht feige, wiederholte das Mädchen noch geringschätziger.

Da versetzte die Normännin ihrer Schwester aus Leibeskräften eine Maulschelle. Claire erbleichte furchtbar, stürzte sich auf die andere und bohrte ihre Nägel in den Hals der Normännin. Sie kämpften eine Weile, rissen einander bei den Haaren, suchten einander zu erdrosseln. Die Jüngere, dem Anscheine nach schwächlich, stieß die Ältere mit einer solch übermenschlichen Gewalt, daß beide an den Schrank aufschlugen, dessen Spiegel in Stücke ging. Feinchen weinte; die alte Méhudin rief dem Fräulein Saget zu, sie möge ihr behilflich sein, die beiden zu trennen. Doch Claire machte sich los und sagte:

Feige! ... feige! ... Ich will den Unglücklichen warnen, den du verkauft und verraten hast.

Ihre Mutter trat ihr in den Weg. Die Normännin stürzte sich von rückwärts auf sie. Und mit Hilfe des Fräulein Saget stießen sie Claire in ihre Kammer, wo sie sie trotz ihres verzweifelten Widerstandes fest einschlössen. Das Mädchen bearbeitete die Türe mit den Füßen, zerschlug alles in der Kammer. Dann hörte man nichts, als ein wütendes Kratzen, ein Geräusch von Eisen, das die Mauer bearbeitet. Sie versuchte mit ihrer Schere die Türangeln loszulösen.

Sie würde mich getötet haben, wenn sie ein Messer gehabt hätte, sagte die Normännin, die jetzt ihre Kleider suchte, um sich anzukleiden. Ihr sollt sehen, sie begeht in ihrer Eifersucht schließlich einen bösen Streich. Man darf sie nicht herauslassen; sie würde das ganze Stadtviertel gegen uns in Aufruhr bringen.

Fräulein Saget war eilig hinabgegangen. Sie erreichte die Ecke der Pirouette-Straße in dem Augenblicke, als der Kommissar das Haus der Quenu-Gradelle betrat. Sie begriff und trat in den Laden ein; ihre Augen funkelten dermaßen, daß Lisa ihr mit einer Handbewegung Stillschweigen empfahl, indem sie auf Quenu zeigte, der Pökelfleischstücke aushängte. Als er nach der Küche zurückgekehrt war, erzählte die Alte halblaut, was sich soeben bei den Méhudin abgespielt hatte. Über das Pult gebeugt, die Hand auf die mit gespicktem Kalbfleisch belegte Schüssel stützend, lauschte die Wursthändlerin mit der glücklichen Miene einer Frau, die triumphiert. Als eine Kundin kam und zwei Schweinsfüße verlangte, wickelte sie diese ganz nachdenklich in Papier.

Ich zürne der Normännin nicht, sagte sie endlich zu Fräulein Saget, als sie wieder allein waren. Ich liebte sie sehr und bedauerte, daß man uns entzweit hat ... Zum Beweise dessen, daß ich nicht boshaft bin, habe ich dies vor den Händen der Polizei gerettet und bin bereit, es ihr zurückzugeben, wenn sie selbst kommt, um es zu verlangen.

Und sie zog die Photographie aus der Tasche. Fräulein Saget grinste höhnisch, als sie las: »Louise ihrem guten Freunde Florent.« Dann sagte sie mit ihrer spitzigen Stimme:

Sie haben vielleicht unrecht. Sie sollten es behalten.

Nein, nein, unterbrach Lisa; alles Gerede muß ein Ende nehmen. Heute ist der Tag der Aussöhnung. Es ist genug; das Stadtviertel muß seine Ruhe wieder haben.

Soll ich der Normännin sagen, daß Sie sie erwarten? fragte die Alte.

Ja, Sie bereiten mir damit ein Vergnügen.

Fräulein Saget kehrte nach der Pirouette-Straße zurück und erschreckte die Fischhändlerin gar sehr, indem sie ihr erzählte, sie habe soeben ihre Photographie in der Tasche Lisas gesehen. Aber sie konnte sie nicht sogleich zu dem Schritte bewegen, den ihre Gegnerin forderte. Die Normännin stellte ihre Bedingungen; sie sei bereit hinzugehen, aber die Wursthändlerin müsse ihr bis zur Schwelle entgegenkommen. Die Alte mußte noch zweimal hin- und hergehen, um die Bedingungen der Begegnung festzustellen. Endlich hatte sie die Freude, diese Aussöhnung zu vermitteln, die so großes Aufsehen machen sollte. Als sie das letztemal vor der Türe Claires vorbeikam, hörte sie noch immer das Wühlen der Schere in der Mauer.

Nachdem sie der Wursthändlerin die entscheidende Antwort gebracht hatte, beeilte sie sich, Frau Lecoeur und die Sarriette aufzusuchen. Alle drei nahmen an der Ecke des Seefischepavillons auf dem Fußsteige dem Wurstladen gegenüber Aufstellung. Hier konnte ihnen nichts von der Begegnung entgehen. Sie waren ungeduldig, suchten sich mit Gesprächen die Zeit zu kürzen und lugten nach der Pirouette-Straße aus, woher die Normännin kommen mußte. In den Hallen war das Gerücht von der Aussöhnung bereits in Umlauf; die Händlerinnen richteten sich bei ihren Verkaufsständen in die Höhe, um zu sehen; andere, die neugieriger waren, verließen ihren Platz und stellten sich im gedeckten Gange auf. Alle Augen in den Hallen waren auf den Wurstladen gerichtet. Das Stadtviertel war in voller Erwartung.

Die Sache vollzog sich sehr friedlich. Als die Normännin aus der Pirouette-Straße hervorkam, hielten alle den Atem an. Sie hat ihre Brillanten, murmelte die Sarriette.

Schauen Sie doch nur, wie sie geht! fügte Frau Lecoeur hinzu. Sie ist zu frech.

Die Normännin schritt in der Tat so stolz daher wie eine Königin, die sich herabläßt, Frieden zu schließen. Sie hatte eine sorgfältige Toilette gemacht, ihre Haare gekräuselt und einen Zipfel ihrer Schürze aufgesteckt, um ihren Kaschmirrock sehen zu lassen; sie trug sogar – zum ersten Male – eine sehr kostbare Spitzenschleife. Da sie merkte, daß die Augen in den Hallen auf ihr ruhten, warf sie sich noch mehr in die Brust, während sie sich dem Wurstladen näherte.

Jetzt kommt die schöne Lisa an die Reihe, sagte Fräulein Saget; paßt auf!

