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Drittes Kapitel.

Drei Tage später waren alle Formalitäten erledigt; die Polizei nahm Florent aus den Händen des Herrn Verlaque mit geschlossenen Augen als einfachen Stellvertreter entgegen; überdies hatte Gavard eingewilligt, die beiden zu begleiten. Als er mit Florent auf dem Bürgersteige wieder allein war, stieß er ihn lachend in die Seite und zwinkerte verschmitzt mit den Augen. Die, denen er auf dem Uhrendamme begegnete, schienen ihm ohne Zweifel sehr lächerlich; denn als er an ihnen vorbeikam, zog er ein wenig die Schultern in die Höhe und spitzte die Lippen wie einer, der sich Gewalt antun muß, um den Leuten nicht ins Gesicht zu lachen.

Am folgenden Tage begann Herr Verlaque, den neuen Aufseher mit dem Dienste vertraut zu machen. Einige Tage hindurch mußte er ihm als Führer durch diese geräuschvolle Welt dienen, die er künftig überwachen sollte. Der arme Verlaque, wie Gavard ihn nannte, war ein blasses, hustendes Männchen, das, eingehüllt in Flanell und Halstücher, in der kühlen Luft und der Nässe der Fischabteilung mit den mageren Beinen eines kranken Kindes umherging.

Als Florent am ersten Morgen um sieben Uhr in den Hallen eintraf, fühlte er sich da wie verloren, und es wollte ihm schier der Kopf zerspringen. Um die neun Bänke der Ausrufshalle drängten sich die Wiederverkäuferinnen, während die Beamten mit ihren Büchern ankamen und die Agenten der Spediteure mit ihren über die Schulter gehängten Ledertaschen auf umgestürzten Stühlen vor den Verkaufspulten saßen und der Einnahme harrten. Innerhalb des Gitters, das die Verkaufsbänke umgab, und auch auf den Fußwegen wurden die Seefische abgeladen und ausgepackt. Es war längs der Quadern ein Anhäufen von kleinen Körben, ein unaufhörliches Abladen von Kisten, großen Körben und aufgeschichteten Miesmuschelsäcken, aus denen das Wasser hervorrann. Die Zahlmeister hatten alle Hände voll zu tun, setzten über die verschiedenen Haufen hinweg, rissen mit einem Handgriff das Stroh von den Körben, entleerten diese und warfen sie flink beiseite; mit einer einzigen Handbewegung verteilten sie die Haufen auf den breiten, runden Körben und gaben ihnen ein gefälliges Aussehen. Als die Körbe sich immer mehr ausbreiteten, mochte Florent glauben, eine Fischbank sei an diesem Fußweg gescheitert, und diese Tiere mit ihrem rosigen Perlmutterschimmer, ihrem Korallenrot, ihrem Perlenweiß hätten alle Farben des grünen Ozeans hierher geschwemmt.

Die tiefen Seeschilfe, wo das geheimnisvolle Leben der Meerestiefen schlummert, hatten bunt durcheinander, wie gerade der Zug ausfiel, alles geliefert: die Stockfische, die Rundfische, die Plattfische, die Schollen, gewöhnliche Tiere, schmutziggrau, weißlich gefleckt; die Meeraale, diese dicken, sumpfblauen Schlangen mit winzigen schwarzen Äuglein, dermaßen glatt und schlüpfrig, daß sie noch lebend herumzukriechen scheinen, die breiten Rochen, mit bleichem, zartrot eingesäumtem Bauche, deren prächtige Rücken, mit den vorspringenden Knoten, sich bis zu den straff gespreizten Flossen mit roten, von bronzefarbenen Strichen durchzogenen Flecken, mit der dunkelen Scheckigkeit der Kröte und der Giftpflanzen marmorieren; die Seehunde, scheußlich mit ihren runden Köpfen, ihren – gleich den chinesischen Götzenbildern – breit gespaltenen Mäulern, ihren fledermausartigen, kurzen Flügeln, wahre Ungeheuer, die mit ihrem Gebell die Schätze der unterseeischen Grotten zu bewachen scheinen. Dann kamen die schönen Fische einzeln, je einer auf jedem Korbe von Weidengeflecht; die silberschimmernden gestreiften Salme, deren Schuppen wie in glänzendem Metall gemeißelt scheinen; die Meeräschen, mit stärkeren Schuppen von gröberer Zeichnung, die großen Steinbutte von engem, milchweißem Korn; die Tunfische, glatt und blank, Säcken von schwärzlichem Leder gleichend; die runden Barben, die einen ungeheueren Rachen aufreißen; dann auf allen Seiten viele Seezungen paarweise, grau und blond; die dünnen, steifen Sandaale glichen Abschnitzeln von Zinn; die leicht gekrümmten Heringe zeigten alle auf ihrem zarten Kleide den roten Schnitt ihrer Kiemen; die fetten Goldfische hatten einen Stich ins Karminrote, während die goldig schimmernden Makrelen, der Rücken von grünbraunen Streifen durchzogen, die Perlmutterfarbe ihrer Seiten schillern ließen, und die roten, weißbäuchigen Seehähne mit ihren nach dem Mittelpunkte des Korbes geordneten Köpfen und ihren glänzenden Schwänzen an seltsame Blumen, geschmückt mit Perlweiß und lebhaftem Rot, erinnerten. Es gab ferner Rotfedern, die ein köstliches, rotes Fleisch haben, Körbe voll Weichfische, die in allen Farben des Opals schimmern, Körbe voll Spieringe, kleinen, schmucken Veilchenkörben gleichend; Körbe voll roter Krabben und grauer Krabben mit ihren Tausenden von Äuglein, die kleinen Stecknadelköpfen von Gagat glichen; stachelige Heuschreckenkrebse und schwarzgefleckte Hummern, die noch lebend auf ihren gegliederten Füßen sich fortschleppten.

Florent hatte nur ein zerstreutes Ohr für die Erklärungen des Herrn Verlaque. Ein breiter Sonnenstrahl, der durch das hohe Glasdach des gedeckten Ganges hereinfiel, entzündete diese prächtigen, von den Meereswogen gereinigten und gedämpften Farben, in Regenbogenfarben sich auflösend und verschmelzend in den Fleischtönen der Muscheln, der Opalfarbe der Weichfische, der Perlmutterfarbe der Makrelen, der Goldfarbe der Rotfedern, das dünne Kleid der Heringe, den großen Silberstücken der Salme. Es war, als seien die Schmuckkästchen einer Prinzessin des Meeres auf dem Festlande ausgeleert worden; unerhörte, seltsame Geschmeide, eine Anhäufung von ungeheuerlichen Hals-  und Armbändern, von riesigen Brustnadeln, von barbarischen Schmuckgegenständen, deren Gebrauch unerfindlich war. Auf dem Rücken der Rochen und Seehunde saßen große, dunkle, violett und grünlich schimmernde Steine in einer Fassung von schwärzlichem Metall; und die dünnen Stänglein der Sandaale, die Schwänze und Flossen der Spieringe hatten die zarte Zeichnung feiner Juwelen.

Florent fühlte, wie ein frischer Hauch, ein Seewind ihm ins Gesicht wehte, den er an seinem herben, salzigen Geruch erkannte. Er erinnerte sich der Küste von Guyana aus der schönen Zeit der Überfahrt. Er glaubte eine Bucht vor sich zu haben, wenn das Wasser zurücktritt und der Seeschilf in der Sonne dampft; die bloßgelegten Felsen trocknen, der Dünensand haucht einen scharfen Geruch von Meerwasser aus. Die Fische um ihn her waren ganz frisch und verbreiteten jenen guten, etwas scharfen Geruch, der dem Appetit leicht gefährlich wird.

Herr Verlaque hustete jetzt. Die Feuchtigkeit durchdrang ihn und er zog das Halstuch enger um Mund und Nase.

Wir wollen jetzt zu den Süßwasserfischen hinüber, sagte er.

Hier, auf der Seite des Früchtepavillons, als letzte nach der Rambuteau-Straße gelegen, stand die Ausruferbank, umgeben von zwei kreisförmigen Fischbehältern, die durch gußeiserne Gitter in Fächer abgeteilt sind. Kupferhähne in der Form von Schwanenhälsen versorgen die Fischbehälter mit frischem Wasser. In jedem Behälter ist ein kunterbuntes Gewühl von Krebsen, von Karpfen mit schwärzlichem Rücken, von Aalen, die sich unaufhörlich entrollen und wieder zu Knoten einrollen. Herr Verlaque ward wieder von einem hartnäckigen Hustenanfall gepackt; die Feuchtigkeit war jetzt noch unleidlicher geworden; es war ein weicher Flußgeruch, der Geruch eines Wassers, das träge am Ufersande liegt.

Der Markt war mit Krebsen aus Deutschland, die in Kisten und Körben verpackt kamen, diesen Morgen sehr stark beschickt. Auch weiße Fische aus Holland und England waren in großer Menge da. Man packte die braunroten Rheinkarpfen aus, die so schön sind mit ihren metallisch glänzenden roten Flecken, und deren Schuppenschilder Emailflächen mit Bronzierung und Fachwerkverzierung gleichen; dann die großen Hechte, die ihre wilden Schnäbel vorstrecken, diese rohen, eisengrauen Wasserräuber; die schönen, dunkelfarbigen Schleien, die grünlichgrau geflecktem Kupfer gleichen. Inmitten dieser dunkleren Farben zeigen die mit Gründlingen und Barschen gefüllten Körbe, die Forellenladungen, die Haufen von gemeinen Weißbarschen, von Plattfischen, die mit dem Wurfnetz gefangen werden, hellweiße Flecke, stahlblaue Rücken, deren dunkle Farbe sich abwärts nach dem Bauche hin allmählich abtönt; dicke, schneeweiße Bartfische waren der helle Lichtton in diesem Stück toter Natur. In die Behälter wurden ganze Säcke junger Karpfen ausgeleert; die Karpfen überschlugen sich, lagen einen Augenblick platt da und schossen dann davon. Körbe voll kleiner Aale wurden mit einem Stoß geleert; sie fielen in den Behälter wie ein Schlangenknoten, während die größeren, die die Dicke eines Kinderarmes hatten, den Kopf erhoben und mit der Geschmeidigkeit der Schlangen, die in einem Gebüsch verschwinden, in das Wasser glitten. Auf dem schmutzigen Weidengeflecht der Körbe lagen Fische im langsamen Absterben seit dem Morgen, mitten in dem Geräusche der Ausrufer; alle drei Sekunden sperrten sie die Mäuler weit auf, wie um die Feuchtigkeit der Luft zu trinken.

Inzwischen hatte Herr Verlaque Florent zu den Seefischbänken zurückgeführt. Er geleitete ihn überall umher und gab ihm sehr verwickelte Erklärungen. An den drei inneren Seiten des Pavillons rings um die neun Tische standen sehr viele Leute, ein Gewühl von Köpfen, überragt von den Beamten, die auf hohen Sesseln saßen und in Registerbücher Eintragungen machten.

Wie? fragte Florent, alle diese sind Beamte der Geschäftsführer?

Herr Verlaque machte mit ihm auf dem Fußweg die Runde um den Pavillon und führte ihn in den Raum innerhalb der Einfriedung einer Ausruferbank. Er erklärte ihm die Einrichtung der Fischbehälter und des Personals an dem großen, gelb gestrichenen Pulte, das völlig bespritzt war und einen üblen Fischgeruch hatte. Ganz oben in einer mit Glaswänden versehenen Zelle, saß der Beamte der städtischen Abgaben und verzeichnete die Verkaufsziffern. Weiter unten saßen auf erhöhten Sesseln, die Fäuste auf schmale Pulte stützend, zwei Frauen, die für Rechnung des Geschäftsführers die Verkaufstabellen führten. Die Bank ist doppelt; auf jeder Seite stellte, an einem Ende des steinernen Tisches, der vor dem Pulte steht, der Ausrufer die Körbe hin und rief den Preis der Partien oder der einzelnen großen Stücke aus, während die unter ihm sitzende Inhaberin der Verkaufstabelle mit der Feder in der Hand wartete, bis die Partie einem Ersteher zugeschlagen war. Er zeigte ihm auch außerhalb der Einfriedung gegenüber in einer anderen, gelb gestrichenen Zelle die Kassiererin, eine alte, dicke Frau, die Stöße von Sous- und Fünffrankenstücken nebeneinander ordnete.

Es gibt zwei Kontrollen, sagte er; die der Seineverwaltung und die der Polizeiverwaltung. Die letztere, die die Geschäftsführer ernennt, behauptet, daß sie diese zu überwachen habe. Die Stadtverwaltung ihrerseits entsendet ebenfalls einen Beamten, weil sie von den Verkäufen eine Abgabe einhebt.

Mit seiner dünnen, kühlen Stimme schilderte er den ewigen Hader zwischen den zwei Verwaltungen. Florent hörte ihn kaum. Er sah die Tabellenführerin an, die ihm gegenüber auf einem der hohen Sessel saß. Es war ein großes, braunes Mädchen von dreißig Jahren mit großen, schwarzen Augen und sehr würdigem Aussehen; sie schrieb mit ausgestreckten Fingern wie ein Fräulein, das Unterricht genossen hat.

Doch seine Aufmerksamkeit ward jetzt durch das Geschrei des Ausrufers abgelenkt, der einen prächtigen Steinbutt zur Versteigerung brachte.

Dreißig Franken, wer kauft? rief er. Dreißig Franken!

Er wiederholte diese Ziffer in allen Tonarten, eine seltsame Tonleiter voll überraschender Stimmkünste erklimmend. Er war höckerig, hatte ein verzogenes Gesicht, struppiges Haar und trug eine große, blaue Vollschürze. Mit ausgestrecktem Arm und funkensprühenden Augen schrie er: Einunddreißig! zweiunddreißig! dreiunddreißig! dreiunddreißig fünfzig! ... dreiunddreißig fünfzig! ...

Er holte Atem, wies den Korb herum, schob ihn auf dem steinernen Tische bis an den Rand heran, während die Fischhändlerinnen sich vorneigten und den Steinbutt leicht mit dem Finger antippten. Dann begann er mit frischer Kraft zu schreien, warf jedem Mitbietenden mit einer Handbewegung eine Ziffer hin, fing den leisesten Wink auf, erhobene Finger, ein Zusammenziehen der Augenbrauen, ein Spitzen der Lippen, ein Blinzeln mit den Augen; und alles mit einer solchen Raschheit, einem so schnellen Hervorstoßen der Angebote, daß Florent, der ihm nicht zu folgen vermochte, ganz fassungslos dastand, als der Bucklige in singendem Tone, wie ein Kirchensänger, der einen Vers beschließt, sich vernehmen ließ:

Zweiundvierzig Franken! ... zweiundvierzig Franken der Steinbutt! ...

Die schöne Normännin hatte das letzte Gebot gemacht. Florent erkannte sie in der Reihe der Fischhändlerinnen, die an dem Eisengitter standen, das den Ausrufplatz umgab. Der Morgen war kühl; man sah da eine ganze Reihe von Pelzkragen, eine Schaustellung von großen, weißen Schürzen, die die Rundungen riesiger Bäuche, Brüste und Schultern bedeckten. Mit hochgestecktem, reichlich gekräuseltem Haarzopf und zarter, weißer Haut zeigte die schöne Normännin ihre breite Spitzenbusenschleife inmitten der sie umgebenden, mit Seidentüchern bedeckten Krausköpfe, roter Trinkernasen, unverschämt geschlitzter Mäuler, verwitterter Gesichter, die zerbrochenen Töpfen glichen. Auch sie erkannte den Vetter der Madame Quenu und war dermaßen überrascht, ihn hier zu sehen, daß sie darüber mit ihren Nachbarinnen zu zischeln begann.

Der Lärm der Stimmen wuchs dermaßen an, daß Herr Verlaque auf seine Erläuterungen verzichten mußte. Auf den Quadern boten Männer die großen Fische zum Verkauf aus, mit langgedehnten Rufen, die aus riesigen Sprachrohren hervorzudringen schienen; besonders einer stieß sein: »Miesmuscheln! kauft Miesmuscheln!« mit einem heiseren Gebrüll hervor, daß die Dächer der Hallen davon erzitterten. Aus den umgestürzten Säcken rannen die Miesmuscheln in die Körbe; andere wurden mit der Schaufel geleert. In schier endloser Reihe zogen die Körbe vorüber, angefüllt mit Rochen, Seezungen, Makrelen, Meeraalen, Salmen, die von den Zahlmeistern herbei- und weggetragen wurden inmitten des wachsenden Getöses und des Gedränges der Fischhändlerinnen, die schier das Gitter eindrückten. Der bucklige Ausrufer fuchtelte feuereifrig mit den mageren Armen in der Luft und streckte die Kinnbacken vor. Schließlich stellte er sich noch auf einen Schemel, gleichsam gepeitscht durch die Ziffern, die er im Fluge hinausschrie, mit verzerrtem Mund, gesträubtem Haar, und seinem ausgetrockneten Schlunde nur mehr ein kaum verständliches Pfeifen entlockend. Oben saß der Beamte der städtischen Abgaben, ein kleiner Greis, völlig eingehüllt in einen Kragen von falschem Astrachan; man sah von ihm nichts als die Nase unter dem schwarzen Samtkäppchen. Die große, braune Tabellenführerin auf ihrem hohen, hölzernen Sessel schrieb gleichmütig, ruhigen Blickes, mit ihrem von der Kälte ein wenig geröteten Antlitz, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken, bei dem Ausrufen der krächzenden Stimme des Buckligen, die längs ihrer Röcke zu ihr empordrang.

Dieser Logre ist herrlich, murmelte Herr Verlaque lächelnd. Es ist der beste Ausrufer auf dem Markte ... Er würde Stiefelsohlen für Seezungen verkaufen.

Er kehrte mit Florent zu dem Pavillon zurück. Als sie wieder an der Ausruferbank der Süßwasserfische vorbeikamen, wo es weit stiller herging, machte Herr Verlaque die Bemerkung, der Handel mit Süßwasserfischen gehe abwärts, und die Flußfischerei in Frankreich habe schlimme Aussichten. Ein Ausrufer, blond, mit verschmitzter Miene, bot mit eintöniger Stimme ohne die mindeste Gebärde die Häufchen Aale und Krebse aus, während die Zahlmeister mit ihren kurzstieligen Netzen die Fische aus den Behältern holten.

Um die Verkaufsstände sammelten sich immer mehr Menschen an. Herr Verlaque füllte sehr gewissenhaft seine Unterweiserrolle aus, bahnte sich mit Hilfe seiner Ellenbogen einen Weg durch die Menge und führte seinen Nachfolger herum, wo die Käufer am dichtesten standen. Die großen Händlerinnen warteten ruhig auf die schönen Stücke und beluden ihre Träger mit Tunfischen, Steinbutten, Salinen. Die Straßenverkäuferinnen saßen am Boden und teilten sich die Körbe voll Heringe und Schollen, die sie gemeinsam erstanden hatten. Es waren auch Bürger da, Rentiers aus fernen Stadtvierteln, die schon um vier Uhr morgens gekommen waren, um einen frischen Fisch zu kaufen und sich schließlich eine große Partie zuschlagen ließen, für vierzig bis fünfzig Franken Seefische, die sie dann an ihre Bekannten abließen, womit sie den ganzen Tag zubrachten. Von Zeit zu Zeit kam ein heftiger Stoß, der eine Bresche in die dichtgekeilte Menge legte. Eine Fischhändlerin, die eingezwängt war, machte sich mit erhobenen Fäusten und einer Flut von Schimpfworten Luft. Dann schlossen die Leute wieder enger zusammen, daß sie förmliche Mauern bildeten. Florent, dem in dem Gedränge schier der Atem verging, erklärte, er habe genug gesehen und alles begriffen.

Als Herr Verlaque ihm behilflich war, aus dem Gewühl loszukommen, befanden die beiden sich plötzlich vor der schönen Normännin. Sie pflanzte sich einen Augenblick vor ihnen auf und sagte in ihrer hochfahrenden Art:

Also ist's entschieden, Herr Verlaque, Sie verlassen uns?

Ja, ja, erwiderte das Männlein. Ich will auf dem Lande in Clamart ausruhen. Der Fischgeruch ist mir abträglich ... Dieser Herr wird mich ersetzen.

Er hatte sich umgewandt und zeigte auf Florent. Die schöne Normännin war sprachlos. Als Florent sich entfernte, glaubte er zu hören, wie sie einer ihrer Nachbarinnen kichernd zuflüsterte:

Wir werden mit dem unseren Spaß haben!

Die Fischhändlerinnen schickten sich an, ihre Ware auszulegen. Über all den marmorglatten Steinbänken waren die Leitungshähne geöffnet und spien Wasser. Es war ein lautes Klatschen und Plätschern wie bei einem Platzregen; vom Rande der schief gestellten Bänke rann das Wasser in die Gänge, wo kleine Rinnen liefen, füllte da und dort eine Aushöhlung im Estrich, lief in tausend Abzweigungen weiter in immer mehr abschüssiger Bahn nach der Rambuteau-Straße. Ein feuchter Dunst stieg auf, ein feiner Staubregen, der Florent jenen frischen Hauch ins Gesicht wehte, jenen Seewind, den er an seinem herben und salzigen Geruch wiedererkannte, während er in den ersten Fischen, die ausgelegt wurden, die rosige Perlmutterfarbe, das Rot der Korallen, das Milchweiß der Perlen, alle die wässerigen und blaßgrünen Farben des Ozeans wiederfand.

Dieser erste Vormittag machte ihn sehr wankend. Er bedauerte, Lisa nachgegeben zu haben. Als er am nächsten Tage sich der einschläfernden, verweichlichenden Luft der Küche entzogen hatte, machte er sich wegen seiner Feigheit dermaßen heftige Vorwürfe, daß ihm schier die Tränen in die Augen traten. Aber er wagte es nicht, sein Wort zurückzunehmen; er hatte ein wenig Furcht vor Lisa, vor der Unmutsfalte ihrer Lippen und dem stummen Vorwurf ihres schönen Gesichtes. Er betrachtete sie als eine Frau, die zu ernst und zu zufrieden war, um durch Widerspruch gereizt zu werden. Glücklicherweise gab Gavard ihm einen Gedanken ein, der ihn tröstete. Am Abende des Tages, an dem Verlaque Florent bei den Ausruferbänken herumgeführt hatte, nahm Gavard ihn beiseite und erklärte ihm in seiner vorsichtigen Art, der »arme Teufel« sei recht unglücklich. Nach verschiedenen Bemerkungen über die lumpige Regierung, die ihre Beamten darben lasse, entschloß er sich, ihm zu verstehen zu geben, daß es mildherzig von ihm gehandelt sei, wenn er einen Teil seines Gehaltes jenem überlasse. Florent nahm diesen Gedanken freudig auf. Es war nur zu gerecht; er betrachtete sich als den zeitweiligen Stellvertreter des Herrn Verlaque; übrigens brauchte er ja nichts, da er bei seinem Bruder Verpflegung und Wohnung hatte. Gavard fügte hinzu, daß es ganz hübsch sei, wenn er von seinen monatlichen hundertundfünfzig Franken dem Verlaque fünfzig überlasse; mit gedämpfter Stimme machte er ihm begreiflich, daß es ohnehin nicht lange dauern werde, da der Unglückliche bis an die Knochen brustkrank sei. Sie einigten sich dahin, daß Florent die Frau aufsuche und sich mit ihr verständige, um den Gatten nicht zu verletzen. Diese gute Tat erleichterte ihn; er nahm jetzt das Amt mit einem Gedanken der Aufopferung an und blieb in der Rolle seines Lebens. Aber er nahm dem Geflügelhändler einen Eid darauf ab, niemandem ein Wort von dieser Abmachung zu sagen. Da auch Gavard einigermaßen Furcht vor Lisa hatte, bewahrte er das Geheimnis, was er sich als ein hohes Verdienst anrechnete.