Die schöne Lisa verließ lächelnd das Pult. Sie durchschritt, ohne sich zu beeilen, den Laden, um der schönen Normännin die Hand zum Gruß zu reichen. Auch sie war fein säuberlich gekleidet, mit ihrem blendend weißen Linnen angetan. Ein Gemurmel ging durch den ganzen Fischmarkt; die Leute auf dem Fußsteige näherten sich unter lebhaftem Gerede. Die beiden Frauen standen jetzt in dem Laden und der Spitzenvorhang des Schaufensters verhinderte den Einblick in die Wursthandlung. Sie schienen sehr freundschaftlich miteinander zu sprechen und Höflichkeiten auszutauschen.

Schau, schau, sagte Fräulein Saget, die schöne Normännin kauft etwas. Was kauft sie denn? Ach, ein Stück Weißwurst. Seht ihr, jetzt stellt Lisa, indem sie die Weißwurst überreicht, ihr auch die Photographie zurück.

Dann gab es neue Begrüßungen. Über die im vorhinein vereinbarten Höflichkeiten hinausgehend, wollte Lisa die schöne Normännin bis auf den Fußweg begleiten. Hier lachten sie einander noch einmal zu und zeigten sich dem ganzen Stadtviertel als gute Freundinnen. Es war ein Freudentag für die Halle. Die Händlerinnen kehrten zu ihren Verkaufsständen zurück und erklärten, alles sei schön gegangen.

Doch Fräulein Saget hielt Frau Lecoeur und die Sarriette zurück. Das Verhängnis hatte sich noch lange nicht erfüllt. Alle drei beobachteten mit so neugierigen Augen das Haus, als wollten ihre Blicke die Steine durchdringen. Um sich einstweilen die Zeit zu vertreiben, plauderten sie von der schönen Normännin.

Jetzt ist sie ohne Mann, sagte Frau Lecoeur.

Sie hat Herrn Lebigre, bemerkte die Sarriette lachend.

Oh, Herr Lebigre wird nicht wollen.

Fräulein Saget zuckte mit den Achseln und murmelte:

Ihr kennt ihn nicht, er macht sich aus all dem nichts. Das ist ein Mann, der sich auf seinen Vorteil versteht, und die Normännin ist reich. In zwei Monaten werden sie beisammen sein. Die Mutter Méhudin arbeitet schon lange genug an dieser Heirat.

Gleichviel, sagte die Butterhändlerin, der Polizeikommissar hat sie dennoch bei diesem Florent schlafend gefunden.

Aber nein, ich habe es euch nicht gesagt. Der große Magere war eben fort. Ich war da, als man das Bett untersuchte. Der Polizeikommissar selbst hat überall herumgetastet. Es waren zwei noch warme Plätze im Bette.

Die Alte verschnaufte sich ein wenig und fuhr dann in entrüstetem Tone fort:

Mich ärgern am meisten die Scheußlichkeiten, die dieser Halunke Feinchen lehrte. Sie glauben es nicht! Es war ein ganzes Paket da.

Welche Scheußlichkeiten? fragte die Sarriette lüstern.

Weiß man denn? Schweinereien, Unflätigkeiten. Der Kommissar sagt, es genüge, um ihn an den Galgen zu bringen. Dieser Mensch ist ein Ungeheuer. Sich an ein Kind zu hängen, das ist denn doch unerhört! Der kleine Bengel taugt nicht viel, aber das ist doch kein Grund, ihn unter die Roten zu stecken, nicht wahr?

Gewiß, gewiß, antworteten die zwei anderen.

Jetzt wird aber allen Machenschaften ein Ende bereitet. Ich sagte es ja immer: es gibt etwas bei den Quenus, das verdächtig aussieht. Ihr seht jetzt, daß ich eine feine Nase habe. Gott sei Dank, das Stadtviertel wird aufatmen können. Aber es hat einen tüchtigen Kehraus gekostet; man mußte ja schließlich fürchten, am hellichten Tage ermordet zu werden, und konnte kaum mehr ruhig leben. Es gab fortwährend Zank und Streit und Prügeleien und alles wegen eines Mannes, wegen dieses Florent. Die schöne Lisa und die schöne Normännin sind jetzt wieder versöhnt. Das ist sehr schön von ihnen, sie schuldeten das der Ruhe aller. Jetzt wird alles wieder gut, sollt ihr sehen. Schau, da ist dieser arme Herr Quenu in bester Laune.

Quenu stand in der Tat wieder auf dem Fußsteige, überquellend in seiner weißen Schürze, mit der kleinen Magd der Frau Taboureau Scherz treibend. Er war heute sehr aufgeräumt. Er drückte der Magd die Hände, zerbrach ihr schier die Handknöchel, daß sie aufschrie. Es waren so rechte Wurstmacherspäße. Lisa hatte große Mühe, ihn wieder in die Küche zu schicken. Sie ging ungeduldig im Laden hin und her, fürchtete, daß Florent kommen könne, und rief ihren Gatten herein, um eine Begegnung zu verhüten.

Sie kränkt sich, sagte Fräulein Saget. Der arme Herr Quenu weiß nichts; wie harmlos er lacht! ... Ihr müßt wissen: die Frau Taboureau sagte neulich, sie würde sich mit den Quenus entzweien, wenn diese zum Schaden ihres Ansehens diesen Florent noch weiter bei sich behielten.

Einstweilen behalten sie die Erbschaft, sagte Frau Lecoeur.

Nein, meine Liebe; der andere hat seinen Teil bekommen.

Wirklich? Wieso wissen Sie es denn?

Das sieht man ja, antwortete die Alte nach kurzem Zögern und ohne einen anderen Beweis zu liefern. Er hat sogar mehr als seinen Teil bekommen. Die Quenus werden mehrere tausend Franken bei ihm verlieren. Wenn man mit Lastern behaftet ist, geht das Geld schnell weg ... Ach, ihr wißt es vielleicht nicht: er hatte noch ein anderes Weib ...

Das nimmt mich gar nicht wunder, sagte die Sarriette; die mageren Männer treiben es bunt.

Ja, und sie ist gar nicht jung, die andere. Mein Gott, wenn ein Mann eine will, so will er sie, und wenn er sie von der Straße aufgelesen hat. Frau Verlaque, das Eheweib des früheren Aufsehers, diese gelbe Person ...

Doch die zwei anderen widersprachen. Es sei nicht möglich. Frau Verlaque sei abscheulich. Da erzürnte sich Fräulein Saget.

Wenn ich euch sage! Ihr werdet mich doch nicht der Lüge zeihen! ... Man hat Beweise; man hat Briefe dieser Frau gefunden; ein ganzes Bündel Briefe, in denen sie ihn um Geld bat, um zehn Franken, um zwanzig Franken auf einmal. Kurz, die Sache ist klar: die beiden müssen den Mann umgebracht haben.