Jetzt herrschte volle Zufriedenheit im Hause des Metzgers. Die schöne Lisa zeigte sich ihrem Schwager gegenüber sehr freundlich; sie schickte ihn früh zu Bette, damit er früh aufstehen könne; sie hielt ihm sein Frühstück warm; sie schämte sich nicht mehr, mit ihm auf dem Fußweg zu plaudern, trug er doch jetzt eine goldverschnürte Kappe. Erfreut über diese angenehme Gestaltung der Dinge setzte sich Quenu des Abends fröhlicher denn je zwischen seinem Bruder und seiner Frau zu Tische. Das Essen währte manchmal bis neun Uhr; inzwischen blieb Augustine im Laden. Man gönnte sich eine lange Verdauung und vertrieb sich die Zeit mit allerlei Tratsch aus dem Stadtviertel und mit den selbstbewußten Äußerungen Lisas über Politik. Florent mußte erzählen, wie es auf dem Fischmarkte zugegangen. Er ergab sich allmählich und fand schließlich sogar ein gewisses Behagen in dieser geregelten Lebensweise. Das hellgelbe Eßzimmer hatte eine spießbürgerliche Reinlichkeit und Wärme, die ihn schon auf der Schwelle gefangen nahmen. Die Sorgfalt der schönen Lisa umgab ihn gleichsam mit einem warmen Flaum, in den alle seine Glieder versanken. Es herrschte volles Einvernehmen und gegenseitige Achtung in der Familie.

Gavard fand jedoch die Häuslichkeit der Quenu-Gradelle zu schläfrig. Er verzieh Lisa ihre Vorliebe für den Kaiser, weil man – wie er sagte – mit Frauen niemals von Politik reden soll, und weil die schöne Wursthändlerin schließlich eine sehr achtbare Frau war, die ihr Geschäft sehr schön betrieb. Allein es entsprach seinem Geschmack mehr, die Abende bei Herrn Lebigre zuzubringen, wo er eine kleine Gruppe von Freunden traf, die seine Ansichten teilten. Als Florent zum Aufseher in der Abteilung für Seefische ernannt worden, nahm er ihn in die Gesellschaft mit und überredete ihn, ein Junggesellenleben zu führen, da er nunmehr eine Stelle habe.

Herr Lebigre hielt eine sehr schöne Trinkstube, mit modernstem Luxus eingerichtet. Bog man rechts von der Pirouette-Straße ein, wo vier Zwergkiefern standen, die in grün gestrichenen Kübeln saßen, so bildete das Lokal ein würdiges Gegenstück zu dem großen Wurstladen der Quenu-Gradelle. Die hellen Spiegelscheiben gestatteten einen Einblick in den Saal, der mit Laubgewinde, Weinranken und Trauben auf zartgrünem Grunde verziert war. Der Fußboden war mit großen schwarz-weißen Quadern belegt. Im Hintergrunde gähnte der Abstieg zum Keller unter der mit einem roten Teppich belegten Wendeltreppe, die in den ersten Stock führte, wo das Billard stand. Das an der rechtsseitigen Wand stehende Zahlpult war sehr prunkvoll mit seinem breiten Widerschein von geglättetem Silber. Die Zinkplatte, die als breiter, bauchiger Saum sich über den mit weißen und roten Marmorplatten verzierten Unterbau des Pultes legte, umgab dieses gleichsam mit einer Metalldecke, daß es einem mit gestickten Tüchern bedeckten Hauptaltar glich. An einem Ende des Pultes schlummerten auf dem Gasofen die mit Kupferringen umgebenen Porzellanteekessel für Glühwein und Punsch; am anderen Ende war ein sehr hoher, reich verzierter Springbrunnen aus Marmor, aus dem unaufhörlich, fast unbeweglich scheinend, ein Wasserfaden in ein Becken floß; in der Mitte der Platte befand sich ein Becken zum Einkühlen und zum Spülen der Gläser und Flaschen; hier standen die angebrochenen Flaschen mit ihren grünlich schimmernden Hälsen. Ein Heer von Gläsern, in Reihen geordnet, nahm die beiden Seiten ein; kleine Gläschen, für Branntwein bestimmt; die dicken Becher für den Stehtrunk, die Becher für Fruchtsäfte, Absinthgläser, Schoppen, große Stengelgläser, alle umgestürzt, mit dem Boden nach oben, in ihrer Blässe den Schimmer der Platte widerspiegelnd. Links fand sich eine Urne von Neusilber, die auf einem Fuße saß; sie diente als Sammelkasten; rechts starrte eine ähnliche Urne von fächerartig geordneten kleinen Löffeln.

Gewöhnlich thronte Herr Lebigre hinter dem Pulte auf einem mit rotem Leder gepolsterten Bänkchen. So hatte er die Liköre bei der Hand, die Fläschchen von geschliffenem Kristall, die zur Hälfte in den Höhlungen einer Konsole saßen. Sein runder Rücken lehnte an einen riesigen Spiegel, der das ganze Wandfeld einnahm, durchzogen von zwei quer liegenden Glasplatten, auf denen Flaschen und Becher aufgereiht standen. Auf der einen zeigten die Fruchtsäfte, Kirschen-, Pflaumen- und Pfirsichsaft ihre dunklen Farben; auf der andern standen zwischen gleichmäßig geordneten Zwiebackpaketen die helleren Flaschen, die mit ihrem Zartgrün, Zartrot, Zartgelb an unbekannte Liköre, an Blumensäfte von köstlicher Durchsichtigkeit denken ließen. Es schien, als hingen diese Flaschen in der Luft, schimmernd und gleichsam von der großen, weißen Helle des Spiegels durchleuchtet.

Um seinem Lokal das Aussehen eines Kaffeehauses zu geben, hatte Herr Lebigre gegenüber dem Zahlpulte an der Wand zwei Tischchen von gefirnistem Eisenblech und vier Sessel aufstellen lassen. Ein fünfarmiger Kronleuchter mit Kugeln von mattem Glase hing von der Saaldecke herab; links hing oberhalb des in der Mauer angebrachten Schubfensters eine ganz vergoldete Wanduhr. Im Hintergrunde lag das Extrazimmer, abgeteilt durch eine Holzwand mit matten Glasscheiben; tagsüber wurde dieser Raum durch ein auf die Pirouette-Straße gehendes Fenster schwach beleuchtet; des Abends brannte daselbst eine Gasflamme über den zwei Tischen, die einen Anstrich von falschem Marmor hatten. Hier versammelten sich Gavard und seine politischen Freunde jeden Abend nach dem Essen. Sie betrachteten sich da wie zu Hause und hatten den Wirt daran gewöhnt, ihnen diese Plätze vorzubehalten. Wenn der letztgekommene die Glastür geschlossen hatte, fühlten sie sich so wohl behütet, daß sie ganz keck von dem »großen Ausfegen« sprachen. Kein anderer Gast würde gewagt haben, hier einzutreten.

Am ersten Tage lieferte Gavard Florent einige Einzelheiten über Herrn Lebigre. Es sei ein wackerer Mann, der zuweilen seinen Kaffee mit ihnen trinke. Vor ihm tue man sich keinen Zwang an, weil er eines Tages erzählte, daß er im Jahre 1848 »mitgetan« habe. Er spreche übrigens wenig und scheine beschränkt zu sein. Im Vorübergehen reiche ihm vor dem Eintritt in das Extrazimmer jeder der Herren stumm die Hand über die Gläser und Flaschen hinweg. Auf dem Bänkchen von rotem Leder saß meistens ein kleines, blondes weibliches Wesen neben ihm, ein Mädchen, das er zur Bedienung am Schankpult angenommen hatte, außer dem Kellner, der mit einer weißen Schürze an den Tischen und am Billard bediente. Sie hieß Rosa und war sehr sanft und ergeben. Gavard erzählte Florent augenzwinkernd, daß Rosa dem Wirt gegenüber die Ergebenheit sehr weit treibe. Übrigens ließen sich die Herren von Rosa bedienen, die inmitten der stürmischsten politischen Erörterungen mit ihrer sanften und zufriedenen Miene aus und ein ging.

An dem Tage, an dem der Geflügelhändler Florent seinen Freunden vorstellte, fanden sie bei ihrem Eintritt in das Extrazimmer daselbst nur einen Herrn von etwa fünfzig Jahren, mit nachdenklicher, ruhiger Miene, mit einem Hut von zweifelhafter Güte und einem kastanienfarbenen Überrocke. Er saß vor einem vollen Bierschoppen, das Kinn auf den Elfenbeinknopf seines Rohrstockes gestützt; sein Gesicht war von einem großen, dichten Barte bedeckt, in dem sich der Mund völlig verlor.

Wie geht's, Robine? fragte ihn Gavard.

Robine streckte stumm die Hand zum Gruße vor, und ein verschwommenes Lächeln gestaltete den Ausdruck seines Gesichtes noch milder; dann stützte er das Kinn wieder auf den Knopf seines Stockes und betrachtete Florent über den Schoppen hinweg. Dieser hatte Gavard schwören lassen, daß er nichts von seiner Geschichte erzählen werde, um alle gefährlichen Fragen zu vermeiden; es mißfiel ihm nicht, einiges Mißtrauen in der vorsichtigen Haltung dieses bärtigen Herrn zu sehen. Allein er täuschte sich. Robine war stets so wortkarg. Er kam stets als erster, Schlag acht Uhr, setzte sich in dieselbe Ecke, ohne den Stock aus der Hand zu geben, ohne Hut und Überrock abzulegen. Noch niemand hatte Robine unbedeckten Hauptes gesehen. Da saß er, den anderen zuhörend, bis Mitternacht; er brauchte vier Stunden, um seinen Schoppen zu leeren, betrachtete nacheinander die Sprechenden, als ob er mit den Augen zugehört habe. Als Florent später Gavard über Robine befragte, schien der Geflügelhändler ihn sehr hoch zu stellen; es sei ein sehr kluger Mann; ohne sagen zu können, wo er Beweise davon geliefert, gab er ihn für einen der gefürchtetsten Widersacher der Regierung aus. Er hatte in der Dionysiusstraße eine Wohnung inne, die niemand betreten durfte. Der Geflügelhändler erzählte jedoch, er sei einmal dort gewesen; die mit Wachs eingelassenen Dielen seien mit Decken von grüner Leinwand belegt, die Möbel seien durch Hüllen geschützt; auf dem Kamin stehe eine Uhr mit Alabastersäulen. Frau Robine, die er von rückwärts, zwischen zwei Türen gesehen zu haben glaubte, mußte eine sehr vornehme Dame sein, die englische Löckchen trug. Letzteres konnte er allerdings nicht mit Bestimmtheit behaupten. Man wußte nicht, weshalb das Ehepaar Robine in diesem geräuschvollen Geschäftsviertel wohnte; der Mann tat absolut nichts, verbrachte seine Tage man wußte nicht wo, lebte man wußte nicht wovon und erschien jeden Abend gleichsam ermüdet und entzückt von einem Ausfluge auf die Höhen der großen Politik.

Nun, haben Sie die Thronrede gelesen? fragte Gavard, indem er nach einem auf dem Tische liegenden Zeitungsblatte griff.

Robine zuckte mit den Achseln. Jetzt erzitterte die Glastür des Verschlages und ein Buckeliger erschien. Florent erkannte den höckerigen Ausrufer; er hatte jetzt gewaschene Hände, war sauber gekleidet und trug ein großes rotes Halstuch, von dem ein Ende auf seinen Höcker niederhing wie der Zipfel eines Radmantels.

Ah, Logre ist da! rief der Geflügelhändler. Er wird uns sagen, was er von der Thronrede hält. Allein Logre war wütend. Als er seinen Hut und sein Halstuch aufhängte, riß er schier den Rechen herunter. Er setzte sich heftig, schlug mit der Faust auf den Tisch, warf das Zeitungsblatt weg und sagte:

Lese ich denn ihre verdammten Lügen?

Dann brach er los.

Hat man jemals Dienstherren gesehen, die ihre Leute so zum besten halten? Seit zwei Stunden warte ich auf meine Bezahlung. Wir waren unser zehn im Büro. Da hieß es aber: sich aufs Warten verstehen ... Endlich kam Herr Mamoury im Wagen an, sicherlich von irgendeiner Dirne. Diese Geschäftsführer stehlen und schlemmen ... Der S.....l hat mir mein ganzes Geld in kleiner Münze gegeben.

Robine nahm die Klage Logres mit einer leichten Bewegung der Augenlider auf. Der Bucklige fand plötzlich ein Opfer.

Rose! Rose! rief er sich hinausneigend.

Als das Mädchen vor ihm stand, schrie er:

Was schauen Sie mich denn an? Warum bringen Sie mir nicht meinen Mazagran? Kaffee mit Likör.

Gavard bestellte gleichfalls zwei Mazagrans. Rose beeilte sich, die drei Mazagrans zu bringen, immer von den strengen Blicken Logres verfolgt, der die Gläser und die Zuckertäßchen zu prüfen schien. Er trank einen Schluck und besänftigte sich allmählich.

Charvet wird wohl auch mit seiner Geduld zu Ende sein, sagte er nach einer Weile. Er wartet draußen auf Clémence.

Doch schon trat Charvet ein, gefolgt von Clémence. Es war ein großer, knochiger, sorgfältig rasierter Mensch mit schmaler Nase und dünnen Lippen, der in der Vavin-Straße hinter dem Luxemburggarten wohnte. Er gab sich für einen freien Lehrer aus; in der Politik war er Hébertist. Mit seinen langen, rundgeschnittenen Haaren, mit dem weit zurückgeschlagenen Aufschlag seines stark abgetragenen Rockes hielt er viel auf Anstand und gute Sitte und gebrauchte dabei eine Flut von herben Worten und bekundete eine so seltsam stolze Bildung, daß er seine Widersacher gewöhnlich vernichtete. Gavard fürchtete ihn, ohne es zu gestehen. Wenn Charvet nicht dabei war, erklärte er, jener gehe wirklich zu weit. Robine stimmte mit einem Zucken seiner Augenlider allem zu. Logre allein hielt in der Lohnfrage Charvet zuweilen stand. Nichtsdestoweniger blieb Charvet der Despot der Gruppe, weil er der gebieterischste und gebildetste war. Seit mehr als zehn Jahren lebten er und Clémence in ehelicher Gemeinschaft zu genau festgestellten Bedingungen nach einem Vertrage, der von beiden Seiten streng beobachtet wurde. Florent, der die junge Frau mit einigem Erstaunen betrachtete, erinnerte sich endlich, wo er sie gesehen; es war die große Brünette, die in der Markthalle die Tabelle führte, mit lang gestreckten Fingern schreibend, wie ein Fräulein, das Unterricht genossen hat.

Rose folgte den beiden zuletzt Angekommenen auf dem Fuße; sie stellte wortlos einen Schoppen vor Charvet hin und eine Platte vor Clémence, die mit vielem Ernste daran ging, einen Grog zu bereiten, indem sie heißes Wasser auf den Zitronensaft goß, den sie mit einem Löffel zerrieb, dann Zucker und Rum dazu tat, wobei sie genau acht gab, nicht mehr als ein Gläschen voll aus der Flasche zu schütten. Gavard stellte jetzt Florent den Herren vor, besonders Herrn Charvet. Er machte sie miteinander bekannt wie zwei Lehrer, zwei sehr tüchtige Männer, die sich gewiß trefflich verständigen würden. Aber es war augenscheinlich, daß er schon im voraus geschwatzt hatte, denn alle reichten sich die Hände, wobei sie nach Art der Freimaurer einander die Finger fest drückten. Charvet war seinerseits sehr liebenswürdig. Man vermied übrigens jede Anspielung.

Hat Mamoury Sie in kleiner Münze bezahlt? fragte Logre Clémence.

Sie antwortete ja und zog Rollen von Ein- und Zweifrankenstücken hervor, die sie entfaltete. Charvet sah ihr zu und folgte mit den Blicken den Geldrollen, die sie nacheinander wieder einsackte, nachdem sie ihren Inhalt geprüft.

Wir rechnen, sagte er halblaut.

Gewiß, heute abend, flüsterte sie. Es hebt sich gegenseitig auf. Ich habe viermal mit dir gefrühstückt, nicht wahr? Dagegen habe ich dir vorige Woche hundert Sous geliehen.

Florent war erstaunt, dies zu hören und wandte den Kopf weg, um nicht neugierig zu scheinen. Als Clémence die letzte Geldrolle eingesteckt hatte, trank sie einen Schluck Grog, lehnte sich an die Glaswand und hörte ruhig den Männern zu, die von Politik redeten. Gavard hatte das Zeitungsblatt wieder zur Hand genommen und las mit einer Stimme, der er eine komische Farbe zu leihen bemüht war, einzelne Bruchstücke der Thronrede, mit der der Kaiser am Morgen desselben Tages die Kammern eröffnet hatte. Mit diesen offiziellen Redensarten hatte Charvet leichtes Spiel; nicht eine Zeile ließ er bestehen. Eine Redensart ergötzte die Gesellschaft ganz besonders. »Wir haben das Vertrauen, meine Herren, daß es uns, gestützt auf Ihre Weisheit und auf den konservativen Sinn des Landes, gelingen wird, von Tag zu Tag die allgemeine Wohlfahrt zu heben.« Logre deklamierte stehend diese Worte und ahmte die schleimige Stimme des Kaisers sehr gut durch die Nase nach.

Eine saubere Wohlfahrt, bemerkte Charvet; alle Welt verhungert.

Die Geschäfte gehen sehr schlecht, versicherte Gavard.

Was ist denn das: »ein Herr, der sich auf Weisheit stützt?« – fragte Clémence, die sich gern auf die Literaturfreundin ausspielte.

Robine ließ hinter seinem Barte ein leises Kichern vernehmen. Die Unterhaltung wurde lebhafter. Man kam auf den gesetzgebenden Körper zu sprechen, der dabei sehr arg mitgenommen wurde. Logre kam aus dem Zorn nicht mehr heraus; Florent erkannte in ihm den guten Ausrufer aus dem Pavillon für Seefische wieder, der mit vorgestreckter Kinnlade, fest auf die Hacken gestützt wie ein bellender Hund, mit fuchtelnden Armen die Ziffern unter die Menge schleuderte. Gewöhnlich sprach er über Politik mit derselben wütenden Miene, mit der er einen Korb Seezungen zur Versteigerung brachte. Charvet seinerseits ward immer kühler in dem Rauch der Pfeifen und des Gaslichtes, mit dem das enge Kabinett sich füllte; seine Stimme ward trocken und schneidig, wie ein Hackmesser, während Robine sanft mit dem Kopfe wackelte, ohne das Kinn von dem Knopfe seines Stockes zu entfernen. Schließlich kam man infolge einer Bemerkung Gavards auf die Frauen zu sprechen.

Die Frau, erklärte Charvet rundheraus, ist dem Manne gleich und darf darum im Leben ihm keine Last sein. Die Ehe ist einfach eine Gesellschaftsverbindung ... Alles zu gleichen Hälften; ist's nicht so, Clémence?

Gewiß, erwiderte die junge Frau, den Kopf an die Glaswand gelehnt und in die Leere starrend.

Doch Florent sah jetzt den Marktkrämer eintreten, und den starken Alexander, den Freund des Claude Lantier. Diese beiden Männer hatten lange an dem anderen Tische des Wirtshauses gesessen; sie gehörten nicht derselben Gesellschaftsklasse an, wie die Herren im Extrazimmer. Aber die Politik führte sie zusammen. Charvet, in dessen Augen sie das Volk darstellten, belehrte sie sehr energisch, während Gavard als vorurteilsfreier Geschäftsmann mit ihnen anstieß. Alexander war ein froh gesinnter Riese, mit der Miene eines zufriedenen, großen Kindes. Der alternde und verbitterte Lacaille, erschöpft von seinen allabendlichen Wanderungen durch die Straßen von Paris, betrachtete zuweilen mit argwöhnischen Augen die spießbürgerliche Ruhe, die guten Schuhe und den dicken Überrock des Herrn Robine. Lacaille und Alexander ließen sich noch ein frisches Gläschen einschenken, und jetzt, da die Gesellschaft vollständig war, wurde das Gespräch lebhafter als bisher fortgesetzt.

Durch die halb angelehnte Türe des Kabinetts sah Florent wieder Fräulein Saget, die vor dem Schankpulte stand. Sie hatte eine Flasche unter der Schürze hervorgezogen und sah Rose zu, die die Flasche mit einem großen Maß Johannisbeersaft und einem kleinen Maß Branntwein füllte. Dann verschwand die Flasche abermals unter der Schürze; die Hände versteckt haltend plauderte Fräulein Saget eine Weile in dem breiten, hellen Widerschein des Schankpultes gegenüber dem Spiegel, in dem die Likörflaschen und die Becher aussahen wie eine Reihe venezianischer Lampions. Des Abends schimmerte das überheizte Lokal im vollen Glanze all seiner Einrichtungsgegenstände von Metall und Glas. Das alte Mädchen in seinen schwarzen Kleidern bildete einen dunklen Fleck – gleich einem Käfer – in allem grellen Lichte. Als Florent sah, daß sie versuchte, Rose ins Gespräch zu ziehen, vermutete er, daß sie durch die halb offene Tür ihn bemerkt habe. Seitdem er in den Dienst der Hallen eingetreten war, begegnete er ihr auf Schritt und Tritt in den bedeckten Gängen zumeist in Gesellschaft der Frau Lecoeur und der Sarriette; alle drei beobachteten ihn dann verstohlen und schienen sehr erstaunt, ihn in seiner neuen Stellung als Aufseher zu sehen. Rose war ohne Zweifel wortkarg, denn Fräulein Saget kehrte sich einen Augenblick um und schien sich Herrn Lebigre nähern zu wollen, der an einem der Tische mit einem Gaste Karten spielte. Schließlich war es ihr gelungen, sich ganz sachte an die Glaswand des Kabinetts zu stellen; doch da ward sie von Gavard erkannt, der sie verabscheute.

Schließen Sie doch die Türe, Florent, rief er laut. Man kann nicht mehr unter sich sein.

Als Lacaille um Mitternacht sich entfernte, wechselte er mit Herrn Lebigre einige Worte im Flüstertone. Dieser reichte ihm mit einem Händedruck verstohlen vier Fünffrankenstücke und raunte ihm ins Ohr:

Dafür haben Sie morgen zweiundzwanzig Franken zurückzuzahlen; die Person, die das Geld leiht, will es nicht billiger machen ... Vergessen Sie auch nicht, daß Sie drei Tage Karrenmiete schuldig sind. Es muß alles bezahlt werden.

Herr Lebigre wünschte jetzt den Herren gute Nacht; er gehe nun schlafen, sagte er; und er gähnte leicht, wobei er seine großen Zähne zeigte, während Rose ihn mit der Miene einer unterwürfigen Magd betrachtete. Er trieb sie zur Eile an und gebot ihr, das Gaslicht im Kabinett auszulöschen.

Auf dem Fußweg strauchelte Gavard, daß er schier hinfiel. Da er heute seinen witzigen Tag hatte, sagte er:

Alle Wetter! ich bin auch nicht auf Weisheit gestützt.

Man fand dies sehr spaßig und trennte sich. Florent kam öfter in diese Kneipe; er gewöhnte sich an den Glasverschlag, an den schweigsamen Robine, den geräuschvollen Logre, den kühlen Haß Charvets. Wenn er des Nachts heimkehrte, ging er nicht sogleich zu Bette. Er liebte diese Dachstube, diese Jungfernkammer, wo Augustine allerlei mädchenhaften Tand zurückgelassen hatte. Auf dem Kaminsims lagen noch Haarnadeln, Schachteln von vergoldetem Papier, voll mit Knöpfen und Pastillen, aus Büchern ausgeschnittene Bilder, leere Pomadentöpfe, die noch immer nach Jasmin rochen. In dem Schubfache des Tisches – eines schlechten Tisches von weichem Holze – fand er Zwirn, Nähnadeln, ein Gebetbuch neben einem stark abgegriffenen »Traumdeuter«; ein weißes Sommerkleid mit gelben Punkten hing vergessen an einem Nagel, während auf dem Brett, das ihr als Toilettentisch gedient, ein umgestürztes Ölfläschchen einen breiten Fleck zurückgelassen hatte. In dem Schlafzimmer einer Frau zu hausen wäre für Florent peinlich gewesen; allein von dem ganzen Raume, von dem schmalen Eisenbett, von den zwei Strohsesseln, selbst von der grauen Papiertapete stieg ein Geruch von treuherziger Dummheit, der Geruch eines dicken, kindischen Mädchens auf. Er war glücklich ob der Reinlichkeit der Vorhänge, ob der kindischen Spielerei mit den vergoldeten Schachteln und dem Traumbuche, ob der linkischen Koketterie, mit der die Wände bekleckst worden. Dies erfrischte ihn; es führte ihn in die Traumwelt seiner Jugend zurück. Er hätte gewünscht, Augustine mit ihrem kastanienbraunen Haar nicht zu kennen; er hätte glauben mögen, daß er bei einer Schwester sei, einem braven Mädchen, das in den geringsten Dingen die Anmut des erwachenden Weibes um sich her verbreitet.

Des Abends bot es ihm eine große Zerstreuung, sich an das Fenster des Mansardenstübchens zu lehnen. Dieses Fenster war eigentlich ein schmaler Balkon im Hausdache, ein Balkon mit hohem eisernen Geländer, wo Augustine einen Granatenbaum in einem Kübel hegte. Seitdem die Nächte kalt waren, nahm Florent den Granatenbaum des Abends in seine Stube und ließ ihn über Nacht am Fuße des Bettes stehen. Er pflegte einige Minuten am Fenster zu bleiben, sog kräftig die frische Luft ein, die von der Seine kam, über die Häuser der Rivoli-Straße hinweg. Unten konnte er undeutlich die Dächer der Hallen ihre grauen Felder ausdehnen sehen. Sie glichen stillen Seen, in deren Mitte der flüchtige Widerschein irgendeiner Fensterscheibe den Silberschimmer einer Welle tanzen ließ. Weiterhin lagen die Dächer des Fleischpavillons und des Geflügelpavillons in einem noch tieferen Dunkel; sie glichen nur mehr einer Anhäufung von Schatten, die den Horizont zurückdrängten. Er freute sich des großen Stück Himmels, das er vor sich hatte, dieser ungeheuren Ausdehnung der Hallen, die ihn inmitten der engen Gassen von Paris unbestimmt an einen Meeresstrand erinnerten mit dem stillen, schieferfarbenen Wasser einer Bucht, das kaum von dem fernen Rollen der Wogen gekräuselt wird. Hier stand er selbstvergessen und träumte jeden Abend von einer anderen Meeresküste. Es stimmte ihn sehr traurig und sehr froh zugleich, wenn er sich in die Erinnerungen an jene trostlosen acht Jahre versenkte, die er außerhalb Frankreichs verbracht hatte. Dann schloß er fröstelnd das Fenster. Oft, wenn er vor dem Kamin seinen falschen Kragen abknöpfte, beunruhigte ihn die Photographie von August und Augustine; Hand in Hand, mit ihrem matten Lächeln, sahen sie ihm zu, wie er sich entkleidete.

Die ersten Wochen, die Florent im Pavillon für Seefische zubrachte, waren sehr peinlich. Bei der Familie Méhudin war er auf eine offene Feindschaft gestoßen, die ihn mit dem ganzen Markt in Fehde brachte. Die schöne Normännin wollte sich an Lisa rächen, und der Vetter war ein gefundenes Opfer.

Die Méhudine stammten aus Rouen. Die Mutter Louisens erzählte noch, wie sie mit einem Korb voll Aale nach Paris gekommen war. Sie war dann beim Fischhandel geblieben. Sie heiratete daselbst einen Steuerbeamten, der bald starb, ihr zwei kleine Töchter zurücklassend. Ehemals hatte sie dank ihrer frischen Farbe und ihrer breiten Hüften den Zunamen »die schöne Normännin« geführt. Später hatte ihre ältere Tochter diesen Titel geerbt. Heute war sie gesetzt und schlapp und trug ihre fünfundsechzig Jahre als Matrone, der die ewige Feuchtigkeit in der Fischabteilung die Stimme heiser gemacht und die Haut blau gefärbt hatte; bei ihrer sitzenden Lebensweise war sie ungeheuer dick geworden; die mächtige Brust und die immer zunehmende Fettmasse nötigten sie, den Kopf zurückzuneigen. Sie hatte übrigens auf die Mode ihrer Zeit niemals verzichten wollen; sie behielt das Kleid mit dem Rankenmuster, das gelbe Tuch und die Helmhaube der klassischen Fischweiber, auch die laute Stimme, die flinken Bewegungen, die in die Seite gestemmten Fäuste, die Zungengeläufigkeit mit der vollen Kenntnis des Fischmarktkatechismus. Ihr tat es leid um den Innocenz-Markt; sie sprach von den ehemaligen Rechten der Hallendamen und mengte in ihre Geschichten von den Faustschlägen, die mit Polizeiinspektoren gewechselt wurden, Erzählungen von Besuchen bei Hofe, zur Zeit Karls X. und Louis-Philipps, im Seidenkleide und mit großen Blumensträußen in der Hand. Die Mutter Méhudin, wie man sie nannte, war zu Saint-Leu lange Zeit die Fahnenträgerin des frommen Vereins von der heiligen Jungfrau gewesen. Bei den Umzügen und in der Kirche trug sie ein weißes Kleid und eine ebensolche Haube mit Seidenbändern und hielt mit ihren fetten Fingern die vergoldete Stange der reichbefransten Seidenfahne mit dem gestickten Muttergottesbilde sehr hoch.

Man erzählte sich im Stadtviertel, die Mutter Méhudin habe viel Vermögen erworben. Man sah es ihr nicht an, höchstens an dem massiven Geschmeide, mit dem sie an Festtagen Hals und Arme schmückte. Später konnten ihre zwei Töchter sich nicht miteinander vertragen. Die jüngere, Claire, eine träge Blonde, klagte über die Roheiten Louisens und sagte mit ihrer schleppenden Stimme, sie werde niemals die Magd ihrer Schwester sein. Da sie schließlich gerauft haben würden, trennte sie ihre Mutter. Sie überließ Louisen ihren Verkaufsstand in der Abteilung für Seefische. Claire, die vom Rochen- und Heringsgeruch hustete, begann einen Handel mit Süßwasserfischen. Obgleich sie geschworen hatte, sich zurückzuziehen, ging die Mutter von der einen zur anderen, mengte sich in den Verkauf und verursachte ihren Töchtern viel Verdruß durch ihre schmutzigen Frechheiten.

Claire war ein phantastisches Geschöpf, sehr sanft und doch stets im Streite. Sie handelte immer nur nach ihrem Kopfe, sagte man. Mit ihren träumerischen, keuschen Gesichte hatte sie einen stummen Eigensinn, einen Geist der Unabhängigkeit, der sie dazu trieb, für sich allein zu leben; sie nahm nichts so auf wie die anderen, war an einem Tage von einer unbeugsamen Rechtlichkeit, am anderen Tage von einer empörenden Ungerechtigkeit. Oft brachte sie den ganzen Markt dadurch in Aufruhr, daß sie ohne erklärlichen Grund die Preise erhöhte oder verringerte. Ihre angeborne Feinheit, ihre zarte Haut, die das Wasser der Fischbehälter immer frisch erhielt, ihr kleines Gesicht von verschwommener Zeichnung, ihre geschmeidigen Glieder mußten, wenn sie sich einmal den Dreißigern näherte, schwerfällig werden und in die Breite gehen. Allein mit zweiundzwanzig Jahren war sie eine Madonna von Murillo inmitten ihrer Karpfen und Aale, wie Claude Lantier oft sagte, ein Murillo, der oft mit struppigem Haar erschien, mit plumpen Schuhen und mit Kleidern, die wie mit der Hacke zugeschnitten waren und sie kleideten wie ein Brett. Sie war gar nicht eitel und zeigte oft große Verachtung, wenn Louise, mit ihren Bandschleifen Staat machend, sie wegen ihres schief geknüpften Busentuchs neckte. Man sagte, daß der Sohn eines reichen Kaufmanns aus dem Stadtviertel in der Welt herumreiste aus Wut darüber, daß er von ihr kein freundliches Wort hatte erlangen können.

Louise, die schöne Normännin, hatte sich zärtlicher gezeigt; ihre Heirat mit einem Angestellten der Kornhalle war eine abgemachte Sache, als ein stürzender Mehlsack den jungen Mann erschlug. Nichtsdestoweniger genas sie sieben Monate später eines kräftigen Knaben. In der Umgebung der Méhudin betrachtete man die schöne Normännin als Witwe. Die alte Fischhändlerin pflegte zu sagen: »Als mein Schwiegersohn noch lebte ...«

Die Méhudin waren eine Macht. Als Herr Verlaque Florent in seine neuen Obliegenheiten völlig eingeführt hatte, empfahl er ihm, gewisse Händlerinnen mit Rücksicht zu behandeln, wenn er sich das Leben nicht unmöglich machen wolle. Er trieb die Teilnahme so weit, daß er ihn in die kleinen Geheimnisse des Amtes einweihte, wie man da ein Auge zudrücken, dort eine gewisse Strenge heucheln müsse, und welches die kleinen Geschenke seien, die man annehmen dürfe. Ein Aufseher ist gleichzeitig ein Polizeikommissar und ein Friedensrichter, der auf dem Markte die Ordnung und den Anstand aufrecht erhält und die kleinen Streitigkeiten zwischen Käufern und Verkäufern schlichtet. Florent, der von schwachem Charakter war, wurde überstreng und schoß über das Ziel, so oft er sein amtliches Ansehen geltend machen sollte; die Bitterkeit, die seine langen Leiden in ihm zurückgelassen und sein finsteres Pariagesicht waren ein Nachteil mehr für ihn.

Die Taktik der schönen Normännin war die, einen Streit mit ihm anzufangen. Sie hatte geschworen, daß er seinen Platz nicht zwei Wochen behalten dürfe.

Ei, sagte sie eines Morgens zu Frau Lecoeur, der sie begegnete, – glaubt etwa die schöne Lisa, uns aufhalsen zu können, was sie stehen gelassen? ... Wir haben einen besseren Geschmack als sie ... Ihr Schatz ist abscheulich!

Wenn Florent nach der Versteigerung seinen Rundgang durch die überschwemmten Gänge machte, sah er sehr wohl die schöne Normännin, die mit einem frechen Lachen ihm nachblickte. Ihr Verkaufstisch in der zweiten Reihe links, in der Nähe der Süßwasserfische, stand der Rambuteau-Straße gegenüber. Sie verfolgte ihr Opfer mit den Augen und machte sich mit ihren Nachbarinnen über ihn lustig. Wenn er mit langsamen Schritten, gleichsam die Pflastersteine zählend, an ihr vorüberkam, tat sie ungeheuer lustig, schlug auf die Fische, sperrte den Wasserhahn weit auf und überschwemmte den Gang mit Wasser. Florent aber blieb unempfindlich.

Allein eines Morgens brach fatalerweise der Krieg aus.

Als an jenem Tage Florent sich dem Verkaufstische der schönen Normännin näherte, verspürte er einen unerträglichen Mißduft. Auf der Marmorplatte lag ein prächtiger Lachs, schon angeschnitten, und zeigte die zartrote Farbe seines Fleisches; ferner waren da Steinbutten weiß wie Sahne, Meeraale, mit schwarzen Nadeln durchstochen, die die Schnitte bezeichneten, Seezungenpaare, Rotfedern, Barben, eine ganze Sammlung frischer Fische. Inmitten dieser Fische mit lebendigen Augen und noch blutenden Kiemen lag ein großer, rötlicher Rochen, schwarz gefleckt, in allerlei seltsamen Farbenmischungen schillernd; der große Rochen war faul, der Schwanz hing schlaff herab, die Fischbeine der Flossen durchstachen die steife Haut.

Der Rochen muß weggeworfen werden, sagte Florent näher tretend.

Die schöne Normännin kicherte. Er blickte auf und sah sie, wie sie an den bronzenen Pfahl der zwei Gaslaternen gelehnt stand, die die vier Plätze einer jeden Fischbank beleuchten. Sie schien ihm sehr groß, weil sie auf einer Kiste stand, um ihre Füße vor Nässe zu schützen. Sie spitzte die Lippen, war noch schöner als sonst; das mit Löckchen gezierte Haupt war ein wenig gesenkt, die allzu roten Hände steckten in den Öffnungen der schneeweißen Wollschürze. Noch niemals hatte er so viel Geschmeide an ihr gesehen; sie trug lange Ohrgehänge, eine Halskette, eine Brustnadel, ganze Reihen von Ringen an zwei Fingern der Linken und an einem Finger der Rechten.

Als sie fortfuhr, ihn von unten nach oben zu betrachten, ohne zu antworten, wiederholte er.

Hören Sie? Der Rochen muß weg!

Er hatte die Mutter Méhudin nicht bemerkt, die in einem Winkel auf einem Sessel saß. Sie erhob sich mit ihrer doppelzipfeligen Sturmhaube, stemmte die Fäuste auf den Tisch und sagte in frechem Tone:

Schau, schau! Warum sollte sie den Rochen wegwerfen? ... Sie werden ihn doch nicht bezahlen! ...

Florent begriff. Die anderen Fischweiber grinsten höhnisch. Er fühlte, daß es eine geheime Empörung wider ihn gebe, die nur eines Losungswortes harrte, um loszubrechen. Er hielt an sich, zog unter der Bank den Spülichtkübel hervor und warf den Fisch hinein. Schon stemmte die Mutter Méhudin die Fäuste in die Seiten; allein die schöne Normännin schwieg und ließ nur ein boshaftes Kichern vernehmen; Florent ging weiter und tat, als höre er das Gejohle nicht, das ihn verfolgte.

Jeden Tag wurde etwas Neues gegen den Aufseher ausgeheckt. Er konnte nur mehr mit mißtrauisch wachsamen Blicken durch die Gänge gehen, als sei er in Feindesland. Wurden die Schwämme ausgespritzt, so bekam er davon weg; jeden Augenblick strauchelte er über Abfälle, die Träger stießen ihn mit ihren Körben in den Nacken. Als eines Morgens zwei Fischweiber miteinander in Streit geraten waren und er herbeieilte, um Frieden zwischen ihnen zu stiften, mußte er sich rasch bücken, um nicht eine Handvoll Klieschen ins Gesicht zu bekommen, die nach ihm geschleudert wurden. Es wurde darüber viel gelacht und er glaubte immer, daß die beiden Fischweiber mit den Méhudin im Einverständnis gewesen. In seinem ehemaligen Beruf als armer Lehrer hatte er gelernt, sich mit engelhafter Geduld zu wappnen. Er wußte volle Kaltblütigkeit zu bewahren, während der Zorn in ihm aufstieg und das Herz ihm vor Erniedrigung blutete. Doch niemals hatten die Gassenbuben der Wipp-Straße die Grausamkeit der Hallendamen gehabt, jene Verbissenheit der schmerbäuchigen Weiber, deren ungeheure Brüste vor Freude hüpften, wenn es ihnen gelungen war, ihn in eine ihrer Fallen zu locken. Die roten Gesichter musterten ihn frech. In dem gemeinen Tonfall ihrer Stimmen, in den hohen Hüften, in den aufgeblähten Hälsen, in dem Wiegen der Schenkel, in den Bewegungen der Hände sah er eine Flut von Schimpfworten, die ihm galten. Gavard würde inmitten dieser schamlosen und stark duftenden Frauenröcke sich sehr behaglich befunden und nach rechts und links Hiebe auf die Hinterbacken ausgeteilt haben, um sich aus dem Gedränge loszumachen. Florent, den die Frauen stets einschüchterten, fühlte sich allmählich verloren in einem wüsten Gedränge von Dirnen mit riesigen Gliedmaßen, die ihn in einem tollen Reigen umtanzten, mit ihren heiseren Stimmen und ihren dicken, nackten Armen wie von Ringkämpferinnen.

Unter diesen bösen Weibern hatte er indes eine Freundin. Claire sagte rundheraus, der neue Aufseher sei ein wackerer Mann. Wenn er, verfolgt, von den gröblichen Beleidigungen ihrer Nachbarinnen, an ihr vorüberging, lächelte sie ihm zu. Mit ihrem Blondhaar, das lose auf Nacken und Schläfen herabfiel, und ihrem verkehrt zugenestelten Kleide saß sie in nachlässiger Haltung hinter ihrer Fischbank. Noch öfter sah er sie an ihren Fischbehältern hantieren, den Fischen frisches Wasser geben, mit Wohlgefallen die kleinen Delphine von Kupfer umdrehend, die einen Wasserstrahl aus dem Rachen schleudern. Diese Flut verlieh ihr die zarte Anmut einer Badenden am Rande einer Quelle mit noch unvollständig angelegten Kleidern.

Eines Morgens war sie ganz besonders liebenswürdig. Sie rief den Aufseher herbei, um ihm einen großen Aal zu zeigen, der bei der Versteigerung die Bewunderung des ganzen Marktes hervorgerufen hatte. Sie schlug den Deckel von dem Becken zurück, auf dessen Grunde der Aal zu schlafen schien.

Warten Sie, Sie sollen ihn sehen, sprach sie.

Sie fuhr sachte mit dem nackten Arme ins Wasser, einem etwas mageren Arme, dessen seidenweiche Haut die blauen Adern durchscheinen ließ. Als der Aal sich berührt fühlte, rollte er sich schnell ein und füllte so den schmalen Behälter mit seinen schwärzlich-grünen Ringen. Als das Tier wieder einschlummerte, machte Claire sich von neuem den Spaß, es mit der Spitze ihrer Fingernägel zu reizen.

Der Aal ist riesig, ich habe selten einen so schönen gesehen, glaubte Florent sagen zu sollen.

Da gestand sie ihm, daß sie anfänglich Furcht vor den Aalen gehabt habe. Jetzt wisse sie schon, wie man die Hand zusammenzupressen habe, damit sie nicht durchschlüpfen. Und sie faßte einen kleineren, der beiseite lag. Der Aal krümmte sich in ihrer fest geschlossenen Faust; sie lachte darüber. Dann warf sie ihn zurück, nahm einen anderen und scheuchte mit ihren dünnen Fingern einen ganzen Knäuel dieser schlangenförmigen Tiere auf.

Dann plauderte sie eine Weile von den schlechten Geschäften. Die Händler, die auf dem Pflaster der gedeckten Gänge ihre Waren feilbieten, fügten ihnen großen Schaden zu. Ihr nackter Arm, den sie nicht abgetrocknet hatte, triefte vom frischen Wasser. Von jedem Finger fielen schwere Tropfen herab.

Ach, sagte sie plötzlich, ich muß Ihnen doch auch meine Karpfen zeigen!

Sie schlug einen dritten Deckel zurück und zog mit beiden Händen einen Karpfen heraus, der den Rachen aufriß und heftig mit dem Schwanze schlug. Jetzt nahm sie einen kleineren hervor, den sie mit einer Hand halten konnte; sie machte sich den Spaß, einen Daumen dem Fisch ins Maul zu stecken.

Der beißt nicht, die Karpfen sind nicht schlimm, sagte sie mit einem sanften Lächeln. Auch die Krebse fürchte ich nicht.

Sie fuhr mit dem Arm in einen Behälter, wo es ein verworrenes Gewühl gab, und holte daraus einen Krebs hervor, der ihren kleinen Finger mit seinen Scheren gepackt hatte. Sie schüttelte die Hand ein wenig; allein der Krebs preßte ohne Zweifel sehr heftig, denn sie ward ganz rot; dann schlug sie ihm mit einer zornigen Bewegung, aber immer noch lächelnd, die Füße entzwei.

Einen Hecht würde ich nicht trauen, sagte sie, um ihre Aufregung zu verbergen; er würde mir die Finger wegschneiden, glatt wie mit einem Messer.

Und sie zeigte auf einem Brett von peinlicher Sauberkeit eine Reihe von Hechten, die nach ihrer Größe ausgelegt waren, neben bronzefarbenen Schleien und kleinen Häuflein von Gründlingen. Ihre Hände glänzten jetzt vom Fett der Karpfen und sie hielt sie vom Körper ab, vor ihren Fischbehältern aufrecht stehend. Sie war gleichsam eingehüllt in einen Geruch von Fischlaich, in einen jener schweren Gerüche, wie sie aus dem Röhricht und von den Sumpfpflanzen aufsteigen, wenn die Brut die Bäuche der Fische schier zum Bersten bringt. Lächelnd und mit der ruhigen Miene eines fischblütigen Mädchens wischte sie sich die Hände in ihrer Schürze ab.

Diese Teilnahme Claires war für Florent nur ein geringer Trost. Wenn er stehen blieb, um mit dem Mädchen eine Weile zu plaudern, zog ihm dies nur noch schmutzigere Neckereien zu. Claire zuckte dann mit den Achseln und sagte, ihre Mutter sei eine alte Gaunerin und ihre Schwester eine Nichtsnutzige. Die Ungerechtigkeit des Marktes gegen den Aufseher erfüllte sie mit Zorn. Die Fehde verschlimmerte sich aber von Tag zu Tag. Florent dachte schon daran, seine Stelle aufzugeben; nicht vierundzwanzig Stunden wäre er da geblieben, hätte er nicht gefürchtet, vor Lisa feig zu erscheinen. Er war besorgt darüber, was sie sagen, was sie denken werde. Sie war auf dem laufenden über den schweren Kampf zwischen den Fischweibern und ihrem Inspektor, denn die Hallen waren voll von diesem Kampfe und jeder neue Streit wurde im Stadtviertel endlos besprochen.

Ich würde ihnen schon die Köpfe zurechtsetzen, pflegte sie des Abends nach dem Essen zu sagen. Es sind lauter Weiber, die ich nicht mit dem Finger berühren möchte.

Ein schmutziges Pack! Diese Normännin ist die letzte unter den letzten! ... Ich würde sie beugen; die Autorität allein gilt; verstehen Sie, Florent? Ihre Art, die Dinge aufzufassen, ist nicht die richtige. Zeigen Sie Ihre Krallen, und Sie sollen sehen, wie alle zu Kreuze kriechen.

Der letzte Auftritt war furchtbar.

Eines Morgens kam die Magd der Bäckerin Frau Taboureau auf den Fischmarkt und suchte einen Steinbutt. Die schöne Normännin, die sie seit einigen Minuten um ihren Tisch die Runde machen sah, winkte ihr freundlich zu.

Kommen Sie doch näher, ich will Sie befriedigen ... Wollen Sie ein Paar Seezungen oder einen schönen Steinbutt?