Die Sarriette und Frau Lecoeur waren überzeugt. Doch sie verloren die Geduld. Sie warteten schon länger als eine Stunde auf dem Fußsteige. Inzwischen würden vielleicht ihre Verkaufsstände bestohlen. Da unterhielt sie Fräulein Saget mit einer neuen Geschichte. Florent könne nicht geflüchtet sein; er werde wiederkommen und es müsse sehr drollig sein, sehe man, wie er verhaftet werde. Sie lieferte genaue Angaben über die Mäusefalle, während die Butterhändlerin und die Obsthändlerin fortfuhren, das Haus von oben bis unten zu mustern, und nach jeder Spalte spähten, ob nicht daselbst die Hüte der Polizisten sichtbar würden. Das Haus lag still und ruhig in der Morgensonne da.

Man möchte kaum glauben, daß es voll Polizei steckt, sagte Frau Lecoeur.

Die Polizisten sind oben in der Dachkammer, murmelte die Alte. Sie haben das Fenster offen gelassen, wie sie es gefunden. Halt! Mich dünkt, einer steht auf der Terrasse, hinter dem Granatenbaum versteckt.

Sie reckten die Hälse, sahen aber nichts.

Nein, es ist der Schatten, erklärte die Sarriette. Selbst die kleinen Vorhänge bewegen sich nicht. Es scheint, daß sie alle in der Stube sitzen und sich nicht rühren.

In diesem Augenblicke bemerkten sie Gavard, der mit besorgter Miene aus dem Fischpavillon kam. Sie betrachteten einander stumm mit leuchtenden Augen. Sie waren näher getreten und standen da aufrecht in ihren knapp herabfallenden Röcken. Der Geflügelhändler kam auf sie zu.

Habt ihr Florent vorüberkommen sehen? fragte er.

Sie antworteten nicht.

Ich muß sogleich mit ihm sprechen, fuhr Gavard fort. Er ist nicht in der Fischabteilung. Er scheint in sein Zimmer hinaufgegangen zu sein. Ihr müßt ihn doch gesehen haben.

Die drei Frauen waren ein wenig blaß. Sie sahen einander noch immer an; ihre Mienen waren tiefernst, ihre Mundwinkel zuckten. Als Frau Lecoeur ihren Schwager unschlüssig dastehen sah, sagte sie:

Wir sind noch nicht fünf Minuten da; er wird früher vorübergegangen sein.

Dann gehe ich hinauf trotz der fünf Stockwerke, sagte Gavard lachend.

Die Sarriette machte eine Bewegung, wie um ihn zurückzuhalten; allein ihre Tante faßte ihren Arm und hielt sie zurück, indem sie ihr ins Ohr flüsterte:

Laß doch, dumme Gans! Es geschieht ihm ganz recht, weil er uns so schlecht behandelt hat.

Er wird nicht mehr sagen, daß ich faules Fleisch esse, murmelte Fräulein Saget noch leiser.

Dann sprachen sie gar nichts mehr. Die Sarriette war sehr rot; die zwei anderen waren sehr gelb. Sie wandten die Köpfe weg, verwirrt durch ihre Blicke; und weil sie mit ihren Händen nichts anzufangen wußten, verbargen sie sie unter ihren Schürzen. Schließlich erhoben sie die Blicke unwillkürlich zu dem Hause, als wollten sie durch die Mauern hindurch den Schritten Gavards folgen, der die Treppe hinanstieg. Als sie ihn oben angelangt glaubten, warfen sie einander abermals Seitenblicke zu. Die Sarriette ließ ein nervöses Lachen vernehmen. Es schien ihnen einen Augenblick, als würden die Fenstervorhänge sich bewegen, und das ließ sie glauben, daß oben gerungen werde. Allein das Haus bewahrte außen seine behagliche Ruhe; eine Viertelstunde verging, ohne daß sich etwas ereignete, und eine immer wachsende Angst schnürte den drei Weibern die Kehle zusammen. Schon wollten sie das Warten aufgeben, als ein Mann aus dem Hause gelaufen kam, um einen Mietwagen zu holen. Fünf Minuten später kam Gavard herunter, gefolgt von zwei Polizisten. Lisa, die bei dem Erscheinen der Droschke einen Augenblick auf die Schwelle getreten war, beeilte sich wieder hineinzugehen.

Gavard war blaß. Oben hatte man ihn durchsucht und die Pistole und die Patronenschachtel bei ihm gefunden. Die Rauheit des Kommissars, die Bewegung, die dieser machte, als er Gavards Namen nennen hörte, belehrten den letzteren, daß er verloren sei. Es war eine schreckliche Entwicklung der Dinge, an die er niemals gedacht hatte. Er fühlte, daß er von den Tuilerien keine Gnade zu hoffen habe. Seine Beine schlotterten, als wenn schon die Hinrichtungsabteilung seiner harrte. Auf der Straße fand er in seiner Prahlerei doch Kraft genug, aufrecht zu gehen. Er zeigte sogar ein letztes Lächeln bei dem Gedanken, daß die Hallen ihn sahen und daß er mutig sterben werde.

Doch mittlerweile waren die Sarriette und Frau Lecoeur herbeigeeilt. Nachdem sie eine Aufklärung verlangt hatten, begann die Käsehändlerin zu schluchzen, während die Nichte tief bewegt den Oheim umarmte. Er hielt sie an sich gepreßt in seinen Armen, steckte ihr einen Schlüssel zu und flüsterte ihr ins Ohr:

Nimm alles und verbrenne die Papiere.

Er stieg in die Droschke und machte dabei ein Gesicht, als gehe es zum Blutgerüst. Als der Wagen an der Ecke der Pierre-Lescot-Straße verschwunden war, bemerkte Frau Lecoeur, wie die Sarriette den Schlüssel in ihrer Tasche verbergen wollte.

Das nützt dir nichts, Kleine, sagte sie ihr, die Zähne zusammenpressend; ich sah, daß er dir den Schlüssel zusteckte. So wahr ein Gott im Himmel ist, will ich ihn im Gefängnisse aufsuchen und ihm alles sagen, wenn du nicht gut zu mir bist.

Aber Tante, ich bin ja gut, erwiderte die Sarriette mit einem verlegenen Lächeln.

Dann laß uns sofort in seine Wohnung gehen; es ist nicht notwendig, den Häschern Zeit zu lassen, daß sie ihre Pfoten in seine Schränke stecken.