Als sie näher trat und nach einem Steinbutt suchte mit der zögernden Miene, die die Käuferinnen annehmen, um weniger zahlen zu müssen, fuhr die schöne Normännin fort:

Wiegen Sie 'mal den Fisch!

Dabei legte sie ihr einen Steinbutt in die offene Hand, der in ein Stück groben, gelben Papiers gewickelt war.

Die Magd, eine kleine, schwächliche Auvergnatin, wog den Fisch in der Hand, öffnete ihm die Kiemen und fragte, noch immer mit mürrischer Miene:

Wie teuer?

Fünfzehn Franken, erwiderte die Fischhändlerin.

Da legte die Magd den Fisch schnell wieder auf den Tisch hin und wandte sich zum Gehen. Doch die schöne Normännin hielt sie zurück.

Bieten Sie nur!

Nein, das ist zu teuer.

Bieten Sie immerhin!

Acht Franken, wenn Sie wollen.

Die Mutter Méhudin, die aus ihrem Schlummer aufzuwachen schien, lachte in einer beunruhigenden Weise. – Die Leute glauben rein, daß man die Waren stiehlt, meinte sie. – Acht Franken für einen Steinbutt von dieser Größe! Man wird dir einen geben, Kleine, um dir in der Nacht die Haut zu kühlen. Die schöne Normännin wandte sich beleidigt ab. Doch die Magd kam zweimal zurück, bot neun Franken und ging bis zu zehn Franken. Als sie sich ernstlich anschickte fortzugehen, rief ihr die Fischhändlerin zu:

Kommen Sie her, geben Sie das Geld!

Die Magd trat vor die Bank hin und begann mit der Frau Méhudin freundlich zu plaudern. Frau Taboureau sei so schwer zufrieden zu stellen. Sie habe abends Gäste zu Tische, Verwandte aus Blois, einen Notar mit seiner Frau. Frau Taboureau stamme aus einer sehr anständigen Familie; sie selbst, obgleich nur eine Bäckersfrau, habe eine sehr schöne Erziehung erhalten.

Weiden Sie den Fisch gut aus, sagte sie, im Gespräch sich unterbrechend.

Die schöne Normännin hatte mit einem Griff den Fisch ausgeweidet und die Abfälle in den Kübel geworfen. Sie fuhr mit einem Zipfel ihrer Schürze unter die Kiemen, um einige Sandkörner wegzuwischen, dann legte sie den Fisch in den Korb der Auvergnatin und sagte:

Da, mein schönes Kind; Sie werden mich loben.

Allein nach einer Viertelstunde kam die Magd wieder gelaufen. Sie war ganz rot, denn sie hatte geweint, und ihre ganze kleine Person zitterte vor Zorn. Sie warf den Steinbutt auf den Tisch und zeigte einen breiten Riß an der Bauchseite, der bis zu den Gräten reichte. Aus ihrer durch das Schluchzen zusammengepreßten Kehle sprudelte eine Flut abgehackter Worte hervor.

Frau Taboureau will den Fisch nicht. Sie sagt, sie könne ihn nicht auf den Tisch bringen. Und sie hat mir wieder gesagt, ich sei eine Gans und ließe mich von aller Welt bestehlen. Sie sehen ja, daß der Fisch ganz zerschunden ist. Ich habe ihn nicht umgekehrt, weil ich Vertrauen hatte ... Geben Sie mir meine zehn Franken zurück.

Man sieht sich die Ware an, antwortete ruhig die schöne Normännin.

Als die andere nun noch lauter ihr Geld zurückforderte, erhob sich auch Frau Méhudin.

Lassen Sie uns in Frieden, hören Sie! Man nimmt einen Fisch nicht zurück, der bei den Leuten herumgelegen. Kann man wissen, wo Sie ihn fallen ließen, daß er in einen solchen Zustand geraten?

Ich? Ich?

Die Kleine drohte zu ersticken. Dann brach sie in ein Schluchzen aus und rief:

Ihr seid zwei Diebinnen! Frau Taboureau hatte es mir wohl gesagt!

Was nun folgte, war fürchterlich. Mutter und Tochter machten mit erhobenen Fäusten ihrem Zorne Luft. Die kleine, erschreckte Magd, ein Spielball zwischen der Alten mit ihrer heiseren Stimme und der Jungen mit der Pickelflötenstimme, weinte noch heftiger.

Fahr' ab! Deine Frau Taboureau ist weniger frisch, als dieser Fisch; man müßte sie ausflicken, um sie jemandem vorzusetzen.

Einen ganzen Fisch für zehn Franken! ... Danke schön; das gibt's bei mir nicht!

Und was kosten denn deine Ohrgehänge? Man sieht wohl, daß du sie auf dem Rücken verdienst.

Ei freilich; sie macht des Abends einen kleinen Spaziergang auf dem Bürgersteig.

Florent, vom Marktwächter herbei geholt, kam hinzu, als der Streit am schlimmsten wütete. Der ganze Pavillon war in hellem Aufruhr. Die Fischweiber, die einander vor Neid verschlingen möchten, wenn es sich darum handelt, einen Hering für zwei Sous zu verkaufen, verständigen sich vortrefflich, wenn es gilt, eine Käuferin zu bekämpfen. Sie sangen: »Die Bäckerin hat Taler viel, doch tut sie nichts dafür ...«; sie stampften mit den Füßen, reizten die Méhudin noch mehr auf; einige sprangen hervor, als wollten sie der kleinen Magd in die Haare fahren, die in dieser Flut von Beschimpfungen schier unterging.

Geben Sie dem Mädchen die zehn Franken wieder, sagte Florent, als er von der Sachlage unterrichtet war.

Doch die Mutter Méhudin war nun einmal im Zuge.

Du, mein Kleiner, ich will dir eins pf....n! Da, so gebe ich die zehn Franken zurück!

Und sie schleuderte den Fisch der Auvergnatin ins Angesicht, daß sogleich das Blut aus der Nase der Magd hervorquoll. Der Fisch fiel mit einem dumpfen Klatsch zu Boden. Diese Roheit brachte Florent außer sich. Die schöne Normännin wich erschreckt zurück, während er schrie:

Ich weise Sie für acht Tage aus und werde Ihnen die Marktbefugnis entziehen lassen. Hören Sie?

Als er hinter sich ein Gejohle hörte, wandte er sich mit so drohender Miene um, daß die eingeschüchterten Fischweiber ganz still wurden. Als die Méhudin die zehn Franken zurückgegeben hatten, gebot er ihnen, augenblicklich den Verkauf einzustellen. Die Alte erstickte schier vor Wut; die Tochter war bleich und stumm. Sie, die schöne Normännin, von ihrer Fischbank verjagt! Claire sagte mit ihrer ruhigen Stimme, daß ihr recht geschehen sei. Darob gerieten die beiden Schwestern des Abends, in ihrer Wohnung, einander in die Haare. Als nach Verlauf von acht Tagen die Méhudin wieder auf dem Markte erschienen, beobachteten sie eine ruhige, still grollende Haltung. Auch die anderen im Pavillon waren ruhig; die Ordnung war wieder eingekehrt. Die schöne Normännin nährte seit jenem Tage sicherlich furchtbare Rachegedanken. Sie merkte, daß der Schlag von der schönen Lisa komme; sie war ihr am Tage nach der Schlacht begegnet, und jene hatte den Kopf so hoch getragen, daß die Fischhändlerin sich im stillen schwor, die Metzgersfrau solle den triumphierenden Blick teuer bezahlen. Es gab in den Winkeln der Hallen endlose Beratungen mit Fräulein Saget, Madame Lecoeur und der Sarriette; allein nach all dem ungeheuerlichen Geträtsch über die Ausschweifungen Lisas mit dem Vetter und über die Haare, die man in den Würsten Quenus finde, fühlte die Fischhändlerin sich wenig erleichtert. Sie suchte nach etwas sehr Boshaftem, was ihre Feindin im Herzen treffen sollte.

Ihr Kind wuchs auf dem Fischmarkte frei heran. Schon mit drei Jahren saß es mitten unter den Fischen. Es schlief brüderlich an der Seite der großen Tunfische und erwachte unter den Makrelen und Schellfischen. Der Balg roch so übel, als komme er aus dem Bauche eines großen Fisches. Sein Lieblingsspiel blieb lange, aus Heringen Mauern und Häuser aufzuführen, sobald seine Mutter ihm den Rücken zugewandt; er spielte auch Krieg auf dem blanken Auslagetische, indem er daselbst Seehähne aufreihte, sie gegeneinander stieß, ihre Köpfe zusammenschlug, mit dem Maul Trompete und Trommel nachahmte und schließlich die Fische in einen Haufen zusammenwarf, indem er sagte, sie seien tot. Später trieb er sich um seine Tante Claire herum, um die Blasen der Karpfen und Hechte zu bekommen, die sie ausweidete; er legte die Blasen zur Erde und trat mit dem Fuße darauf, daß sie platzten, was ihm eine ungeheure Freude machte. Mit sieben Jahren trieb er sich in den Gängen herum, kroch unter die Fischkästen, war der verhätschelte Laufbursch der Fischweiber. Wenn sie ihm irgendeinen neuen Gegenstand zeigten, der ihm gefiel, da legte er die Hände zusammen und stammelte entzückt: »Oh, das ist fein!« Und so war ihm der Name Feinchen geblieben; Feinchen hier, Feinchen dort. Alle riefen ihn heran. Man fand ihn überall, hinter den Ausrufpulten, in den Fischkörben, zwischen den Spülichtkübeln. Er war wie ein junger Bartfisch, rosig und weiß, munter und glatt, den man ins Wasser hat schlüpfen lassen. Er liebte auch das Wasser wie ein Fischlein. Er watete in den Lachen herum, ließ das Wasser von den Verkaufspulten sich auf den Kopf träufeln. Oft öffnete er verstohlen einen Wasserhahn und war glücklich, wenn er den Strahl plätschern hörte. Des Abends fand ihn seine Mutter zumeist bei den Brunnen oberhalb der Kellertreppe; mit blauen Händen, naß bis in die Schuhe und Taschen brachte sie ihn nach Hause.

Mit sieben Jahren war Feinchen schön wie ein Engel und roh wie ein Kutscher. Er hatte krauses, kastanienbraunes Haar, schöne, sanfte Augen, einen fein gezeichneten Mund, aus dem Flüche und Lästerworte hervorkamen, die einen Gendarm erröten machen konnten. Im Unflat der Hallen heranwachsend, stammelte er den Katechismus der Fischweiber nach, stemmte eine Faust in die Hüfte und ahmte Mama Méhudin nach, wenn sie in Zorn war. Mit seiner silberhellen Stimme eines Chorknaben sagte er Worte wie die folgenden: »Nichtsnutz!« – »Metze!« »Geh' deinen Mann schneuzen!« »Was zahlt man dir für deine Haut?« Dabei ahmte er den schnarrenden Ton der Marktweiber nach und wälzte seine unschuldvolle Kindheit im Schlamme. Die Fischhändlerinnen lachten darüber, daß ihnen die Tränen über die Backen rannen. Dadurch ermutigt, redete der Knabe nicht zwei Worte mehr, ohne einen Fluch hinzuzufügen. Aber er blieb liebenswürdig, seiner Unflätigkeiten unbewußt, gesund erhalten durch den frischen Hauch und die starken Gerüche des Fischmarktes, seine schlüpfrigen Schmähungen mit entzückter Miene hersagend, als spreche er seine Gebete.

Der Winter kam. Feinchen fror stark dieses Jahr. Gleich in den ersten kalten Tagen ward er von großer Neugierde für das Büro des Aufsehers ergriffen. Das Büro Florents lag an der linken Ecke des Pavillons nach der Seite der Rambuteau-Straße. Es war mit einem Tische, einem Kasten für die Schriftstücke, einem Sessel, zwei Stühlen und einem Ofen ausgestattet. Feinchen träumte nur von diesem Ofen. Florent liebte die Kinder. Wenn er das Kind mit den durchnäßten Füßen sah, wie es durch die Glastüre schaute, hieß er es eintreten. Die erste Unterredung mit Feinchen setzte ihn in großes Erstaunen. Das Kind hatte sich zum Ofen gesetzt und sagte mit seiner ruhigen Stimme:

Ich will mir ein wenig die Kegel rösten ... Du begreifst? Es ist verflucht kalt!

Dann fügte er mit seinem hellen Lachen hinzu:

Meine Tante Claire sieht aber heute gespitzt aus! ... Sag', Herr: ist es wahr, daß du ihr des Nachts die Füße wärmst?

Florent war verdutzt über diese Reden und faßte ein eigentümliches Interesse für diesen Knaben. Die schöne Normännin verharrte in ihrer grollenden Haltung und ließ ihr Kind zu ihm gehen, ohne ein Wort zu sagen. Da hielt sich Florent für ermächtigt, ihn bei sich zu sehen; er rief ihn jeden Nachmittag und kam allmählich auf den Gedanken, einen vernünftigen Jungen aus ihm zu machen. Ihm war, als werde sein Bruder Quenu wieder klein, und als träfen sie sich noch jeden Abend in der großen Stube der Royer-Collard-Straße. Seine Freude, sein geheimer Traum von Hingebung war: stets in Gesellschaft eines jungen Wesens zu leben, das nicht wachsen würde, das er immerfort unterrichten, in dessen Unschuld er die Menschen lieben würde. Am dritten Tage brachte er ein Alphabet mit. Feinchen entzückte ihn durch seine Klugheit. Er erlernte die Buchstaben mit der Aufgewecktheit des Pariser Gassenjungen. Die Bilder des Lesebuches ergötzten ihn außerordentlich. Nach dem Unterricht hielt er sich lange in dem Büro des Aufsehers auf. Der Ofen blieb sein guter Freund, ein Gegenstand endloser Freuden. Anfänglich briet er da Kartoffeln und Kastanien; doch das wurde ihm bald langweilig. Er stahl seiner Tante Claire Gründlinge, die er einzeln vor der glühenden Öffnung des Ofens briet und dann ohne Brot, mit Wonne aß. Eines Tages brachte er sogar einen Karpfen; aber der Fisch wollte nicht gar werden und verpestete das Büro dermaßen, daß man Türe und Fenster öffnen mußte. Wenn der Gestank allzu arg wurde, warf Florent die Fische auf die Straße; aber zumeist lachte er nur. Nach Verlauf von zwei Monaten konnte Feinchen geläufig lesen, und seine Schreibhefte waren sehr sauber.

Des Abends schwatzte der Junge seiner Mutter den Kopf voll von seinem guten Freunde Florent. Der gute Freund Florent habe Bäume gezeichnet und Menschen, die in Hütten wohnen. Der gute Freund Florent pflege zu sagen, die Menschen seien besser, wenn alle lesen könnten. So ward die schöne Normännin immer mehr mit dem Manne bekannt, den sie am liebsten erdrosselt hätte. Einmal sperrte sie Feinchen einen ganzen Tag über zu Hause ein, damit er nicht zu dem Aufseher gehen könne; allein der Junge weinte dermaßen, daß man ihn am nächsten Tage freilassen mußte. Trotz ihrer Keckheit und ihrer dreisten Miene war sie sehr schwach. Wenn der Knabe ihr erzählte, daß er es gut warm gehabt, und wenn er mit getrockneten Kleidern zurückkam, empfand sie eine gewisse Dankbarkeit, ein Gefühl der Zufriedenheit, ihn in guter Hut, die Beinchen vor dem Feuer zu wissen. Später war sie sehr gerührt, wenn er ein Zeitungsblatt, in das eine Schnitte Meeraal gewickelt war, vor ihr ablesen konnte. So kam sie allmählich auf den Gedanken, ohne es zu sagen, daß Florent vielleicht kein schlechter Mensch sei; sie empfand vor seiner Bildung Achtung, gepaart mit einer steigenden Neugierde, ihn in der Nähe zu sehen, sein Leben kennen zu lernen. Dann ersann sie plötzlich einen Vorwand und redete sich ein, daß sie ihre Rache gefunden habe: sie mußte liebenswürdig mit dem Vetter sein und ihn mit der schönen Lisa entzweien; das sei noch spaßiger.

Spricht dein guter Freund Florent nicht von mir? fragte sie eines Tages Feinchen, während sie ihn ankleidete.

O nein! antwortete das Kind; wir unterhalten uns.

Nun wohl, sage ihm, daß ich ihm nicht mehr grolle und ihm dafür danke, daß er dich lesen lehrt.

Seither hatte das Kind jeden Tag einen Auftrag. Er ging von seiner Mutter zum Aufseher und vom Aufseher zu seiner Mutter und überbrachte freundliche Worte, Fragen und Antworten, die er wiederholte, ohne die Sache zu begreifen. Man hätte ihn die ungeheuerlichsten Dinge hersagen lassen können. Allein die schöne Normännin fürchtete, scheu zu scheinen, und so kam sie eines Tages mit und setzte sich auf den zweiten Stuhl, während Feinchen seine Schreibstunde hatte. Sie war sehr sanft und sehr freundlich. Florent war sehr verlegen. Sie sprachen nur von dem Kinde. Da er die Besorgnis ausdrückte, daß es ihm nicht möglich sein werde, den Unterricht in seinem Büro fortzusetzen, lud sie ihn ein, er möge des Abends zu ihnen kommen. Dann sprach sie von Geld; er errötete und sagte, er werde nicht kommen, wenn davon die Rede sei. Da versprach sie, ihm seine Mühe mit Geschenken, mit schönen Fischen zu vergelten.

Man schloß Frieden. Die schöne Normännin nahm Florent sogar unter ihren Schutz. Man ließ sich schließlich den Aufseher gefallen, und die Fischweiber fanden, daß er trotz seiner schlechten Augen ein strammerer Mann sei als Herr Verlaque. Nur Mutter Méhudin zuckte mit den Achseln; sie bewahrte ihren Groll gegen den »langen Mageren«, wie sie ihn in verächtlicher Weise nannte. Eines Morgens, als Florent lächelnd vor den Fischbehältern Claires stehen blieb, ließ das Mädchen einen Aal fahren, den es gerade in der Hand gehabt und wandte dem Aufseher, rot vor Zorn, den Rücken. Er war davon dermaßen überrascht, daß er die schöne Normännin befragte.

Lassen Sie gut sein, sie ist ein Tollkopf! ... Sie hat immer ihre eigenen Gedanken und hat es nur getan, um mich zu ärgern.

Sie triumphierte; stolz aufgerichtet stand sie hinter ihrer Fischbank, koketter als je, mit sehr verwickeltem Haarputz. Als sie Lisa begegnete, erwiderte sie ihren verächtlichen Blick, ja sie lachte ihr ins Gesicht. Die Gewißheit, daß sie durch Gewinnen des Vetters die Metzgerin in Verzweiflung versetzen werde, gab ihrem Lachen einen hellen Klang; es war ein Lachen aus voller Brust, daß ihr weißer, fetter Hals davon erzitterte. Zu jener Zeit kam sie auf den Gedanken, Feinchen sehr hübsch zu kleiden mit einer kleinen schottischen Jacke und einer Samtmütze. Feinchen hatte bisher immer nur eine zerfetzte Bluse getragen. Zu jener Zeit wurde Feinchen wieder von einer großen Vorliebe für die Wasserleitung erfaßt. Das Eis war geschmolzen, das Wetter war milde. Er gab der schottischen Jacke ein Bad, indem er das Wasser voll aus dem Rohr auf seine beiden Arme fließen ließ, was er Dachtraufe spielen nannte. Seine Mutter überraschte ihn in Gesellschaft von zwei anderen Jungen, wie sie in der mit Wasser gefüllten Samtmütze zwei kleine weiße Fische schwimmen ließen, die er der Tante Claire gestohlen hatte.

Florent lebte nunmehr seit nahezu acht Monaten in den Hallen, gleichsam von einem fortwährenden Schlafbedürfnis niedergehalten. Nach seinen sieben Leidensjahren war er jetzt in eine solche Ruhe, in ein dermaßen geregeltes Leben geraten, daß er sein Dasein kaum fühlte. Er überließ sich willenlos diesem Leben mit ziemlich leerem Kopfe, immer wieder davon überrascht, sich jeden Morgen auf demselben Sessel in dem engen Büro wiederzufinden. Dieser kahle, knappe Raum gefiel ihm. Er flüchtete dahin, war da fern von der Welt mitten in dem ewigen Geräusch der Hallen, das ihn an ein großes Meer erinnerte, dessen endlose Fläche ihn von allen Seiten umgab und einschloß. Aber allmählich bemächtigte sich seiner eine dumpfe Unruhe; er war unzufrieden, warf sich Fehler vor, die er nicht genau bestimmen konnte, lehnte sich gegen die Leere auf, die in seinem Hirn und in seiner Brust sich immer mehr auszubreiten schien. Der üble, fade Geruch der Fische fuhr mit einem Hauche über ihn hinweg, der ihm Ekel verursachte. Es war ein langsames Ausdenfugengehen, ein unerklärliches Unbehagen, das zu einer lebhaften Überreizung der Nerven wurde.

Alle seine Tage glichen einander. Er wandelte in denselben Geräuschen, in denselben Gerüchen einher. Am Morgen betäubte ihn das Getöse der Versteigerung wie fernes Glockengeläute; und je nach der Langsamkeit der Zufuhr endete die Versteigerung oft sehr spät. Er blieb dann im Pavillon bis Mittag, jeden Augenblick gestört durch Streitigkeiten und Beschwerden, bei denen er bemüht war, sich sehr gerecht zu zeigen. Es währte oft stundenlang, bis er irgendeinen erbärmlichen Handel, der den ganzen Markt in Aufruhr brachte, geschlichtet hatte. Er schritt durch die Menge und das Geräusch des Marktes dahin, wandelte langsamen Schrittes durch die Gänge, blieb zuweilen vor den Fischhändlerinnen stehen, deren Bänke bei der Rambuteau-Straße standen. Es sind da große Haufen rosiger Krabben, rote Körbe voll gesottener Seekrebse, während die lebenden Seekrebse platt auf dem Marmortische lagen und langsam verendeten. Hier sah er oft zu, wie Herren in feinen Hüten und schwarzen Handschuhen feilschten und schließlich einen gesottenen Seekrebs, in Zeitungspapier gewickelt, in der Tasche ihres Überrockes heimtrugen. Weiterhin vor den fliegenden Tischen, wo die gewöhnlichen Fische verkauft werden, erkannte er die Frauen aus dem Stadtviertel, die im bloßen Haar immer zur selben Stunde kamen. Zuweilen interessierte er sich für irgendeine fein gekleidete Dame, die ihre Spitzen über die nassen Steine schleppte, gefolgt von einer Magd mit weißer Schürze; eine solche begleitete er dann in einiger Entfernung und beobachtete, wie sie mit angewiderter Miene die Schultern zuckte. Dieses Durcheinander von Handkörben, Ledersäcken, Rundkörben, alle diese Frauenröcke, die durch die wassertriefenden Gänge dahin glitten, beschäftigten ihn bis zur Frühstückszeit, und ihn erfreute das frische Wasser und der frische Windhauch, der von dem scharfen Seegeruch der Schalentiere bis zu dem herben Dampf der eingesalzenen Fische dahinstrich. Bei den eingesalzenen Fischen beendete der Aufseher gewöhnlich seinen Rundgang; die Kisten voll Heringe, die Sardinen von Nantes, auf einem Lager von Blättern ruhend, die eingerollten Schellfische, alles von dicken, faden Marktweibern bewacht, erinnerten ihn an eine Abreise zur See, unter Tonnen voll Pökelfleisch und eingesalzener Fische. Des Nachmittags aber wurde es in den Hallen still und schläfrig. Er schloß sich in seinem Büro ein, brachte seine Schriftsachen in Ordnung und genoß da seine besten Stunden.