Fräulein Saget, die mit flammenden Blicken alles mit angehört hatte, lief hinter ihnen her, was ihre kleinen Beine laufen konnten. Sie dachte jetzt nicht mehr daran, auf Florent zu warten. Auf dem Wege von der Rambuteau-Straße bis zur Cossonnerie-Straße war sie sehr demütig und dienstwillig; sie machte sich erbötig, zuerst mit der Hausmeisterin Frau Leonce zu sprechen.

Wir werden sehen, antwortete die Käsehändlerin kurz.

Man mußte in der Tat unterhandeln. Frau Léonce wollte die Weiber nicht zur Wohnung Gavards hinaufgehen lassen. Sie machte ein strenges Gesicht und schien verletzt von der nachlässigen Art, wie die Sarriette ihr Busentuch gebunden hatte. Allein als das alte Fräulein eine Weile leise zu ihr gesprochen und als man ihr den Schlüssel gezeigt hatte, entschloß sie sich. Oben überlieferte sie die Zimmer eines nach dem anderen; dabei blutete ihr Herz, als ob sie Räubern habe den Ort zeigen müssen, wo sie ihr eigenes Geld verborgen hielt.

Greift zu, nehmt alles! sagte sie und sank in einen Lehnsessel.

Die Sarriette probierte schon den Schlüssel an allen Schränken. Frau Lecoeur stand mit argwöhnischem Gesichte so dicht dabei, daß die andere ausrief:

Aber Tante, ich kann mich nicht bewegen; lassen Sie mir doch wenigsens die Arme frei.

Endlich öffnete sich ein Schrank, der dem Fenster gegenüber zwischen dem Kamin und dem Bette stand. Die vier Weiber seufzten auf. Im mittleren Fache lagen zehntausend Franken in Goldstücken, sorgfältig in kleinen Stößen geordnet. Gavard, der sein Vermögen vorsichtigerweise bei einem Notar hinterlegt hatte, behielt diese Summe »für den Hauptstreich« zurück. Wie er feierlich zu versichern pflegte, hielt er seinen Beitrag zur Revolution bereit. Er hatte einige Rentenbriefe verkauft, und es bereitete ihm eine ganz besondere Freude, allabendlich diese zehntausend Franken zu betrachten, die ihm so kühn und aufrührerisch dreinzublicken schienen. Des Nachts träumte er, daß man in seinem Schrank sich schlage; er hörte Flintenschüsse, das Aufreißen und Wälzen von Pflastersteinen, lautes Triumphgeschrei. Sein Geld machte Opposition.

Die Sarriette hatte mit einem Freudenschrei die Hände ausgestreckt.

Die Pfoten weg! sagte Frau Lecoeur mit rauher Stimme.

Sie war noch gelber in dem Widerschein des Goldes, das Gesicht gefleckt durch die Galle, die Augen fieberglühend infolge des Leberleidens, das sie innerlich verzehrte. Hinter ihr erhob sich Fräulein Saget auf die Fußspitzen und schaute entzückt in den Spind. Auch Frau Léonce hatte sich erhoben und brummte unverständliche Worte.

Mein Onkel sagte mir, ich solle alles nehmen, erklärte rundheraus die Sarriette.

Und ich, die diesen Mann gepflegt hat, soll nichts bekommen? rief die Pförtnerin.

Frau Lecoeur drohte zu ersticken; sie stieß die Pförtnerin zurück, klammerte sich an den Spind und stammelte:

Das ist mein Vermögen; ich bin seine nächste Anverwandte; ihr seid Diebinnen, hört ihr? ... Lieber werfe ich alles zum Fenster hinaus.

Es trat ein Stillschweigen ein, während dessen die vier Weiber einander mit argwöhnischen Blicken anschauten. Das Busentuch der Sarriette hatte sich vollends gelöst; sie zeigte den Busen, war reizend, voll Leben, mit ihren frischen Lippen und rosigen Nasenflügeln. Frau Lecoeur wurde noch düsterer, als sie die Sarriette in ihrer Habgier so schön sah.

Höre, sagte sie dumpf, wir wollen uns nicht prügeln. Du bist seine Nichte, ich will mit dir teilen. Nehmen wir abwechselnd jede ein Röllchen.

Sie schoben die zwei anderen zurück und die Käsehändlerin machte den Anfang. Das Röllchen verschwand in ihren Röcken. Dann nahm die Sarriette ihrerseits ein Röllchen. Sie überwachten einander und waren bereit, einander auf die Hand zu klopfen. Mit regelmäßigen Bewegungen streckten sie die Finger aus, abscheuliche, knotige Finger die eine, weiße und geschmeidige Finger die andere. Sie füllten sich die Taschen. Als nur mehr ein Röllchen da war, wollte die Sarriette nicht, daß ihre Tante es nehme, da diese den Anfang gemacht hatte. Sie nahm das Röllchen und teilte dasselbe plötzlich zwischen Fräulein Saget und Frau Léonce, die die Teilung mit fieberhaftem Trippeln mit angesehen hatte.

Dank schön, brummte die Hausmeisterin; fünfzig Franken dafür, daß ich ihn gehegt und gepflegt, ihm Kraftbrühen und Heiltränke bereitet habe. Der alte Fuchs sagte, er habe keine Familie.

Frau Lecoeur wollte den Schrein von oben bis unten durchsuchen, ehe sie ihn schloß. Er enthielt alle verbotenen Bücher, alle Skandalgeschichten der Bonaparte, alle Brüsseler Pamphlete, alle jene ausländischen Spottbilder, die den Kaiser lächerlich machten. Es machte Gavard stets viel Spaß, sich mit einem Freunde einzuschließen, um ihm diese kompromittierenden Sachen zu zeigen.

Er hat mir aufgetragen, die Papiere zu verbrennen, bemerkte die Sarriette.

Bah, es ist kein Feuer da. Auch würde es zu lange dauern. Ich wittere die Polizei. Wir müssen machen, daß wir fortkommen.

Alle vier verließen die Behausung. Sie waren noch nicht am Fuße der Treppe angekommen, als die Polizei erschien. Frau Léonce mußte wieder hinaufgehen, um die Herren zu begleiten. Die drei anderen Weiber beeilten sich, auf die Straße zu kommen. Sie gingen schnell davon, eine hinter der anderen, die Tante und die Nichte im Gehen behindert durch die Last ihrer vollen Taschen. Die Sarriette, die voranging, wandte sich auf dem Fußsteig der Rambuteau- Straße um und sagte lachend:

Es schlägt mir an die Schenkel.

Frau Lecoeur sagte eine Unflätigkeit, worüber sie lachten. Es war ihnen eine Wonne, diese Last zu fühlen, die ihre Taschen herabzog und sich an sie hängte gleich liebeglühenden Händen.