Wenn er herauskam und den Fischmarkt durchschritt, fand er ihn fast verödet. Das Drängen, Stoßen, Lärmen, wie es um zehn Uhr gewesen, war dann verschwunden. Die Fischweiber saßen vor ihren leeren Tischen und strickten, den Rücken zurückgelehnt; nur selten zeigte sich noch eine verspätete Hauswirtin, die mit den forschenden Blicken der Frauen herumging, die den Preis ihres Essens auf einen Heller berechnen. Die Dämmerung brach herein; die Kisten wurden zurechtgerückt und die Fische über Nacht auf Eis gelegt. Florent wartete dann noch, bis die Gittertore geschlossen wurden und nahm den Fischgeruch in seinen Kleidern, in seinem Bart und Haar mit.

Die ersten Monate war ihm dieser durchdringende Geruch nicht allzu widerwärtig. Der Winter war streng; der Frost verwandelte die Gänge in Spiegel; die Eiszapfen bildeten Spitzen an den Marmortischen und an den Brunnen. Des Morgens mußten kleine Kohlenpfannen unter den Wasserhähnen angezündet werden, damit man einen dünnen Wasserfaden erhalte. Die gefrorenen Fische mit gekrümmtem Schwänze, farblos und hart wie matt geschliffenes Metall, klangen dumpf auf den Tischen, wie graues Gußeisen. Bis zum Februar sah der Pavillon trostlos aus in seinem Leichentuch von Eis. Dann kam der März mit seinem Tauwetter, mit Regen und Nebeln. Da tauten auch die Fische auf und schwammen wieder; Gerüche von verdorbenem Fleisch mengten sich mit den faden Gerüchen des Schlammes, die von den benachbarten Straßen kamen; es war ein noch unbestimmter Mißduft, ein anwidernder, süßlicher Geruch von Feuchtigkeit, der über dem Boden schwebte. Dann, an den heißen Juninachmittagen, stieg der Gestank empor und sättigte die Luft mit pestilenzialischen Dämpfen. Man öffnete die oberen Fenster; große Vorhänge von grauer Leinwand schützten gegen die sengenden Sonnenstrahlen; ein Feuerregen fiel auf die Hallen nieder und durchhitzte sie wie einen eisernen Ofen. Nicht das leiseste Lüftchen regte sich, um den faulen Fischgestank wegzufegen. Die Verkaufsbänke dampften.

Florent litt durch diese Anhäufung von Nahrung, in deren Mitte er lebte. Der Ekel vor dem Wurstzeug kehrte ihm noch unerträglicher wieder. Er hatte solche furchtbare Gerüche schon ertragen, aber sie kamen nicht aus dem Magen. Sein enger Magen eines hageren Menschen drehte sich um, wenn er an diesen Fischen vorüberkam, die in der großen Hitze faul wurden. Sie nährten ihn mit ihren starken Gerüchen und erstickten ihn, als habe er eine starke Verdauungsstörung infolge der Gerüche gehabt. Wenn er sich in seinem Büro einschloß, folgte ihm der Ekel dahin, drang durch die Ritzen der Tür und des Fensters ein. An trüben Tagen war der kleine Raum ganz dunkel; es war gleichsam eine lange Dämmerung mitten in einem ekelerregenden Sumpfe. Von nervösen Beklemmungen ergriffen, hatte er oft das Bedürfnis zu gehen und stieg in die Keller hinunter, die breite Treppe benützend, die mitten im Pavillon hinabführte. Hier in der eingeschlossenen Luft, in dem Zwielicht, das die wenigen Gasflammen verbreiteten, fand er die Frische des reinen Wassers wieder. Er blieb vor dem großen Behälter stehen, wo die lebenden Fische in Vorrat gehalten werden; er lauschte dem ununterbrochenen Geplätscher der vier Wasserstrahlen, die aus den vier Winkeln der Zentralurne flossen, um sich unter den Drahtdeckeln der mittelst Schlüssel abgesperrten Becken mit dem sanften Gemurmel eines Wasserlaufes zu einer Fläche zu vereinigen. Diese unterirdische Quelle, dieser im Schatten plätschernde Bach beruhigte ihn. Er ergötzte sich auch des Abends an dem schönen Sonnenuntergang, der die feinen Spitzen der Hallen schwarz von den roten Lichtern des Himmels abzeichnete; das Fünfuhrlicht, der tanzende Staub der letzten Strahlen: sie drangen durch alle Öffnungen, durch alle Spalten der Vorhänge ein; es war wie ein leuchtendes Bild, in dem sich die dünnen Rippen der Pfeiler, die eleganten Biegungen der Gerüste, die geometrischen Figuren der Dächer abzeichneten. Er sättigte seine Blicke an diesem ungeheueren Musterriß, der mit chinesischer Tusche auf leuchtendes Velinpapier aufgetragen schien, und nahm seinen Traum wieder auf von einer kolossalen Maschine mit ihren Rädern, Hebeln, Balancierstangen, wie er sie im tiefen Rot des in dem Kessel flammenden Kohlenfeuers erblickte. So änderte das Spiel der Lichter jede Stunde das Aussehen der Hallen, von dem zarten Blau des Morgens und den dunklen Schatten des Mittags bis zu dem Feuerbrande der untergehenden Sonne, der in dem Aschgrau der Dämmerung erstarb. An den flammenden Abenden jedoch, wenn die Gerüche aufstiegen und gleich heißen Dämpfen die großen, goldigen Strahlen durchzitterten, erfaßte ihn von neuem der Ekel, und sein Traum verwandelte sich dermaßen, daß er an riesige Schwitzkammern dachte, an ekelhafte Kufen eines Abdeckers, in denen das ungesunde Fett eines ganzen Volkes schmelzen werde.

Auch litt er durch die gemeine Umgebung, deren Worte und Gebärden ebenfalls einen üblen Duft zu haben schienen. Dennoch war er gutmütig und keineswegs scheu. Die Frauen allein waren für ihn eine Ursache der Verlegenheit. Er fühlte sich nur behaglich im Gespräch mit der Mutter François, die er wieder angetroffen hatte. Sie zeigte eine so aufrichtige Freude, ihn in fester Stellung, zufrieden und frei von Not, wie sie sagte, wiederzusehen, daß er davon völlig gerührt wurde. Lisa, die Normännin und die anderen Frauen beunruhigten ihn mit ihrem Lachen. Ihr würde er alles erzählt haben. Sie lachte nicht, um sich über ihn lustig zu machen; sie lachte wie eine Frau, die sich des Glückes anderer freut. Auch war sie eine tüchtige, wackere Frau; im Winter, wenn es fror, war ihr Geschäft gar schwer und zur Regenzeit noch schwerer. An manchen Morgen sah Florent sie bei fürchterlichen Wolkenbrüchen eintreffen, oder bei einem langsamen, kalten Regen, der seit dem vorhergehenden Tage fiel. Auf dem Wege von Nanterre bis Paris waren die Räder des Karrens bis zu den Naben im Schmutz eingesunken und Balthasar war schmutzig bis an den Bauch. Sie beklagte das arme Tier und trocknete es mit alten Schürzen ab.

Diese Tiere sind so weichlich, pflegte sie zu sagen; im Nu haben sie eine Kolik weg ... Ach, mein armer Balthasar. Als wir über die Brücke von Neuilly kamen, regnete es so stark, daß ich glaubte, wir führen durch die Seine.

Balthasar ward in die Herberge gebracht, während sie selbst im Regengusse verblieb, um ihre Gemüse zu verkaufen. Das Pflaster verwandelte sich in ein Meer von flüssigem Schlamm. Die Kohlköpfe, die gelben und die weißen Rüben wurden von dem grauen Regen auf die Straße hinausgeschwemmt. Es war nicht mehr das herrliche Grünzeug, wie an sonnenhellen Tagen. Die Gemüsegärtner hockten unter ihren Mänteln und schalten die Hallenverwaltung, die nach gepflogener Untersuchung erklärt hatte, daß der Regen den Gemüsen nicht schade, und daß es unnötig sei, die Krautgärtner unter Dach und Fach zu bringen.

Die Regentage brachten Florent zur Verzweiflung. Er dachte an Frau François. Er entschlüpfte, um eine Weile mit ihr zu plaudern. Aber er fand sie niemals traurig; sie schüttelte sich wie ein Pudel und sagte, sie habe schon andere Stürme gesehen und sei nicht von Zucker, um bei den ersten Wassertropfen zu zerfließen. Er nötigte sie, für einige Minuten unter einen gedeckten Gang zu flüchten; mehrmals führte er sie sogar zu Herrn Lebigre, wo sie ein Glas Glühwein tranken. Während sie ihn mit ihrem ruhigen Antlitz freundlich betrachtete, war er glücklich über diesen gesunden Geruch der Felder, den sie in die schlechte Luft der Hallen mitbrachte. Sie roch nach Erde, nach Heu, nach frischer Luft, nach dem freien Himmel.

Sie müssen nach Nanterre kommen, mein Junge, sagte sie. Sie sollen einmal meinen Gemüsegarten sehen; alle Wege sind mit Thymian eingesäumt ... Dieses verteufelte Paris stinkt ganz abscheulich! ...

Und sie ging wassertriefend ihres Weges. Florent war ordentlich erfrischt, wenn er sie verließ. Er versuchte auch zu arbeiten, um die nervösen Beklemmungen zu bekämpfen, an denen er litt. Er war ein glücklicher Mensch, der die genaue Verwendung seiner Stunden oft übertrieb. Er schloß sich an zwei Abenden der Woche ein, um ein großes Werk über Cayenne zu schreiben. Sein Schülerzimmer sei vortrefflich, dachte er, um ihn zu beruhigen und zur Arbeit zu stimmen. Er zündete im Kamin ein Feuer an, sah nach, ob der Granatenbaum sich wohlbefinde; dann zog er den kleinen Tisch näher ans Feuer und blieb bis Mitternacht bei der Arbeit. Er hatte das Gebetbuch und den Traumdeuter in den Hintergrund des Schubfaches geschoben, das sich allmählich mit Notizen, fliegenden Blättern und Manuskripten jeder Art füllte. Die Arbeit über Cayenne machte nur langsame Fortschritte, weil sie von anderen Plänen unterbrochen wurde, von Plänen über riesige Arbeiten, deren Skizzen er in einigen Strichen entwarf. Nach und nach entwarf er eine vollständige Reform des Verwaltungssystems der Hallen, eine Umwandlung der Verbrauchsabgabe in eine Taxe auf die Verkaufsabschlüsse, eine neue Aufteilung der Lebensmittelversorgung in den armen Stadtvierteln, kurz ein neues menschenfreundliches Gesetz, das – vorläufig in einer noch ziemlich verworrenen Weise – die einlangenden Zufuhren gemeinsam einlagerte und sodann jedem Haushalte in Paris ein Mindestmaß an Nahrungsmitteln zusicherte. Mit gekrümmtem Rücken in seinen ernsten Plänen versunken, zeichnete sich sein großer schwarzer Schatten in dem sanften Lichte des Dachstübchens ab. Ein Fink, den er an einem frostigen Wintertage in den Hallen eingefangen hatte, stieß – durch das Licht getäuscht – zuweilen einen Ruf aus inmitten der tiefen Stille, die nur das Geräusch der über das Papier fliegenden Feder unterbrach.

Verhängnisvollerweise kehrte Florent zur Politik zurück. Er hatte durch sie zuviel gelitten, um sie nicht zur Lieblingsbeschäftigung seines Lebens zu machen. Ohne die Umgebung und die Umstände, in die er geraten war, wäre er ein guter Provinzlehrer geworden, der glücklich in dem stillen Frieden seines Städtchens dahinlebt. Allein man hatte ihn wie einen Wolf behandelt und durch seine Verbannung hielt er sich gleichsam für eine Kampfarbeit ausersehen. Sein nervöses Unbehagen war nur ein Wiedererwachen seiner langen Betrachtungen auf Cayenne, seiner Verbitterung wegen unverdienter Leiden, seiner Schwüre, eines Tages Rache zu nehmen wegen der mit Peitschenhieben traktierten Menschheit und der mit Füßen getretenen Gerechtigkeit. Die riesigen Hallen, die in Überfluß aufgehäuften, kräftigen Nahrungsmittel hatten den Zustand nur beschleunigt. Sie schienen ihm das befriedigte und verdauende Tier, das vollgefressene Paris, das seine Wohlgenährtheit hegt und das Kaiserreich stützt. Sie zeigten rings um ihn her riesige Brüste, ungeheure Lenden, runde Gesichter, gleich fortwährenden Beweisgründen gegen seine Magerkeit eines Märtyrers, gegen sein gelbes Antlitz eines Unzufriedenen. Es war der Bauch des Krämers, der Bauch der Durchschnittsehrbarkeit, der sich zufrieden wölbte, in der Sonne glänzte und fand, daß alles aufs beste bestellt sei, daß es für die friedfertigen Leute niemals ein so schönes Gedeihen gegeben. Dann fühlte er, wie seine Fäuste sich kampfbereit ballten, und er war noch schlimmer gereizt durch die Erinnerung an seine Verbannung als zur Zeit seiner Rückkehr nach Frankreich. Der Haß hatte ihn wieder völlig in seiner Gewalt. Oft ließ er die Feder sinken und vertiefte sich in seine Träumerei. Das erlöschende Feuer warf einen roten Schein auf sein Antlitz; die Lampe verkohlte langsam und der Fink schlief auf einem Bein, den Kopf unter dem Flügel.

Den Lichtschein unter der Türe sehend klopfte August manchmal noch um elf Uhr an, ehe er schlafen ging. Florent öffnete ihm nicht ohne Unmut. Der Metzgergehilfe saß dann vor dem Feuer, sprach wenig und sagte niemals, weshalb er gekommen. Er betrachtete immerfort die Photographie, die ihn und Augustine darstellte Hand in Hand im Sonntagsstaate. Florent glaubte schließlich zu begreifen, daß August ganz besonderes Gefallen finde an dieser Stube, in der seine Verlobte gewohnt hatte. Eines Abends fragte er ihn lächelnd, ob er richtig geraten habe.

Vielleicht ja, erwiderte August, sehr überrascht von der Entdeckung, die er selber machte. Daran hatte ich niemals gedacht. Ich kam herein, ohne zu wissen weshalb ... Augustine würde lachen, wenn ich ihr es sagte ... Mein Gott! wenn man zu heiraten gesonnen ist, denkt man nicht an die Dummheiten.

Wenn er redseliger wurde, sprach er immer nur von dem Metzgerladen, den er mit Augustine in Plaisance zu eröffnen gedachte. Er schien so vollkommen sicher, sein Leben nach seinem Willen einzurichten, daß Florent schließlich vor ihm eine gewisse Achtung empfand, in die sich eine Gereiztheit mengte. Alles in allem war der Bursche sehr vernünftig, so dumm er auch schien; er ging gerade auf ein Ziel los und mußte es sicherlich ohne jede Aufregung, in vollkommener Zufriedenheit erreichen. An solchen Abenden konnte Florent nicht wieder an die Arbeit gehen; er legte sich mißvergnügt zu Bette und fand seine Ruhe erst wieder, wenn er dachte: »Dieser August ist doch nur ein dummes Rind!«

Jeden Monat einmal ging er nach Clamart, um Herrn Verlaque zu besuchen. Dies war für ihn fast eine Freude. Der arme Mann schleppte sich fort zur großen Verwunderung Gavards, der ihm nicht sechs Monate gegeben hatte. Bei jedem Besuche Florents sagte ihm der Kranke, daß er sich besser befinde und seine Arbeit wieder aufnehmen wolle. Doch die Tage vergingen, und er ward wieder rückfällig. Florent setzte sich an sein Bett, plauderte mit ihm vom Fischmarkte und suchte ihn ein wenig zu erheitern. Er ließ auf dem Nachtkästchen die fünfzig Franken zurück, die er dem von ihm vertretenen Inspektor überließ; obgleich dies eine abgemachte Sache war, erzürnte sich Verlaque doch jedesmal und wollte das Geld nicht annehmen. Dann sprach man von etwas anderem und das Geld blieb auf dem Nachtkästchen. Wenn Florent fortging, gab Frau Verlaque ihm das Geleite bis zum Haustor. Sie war klein, weichlich und sehr weinerlich. Sie sprach immer von den Ausgaben, die die Krankheit ihres Gatten verursachte, von der Huhnsuppe, von den Braten, vom Rotwein, von dem Arzte und dem Apotheker. Diese Klagen waren Florent sehr lästig. Die ersten Male begriff er ihren Zweck nicht. Aber als die arme Frau unter fortwährendem Schluchzen erwähnte, wie glücklich sie ehedem mit den achtzehnhundert Franken gewesen, die ihr Mann als Gehalt bezogen, bot Florent in schüchterner Weise ihr an, ihr im geheimen etwas zu geben, ohne daß ihr Mann es wisse. Sie weigerte sich anfangs, dann versicherte sie ohne jeden Übergang, daß fünfzig Franken ihr genügen würden. Allein, im Laufe des Monats schrieb sie wiederholt an ihn, den sie »ihren Retter« nannte; sie verfügte über eine feine Schrift, über leichte und untertänige Redensarten, womit sie drei Seiten füllte, um zehn Franken zu verlangen; so daß schließlich die hundertundfünfzig Franken des Beamten ganz in die Hände des Ehepaars Verlaque wanderten. Der Mann wußte es gewiß nicht; die Frau aber küßte ihm die Hände. Diese gute Tat war seine große Freude; er verhehlte sie wie ein Vergnügen, das er als Egoist sich im geheimen gönnte.

Dieser verteufelte Verlaque macht sich über Sie lustig, sagte Gavard manchmal; er hegt sich und pflegt sich, weil er von Ihnen eine Rente hat.

Schließlich antwortete ihm Florent eines Tages:

Es ist abgemacht zwischen uns; ich überlasse ihm nur fünfundzwanzig Franken.

Übrigens hatte Florent keinerlei Bedürfnis. Bei den Quenus hatte er nach wie vor Wohnung und Verpflegung. Die wenigen Franken, die ihm übrigblieben, genügten für seine Erfrischung, die er am Abend bei Herrn Lebigre nahm. Allmählich hatte sein Leben sich geregelt wie eine Uhr: er arbeitete auf seiner Stube, gab zweimal wöchentlich von acht bis neun Uhr abends dem Knaben Feinchen Unterricht, schenkte einen Abend der schönen Lisa, um sie nicht zu verletzen, und verbrachte den Rest seiner Zeit in dem Glasverschlag in Gesellschaft Gavards und seiner Freunde.

Zu den Méhudin kam er mit seiner etwas steifen Lehrersanftmut. Die alte Behausung gefiel ihm. Unten schritt er durch die faden Gerüche der trockenen Gemüse; in einem kleinen Hofe standen Kessel voll Spinat und Schüsseln voll Sauerampfer zum Auskühlen. Dann stieg er die Wendeltreppe hinan, deren feuchte, abgetretene Stufen in beängstigender Weise überhingen. Die Méhudin bewohnten den ganzen zweiten Stock. Die Alte hatte nicht wegziehen wollen, als der Wohlstand gekommen war, trotz der Bitten ihrer beiden Töchter, die lieber ein neues Haus in einer breiten Straße bewohnt hätten. Die Alte war eigensinnig; sie habe da gelebt und wolle da sterben, sagte sie. Sie überließ die Stuben ihren Töchtern und begnügte sich mit einer dunklen Kammer. Die schöne Normännin hatte kraft des Rechtes der älteren Schwester sich der nach der Straße gelegenen Stube bemächtigt; es war die große, die gute Stube. Claire war darüber dermaßen verdrossen, daß sie es ablehnte, die benachbarte Stube, deren Fenster auf den Hof ging, zu beziehen; sie zog es vor, in einer Art Dachstube zu schlafen, die auf der anderen Seite des Flurs lag und die sie nicht einmal mit Kalk tünchen ließ. Sie hatte ihren eigenen Schlüssel und war frei; bei dem geringsten Verdrusse schloß sie sich daselbst ein.

Wenn Florent kam, waren die Méhudin mit ihrer Mahlzeit gewöhnlich zu Ende. Feinchen sprang ihm an den Hals. Er saß einige Augenblicke im Gespräch mit dem Kinde. Nachdem die wachsleinene Tischdecke abgetrocknet war, begann an einem Ende des Tisches die Unterrichtsstunde. Die schöne Normännin nahm ihn gut auf. Sie strickte oder besserte Linnenzeug aus, rückte ihren Sessel näher, um bei derselben Lampe zu arbeiten; oft ließ sie die Nadel ruhen, um dem Unterricht zu lauschen, der sie überraschte. Sie hatte bald große Achtung für den gelehrten Mann, der sanft schien wie eine Frau, wenn er mit dem Kinde sprach und der mit engelgleicher Geduld die nämlichen Dinge wiederholte. Sie fand ihn durchaus nicht mehr häßlich und schließlich ward sie fast eifersüchtig auf die schöne Lisa. Sie rückte ihren Sessel näher und betrachtete Florent mit einem Lächeln, das ihn in Verlegenheit brachte.

Aber Mama, du stößest mich am Ellenbogen und ich kann nicht schreiben! rief Feinchen zornig. Da, jetzt habe ich ein Schwein gemacht. Rücke doch ein wenig weiter!

Allmählich kam sie so weit, von der schönen Lisa viel übles zu reden. Sie behauptete, daß Lisa ihr Alter verleugne, daß sie sich zum Ersticken schnüre; wenn sie am Morgen zum Vorschein komme, sei sie geziert und geschniegelt, daß kein Härchen höher stehe, als die anderen; aber entkleidet müsse sie scheußlich sein. Dann hob sie ein wenig die Arme, um zu zeigen, daß sie zu Hause kein Mieder trage; und sie bewahrte ihr Lächeln und richtete ihren herrlichen Oberkörper auf, den man unter dem dünnen Jäckchen leben und blühen sah. Dadurch ward die Lektion unterbrochen. Feinchen sah mit Interesse zu, wie seine Mutter die Arme emporhob. Florent hörte zu, ja er lachte sogar und dachte sich, daß die Weiber doch drollig seien. Die Gegnerschaft zwischen der schönen Normännin und der schönen Lisa ergötzte ihn.

Inzwischen schrieb Feinchen seine Seite voll. Florent, der eine schöne Hand schrieb, machte ihm Mustervorlagen, Papierstreifen, auf die er ihm in großen und halbgroßen Buchstaben lange Worte schrieb, die fast eine Zeile einnahmen. Er schrieb Worte wie »tyrannisch, freiheitsmörderisch, verfassungswidrig, aufrührerisch« – oder er ließ das Kind Sätze schreiben, wie die folgenden: »Der Tag der Gerechtigkeit wird kommen« – »Das Leiden des Gerechten ist die Verdammung des Bösen« – »Wenn die Stunde schlägt, wird der Schuldige fallen«. Indem er diese Schriftmuster machte, folgte er einfach den Gedanken, die seinen Kopf beschäftigten; er vergaß Feinchen, die schöne Normännin, alles, was ihn umgab. Feinchen würde auch den »Sozialen Vortrag« des Rousseau niedergeschrieben haben; er schrieb ganze Seiten voll mit »tyrannisch« – »verfassungswidrig« und zeichnete jeden Buchstaben nach der Vorlage ab.

Solange der Lehrer da war, trieb sich Frau Méhudin brummend um den Tisch herum. Sie nährte gegen Florent noch immer Rachegefühle. Sie meinte, es sei unsinnig, den Kleinen des Abends dermaßen zum Lernen anzuhalten und er sollte lieber schlafen. Sie würde den »langen Mageren« sicher an die Luft gesetzt haben, wenn nicht die schöne Normännin nach einer sehr stürmischen Auseinandersetzung rundheraus erklärt hätte, daß sie eine andere Wohnung beziehen würde, wenn sie nicht mehr bei sich empfangen könne, wen sie wolle. Im übrigen erneuerte sich der Streit allabendlich.

Du magst sagen, was du willst, er hat einen bösen Blick, wiederholte die Alte. Den Mageren traue ich nicht. Ein magerer Mensch ist zu allem fähig. Ich habe niemals einen getroffen, der gut gewesen wäre. Dieser trägt den Bauch sicherlich in den Hosen, denn er ist platt wie ein Brett ... Und häßlich dazu! ... Ich bin fünfundsechzig Jahre alt, aber ich möchte ihn nachts nicht auf meiner Stube haben.

Sie sagte dies, weil sie wohl merkte, welche Wendung die Dinge nahmen. Sie sprach mit Bewunderung von Herrn Lebigre, der sich in der Tat der schönen Normännin gegenüber sehr galant zeigte. Er witterte da eine fette Mitgift und dachte, die junge Frau werde hinter dem Zahlpulte eine prächtige Figur machen. Die Alte war unerschöpflich an Lobsprüchen für Herrn Lebigre; dieser sei doch wenigstens nicht »ausgeronnen«; er sei sicherlich stark wie ein Türke; sie ging so weit, seine dicken Waden zu bewundern. Doch die Normännin zuckte mit den Achseln und erwiderte scharf:

Was kümmern mich seine Waden? Ich brauche niemandes Waden ... Ich tue, was ich will.

Wenn die Mutter nicht nachgab und gar zu deutlich wurde, schrie die Tochter:

Das hat Euch nicht zu kümmern! ... Es ist übrigens nicht wahr; und wenn es wahr wäre, würde ich nicht erst Euch um Erlaubnis fragen. Laßt mich in Frieden!

Sie ging in ihre Stube und schlug die Türe heftig zu. Sie hatte im Hause eine Macht erlangt, die sie mißbrauchte. Die Alte erhob sich des Nachts, wenn sie ein Geräusch zu vernehmen glaubte, und schlich barfüßig zur Türe Louisens, um zu forschen, ob Florent nicht bei ihr sei. Doch dieser hatte im Hause der Méhudin eine noch schlimmere Feindin. Sobald er erschien, erhob sich Claire wortlos, nahm ihren Leuchter und ging in ihre Kammer, die auf der anderen Seite des Flurs lag. Als eines Abends ihre Schwester den Lehrer zum Essen einlud, kochte Claire besonders für sich und aß in ihrer Kammer. Manchmal schloß sie sich so beharrlich ein, daß man sie eine Woche lang nicht zu Gesichte bekam. Dabei war sie weichlich und starrsinnig und hatte einen argwöhnischen Blick unter ihrem reichen, rötlich blonden Haar. Die Mutter Méhudin, die bei ihr sich erleichtern zu können glaubte, machte sie nur wütend, wenn sie von Florent sprach. Zum äußersten getrieben schrie dann die Alte, daß sie auf und davon gehen werde, wenn sie nicht fürchten müsse, daß ihre zwei Töchter sich gegenseitig auffressen würden.

Als Florent eines Abends fortging, kam er an Claires Türe vorüber, die weit offen stand. Sie war sehr rot, während sie ihn betrachtete. Die feindselige Haltung des Mädchens kränkte ihn; nur seine Schüchternheit den Frauen gegenüber hinderte ihn, eine Erklärung herbeizuführen. Er wäre diesen Abend sicherlich in ihr Zimmer eingetreten, wenn er nicht im oberen Stockwerk das kleine, weiße Gesicht des Fräulein Saget, die sich über das Geländer beugte, wahrgenommen hätte. Er ging vorüber und er war noch nicht zehn Stufen hinabgestiegen, als die Türe Claires so heftig zugeschlagen wurde, daß das ganze Stiegenhaus davon erzitterte. Bei dieser Gelegenheit gewann Fräulein Saget die Überzeugung, daß der Vetter der Frau Quenu mit den zwei Schwestern Méhudin schlafe.

Florent dachte gar nicht an diese schönen Mädchen. Er behandelte die Frauen gewöhnlich wie ein Mann, der kein Glück bei ihnen hat. Auch verträumte er zuviel von seiner Männlichkeit. Er kam so weit, daß er eine wahrhafte Freundschaft für die Normännin empfand; sie hatte ein gutes Herz, wenn sie sich nicht erzürnte. Aber weiter ging er nicht. Wenn sie des Abends beim Lampenschein ihren Sessel näher rückte, wie um sich über das Geschreibsel des Knaben zu neigen, fühlte er mit einem gewissen Unbehagen ihren mächtigen und warmen Körper neben sich. Mit ihrem Riesenbusen schien sie ihm ungeheuer, sehr schwerfällig, fast beunruhigend; er zog seine spitzigen Ellenbogen, seine dürren Schultern ein, in einer unbestimmten Furcht, sie in dieses Fleisch zu stoßen. Seine mageren Knochen zitterten vor einer Berührung mit fetten Brüsten. Er senkte den Kopf und machte sich noch dünner, belästigt durch den kräftigen Hauch, der von ihr ausging. Wenn ihr Nachtjäckchen sich ein wenig öffnete, glaubte er zwischen zwei weißen Wölbungen einen Dampf des Lebens, einen Hauch der Gesundheit aufsteigen zu sehen, der ihm warm ins Gesicht drang, gleich einem Qualm der Hallen an heißen Sommerabenden. Es war ein beharrlicher Geruch, der an dieser seidenweichen Haut haftete, ein Fettschweiß der Fische, hervordringend aus den herrlichen Brüsten, aus den königlichen Armen, der geschmeidigen Taille, etwas Rauhes in ihren Frauengeruch mengend. Sie hatte es mit allen wohlriechenden Ölen versucht und nahm reichliche Waschungen mit frischem Wasser vor; allein, sobald die Frische des Bades sich verflüchtigt hatte, führte das Blut den faden Geruch der Lachse, den Moschusgeruch der Spieringe, die Schärfe der Heringe und Rochen bis in die Spitzen der Glieder zurück. Aus dem Schütteln ihrer Röcke ging dann ein Dampf hervor; sie ging wie inmitten einer Ausdünstung von Sumpfröhricht; mit dem großen Körper einer Göttin, ihrer wunderbaren Reinheit und Blässe, war sie wie ein schönes, altertümliches Marmorbild, das im Meere treibt und in dem Netze eines Sardinenfischers ans Land gezogen wird. Florent litt durch ihre Nähe; er trug kein Begehren nach ihr, denn seine Sinne waren in Aufruhr durch die Nachmittage, die er auf dem Fischmarkte zubrachte; er fand sie aufregend, zu sehr nach Salz riechend, zu bitter, von einer zu breiten Schönheit und einem zu starken Geruch.

Fräulein Saget schwor bei allen Göttern, daß Florent der Liebhaber der Normännin sei. Sie hatte sich wegen eines Sandaals um zehn Sous mit ihr entzweit. Seit dieser Zeit bekundete sie große Freundschaft für die schöne Lisa. So hoffte sie rascher das zu erfahren, was sie »die Machenschaften der Quenus« nannte. Da Florent ihr noch immer ein Rätsel blieb, war sie »ein Körper ohne Seele«, wie sie selbst sagte, ohne den Grund ihres Leides zu gestehen. Ein Mädchen, das einem Burschen nachläuft, hätte nicht trostloser sein können als diese fürchterliche Alte, als sie merkte, daß das Geheimnis des Vetters ihr entging. Sie bespähte den Vetter, verfolgte ihn, beobachtete ihn mit wütendem Grimme, weil es ihrer brünstigen Neugier nicht gelang, ihn in ihre Gewalt zu bekommen. Seitdem er zu den Méhudin kam, stand sie fast unablässig an dem Treppengeländer. Dann begriff sie, daß die schöne Lisa sehr verdrossen war wegen der Besuche Florents bei »diesen Weibern«. Jeden Morgen brachte sie ihr Nachrichten aus der Pirouette-Straße. An kalten Tagen kam sie ganz durchfroren in den Laden und hielt ihre blauen Hände an den Ofen, um sie zu erwärmen. Sie kaufte nichts, sondern wiederholte nur mit ihrer zirpenden Stimme:

Gestern war er wieder bei ihnen ... Er steckt immer dort. Die Normännin hat ihn auf dem Flur ihren »Liebsten« genannt.

Sie log ein wenig, um länger bleiben und sich die Hände wärmen zu können. Am Morgen nach dem Tage, an dem sie Florent aus der Stube Claires kommen zu sehen glaubte, eilte sie herbei und dehnte die Geschichte eine halbe Stunde aus. Es sei jetzt geradezu eine Schmach; der Vetter gehe vom Bette der einen zum Bette der anderen.

Ich habe ihn gesehen, sagte sie. Wenn er von der Normännin genug hat, schleicht er auf den Fußzehen zur kleinen Blonden. Gestern verließ er die Blonde und kehrte ohne Zweifel zur großen Braunen zurück, als er mich erblickte, worauf er kehrtmachte. Die ganze Nacht höre ich die zwei

Türen auf- und zugehen; es nimmt gar kein Ende ... Und diese alte Méhudin, die in einem Kabinett zwischen den Stuben ihrer Töchter schläft! ...

Lisa machte ein verächtliches Mäulchen. Sie sprach wenig und ermutigte das Geschwätz des Fräuleins Saget nur durch ihr Stillschweigen. Sie hörte aufmerksam zu, und wenn die Einzelheiten gar zu schlüpfrig wurden, murmelte sie: Nein, nein, das ist denn doch nicht erlaubt! ... Ist es möglich, daß es solche Weiber gibt?

Darauf erwiderte Fräulein Saget, daß allerdings nicht alle Frauen so ehrbar seien wie Lisa. Dann zeigte sie sich sehr nachsichtig für den Vetter. Ein Mann läuft eben jeder Schürze nach ... und Florent sei doch nicht verheiratet ... vielleicht. Und sie stellte wie unabsichtlich verschiedene Fragen. Allein Lisa gab niemals ein Urteil über den Vetter ab; sie zuckte nur mit den Achseln und spitzte die Lippen. Wenn Fräulein Saget fort war, betrachtete die Metzgerin mit angewiderter Miene den Deckel des Ofens, wo die Alte die Spuren ihrer kleinen Hände zurückgelassen hatte.

Augustine, rief sie dann, bringen Sie doch einen Wischlappen, um den Ofen abzuwischen. Es ist ekelhaft!

Die Feindschaft der schönen Lisa und der schönen Normännin gestaltete sich furchtbar. Die schöne Normännin war überzeugt, daß sie ihrer Gegnerin einen Liebhaber weggenommen habe; die schöne Lisa aber war wütend auf diese Nichtsnutzige, die sie schließlich noch kompromittieren mußte, indem sie diesen duckmäuserischen Florent an sich zog. Jede brachte ihr Temperament in diese Feindschaft mit; die eine war ruhig, geringschätzig und benahm sich wie eine Frau, die ihre Röcke aufhebt, um sich nicht zu beschmutzen; die andere war frecher, brach in eine unverschämte Heiterkeit aus und nahm die ganze Breite des Fußweges ein wie ein Händel suchender Klopffechter. Wenn sie sich einmal trafen, so hatte der Fischmarkt einen ganzen Tag davon zu reden. Wenn die schöne Normännin die schöne Lisa auf der Schwelle ihres Ladens erblickte, machte sie einen Umweg, um bei ihr vorbeizukommen, sie mit ihrer Schürze zu streifen; dann kreuzten sich die Blicke ihrer schwarzen Augen wie zwei Degen, mit dem flüchtigen Blitz und der scharfen Spitze des Stahls. Die schöne Lisa nahm ihrerseits, wenn sie auf den Fischmarkt kam, eine Miene des Ekels an, sobald sie sich der Fischbank der schönen Normännin näherte; sie kaufte bei einer Nachbarin einen großen Fisch, einen Steinbutt, einen Lachs und legte ihr Geld breit auf den Tisch hin, weil sie bemerkt hatte, daß dies die »Nichtsnutzige« im Herzen traf, die dann sogleich zu lachen aufhörte. Wenn man die beiden Gegnerinnen hörte, verkaufte die eine nur faule Fische, die andere nur verdorbenes Wurstzeug. Ihren Kampfposten hatte die schöne Normännin vornehmlich bei ihrer Fischbank, die schöne Lisa hinter ihrem Pulte; so vernichteten sie einander mit den Blicken quer über die Rambuteau-Straße. Da thronten sie in ihren langen, weißen Schürzen, mit ihren Toiletten und ihrem Schmuck. Schon am Morgen begann die Schlacht.

Schau, die dicke Kuh ist schon auf! rief die schöne Normännin. Sie schnürt sich ein, wie ihre Würste! ... Aha, sie hat den Kragen vom Samstag angelegt und trägt schon wieder ihr Popelinekleid!

Im selben Augenblicke sagte jenseits der Straße die schöne Lisa zu ihrem Ladenmädchen:

Augustine, schauen Sie nur das Geschöpf dort drüben, das uns mustert! ... Sie ist ganz aus der Form gebracht durch das Leben, das sie führt ... Sehen Sie ihre Ohrgehänge? Ich glaube, sie hat wieder ihre großen Birnen, nicht wahr? Es ist wirklich ein Jammer, daß solche Dirnen Brillanten tragen!

Mein Gott, was sie ihr kosten! ... erwiderte Augustine gefällig.

Wenn eine von ihnen ein neues Schmuckstück hatte, so war das ein Sieg und die andere barst schier vor Ärger. Den ganzen Vormittag neideten sie sich gegenseitig die Kunden und zeigten sich sehr verdrossen, wenn sie sich einbildeten, daß das Geschäft besser gehe bei der »langen Mähre« da drüben. Dann kam das Bespähen des Frühstücks; sie wußten gegenseitig, was sie aßen und belauerten selbst ihre Verdauung. Nachmittag saß die eine zwischen ihren kalten Schüsseln, die andere bei ihren Fischen. Da machten sie sich schön, zierten sich und gaben sich alle erdenkliche Mühe, die andere zu übertrumpfen. Dies war die Stunde, die den Erfolg des Tages entschied. Die schöne Normännin strickte, wählte sehr feine Handarbeiten, was die schöne Lisa außer sich brachte.

Sie täte besser, sagte sie, die Strümpfe ihres Jungen auszubessern, der barfüßig geht. Seht doch dieses Fräulein mit den roten Händen, die nach Fischen stinken!

Lisa strickte gewöhnlich.

Sie hat noch immer einen und denselben Strumpf in der Hand, sagte die andere. Sie schläft bei der Arbeit ein ... sie ißt auch zu viel ... Wenn ihr Hahnrei auf diese Strümpfe wartet, um warm zu gehen! ...

So verharrten sie in unversöhnlicher Feindseligkeit bis zum Abend, jeden Besuch mit so raschem Blick erläuternd, daß sie die geringste Einzelheit an der Person der Gegnerin erfaßten, während andere Frauen erklärten, in solcher Entfernung nichts bemerken zu können. Fräulein Saget bewunderte die guten Augen der Frau Quenu eines Tages, als diese auf der linken Wange der Fischhändlerin eine Schramme entdeckten. – Mit solchen Augen, sagte sie, könne man durch die Türen sehen. Oft war bei Einbruch der Nacht der Kampf noch nicht entschieden; zuweilen blieb die eine auf der Walstatt, übte aber am folgenden Tage Vergeltung. Im Stadtviertel wettete man auf die schöne Lisa oder auf die schöne Normännin.

Dies ging so weit, daß die beiden ihren Kindern untersagten, miteinander zu reden. Pauline und Feinchen waren früher gute Freunde gewesen, wenngleich Pauline mit ihren gesteiften Röcken einem vornehmen Fräulein glich, während Feinchen schmutzig war und fluchte wie ein Kärrner. Wenn sie zusammen auf dem breiten Fußweg vor dem Fischpavillon spielten, machte Pauline den Karren. Aber eines Tages, als Feinchen kam, um Pauline zu holen, zeigte Lisa ihm die Türe und nannte ihn einen Gassenjungen.

Kann man denn wissen bei so schlecht erzogenen Kindern? ... sagte sie. Der Junge hat so schlimme Beispiele vor Augen, daß ich nicht ruhig bin, wenn er mit meiner Tochter ist.

Das Kind war sieben Jahre alt. Fräulein Saget, die anwesend war, setzte hinzu:

Sie haben recht. Der Bengel steckt immer unter den kleinen Mädchen des Stadtviertels ... Neulich hat man ihn mit der Tochter des Kohlenhändlers in einem Keller getroffen.

Als Feinchen sein Erlebnis weinend seiner Mutter erzählte, geriet die schöne Normännin in einen schrecklichen Zorn. Sie wollte zu den Quenu-Gradelle gehen, um dort alles zu zerschlagen. Dann begnügte sie sich, Feinchen durchzuprügeln.

Wenn du je wieder dorthin gehst, rief sie wütend, hast du es mit mir zu tun.

Aber das eigentliche Opfer der beiden Frauen war Florent. Im Grunde hatte er allein sie auf diesen Kriegsfuß gebracht; sie schlugen sich nur seinethalben. Seit seiner Ankunft ging alles schief; er kompromittierte, erzürnte, beunruhigte diese Leute, die bis dahin in bester Eintracht gelebt hatten. Die schöne Normännin würde ihm gern mit den Nägeln ins Gesicht gefahren sein, wenn sie ihn zu lange bei den Quenu verweilen sah. Die Kampflust trug viel dazu bei, wenn sie nach diesem Manne Verlangen trug. Die schöne Lisa bewahrte die strenge Haltung eines Richters angesichts der schlimmen Lebensführung ihres Schwagers, dessen Beziehungen zu den beiden Schwestern Méhudin das Ärgernis des ganzen Stadtviertels waren. Sie war furchtbar verdrossen; sie bemühte sich, ihre Eifersucht zu verbergen, eine seltsame Eifersucht, die trotz ihrer Verachtung für Florent und trotz ihrer Kälte einer ehrbaren Frau sie jedesmal verbitterte, wenn ihr Schwager den Laden verließ, um nach der Pirouette-Straße zu gehen, und wenn sie sich die verbotenen Freuden vorstellte, die er dort sicherlich genoß.

Der Abendtisch bei den Quenu ward weniger gemütlich. Die Sauberkeit des Speisezimmers nahm einen herben, spröden Charakter an. Aus den hellgelben Eichenmöbeln, der allzu blanken Lampe, der neuen Matte fühlte Florent einen Vorwurf, eine Art Verurteilung heraus. Er wagte kaum mehr zu essen, aus Furcht, daß er Brotkrümchen fallen lassen, seinen Teller beschmutzen könnte. Indes war er zu einfältig, um die Lage klar zu sehen. Überall pries er die Sanftmut Lisas. Sie blieb in der Tat sehr sanft; sie sagte ihm lächelnd, wie im Scherze:

Es ist sonderbar: Sie essen jetzt nicht schlecht und werden doch nicht fetter ... Es bekommt Ihnen nicht gut.

Quenu lachte noch lauter, schlug seinem Bruder auf den Bauch und behauptete, daß der ganze Metzgerladen seinen Weg durch diesen Bauch nehmen könne, ohne für zwei Kreuzer Fett daselbst zurückzulassen. Allein in der Beharrlichkeit Lisas lag jener Haß, jenes Mißtrauen gegen die Mageren, das die Mutter Méhudin noch schroffer bekundete; es lag darin auch eine versteckte Anspielung auf das regellose Leben, das Florent führte. Sie sprach übrigens vor ihm niemals von der schönen Normännin. Als Quenu eines Abends einen Scherz wagte, ward sie so eisig kühl, daß der würdige Mann sogleich abließ. Nach dem Nachtisch saßen sie noch eine Weile beisammen. Florent, der bemerkte, daß seine Schwägerin verstimmt sei, wenn er zu früh wegging, suchte ein Gespräch anzuknüpfen. Sie saß ganz nahe bei ihm; er fand sie nicht so warm, nicht so lebendig, wie die Fischhändlerin; sie hatte auch nicht den scharfen, durchdringenden Fischgeruch; sie hatte den faden Geruch der Fette, der Braten. Kein Frösteln warf eine Falte an ihrem straff gespannten Leibchen. Die allzu feste Berührung der schönen Lisa beunruhigte seine mageren Knochen noch mehr, als die zarte Annäherung der schönen Normännin. Gavard sagte ihm einmal vertraulich, daß die Quenu sicherlich eine schöne Frau sei, aber, daß er die Frauen weniger »gepanzert« liebe.

Lisa vermied es, mit ihrem Gatten von Florent zu reden. Gewöhnlich trug sie große Geduld zur Schau. Auch hielt sie es für ein Gebot der Rechtschaffenheit, sich nicht ohne sehr ernste Gründe zwischen die zwei Brüder zu stellen. Wie sie zu sagen pflegte, war sie sehr gut, durfte aber nicht zum Äußersten getrieben werden. Sie war in einer Periode der Nachsicht; ihr Gesicht blieb stumm, ihre Höflichkeit tadellos; sie heuchelte Gleichgültigkeit und vermied sorgfältig alles, was den Beamten hätte daran erinnern können, daß er bei ihnen Wohnung und Verpflegung hatte, ohne daß man jemals sein Geld gesehen hätte. Nicht als hätte sie irgendeine Zahlung angenommen; darüber war sie erhaben. Aber er hätte doch wenigstens sein Frühstück außer dem Hause nehmen können. Eines Tages sagte sie ihrem Gatten:

Wir sind gar nie mehr allein; wenn wir miteinander reden wollen, müssen wir warten, bis wir des Abends zu Bett gegangen sind.

Und eines Abends, als sie Kissen an Kissen lagen, sagte sie:

Dein Bruder erwirbt hundertundfünfzig Franken monatlich, nicht wahr? ... Es ist doch eigentümlich, daß er nichts erübrigen kann, um sich einige Wäsche zu kaufen. Ich mußte ihm wieder drei alte Hemden aus deinem Vorrat geben.

Bah, das tut nichts, sagte Quenu. Mein Bruder ist keine große Last. Man muß ihm sein Geld lassen.

Oh, gewiß, murmelte Lisa, ohne bei der Sache weiter zu beharren. Ich sage es auch nicht deshalb ... Ob er sein Geld gut oder schlecht verwendet, geht uns doch nichts an.

Sie war überzeugt, daß er sein Geld bei den Méhudin verzehre. Nur einmal trat sie aus ihrer ruhigen, berechnenden Haltung heraus. Die schöne Normännin hatte Florent einen prächtigen Lachs zum Geschenke gemacht. Florent hatte nicht gewagt, das Geschenk zurückzuweisen und da er mit dem Fische nichts anzufangen wußte, brachte er ihn Lisa:

Machen Sie eine Pastete daraus, sagte er treuherzig.

Sie sah ihn starr an und erbleichte bis an die Lippen; dann sagte sie mit einer Stimme, deren Bewegung sie zu meistern suchte:

Glauben Sie etwa, wir hätten Not an Nahrung? Es gibt, Gott sei gelobt, bei uns noch zu essen. Tragen Sie ihn nur wieder weg!