Fräulein Saget hatte ihre fünfzig Franken in der Hand behalten. Sie blieb nachdenklich und schmiedete einen Plan, wie sie aus diesen vollen Taschen, denen sie folgte, noch etwas abbekommen könne. Als sie sich an der Ecke des Fischpavillons wieder zusammenfanden, rief die Alte:

Schau, schau, wir kommen gerade recht. Da ist dieser Florent, den sie sogleich abfassen werden.

Florent kam in der Tat von seinem weiten Gange zurück. Er wechselte in seinem Büro den Rock und machte sich an sein tägliches Geschäft, schritt die Gänge ab und überwachte die Reinigung der Verkaufsstände. Er fand, daß man ihn so eigentümlich ansah; die Fischweiber zischelten, wenn er vorüberkam, und warfen ihm von der Seite einen Blick zu. Er dachte daß irgendein neuer Streich gegen ihn ausgeheckt werde. Seit einiger Zeit ließen diese dicken, schrecklichen Weiber ihn keinen Tag mehr in Frieden. Doch als er bei der Verkaufsbank der Méhudin vorüberkam, hörte er zu seiner Überraschung die Alte in süßlichem Tone sagen:

Herr Florent, es war jemand da, der Sie gesucht hat. Es ist ein Herr von einem gewissen Alter. Er ist in Ihr Zimmer hinaufgegangen, um Sie dort zu erwarten.

Das alte Fischweib saß auf einem Sessel und genoß, während sie diese Dinge sagte, eine süße Rache, die ihre riesige Masse erzittern ließ. Florent, der noch zweifelte, blickte auf die schöne Normännin. Sie war mit ihrer Mutter wieder vollständig ausgesöhnt; sie öffnete den Wasserhahn, machte sich mit ihren Fischen zu schaffen und schien nichts zu hören.

Wissen Sie es genau? fragte er.

Oli, ganz genau; nicht wahr, Luise? fügte die Alte mit spitziger Stimme hinzu.

Florent dachte, es handle sich um das große Unternehmen, und entschloß sich, hinaufzugehen. In dem Augenblicke, als er den Pavillon verließ, wandte er sich unwillkürlich um und bemerkte, daß die schöne Normännin ihm mit tiefernster Miene nachblicke. Jetzt kam er an den drei Klatschbasen vorbei.

Haben Sie bemerkt, daß der Wurstladen leer ist? murmelte Fräulein Saget zu ihren Gefährtinnen. Die schöne Lisa ist vorsichtig genug, sich nicht zu kompromittieren.

Der Wurstladen war in der Tat leer. Das Haus bewahrte seine sonnige Ruhe, sein zufriedenes Aussehen eines ehrbaren Hauses, das sich von der Morgensonne bestrahlen läßt. Der Granatenbaum auf der Terrasse oben stand in voller Blüte. Die Straße überschreitend, nickte Florent einen freundlichen Gruß zu Logre und Lebigre hinüber, die auf der Schwelle der Weinstube standen. Die Herren erwiderten lächelnd seinen Gruß. Er war im Begriff, den Hausflur zu betreten, als er am Ende dieses schmalen und dunkeln Ganges das bleiche Gesicht Augusts zu bemerken glaubte, das sogleich wieder verschwand. Florent machte kehrt und warf einen Blick in den Wurstladen, um zu sehen, ob der Herr von einem gewissen Alter nicht da sei. Aber er sah niemanden als die Katze Mouton, die auf einem Bocke saß und ihn mit ihren großen, gelben Augen anstarrte. Als er sich endlich entschloß, den Flur zu betreten, sah er das Gesicht Lisas hinter dem kleinen Vorhange einer Glastür im Hintergrunde.

In dem Fischpavillon war es still geworden. Die ungeheueren Bäuche und Brüste hielten den Atem an, bis Florent verschwunden war. Dann ließen sich alle gehen, die Brüste schwellten sich, die Bäuche platzten schier von einer boshaften Freude. Der Streich war gelungen. Man konnte sich nichts Drolligeres denken. Die alte Méhudin ward von dem Lachen geschüttelt und gluckste wie ein voller Schlauch, der geleert wird. Die Geschichte von dem betagten Herrn machte die Runde auf dem Fischmarkte, und die Weiber fanden sie außerordentlich spaßig. Endlich war der lange Magere wieder im Käfig; man wird sein häßliches Gesicht, seine Sträflingsaugen nicht mehr vor sich haben. Alle wünschten ihm glückliche Reise, indem sie darauf zählten, einen schönen Mann zum Aufseher zu bekommen. Sie liefen von Stand zu Stand und hätten einen Reigen um die Verkaufsbänke aufführen mögen gleich tollen Dirnen. Die schöne Normännin schaute ruhig diesem Jubel zu; sie wagte sich nicht zu rühren, aus Furcht, daß sie in Tränen ausbrechen werde; sie preßte die Hände auf einen großen Rochen, um ihr Fieber zu kühlen.

Seht ihr, wie die Méhudin ihn fallen lassen, weil er kein Geld mehr hat? sagte Frau Lecoeur.

Recht haben sie, entgegnete Fräulein Saget. Jetzt wird auch der ewige Zank und Hader ein Ende haben. Sie sind zufrieden; lassen Sie auch die anderen ihre Sachen in Ordnung bringen.

Aber nur die alten Weiber lachen, bemerkte die Sarriette. Die Normännin blickt nicht sehr heiter drein.

Inzwischen ließ Florent in seinem Zimmer sich abfangen wie ein Hammel. Die Polizisten stürzten sich mit roher Gewalt auf ihn, weil sie ohne Zweifel einen hartnäckigen Widerstand erwarteten. Er bat sie ruhig, ihn loszulassen. Dann setzte er sich, während die Polizisten die Papiere, Schärpen, Armbinden, Abzeichen zusammenrafften. Diese Lösung schien ihn nicht zu überraschen; sie war für ihn eine Erleichterung, ohne daß er sich es eingestehen wollte. Ihn kränkte nur der Haß, der ihn soeben in dieses Zimmer getrieben hatte. Er sah das blasse Antlitz Augusts und die verlegenen Gesichter der Fischweiber wieder. Er erinnerte sich der Worte der Mutter Méhudin, des Schweigens der Normännin, des leeren Ladens und sagte sich, daß die Hallen mitschuldig seien, und daß das ganze Stadtviertel ihn ausgeliefert habe. Rings um ihn her stieg der Schmutz dieser schmutzigen Gassen auf.

Als unter den runden Gesichtern, die wie in einem Blitz an ihm vorüberzogen, plötzlich auch das Bild Quenus auftauchte, da fühlte er, wie eine tödliche Beklemmung ihm das Herz zusammenkrampfte.

Vorwärts, hinunter! gebot der Sicherheitskommissar.

Er erhob sich und ging hinunter. Im dritten Stockwerk angelangt bat er, zurückgehen zu dürfen, weil er etwas vergessen habe. Die Polizisten wollten nicht und stießen ihn vorwärts. Er flehte demütig und bot ihnen einiges Geld an, das er bei sich hatte. Endlich willigten zwei der Leute ein, ihn nach seiner Stube zurückzuführen, wobei sie drohten, ihm den Kopf zu zerschmettern, wenn er versuchen solle, ihnen einen üblen Streich zu spielen. Sie zogen ihre Revolver aus der Tasche. Als er wieder in seiner Stube war, ging er geradeaus zu dem Käfig des Finken, nahm den Vogel, küßte ihn zwischen den zwei Flügeln und ließ ihn frei. Er blickte ihm nach, wie er im hellen Sonnenscheine sich auf dem Dache des Fischpavillons niederließ, dann einen zweiten Flug nehmend, über den Hallen hinweg, nach der Seite des Innocenzplatzes verschwand. Florent schaute noch einen Augenblick nach dem freien Himmel; er dachte an die girrenden Holztauben im Tuileriengarten und an die Tauben im Keller der Hallen, die Marjolin abschlachtete. Ein tiefer Riß ging durch sein ganzes Wesen, und er folgte den Polizeiagenten, die achselzuckend ihre Revolver wieder einsteckten.

Am Fuße der Treppe blieb Florent vor der Türe stehen, die nach der Küche führte. Der Kommissar, der ihn hier erwartete, fragte fast gerührt durch seine Fügsamkeit:

Wollen Sie Ihrem Bruder Lebewohl sagen?

Er zögerte einen Augenblick und blickte nach der Türe. Ein lautes Geräusch von Hackmessern und siedenden Töpfen drang aus der Küche heraus. Um ihren Gatten zu beschäftigen, hatte Lisa Quenu dazu gedrängt, Blutwurst zu machen, was er sonst nur des Abends tat. Die Zwiebeln schmorten mit hellem Zischen am Feuer. Florent vernahm die heitere Stimme Quenus, die, alles andere übertönend, sagte:

Ha, die Wurst wird gut! August, gib das Fett her!

Florent dankte dem Kommissar; er hatte Angst, in diese heiße, vom starken Gerüche der gebratenen Zwiebel erfüllte Küche einzutreten. Er ging an der Tür vorüber, glücklich in dem Glauben, daß sein Bruder nichts wisse, und beschleunigte die Schritte, um dem Wurstladen einen letzten Kummer zu ersparen. Doch als er die sonnenhelle Straße betrat, hatte er ein Gefühl der Scham und stieg bleich und gebrochen in den bereitstehenden Wagen. Er fühlte, daß er den triumphierenden Fischmarkt vor sich habe und es schien ihm, als sei das ganze Stadtviertel da, um sich zu freuen.

Ist das ein böses Gesicht, sagte Fräulein Saget.

Das Gesicht eines Sträflings, den man auf frischer Tat ertappt hat, fügte Frau Lecoeur hinzu.

Die Sarriette aber erzählte:

Ich habe einen Mann köpfen sehen, der genau so aussah.

Sie waren näher getreten und reckten die Hälse, um noch in die Droschke zu schauen. In dem Augenblicke, als der Wagen sich in Bewegung setzte, zog das alte Mädchen lebhaft an den Röcken der beiden anderen und zeigte ihnen Claire, die aus der Pirouette-Straße hervorkam, ganz verstört, mit losem Haar und blutenden Fingernägeln. Es war ihr gelungen, die Tür aus den Angeln zu reißen. Als sie begriff, daß sie zu spät kam, daß man Florent wegführe, rannte sie dem Wagen nach, doch blieb sie mit einer Gebärde ohnmächtiger Wut gleich wieder stehen und erhob drohend die Faust nach dem davoneilenden Wagen. Ganz rot unter dem feinen Kalkstaub, der sie bedeckte, kehrte sie eiligen Schrittes heim.

Hat er ihr etwa die Ehe versprochen? rief die Sarriette lachend. Das dumme Mensch ist ja ordentlich verrückt.

Das Stadtviertel beruhigte sich allmählich. Einzelne Gruppen sprachen noch bis zum Schlusse des Marktes von den Ereignissen des Morgens. Man blickte neugierig in den Wurstladen, allein Lisa vermied es zu erscheinen und ließ Augustine am Pulte. Am Nachmittag hielt sie es endlich an der Zeit, ihrem Manne alles zu sagen, weil sie fürchtete, er könne die Geschehnisse von irgendeiner Schwätzerin ganz unvermittelt erfahren, was ihn zu schwer treffen werde. Sie wartete, bis sie mit ihm in der Küche allein war, weil sie wußte, daß es ihm da gefiel und daß er da weniger weinen werde. Sie ging übrigens mit einer wahrhaft mütterlichen Schonung zu Werke. Aber als er die Wahrheit erfuhr, fiel er auf das Hackbrett hin und begann zu blöken wie ein Kalb.

Mein armer Dicker, gräme dich doch nicht so, du wirst dich noch krank machen, sagte Lisa und schloß ihn zärtlich in ihre Arme.

Er vergoß reichliche Tränen, die auf seine weiße Schürze hinabflossen; sein schwerfälliger, massiger Körper ward vom Schmerze geschüttelt. Er schien völlig zu zerfließen. Als er endlich Worte fand, stammelte er:

Nein, du weißt nicht, wie gut er zu mir war, als wir zusammen in der Royer-Collard-Straße wohnten. Er fegte das Zimmer aus und besorgte die Küche. Er liebte mich wie sein Kind; er kam nach Hause beschmutzt bis an den Bauch und so müde, daß er sich nicht bewegen konnte; ich aber saß im warmen Zimmer und hatte gut zu essen ... Und jetzt wird man ihn erschießen.

Lisa widersprach und sagte, man werde ihn nicht erschießen. Doch er schüttelte den Kopf und fuhr fort:

Gleichviel, ich habe ihn nicht genug geliebt, ich kann es jetzt wohl sagen. Ich hatte ein schlechtes Herz, ich habe gezögert, ihm sein Teil von der Erbschaft zu geben.

Aber nein, ich habe ihm sein Teil zehnmal angeboten, rief sie; wir haben uns nichts vorzuwerfen.

Oh, du bist gut, das weiß ich wohl; du würdest ihm alles hingegeben haben ... Aber mir war es nicht recht... Das wird der Kummer meines ganzen Lebens bleiben. I ch werde mir immer denken, daß er, wenn er mehr Geld gehabt hätte, nicht zum zweitenmal schlimme Wege betreten haben würde ... Meine Schuld ist es; ich habe ihn dem Verderben überliefert.