So lassen Sie ihn für mich kochen, ich werde ihn essen, entgegnete Florent, erstaunt über ihren Ingrimm.

Nun brach sie los.

Unser Haus ist doch vielleicht keine Herberge! Sagen Sie den Leuten, die Ihnen den Fisch gegeben, sie mögen ihn kochen, wenn sie wollen. Ich habe keine Lust, mein Kochgeschirr verunreinigen zu lassen ... Tragen Sie ihn nur wieder weg, hören Sie?

Sie war nahe daran, den Fisch auf die Straße zu werfen. Er trug ihn zu Herrn Lebigre, wo Rosa den Auftrag erhielt, eine Pastete daraus zu machen. Und eines Abends verspeiste die Gesellschaft des Sonderkabinetts die Fischpastete. Gavard zahlte Austern dazu. Florent kam allmählich häufiger und fehlte kaum mehr einen Abend in dem Kabinett. Er fand daselbst eine überhitzte Umgebung, wo sein politisches Fieber sich frei entwickeln konnte. Wenn er sich jetzt in seiner Dachkammer einschloß, um zu arbeiten, ward er oft ungeduldig in der Stille dieses Raumes; das gedankliche Streben nach Freiheit genügte ihm nicht mehr; er mußte hinuntergehen und Befriedigung suchen in den schneidigen Sätzen Charvets und in den heftigen Ausfällen Logres. An den ersten Abenden war diese geräuschvolle Flut von Worten ihm lästig, er fühlte ihre Leere; aber er empfand ein Bedürfnis, sich zu betäuben, sich aufzustacheln, zu irgendeinem äußersten Entschlusse getrieben zu werden, der die Unruhe seines Geistes beschwichtigen würde. Der Geruch des Kabinetts, dieser vom Tabaksqualm und den Dünsten der Getränke geschwängerte Geruch berauschte ihn, brachte ihm ein ganz eigenartiges Behagen, ein einlullendes Sichgehenlassen, bei dem er sehr plumpe Dinge leicht hinnahm. Er kam so weit, die Gestalten zu lieben, die er hier fand, sie aufzusuchen und mit dem Vergnügen der Gewohnheit unter ihnen zu verweilen. Das sanfte und bärtige Antlitz Robines, das ernste Gesicht Clémences, der blasse, hagere Kopf Charvets, der Höcker Logres, und Gavard und Alexander und Lacaille: sie gehörten jetzt zu seinem Leben und nahmen in ihm einen immer größeren Platz ein. Es war für ihn eine ganz sinnliche Freude. Wenn er die Hand an den Messingknopf der Türe des Kabinetts legte, war ihm, als lebe dieser Knopf, erwärme ihm die Finger, drehe sich von selbst; die Berührung des geschmeidigen Handgelenks einer Frau würde kein lebhafteres Gefühl in ihm hervorgerufen haben.

In der Tat gingen in dem Kabinett sehr ernste Dinge vor. Eines Abends erklärte Logre, nachdem er noch heftiger als sonst gewettert hatte, unter wütenden Faustschlägen auf den Tisch, daß sie die Regierung stürzen müßten, wenn sie Männer wären. Und er fügte hinzu, daß man sich sogleich verständigen müsse, wenn man in der Stunde des Zusammenbruchs bereit sein wolle. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und kamen im Flüstertone überein, daß sie eine kleine Gruppe bilden wollten, bereit für alle kommenden Ereignisse. Seit jenem Tage war Gavard überzeugt, daß er einem Geheimbunde angehöre und ein Verschwörer sei. Der Kreis erweiterte sich nicht; aber Logre versprach, ihn mit anderen, ihm bekannten Vereinigungen in Berührung zu bringen. In dem Augenblicke, wo man ganz Paris in der Hand habe, werde man den Tuilerien zum Tanze aufspielen. Nun gab es Monate hindurch endlose Erörterungen: Fragen der Organisation, Fragen des Zieles und der Mittel, Fragen des Kampfes und der künftigen Regierungsform. Sobald Rosa für Clemence den Grog, für Charvet und Robin das Bier, für Logre, Gavard und Florent den Mazagran, für Lacaille und Alexander den Schnaps gebracht hatte, wurde das Kabinett sorgfältig verrammelt und die Sitzung war eröffnet.

Charvet und Florent hatten natürlich die gewichtigsten Stimmen in diesem Kreise. Gavard hatte seine Zunge nicht meistern können und hatte nach und nach die Geschichte von Cayenne erzählt, was Florent einen Märtyrerruhm verschaffte. Seine Worte galten als Glaubensartikel. Eines Abends rief der Geflügelhändler, als man seinen abwesenden Freund angriff, in wütendem Tone:

Laßt mir Florent ungeschoren! Er war in Cayenne.

Doch Charvet fühlte sich durch diesen Vorzug sehr verletzt.

Cayenne, Cayenne, murmelte er zwischen den Zähnen; es war schließlich dort nicht so schlimm.

Er versuchte den Beweis dafür zu führen, daß die Verbannung nichts sei, daß das tiefe Leid darin bestehe, im Vaterlande zu bleiben, unterdrückt, mit geknebeltem Munde, angesichts des triumphierenden Despotismus. Übrigens sei es nicht seine Schuld, wenn er am 2. Dezember nicht verhaftet worden. Er gab sogar zu verstehen, daß alle, die sich fangen ließen, Tölpel seien. Diese geheime Eifersucht machte ihn zum systematischen Gegner Florents. Die Besprechungen endigten stets mit einer Auseinandersetzung zwischen ihnen beiden. Sie sprachen noch stundenlang inmitten des Schweigens der anderen, ohne daß jemals einer von ihnen sich besiegt erklärt hätte.

Eine der Lieblingsfragen war die der Organisation des Landes nach dem Siege.

Wir sind doch Sieger, nicht wahr? ... begann Gavard.

Nachdem der Sieg einmal ausgemacht war, sagte jeder seine Meinung. Es gab zwei Lager. Charvet, der sich zum Hebertismus bekannte, hatte Logre und Robine für sich. Florent, stets in seinem Menschheitstraum verloren, gab sich als Sozialisten und stützte sich auf Alexander und Lacaille. Was Gavard betrifft, so war er den gewaltsamen Ideen nicht abhold; allein da man ihm zuweilen seinen Reichtum vorwarf mit herben Spaßen, die ihn in Aufregung versetzten, war er Kommunist.

Man muß reinen Tisch machen, sagte Charvet mit seinem knappen Tone, der so scharf klang wie ein Beilhieb. Der Stamm ist faul, man muß ihn fällen.

Ja, ja, nahm Logre den Faden auf, wobei er aufstand, um größer zu scheinen und mit den Stößen seines Höckers die Holzwand des Kabinetts erschütterte ... Alles muß niedergerissen werden, das sage ich euch. Dann wird man weiter sehen.

Robine nickte zustimmend mit dem Barte. Wenn die Vorschläge ganz und gar revolutionär waren, schwelgte er so recht in seinem Stillschweigen. Bei dem Worte Guillotine nahmen seine Augen einen milden Glanz an und er schloß sie halb, als sehe er die Sache und als rühre sie ihn tief; dann kratzte er sich das Kinn mit dem Knopfe seines Stockes und grunzte vergnügt dazu.

Und doch, sagte Florent mit einem leisen Anklang von Traurigkeit, – und doch, wenn ihr den Baum fället, wird es notwendig sein, den Samen aufzubewahren ... Ich glaube im Gegenteil, daß wir den Baum erhalten müssen, um ihm neues Leben einzuimpfen. Die politische Umwälzung ist vollzogen, wir müssen heute an den Arbeiter denken; unsere Bewegung muß rein sozial sein. Ich warne euch, dieser Erlösung des Volkes entgegenzutreten. Das Volk ist müde, es will sein Teil haben.

Diese Worte begeisterten Alexander. Er bestätigte mit seiner gutmütigen und strahlenden Miene, dies sei wahr, das Volk sei müde.

Wir wollen unser Teil, fügte Lacaille mit drohender Miene hinzu. Alle Revolutionen waren für die Spießbürger. Jetzt ist's genug; die nächste ist für uns.

Da war es aus mit dem guten Einvernehmen. Gavard war bereit zu teilen. Logre wies die Teilung zurück und schwor, er hänge nicht am Gelde. Allmählich beherrschte Charvet den Tumult und sprach allein:

Die Selbstsucht der Klassen ist eine der kräftigsten Stützen der Tyrannei. Es ist schlimm, daß das Volk selbstsüchtig ist. Wenn es mit uns gehen will, wird es seinen Teil haben ... Warum soll ich mich für den Arbeiter schlagen, wenn der Arbeiter sich weigert, sich für mich zu schlagen? Übrigens liegt das Wesen der Frage nicht darin. Zehn Jahre revolutionärer Diktatur sind notwendig, um ein Land wie Frankreich an die Ausübung der Freiheit zu gewöhnen.

Um so mehr, erklärte Clémence klar, als der Arbeiter nicht reif ist und geleitet werden muß.

Sie sprach nur selten. Dieses große, ernste Mädchen, das unter allen diesen Männern kaum bemerkt wurde, hatte eine professorenmäßige Art zuzuhören, wenn von Politik gesprochen wurde. Sie lehnte sich an die Wand des Kabinetts, trank ihren Grog in kleinen Schlücken und betrachtete die Sprechenden, wobei sie die Augenbrauen runzelte und die Nasenflügel blähte, und so in stummer Weise ihre Zustimmung oder ihren Widerspruch zum Ausdruck brachte, was bewies, daß sie begriff, und daß sie ihre bestimmten Ansichten über die verwickeltsten Fragen hatte. Von Zeit zu Zeit rollte sie sich eine Zigarette, blies aus dem Mundwinkel ein leichtes Rauchwölkchen empor und wurde aufmerksamer. Es hatte den Anschein, als werde der Streit vor ihr geführt und als habe sie schließlich Preise zu verteilen. Sicherlich glaubte sie ihre Stellung als Frau zu behaupten, wenn sie mit ihrer Ansicht zurückhielt und sich nicht ereiferte, wie die Männer. Nur wenn die Wogen der Erörterung hoch gingen, warf sie ein Wort ein und wußte auch Charvet treffende Antworten zu geben. Im Grunde hielt sie sich für viel gescheiter als alle die Herren, und sie hatte nur Achtung vor Robine, dessen Stillschweigen sie mit ihren großen, schwarzen Augen beobachtete.

Florent beachtete Clémence so wenig, wie die anderen Herren es taten. Für die Gesellschaft war sie ein Mann, und man schüttelte ihr so kräftig die Hand, daß ihr schier der Arm ausgerenkt ward. Eines Abends hatte Florent Gelegenheit, den famosen Rechnungen zwischen Clémence und Charvet beizuwohnen. Da die junge Frau eben ihr Geld erhalten hatte, wollte Charvet zehn Franken von ihr borgen. Allein sie verweigerte ihm diese Summe, indem sie erklärte, man müsse vorher wissen, wie die Rechnung stehe. Sie lebten auf dem Boden der freien Ehe und der freien Vermögensverfügung; jeder von ihnen bestritt genau seine Ausgaben; so schuldeten sie einander nichts, wie sie sagten, und waren keine Sklaven. Die Miete, die Nahrung, die Wäsche, die kleinen Vergnügungen: alles wurde aufgeschrieben und addiert. Nach genauer Prüfung zeigte Clémence an diesem Abend ihrem Freunde Charvet, daß er ihr bereits fünf Franken schulde. Sie gab ihm die zehn Franken mit den Worten:

Vermerke dir's, daß du mir nunmehr fünfzehn Franken schuldest; du wirst mir sie am 5. des Monats bezahlen aus deiner Entlohnung für die Lektionen bei dem kleinen Léhudier.

Als Rose gerufen ward, zog jeder seine paar Sous aus der Tasche, um seinen Trunk zu bezahlen. Charvet nannte Clémence lachend eine Aristokratin, weil sie Grog trank. Er sagte, sie wolle ihn demütigen, ihn fühlen lassen, daß er weniger erwerbe, was auch richtig war; und hinter seinem Lachen barg sich eine Verwahrung gegen diesen größeren Erwerb, der ihn demütigte, trotz seines Grundsatzes von der Gleichheit der Geschlechter.

Wenn die Besprechungen auch zu keinem Einverständnisse führten, so erhielten sie doch die Herren im Atem. Ein furchtbarer Lärm drang aus dem Kabinett hervor. Die Scheiben von mattem Glase klirrten wie Trommeln. Manchmal ward der Lärm so arg, daß Rose, die am Pulte irgendeinem Blusenmann einen Trunk einschenkte, beunruhigt den Kopf umwandte.

Sie prügeln sich da drin, sagte der Blusenmann, und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.

Es hat keine Gefahr, entgegnete Herr Lebigre; es sind Herren, die ein Gespräch führen.

Herr Lebigre, gegen seine anderen Gäste sehr hart, ließ sie nach Belieben schreien, ohne ihnen jemals die geringste Bemerkung zu machen. Er saß stundenlang auf dem Bänkchen vor dem Pulte, bekleidet mit einer Ärmelweste, den dicken, schläfrigen Kopf an den Spiegel gelehnt, mit dem Blicke Rose folgend, die Flaschen entkorkte oder mit dem Wischlappen hantierte. Wenn er gut gelaunt war und sie vor ihm stand, mit nackten Armen Gläser spülend, kneipte er sie wohl unbemerkt in den Schenkel, was sie mit einem behaglichen Lächeln hinnahm. Sie verriet diese Vertraulichkeit nicht mit dem leisesten Zucken; wenn er sie bis aufs Blut zwickte, sagte sie, sie sei nicht kitzlig. Indes, wenngleich er in dem Weindunste und in dem heißen Lichte einschlummerte, spitzte Herr Lebigre doch die Ohren auf das Geräusch, das aus dem Kabinett kam. Wenn der Lärm lauter wurde, erhob er sich und lehnte sich an die Glaswand; oder er trat auch ein, setzte sich eine Weile und schlug Gavard kräftig auf die Schenkel. Und er nickte zu allem beistimmend mit dem Kopfe. Der Geflügelhändler pflegte zu sagen, Herr Lebigre sei zwar kein Redner, doch könne man auf ihn zählen an dem Tage, da es »losgehe«.

Eines Tages mußte Florent in den Hallen Frieden stiften in einem häßlichen Gezänke, das zwischen einer Fischhändlerin und Rose ausgebrochen war, weil diese, ohne es zu wollen, einen Korb Heringe umgeworfen hatte. Bei dieser Gelegenheit hörte Florent, daß Rose ein »Polizeispitzel« geschimpft wurde. Als der Friede hergestellt war, erzählte man ihm vieles von Herrn Lebigre; er gehöre zur Polizei, das sei im ganzen Stadtviertel bekannt. Fräulein Saget habe, bevor sie ihren Vorrat an Getränken bei ihm holte, erzählt, daß sie ihn einmal getroffen habe, wie er zum Rapport ging. Auch sei er ein Geldmensch, ein Wucherer, der den Grünkramhändlern zu unchristlichen Zinsen Geld leihe und Karren vermiete. Florent war davon sehr betroffen, und des Abends glaubte er den Herren alle diese Dinge mit gedämpfter Stimme wieder erzählen zu sollen. Doch sie zuckten nur mit den Achseln und lachten über seine Bedenken.

Der arme Florent! sagte Charvet boshaft; weil er in Cayenne gewesen, glaubt er, die ganze Polizei sei hinter ihm her.

Gavard gab sein Ehrenwort, daß Lebigre ein »Guter«, ein »Reiner« sei. Doch Logre erzürnte sich am meisten. Sein Sessel krachte in allen Fugen; er erklärte heftig, es könne so nicht weiter gehen; wenn man schon jeden beschuldige, von der Polizei zu sein, so wolle er lieber zu Hause bleiben und sich nicht mehr mit Politik beschäftigen. Hat man es doch gewagt, auch ihn, Logre, zu beschuldigen, daß er in den Diensten der Polizei stehe! Ihn, der im Jahre 1848 und im Jahre 1851 sich für die Freiheit geschlagen und zweimal nahe daran gewesen, verschickt zu werden! Indem er so schrie, betrachtete er die anderen mit vorgestrecktem Kinn, als wolle er ihnen unnachsichtig die Überzeugung annageln, daß er nicht zur Polizei gehöre. Bei seinen wütenden Blicken verwahrten sich alle dagegen, daß sie ihn verdächtigten. Lacaille allein ließ stumm den Kopf sinken, als Lebigre ein Wucherer genannt wurde.

Der Zwischenfall ging in den Besprechungen unter. Seitdem Logre den Gedanken einer Verschwörung angeregt, teilte Herr Lebigre kräftige Händedrücke an die Stammgäste des Kabinetts aus. In Wahrheit mochte ihre Kundschaft ihm wenig Nutzen bringen; sie ließen sich niemals einen zweiten Trunk bringen. War die Stunde des Aufbruchs gekommen, dann tranken sie den letzten Tropfen aus ihrem Glase, den sie während ihrer heftigen Debatten über politische und soziale Gedanken vorsichtigerweise hatten stehen lassen. Beim Aufbruch in der feuchten Nachtkälte fröstelte man. Sie standen eine Weile auf dem Fußweg mit glühenden Augen, summenden Ohren, gleichsam überrascht durch die Dunkelheit und Stille der Nacht. Wenn sie einmal draußen waren, schloß Rose die Fensterläden. Dann, wenn sie ausgepumpt, kein Wort mehr fanden und einander die Hände gedrückt hatten, trennten sie sich, brummten noch vor sich hin mit dem Bedauern, daß sie sich ihre Überzeugungen nicht gegenseitig in den Rachen stoßen konnten. Der runde Rücken Robines verschwand nach der Seite der Rambuteau-Straße hin, während Charvet und Clémence die Hallen entlang bis zum Luxemburggarten gingen, Seite an Seite, mit festem, militärischem Tritt, noch immer irgendeinen politischen oder philosophischen Punkt erörternd und sich niemals den Arm reichend.

Das Komplott reifte nur langsam. Zu Beginn des Sommers war noch immer nur von der Notwendigkeit die Rede, »den Streich zu versuchen«. Florent, der in der ersten Zeit ein gewisses Mißtrauen hegte, glaubte schließlich an die Möglichkeit einer revolutionären Bewegung. Er beschäftigte sich sehr ernstlich damit, machte Notizen, entwarf schriftliche Pläne. Die anderen redeten nur immer. Er konzentrierte allmählich sein ganzes Leben in dieser fixen Idee, über die er sich jeden Abend den Kopf zermarterte in dem Maße, daß er schließlich seinen Bruder Quenu zu Herrn Lebigre führte, natürlich ohne an Schlimmes zu denken. Er behandelte ihn noch immer ein wenig wie seinen Zögling; er dachte wohl auch, daß er die Pflicht habe, ihn auf den guten Weg zu leiten. Quenu war in der Politik völlig ein Neuling; allein nach fünf oder sechs Abenden war er mit der Gesellschaft in Übereinstimmung. Er zeigte große Gelehrigkeit, eine Art Achtung vor den Ratschlägen seines Bruders, wenn die schöne Lisa nicht dabei war. Vor allem verlockend schien ihm diese spießbürgerliche Zerstreuung, seinen Wurstladen verlassen, sich in diesem Kabinett einschließen zu können, wo man so laut schrie und wo die Anwesenheit Clémences in die ganze Unterhaltung einen köstlichen Stich ins Verbotene brachte. Er trachtete jetzt eilig von seinen Würsten wegzukommen, um kein Wort von diesen Reden zu verlieren, die ihm höchst gescheit schienen, ohne daß er ihnen immer bis zu Ende zu folgen vermochte. Die schöne Lisa merkte wohl seine Eile fortzukommen, aber sie sagte noch nichts. Wenn Florent ihn wegführte, trat sie auf die Schwelle und blickte ihnen blaß mit strengen Augen nach, bis sie bei Herrn Lebigre eingetreten waren.

Fräulein Saget erkannte eines Abends von ihrer Dachluke aus den Schatten Quenus hinter den matten Scheiben des auf die Pirouette-Straße gehenden Fensters des Kabinetts. Sie hatte da einen vortrefflichen Beobachtungsposten gefunden gegenüber dieser Scheibe von durchsichtigem Milchglas, an der sich die Schattenbilder der Herren abzeichneten mit plötzlich auftauchenden Nasen, Kinnbacken, mit riesigen Armen, die plötzlich erhoben wurden, ohne daß man die Körper sah. Diese überraschenden Gliederverrenkungen, diese stummen und wütenden Gesichter, die nach außen die feuereifrigen Besprechungen des Kabinetts verrieten, hielten sie hinter ihren Musselinevorhängen fest, bis das Fenster dunkel ward. Sie witterte da einen »bösen Streich«. Sie hatte schließlich alle diese Schatten an den Händen, an den Haaren, an den Kleidern erkannt. Wenn sie dieses Durcheinander von geballten Fäusten sah, von zornigen Köpfen, von erhobenen Schultern, die sich ausrenken und aufeinander losfallen zu wollen schienen, sagte sie bestimmt: »Dies ist der lange Vetter, dies der alte Geizhals Gavard, dies der Bucklige und dies die Hopfenstange Clémence«. Wenn die Schatten sich erhitzten und in einen wüsten Streit gerieten, ward sie von einem unwiderstehlichen Bedürfnis erfaßt, hinabzugehen und näher zuzuschauen. Sie kaufte ihren Likör am Abend unter dem Vorwande, daß sie sich des Morgens immer »so gar nicht recht wohl« fühle und ein Schlückchen nehmen müsse, sowie sie das Bett verlassen habe. An dem Tage, da sie den dicken Kopf Quenus sah, vor dem von Zeit zu Zeit die dünne Hand Charvets herumfuchtelte, kam sie ganz atemlos zu Herrn Lebigre herunter und ließ ihr Fläschchen von Rose ausspülen, um dadurch mehr Zeit zu gewinnen. Sie war im Begriffe wieder heimzukehren, als sie die Stimme des Wurstmachers hörte, der laut wie ein Kind sagte:

Nein, es geht nicht weiter! ... Man muß gründlich aufräumen mit allen diesen Deputierten und Ministern! ...

Am anderen Morgen war Fräulein Saget schon um acht Uhr im Wurstladen. Sie fand daselbst Frau Lecoeur und die Sarriette, die ihre Nase in den Schmorofen steckten, um sich Würste für ihr Frühstück auszusuchen. Da die alte Jungfer sie in den Streit mit der schönen Normännin wegen des Sandaales für zehn Sous mit hineingezogen, hatten beide sich schnell mit der schönen Lisa ausgesöhnt. Sie ließen jetzt kein gutes Haar an der Fischhändlerin, schimpften über die Méhudin, »diese Dirnen, die nur nach dem Gelde der Männer trachteten«. Die Wahrheit war, daß Fräulein Saget der Frau Lecoeur zu verstehen gegeben hatte, daß Florent von Zeit zu Zeit eine der Schwestern Herrn Gavard überlasse und daß sie dann alle vier im Restaurant Baratte Zechgelage halten, deren Kosten natürlich der Geflügelhändler bestreite. Frau Lecoeur glaubte, darüber vor Ärger bersten zu müssen.

An diesem Morgen war es Madame Quenu, der die Alte einen Hieb versetzen wollte. Sie trippelte vor dem Pulte hin und her und sagte endlich mit ihrer sanftesten Flötenstimme:

Gestern abend sah ich Herrn Quenu. Oh, sie vergnügen sich gar nicht schlecht in dem Kabinett, wo sie soviel Lärm machen.