Lisa schlug einen noch zärtlicheren Ton an und sagte, er solle sich den Kopf nicht mit solchen Dingen zermartern. Sie beklagte sogar Florent. Im übrigen sei er sehr strafbar. Hätte er mehr Geld gehabt, würde er mehr Dummheiten begangen haben. Allmählich gab sie zu verstehen, daß es nicht anders enden konnte und daß es für alle Welt so besser sei. Quenu weinte noch, trocknete sich das Gesicht mit der Schürze, unterdrückte sein Schluchzen, um sie zu hören, und brach dann von neuem in noch reichlichere Tränen aus. Er hatte mechanisch die Finger in einen Haufen Wurstfleisch gesteckt, der auf dem Hackbrett lag; er grub Löcher hinein und knetete wütend den Haufen.

Du erinnerst dich, du fühltest dich nicht wohl, fuhr Lisa fort. Wir waren aus unseren Gewohnheiten herausgekommen. Ich war sehr unruhig, ohne es dir zu sagen; ich sah sehr wohl, daß du abnahmst.

Nicht wahr? murmelte er und hielt einen Augenblick im Weinen inne.

Auch unser Geschäft ging dieses Jahr nicht so, wie es sollte. Es war wie verhext ... Weine nicht; du wirst sehen, wie alles wieder gut wird. Du mußt dich erhalten für mich und deine Tochter. Du hast auch uns gegenüber Pflichten zu erfüllen.

Er knetete jetzt das Wurstfleisch weniger wild. Die Rührung bemächtigte sich seiner wieder; aber eine zärtliche Rührung, die schon ein leises Lächeln in sein bekümmertes Antlitz zauberte. Lisa merkte, daß er überzeugt sei. Sie rief Pauline herbei, die im Laden spielte, setzte ihm das Kind auf den Schoß und sagte:

Nicht wahr, Pauline, Papa muß Vernunft annehmen? Bitte ihn artig, daß er uns nicht kränkt.

Das Kind bat ihn artig. Sie sahen einander an und drängten sich in einer einzigen Umarmung zusammen, riesig dick, überquellend, sich schon erholend von dem seit einem Jahre andauernden Unbehagen, von dem sie kaum erst befreit worden; und sie lächelten einander zu mit ihren breiten, runden Gesichtern, während die Wursthändlerin wiederholte:

Siehst du, mein Dicker: wir drei und sonst gibt es für uns nichts ...

Zwei Monate später war Florent abermals zur Verschickung verurteilt. Die Sache machte riesiges Aufsehen. Die Zeitungen bemächtigten sich der geringsten Einzelheiten, brachten die Bildnisse der Angeklagten, die Zeichnungen der Schärpen und Wimpel, die Pläne der Orte, wo die Bande sich versammelte. Zwei Wochen lang war in Paris von nichts anderem die Rede als von der Verschwörung der Hallen. Die Polizei veröffentlichte Mitteilungen, die immer beunruhigender lauteten; man sagte schließlich, das ganze Montmartre-Viertel sei unterwühlt. Im gesetzgebenden Körper war die Bestürzung so groß, daß das Zentrum und die Rechte das unerquickliche Dotations-Gesetz vergaßen, das sie einen Augenblick entzweit hatte, und sich vereinigten, um mit erdrückender Mehrheit das mißliebige Steuergesetz anzunehmen, über das jetzt – in dem Schrecken, der die Stadt ergriffen hatte – auch die Vorstädte sich nicht mehr zu beklagen wagten. Der Prozeß dauerte eine volle Woche. Florent war sehr überrascht von der großen Anzahl Mitschuldiger, die man ihm gegenüberstellte. Er kannte kaum fünf oder sechs von den zwanzig und etlichen Leuten, die auf der Bank der Angeklagten saßen. Nachdem das Urteil verkündet worden war, glaubte er den Hut unnd den harmlosen Rücken Robines zu erkennen, der inmitten der Menge sich ruhig entfernte. Logre und Lacaille wurden freigesprochen. Alexander erhielt zwei Jahre Gefängnis, weil er in seiner Leichtfertigkeit sich kompromittiert hatte. Gavard wurde gleich Florent zur Verschickung verurteilt. Das war ein Keulenschlag, der ihn niederschmetterte in seinen letzten Freuden am Schlusse dieser langen Verhandlungen, die ihm mit seiner Person auszufüllen gelungen war. Schwer büßte er seine Oppositionsgelüste eines Pariser Krämers. Zwei große Tränen rollten über sein verstörtes Gesicht eines graubärtigen Knaben herab.

An einem Augustmorgen schlenderte Claude Lantier, seinen roten Gürtel um den Leib, in den erwachenden Hallen herum und betrachtete die Ausladung der Gemüse. Auf dem Eustach-Platze traf er Frau François, die trübe dreinblickend auf ihren gelben und roten Rüben saß. Auch der Maler war ernst trotz des hellen Sonnenscheins, der das tiefe Grün der Kohlberge zu vergolden begann.

Es ist aus, sagte er. Sie schicken ihn wieder hinüber... Ich glaube gar, sie haben ihn schon nach Brest expediert.

Die Gemüsegärtnerin machte eine Gebärde stummen Schmerzes. Sie machte mit der Hand eine Rundbewegung und sagte mit dumpfer Stimme:

Dieses lumpige Paris ist schuld.

Nein, ich weiß, wer schuld ist; es sind Elende, sagte Claude die Fäuste ballend. Denkt Euch, Frau François: es gibt nichts so Blödes, was sie bei Gericht nicht gesagt hätten ... Sie sind so weit gegangen, in den Schreibheften eines Kindes herumzuschnüffeln. Der Gimpel von einem Staatsanwälte machte sich einen Braten daraus, sprach von der Achtung vor der Kindheit, von der demagogischen Erziehung und dergleichen Albernheiten mehr. Ich bin heute noch krank davon.

Ein nervöses Zittern schüttelte ihn; die Schultern in seinem grünlichen Überrock einziehend fuhr er fort:

Er war sanftmütig wie ein Mädchen; er konnte das Schlachten von Tauben nicht mit ansehen, ohne Übelkeiten zu bekommen ... Ich mußte vor Mitleid lachen, als ich ihn zwischen zwei Gendarmen sah. Wir sehen ihn nie wieder; dieses Mal läßt er die Knochen drüben.

Er hätte meinen Rat befolgen sollen, sagte die Gemüsegärtnerin nach einer Weile, und nach Nanterre kommen, um da ruhig unter meinen Hühnern und Kaninchen zu leben. Ich liebte ihn sehr, weil ich begriff, daß er gut sei... Man hätte glücklich sein können ... Es ist ein schwerer Kummer ... Trösten Sie sich, Herr Claude... Ich erwarte Sie an einem der nächsten Tage zu einem Pfannkuchen.

Tränen standen ihr in den Augen. Doch als tapfere Frau, die den Schmerz zu tragen weiß, erhob sie sich und rief:

Schau, da ist Mutter Chantemesse, die mir weiße Rüben abkauft. Immer munter, die dicke Frau Chantemesse.

Claude ging weiter und trieb sich auf dem Pflaster herum. Der Tag stieg in weißen Lichtbündeln aus der Rambuteau-Straße herauf. Die Sonne guckte hinter den Dächern hervor und entsandte ihre rosigen Strahlen, schräge Lichtfelder, die bereits das Pflaster trafen. Claude fühlte, daß ein frohes Erwachen durch diese großen, hell tönenden Hallen ziehe, durch dieses mit aufgehäuften Lebensmitteln angefüllte Stadtviertel. Es war gleichsam eine Freude der Wiedergenesung, ein lauteres Getöse von Leuten, die endlich von einer Last befreit sind, die ihnen den Magen beschwert hat. Er sah die Sarriette mit einer goldenen Uhr, wie sie unter ihren Pflaumen und Erdbeeren sang, und Herrn Jules, der mit einer Samtjacke bekleidet war, bei den Schnurrbartspitzen zog. Er sah Frau Lecoeur und Fräulein Saget, die in einem der gedeckten Gänge dahinschritten, weniger gelb als sonst mit fast rosigen Wangen als gute Freundinnen, die sich an irgendeiner Geschichte belustigten. Die Mutter Mehudin hatte ihren Verkaufsstand in den Hallen wieder aufgenommen, klatschte lustig auf ihre Fische, lästerte über alle Welt und schloß mit ihren kecken Reden dem neuen Aufseher den Mund, einem jungen Manne, dem sie die Peitsche verhieß, während Claire, weichlicher und träger denn je, mit ihren vom Wasser der Fischbehälter blau gewordenen Händen eine riesige Ladung Schnecken herbeischleppte, über die der Schaum Silberfäden zog. August und Augustine waren nach der Kaldaunenabteilung gekommen, um Schweinsfüße einzukaufen; sie hatten die zärtlichen Mienen der Jungvermählten und fuhren in ihrem Karren nach ihrem in der Vorstadt Montrouge eröffneten Wurstladen ab. Da es schon acht Uhr und sehr warm war, fand Claude in der Rambuteau-Straße Feinchen und Pauline Pferdchen spielen; Feinchen ging auf allen vieren, Pauline saß auf seinem Rücken und hielt sich an seinen Haaren fest, um nicht herunterzufallen. Ein Schatten, den er auf den Hallendächern am Rande der Dachtraufe sah, ließ ihn in die Höhe blicken; es waren Cadine und Marjolin, die scherzend und kosend in der warmen Sonne, das ganze Stadtviertel mit ihrer Liebschaft glücklicher Tiere beherrschten.

Claude zeigte ihnen die Faust. Es erbitterte ihn, Himmel und Erde in solcher Festesfreude zu sehen. Er schimpfte über die Fetten und sagte, diese hätten gesiegt. Ringsumher sah er nur lauter Fette mit ihren runden Leibern, schier berstend von Gesundheit, einen neuen Tag, der gute Verdauung verhieß, begrüßend. Bei der Pirouette-Straße gab das Schauspiel ihm den Rest, das rechts und links sich ihm darbot.

Rechts stand die schöne Normännin – die schöne Frau Lebigre, wie man sie jetzt nannte – auf der Schwelle ihres Ladens. Ihr Mann hatte endlich die Erlaubnis erhalten, seiner Weinstube einen Tabakladen hinzufügen zu dürfen; dieser lang gehegte Wunsch war ihm endlich in Erfüllung gegangen, dank den guten Diensten, die er dem Staate geleistet hatte. Der Maler fand die schöne Frau Lebigre ganz herrlich in ihrem Seidenkleide, mit dem sorgfältig gekräuselten Haar, bereit sich vor ihrem Pulte niederzulassen, wo alle Herren des Stadtviertels erschienen, um sich mit Zigarren und Tabak zu versorgen. Sie war vornehm, eine ganze Dame geworden. Der Saal war frisch gemalt worden, junges Weinlaub auf zartem Grunde; die Zinkplatte des Schanktisches schimmerte in hellem Glanze, während die Likörflaschen das lodernde Feuer ihrer Farben in den Spiegel warfen. Luise lachte dem hellen Morgen zu.

Links stand die schöne Lisa auf der Schwelle des Wurstladens und nahm die ganze Breite der Türe ein. Ihr Linnenzeug war weißer denn je, und niemals schien ihr Antlitz rosiger und zufriedener in seinem Rahmen von glatt gescheiteltem Haar. Nichts störte ihre satte Ruhe und tiefe Zufriedenheit, nicht einmal ein Lächeln. Es war der vollkommene Frieden, eine vollständige Glückseligkeit, die unerschüttert und ruhig in der warmen Sommerluft sich badete. Ihr straff gespanntes Leibchen verdaute noch das Glück von gestern; ihre gepolsterten Hände, unter der Schürze versteckt, nahmen sich nicht die Mühe, nach dem Glücke des Tages zu greifen; sie ließen es ruhig herankommen. Auch das Schaufenster nebenan zeigte ein vollständiges Glück; es war geheilt, die gefüllten Zungen waren röter und gesünder, die Schinken hatten wieder ihre schöne, gelbe Rinde, die Wurstkränze hatten nicht mehr jenes trostlose Aussehen, das Quenu so sehr betrübt hatte. Ein lautes Lachen ertönte aus der Küche, von einem lustigen Geklimper der Küchengeräte begleitet. Der Wurstladen schwitzte wieder von fetter Gesundheit. Die Speckseiten, die an den Marmorwänden hingen, waren wie runde Bäuche; es war gleichsam der Triumph des Bauches. Lisa aber mit dem ruhigen, würdigen Gesichte und den großen Augen einer starken Esserin brachte den Hallen ihren Morgengruß.

Dann neigten beide Frauen sich vor. Die schöne Frau Lebigre und die schöne Frau Quenu wechselten einen freundlichen guten Morgen!

Claude, der tags zuvor ohne Zweifel vergessen hatte, zu Mittag zu essen, ward von Zorn ergriffen, als er sie so gesund und so sauber sah mit ihren großen Brüsten; er zog seinen Gürtel noch enger zusammen und brummte verdrossen: Was sind doch die rechtschaffenen Leute für Schurken!


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