Lisa blickte auf die Straße hinaus; sie hörte aufmerksam zu, wollte aber ohne Zweifel der Sprechenden nicht ins Gesicht sehen. Fräulein Saget machte eine Pause, weil sie hoffte, man werde sie befragen. Dann fügte sie ganz leise hinzu:

Sie haben auch eine Frau mit sich ... Oh, nicht Herr Quenu ... Das sage ich nicht ... denn ich weiß es nicht ...

Es ist Clémence, sagte die Sarriette; eine lange Dürre, die sich spreizt, weil sie in der Pension gewesen. Sie lebt mit einem schäbigen Lehrer ... Ich habe sie zusammen gesehen; sie sehen immer aus, als würden sie sich gegenseitig zur Polizei führen.

Ich weiß, ich weiß, sagte die Alte, die ihren Charvet und ihre Clémence sehr wohl kannte und die nur sprach, um die Wursthändlerin zu beunruhigen.

Doch diese rührte sich nicht; sie tat, als beobachte sie eine sehr interessante Sache in den Hallen. Da griff die andere zu den großen Mitteln. Sie wandte sich an Madame Lecoeur:

Ihnen wollte ich sagen, Sie täten gut daran, Ihrem Schwager zu raten, daß er vorsichtig sei. Sie schreien in ihrem Kabinett schreckliche Dinge. Die Männer sind wirklich nicht gescheit mit ihrer Politik. Wenn man sie hörte, könnte die Sache eine schlimme Wendung für sie nehmen.

Gavard tut leider was er will, sagte Frau Lecoeur seufzend. Das hat noch gefehlt. Der Kummer wird mich töten, wenn er eines Tages eingesperrt wird.

Ein Licht blitzte in ihren trüben Augen auf. Die Sarriette aber lachte und schüttelte ihr von der Morgenluft gerötetes, kleines Gesicht.

Jules, sagte sie, würde bald mit jenen fertig werden, die Schlimmes vom Kaiserreich reden ... Man müßte sie sämtlich in die Seine werfen; wie er mir erklärt hat, gibt es keinen einzigen anständigen Menschen unter ihnen.

Es ist nicht schlimm, fuhr Fräulein Saget fort, so lange das, was sie reden, nur von solchen Personen gehört wird, wie ich bin ... Sie wissen ja, ich würde mir eher die Hände abhacken lassen ... So sagte gestern abends Herr Quenu...

Sie hielt abermals inne. Lisa machte eine leise Bewegung.

Herr Quenu sagte, man müsse die Deputierten, die Minister und das ganze Pack niederknallen.

Jetzt wandte die Wursthändlerin sich plötzlich um; sie war ganz bleich und kreuzte die Arme.

Quenu hat das gesagt? fragte sie mit leiser Stimme.

Und noch andere Dinge, deren ich mich nicht erinnere. Sie begreifen, ich habe ihn gehört, darum kränken Sie sich nicht weiter, Madame Quenu. Sie wissen ja, bei mir kommt nichts heraus; ich bin alt genug um zu wissen, was einem Manne gefährlich werden kann ... Es bleibt unter uns.

Lisa hatte sich gefaßt. Sie war stolz auf das gute Einvernehmen ihres Hauses; sie gab nicht das mindeste Wölkchen an ihrem Ehehimmel zu. Sie zuckte denn auch schließlich mit den Achseln und sagte lächelnd:

Das sind Dummheiten, um damit Kinder zum Lachen zu bringen.

Als die drei Frauen wieder auf der Straße waren, kamen sie dahin überein, daß Lisa eine drollige Miene gemacht habe. Alles – der Vetter, die Méhudin, Gavard, die Quenu mit ihren unbegreiflichen Geschichten – nimmt ein böses Ende. Frau Lecoeur fragte, was mit den Leuten geschehe, die wegen der Politik verhaftet werden. Fräulein Saget wußte nur soviel, daß sie nicht wieder zum Vorschein kommen; worauf die Sarriette sagte, daß man sie vielleicht in die Seine werfe, wie Jules es verlangte.

Beim Frühstück und bei der Abendmahlzeit vermied die Wursthändlerin jede Anspielung. Als Florent und Quenu am Abend zu Herrn Lebigre gingen, schien alle Strenge aus ihren Blicken geschwunden zu sein. Allein gerade an diesem Abende wurde die Frage der nächsten Verfassung erörtert, und es war ein Uhr morgens, als die Herren sich entschlossen, das Kabinett zu verlassen; die Türe war geschlossen, sie mußten bei dem Seitenpförtchen hinaus, einer nach dem andern, und sich bücken, um hindurchzukommen. Unter lebhaften Gewissensbissen kehrte Quenu heim; er öffnete so sachte wie möglich die Türen der Wohnung, ging auf den Fußspitzen durch den Salon, mit ausgestreckten Armen, um nicht an die Möbel anzustoßen. Alles schlief. In das Schlafzimmer eintretend sah er zu seinem großen Verdrusse, daß Lisa die Kerze hatte brennen lassen; inmitten der tiefen Stille brannte diese Kerze mit hoher, trübseliger Flamme. Als er seine Schuhe auszog und auf den Teppich hinstellte, schlug die Uhr halb zwei so hell, daß er sich ganz betroffen umwandte, jede Bewegung fürchtend und mit wütender Miene den vergoldeten Gutenberg betrachtend, der die Uhr schmückte. Er sah nur den Rücken Lisas, die den Kopf fest in das Kissen drückte; aber er merkte wohl, daß sie nicht schlief, daß sie, die weit offenen Augen auf die Mauer geheftet, da liegen mochte. Dieser breite Rücken mit den vollen Schultern war bleich in seinem verhaltenen Zorne; er blähte sich und bewahrte die Unbeweglichkeit und Schwere einer Anklage, auf die es nichts zu erwidern gab. Völlig aus der Fassung gebracht durch die harte Strenge dieses Rückens, der ihn mit dem starren Gesichte eines Richters zu betrachten schien, schlüpfte Quenu unter die Bettdecke, blies die Kerze aus und verhielt sich still. Er war am Rande des Bettes geblieben, um seine Frau nicht zu berühren. Sie schlief noch immer nicht, er hätte darauf schwören können. Dann überließ er sich dem Schlafe, er war verzweifelt, daß sie nicht sprach, und fand doch nicht den Mut, ihr gute Nacht zu sagen, machtlos angesichts dieser unerbittlichen Masse, die seiner Unterwürfigkeit jede Annäherung wehrte.

Am anderen Morgen schlief er lange. Als er erwachte – mitten im Bette liegend und bis an das Kinn zugedeckt – sah er Lisa vor dem Schreibtisch sitzen, mit dem Ordnen von Papieren beschäftigt; sie war aufgestanden, ohne daß er – in seiner großen Schläfrigkeit nach den Ausschweifungen des gestrigen Abends – es merkte. Er faßte sich ein Herz und sagte aus dem Schlafzimmer heraus:

Warum hast du mich denn nicht geweckt? ... Was machst du dort?

Ich ordne die Schubfächer, entgegnete sie sehr ruhig, mit ihrer gewöhnlichen Stimme. Er fühlte sich erleichtert. Doch sie fügte hinzu:

Man kann nicht wissen, was geschieht; wenn die Polizei käme ...

Wie, die Polizei?

Gewiß, da du dich jetzt mit Politik beschäftigst.

Er setzte sich höchlich erschrocken im Bette auf; dieser heftige und unvorhergesehene Angriff traf ihn schwer.

Ich beschäftige mich mit Politik ... ich beschäftige mich mit Politik ... wiederholte er. Das geht die Polizei nichts an. Ich kompromittiere mich nicht.

Nein, entgegnete Lisa achselzuckend; du sprichst bloß davon, alle Welt erschießen zu lassen.

Ich? Ich?

Und du schreist das in einer Weinstube ... Fräulein Saget hat dich gehört. Das ganze Stadtviertel weiß jetzt, daß du ein Roter bist.

Er legte sich gleich wieder hin. Er war noch nicht ganz wach. Lisas Worte gellten ihm in den Ohren, als habe er schon die schweren Tritte der Gendarmen vor der Türe des Schlafzimmers gehört. Er sah sie an, wie sie frisiert, eingeschnürt, in ihrem gewöhnlichen Anzüge vor ihm stand, und duckte sich noch mehr, als er sie in diesem dramatischen Augenblicke so gleichmütig fand.

Du weißt, ich lasse dir volle Freiheit, nahm sie nach einer Weile auf, wobei sie fortfuhr, die Papiere zu ordnen; ich will nicht »die Hosen tragen«, wie man zu sagen pflegt. Du bist der Herr, du kannst unsere Stellung wagen, unsern Kredit kompromittieren, das Haus zugrunde richten ... Meine Aufgabe wird es dann sein, Paulinens Interessen wahrzunehmen.

Er widersprach; doch sie winkte ihm zu schweigen und fügte hinzu:

Nein, sage nichts; ich will keinen Streit, nicht einmal eine Auseinandersetzung herbeiführen. Ja, wenn du mich um Rat gefragt, wenn wir über die Sache gesprochen hätten, dann hätte ich dir allerdings meine Meinung gesagt. Man hat unrecht zu glauben, daß die Frauen nichts von Politik verstehen ... Soll ich dir meine Politik sagen?

Sie hatte sich erhoben, ging vom Bett zum Fenster und wischte mit dem Finger die Staubkörnchen weg, die sie an dem blanken Spiegelschrein und an der Kommode bemerkte.

Es ist die Politik der ehrbaren Leute ... Ich bin der Regierung dankbar, wenn mein Handel gut geht, wenn ich meine Suppe ruhig essen kann und nicht mit Flintenschüssen aus dem Schlafe geweckt werde. Es waren schöne Zustände im Jahre 1848, nicht wahr? Der Onkel Gradelle hat uns seine Bücher gezeigt; er hat damals mehr als sechstausend Franken verloren. Wir haben jetzt das Kaiserreich, und alle Geschäfte gehen gut. Du kannst nicht das Gegenteil behaupten. Was wollt ihr also? Was werdet ihr mehr haben, wenn ihr alle Welt erschossen habt?

Sie stellte sich mit gekreuzten Armen vor das Nachtkästchen hin, Quenu gegenüber, der unter den Federbetten verschwand. Er versuchte zu erklären, was die Herren wollten; aber er verwickelte sich in den politischen und sozialen Systemen Charvets und Florents; er sprach von mißverstandenen Grundsätzen, von der Herrschaft der Demokratie, von der Wiedergeburt der Gesellschaft und mengte alles dermaßen durcheinander, daß Lisa mit den Achseln zuckte, ohne zu begreifen. Schließlich half er sich heraus, indem er auf das Kaiserreich schimpfte; es sei eine Regierung der Ausschweifungen, der anrüchigen Geschäfte, des Diebstahls mit bewaffneter Hand.

Wir sind, sagte er, einer Redensart Logres sich erinnernd, wir sind die Beute einer Bande von Abenteurern, die Frankreich plündern, entehren, morden ... Das ist genug!

Sie zuckte noch immer mit den Schultern.

Ist das alles, was du zu sagen hast? fragte sie kaltblütig. Was kümmert mich, was du mir da erzählst? Und wenn dem so wäre, was weiter? ... Rate ich dir etwa, ein unredlicher Mann zu sein? Dränge ich dich dazu, deine Wechsel nicht einzulösen, deine Kunden zu betrügen, mit unrechtmäßig erworbenen Talern dich allzu rasch zu bereichern? Du bringst mich schließlich noch in Zorn! Wir sind ehrliche Leute, die niemanden plündern und niemanden morden. Das genügt. Die anderen haben mich nicht zu kümmern; mögen sie Hundsfötter sein, wenn sie wollen.

Sie war stolz und prächtig; hoch aufgerichtet ging sie wieder in der Stube auf und ab und fuhr fort:

Jenen zuliebe, die nichts haben, sollen wir also darauf verzichten, unseren Lebensunterhalt zu gewinnen? Sicher will ich die günstigen Verhältnisse ausnützen und eine Regierung unterstützen, die den Handel sichert. Wenn diese Regierung häßliche Dinge begeht, so will ich es nicht wissen. Ich tue nichts Schlechtes und fürchte nicht, daß man im Stadtviertel mit dem Finger auf mich zeigt. Es wäre doch zu dumm, sich mit Windmühlen zu schlagen. Du erinnerst dich, daß bei den Wahlen Gavard sagte, der Kandidat des Kaisers sei ein Mann, der Bankerott gemacht und sich durch schmutzige Geschichten bloßgestellt habe. Das mochte wahr sein, ich sage nichts dawider. Nichtsdestoweniger hast du klug gehandelt, als du für ihn stimmtest; denn die Frage war nicht die und man verlangte von dir nicht, daß du diesem Herrn Geld leihen, noch auch, daß du mit ihm Geschäfte machen sollest. Du hattest nur der Regierung zu zeigen, daß du mit dem Gedeihen des Wursthandels zufrieden seist.

Doch jetzt erinnerte sich Quenu einer Phrase Charvets, der erklärt hatte, daß »diese feisten Spießbürger, diese satten Krämer, die ihre Unterstützung einer Regierung des allgemeinen Mißbehagens leihen, zuerst in die Kloake geworfen werden müßten. Nur der Selbstsucht ihres Bauches habe man es zu danken, daß der Despotismus sich der Nation auf den Nacken setze und sie aufzehre«. Er wollte die Redensart beenden; allein Lisa schnitt ihm entrüstet das Wort ab.

Laß gut sein, rief sie; mein Gewissen hat mir nichts vorzuwerfen. Ich bin keinen Sou schuldig, biete zu keinem Mischmasch die Hand, kaufe und verkaufe gute Ware und fordere keine höheren Preise, als mein Nachbar ... Was du da sagst, mag für unsere Vettern, die Saccard, Geltung haben. Sie tun, als wüßten sie gar nicht, daß ich in Paris bin; aber ich bin stolzer als sie und mache mir gar nichts aus ihren Millionen. Man sagt, Saccard sei Bauspekulant und bestehle alle Welt. Das nimmt mich nicht wunder; er ist ja deshalb nach Paris gegangen. Er liebt es, sich im Gelde zu wälzen, um es nachher zum Fenster hinauszuwerfen wie ein Narr. Daß man Leute dieses Schlages, die ungeheure Reichtümer erwerben, anklagt, kann ich sehr gut begreifen.

Was mich betrifft, so achte ich Saccard nicht, damit du es nur weißt ... Aber wir, die wir ruhig leben, die wir fünfzehn Jahre brauchen, um unsern Wohlstand zu sichern; wir, die wir uns mit Politik nicht befassen, deren ganze Sorge darauf gerichtet ist, unsere Tochter zu erziehen und unser Schifflein in den Hafen zu steuern: wir sind doch ehrliche Leute! Laß mich in Frieden mit deinen dummen Späßen!

Sie setzte sich auf den Rand des Bettes. Quenu war wankend gemacht.

Höre mich an, fuhr sie mit ernster Stimme fort. Du willst doch nicht – denke ich – daß man deinen Laden plündert, deinen Keller leert, dein Geld raubt? Wenn diese Leute aus der Weinstube des Herrn Lebigre die Oberhand gewännen: glaubst du, du könntest am nächsten Tage warm in deinem Bette liegen, wie jetzt? Und wenn du in deine Küche gingest, glaubst du, du könntest dich ruhig an deine Sülzen machen, wie du es jetzt tust? Nein, nicht wahr? ... Also, warum redest du davon, die Regierung zu stürzen, die dich schützt und dir gestattet, Ersparnisse zu machen? Du hast ein Weib, du hast eine Tochter, du gehörst vor allem ihnen. Du wärest strafbar, wenn du ihr Glück auf das Spiel setzen wolltest. Nur Leute ohne Heim, nur Leute, die nichts zu verlieren haben, wollen Flintenschüsse hören. Du wirst doch nicht der Angeführte bei der Hetze sein wollen! So bleibe denn ruhig zu Hause, dicker Schöps; iß gut, schlaf gut, erwirb Geld und behalte dein ruhiges Gewissen. Sage dir, daß Frankreich, wenn das Kaiserreich es zu arg treibt, ohne dich fertig wird. Frankreich bedarf deiner nicht!

Sie ließ ihr helles, frohes Lachen vernehmen und Quenu war überzeugt. Sie hatte schließlich recht. Sie war eine schöne Frau, wie sie da am Bettrande saß, zu so früher Stunde fein gekämmt, frisch und sauber, mit ihrem blendend weißen Linnen. Während er Lisa zuhörte, betrachtete er ihrer beiden Bilder, die zu beiden Seiten des Kamins hingen; gewiß, sie waren rechtschaffene Leute, sahen sehr anständig aus, schwarz gekleidet, in Goldrahmen gefaßt. Auch das Gemach selbst schien das Zimmer vornehmer Personen zu sein; die Schutztücher von Spitzen breiteten sich gleichsam als Rechtschaffenheit auf die Sessel; der Teppich, die Vorhänge, die mit Landschaften bemalten Porzellanvasen kündeten ihre Arbeitsamkeit und ihren Geschmack für Bequemlichkeit. Da drückte er sich noch tiefer in die Federbetten, wo es schön warm war wie in einer Badewanne. Und es schien ihm, als sei er Gefahr gelaufen, alles bei Herrn Lebigre zu verlieren, sein großes Bett, sein wohl verschlossenes Zimmer, seinen Wurstladen, an den er jetzt mit Rührung und Gewissensbissen dachte. Von Lisa, von den Möbeln, von allen lieblichen Dingen, die ihn umgaben, stieg ein Wohlbehagen auf, das ihm in köstlicher Weise den Atem raubte.

Du hast einen schönen Weg eingeschlagen, Närrchen, sagte seine Frau, als sie ihn besiegt sah. Doch sie hätten erst über unsere Leiber, über meinen und Paulinens Leib, gehen müssen ... Du wirst dir nicht mehr beikommen lassen, dir ein Urteil über die Regierung zu erlauben, wie? Alle Regierungen sind gleich. Man unterstützt diese, man wird auch eine andere unterstützen müssen, und so muß es sein. Die Hauptsache ist, im Alter seine Renten in Ruhe zu verzehren und mit der Gewißheit, daß man sie rechtschaffen erworben.

Quenu nickte zustimmend. Er versuchte eine Rechtfertigung.

Gavard ist es ... murmelte er.

Doch sie unterbrach ihn und sagte in ernstem Tone:

Nein, nicht Gavard ist es ... Ich weiß, wer es ist. Und der Betreffende täte sehr wohl, an seine eigene Sicherheit zu denken, ehe er die anderer aufs Spiel setzt.

Sprichst du von Florent? fragte Quenu nach einer Weile schüchtern.

Sie antwortete nicht sogleich. Sie erhob sich und kehrte zum Schreibpulte zurück, als halte sie gewaltsam an sich. Dann sagte sie mit klarer Stimme:

Ja, von Florent ... du weißt, wie geduldig ich bin; ich möchte mich nicht in das Verhältnis zwischen dir und deinem Bruder einmengen. Die Familienbande sind heilig. Allein das Maß ist endlich voll. Seitdem dein Bruder hier ist, geht alles schlimm und schlimmer ... Doch besser, ich sage nichts! ...

Abermals trat Stillschweigen ein. Da ihr Mann verlegen nach der Zimmerdecke starrte, fuhr sie in heftigerem Tone fort:

Er scheint gar nicht zu bemerken, was wir für ihn tun. Wir haben uns eingeschränkt, haben ihm die Stube Augustines überlassen und das arme Mädchen schläft ohne Klage in einer Kammer, wo sie keine Luft hat. Wir geben ihm morgens und abends die Nahrung, wir sorgen für seine kleinen Bedürfnisse ... Er nimmt alles als etwas Natürliches hin. Er verdient Geld und man weiß nicht, wohin es kommt; oder vielmehr, man weiß es nur zu gut.

Und sein Erbteil? bemerkte Quenu, den diese, gegen seinen Bruder vorgebrachten Beschuldigungen schmerzten.

Lisa blieb betroffen; ihr Zorn war verflogen.

Du hast recht, die Erbschaft ... Die Rechnung liegt da, in diesem Schubfache. Er wollte sie nicht, du erinnerst dich wohl? Dies beweist, daß er ein Mensch ohne Kopf, ohne Lebensfähigkeit ist. Wenn er nur einen Gedanken hätte, würde er mit diesem Gelde längst etwas angefangen haben. Ich möchte, daß wir es nicht mehr hätten; es wäre uns die Befreiung von einer Last ... Ich habe ihm schon zweimal von dieser Sache gesprochen, aber er wollte nichts davon hören. Du sollst ihn dazu bestimmen, daß er das Geld nehme. Trachte mit ihm davon zu reden.

Quenu antwortete mit einem Grunzen. Lisa beharrte nicht weiter bei der Sache; sie war der Ansicht, dem Gebote der Rechtschaffenheit Genüge geleistet zu haben.

Nein, er ist nicht so wie andere Männer, sagte sie nach einer Weile. Sein Benehmen ist gar nicht beruhigend. Ich sage es dir, weil wir gerade davon sprechen ... Ich will mich mit seinem Lebenswandel nicht näher befassen, obgleich schon im ganzen Stadtviertel davon gesprochen wird. Mag er bei uns essen, wohnen, uns zu Einschränkungen zwingen, alles ist zu ertragen. Aber ich werde ihm nicht gestatten, uns in die Politik zu verwickeln. Wenn er dir noch einmal den Kopf toll macht, wenn er uns nur im mindesten bloßstellt, entledige ich mich seiner kurzerhand. Das kündige ich dir an.

Florent war verurteilt. Sie tat sich Gewalt an, um sich nicht Luft zu machen, um nicht ihrem angehäuften Unmut freien Lauf zu lassen. Er verletzte all ihr Empfinden, beleidigte sie, erschreckte sie, machte sie wahrhaft unglücklich. Sie brummte noch zwischen den Zähnen:

Ein Mensch, der die häßlichsten Erlebnisse gehabt, der sich kein eigenes Heim hat schaffen können ... Ich begreife, daß der Flintenschüsse fordert. Er hole sich sie, wenn er sie liebt; aber er lasse die rechtschaffenen Leute in ihrer Familie ... Und dann: er gefällt mir nicht, ich sage es rundheraus. Er riecht nach Fischen, wenn er des Abends bei Tische sitzt. Das hindert mich zu essen. Er verliert dadurch keinen Bissen; freilich bekommt es ihm nur schlecht; der Unglückliche wird nicht fett, weil er durch und durch von Bosheit angefressen ist.

Sie hatte sich jetzt dem Fenster genähert. Sie sah Florent, der durch die Rambuteau-Straße ging, um sich auf den Fischmarkt zu begeben. Die Zufuhr von Fischen war diesen Morgen eine ungeheure; die Körbe zeigten weithin ihren Silberschimmer; im Ausrufpavillon ging es laut her. Lisa folgte mit den Blicken den mageren Schultern ihres Schwagers, der in die stark riechenden Hallen eintrat, mit gebeugtem Rücken und jener Übelkeit, die ihm aus dem Magen zu den Schläfen aufstieg; und der Blick, mit dem sie ihn verfolgte, war der einer Feindin, einer Frau, die entschlossen ist zu siegen.

Als sie sich umwandte, stand Quenu vom Bette auf. Im Hemde, die Füße in dem weichen Moosteppich, noch ganz warm von den Federbetten, zeigte er ein blasses Gesicht; denn ihn betrübte die Mißstimmung zwischen seinem Bruder und seiner Frau. Doch Lisa lächelte jetzt wieder und rührte ihn durch die Sorgfalt, mit der sie ihm seine Strümpfe reichte.


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