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Fünftes Kapitel.

Am folgenden Tage, gegen vier Uhr, begab sich Lisa in die Sankt-Eustach-Kirche. Um den kurzen Weg über den Platz zu machen, hatte sie eine ernste Toilette gemacht; sie war vollständig in schwarze Seide gekleidet und trug ihren gewirkten Schal. Die schöne Normännin, die vom Fischmarkte aus ihr mit den Augen folgte bis zur Kirchentür, war darob sehr gereizt.

Ah, schönen Dank! sagte sie boshaft; die Dicke hält es jetzt mit den Pfarrern ... Es wird sie ein wenig beruhigen, sich in den Weihkessel zu setzen.

Doch sie täuschte sich; Lisa war keineswegs fromm. Sie beichtete nicht und pflegte zu sagen, daß sie bestrebt sei, in allen Dingen rechtschaffen zu bleiben. Das genüge. Aber sie wollte nicht, daß man in ihrer Gegenwart unehrerbietig von der Religion spreche; oft hieß sie Gavard schweigen, der die Pfaffen- und Nonnenanekdoten liebte. Sie fand es ganz unschicklich. Man müsse jedem seinen Glauben lassen und aller Welt Bedenken achten. Überdies seien die Priester im allgemeinen sehr brave Leute. Sie kannte den Abbé Roustan, Pfarrer zu Sankt-Eustach, einen sehr würdigen und klugen Mann, dessen Freundschaft ihr sehr zuverlässig schien. Sie schloß mit der Erklärung, daß die Religion für die große Masse unbedingt notwendig sei; sie betrachtete die Religion als eine Art Polizei, die die Ordnung aufrecht erhalten helfe und ohne die keine Regierung möglich sei. Wenn Gavard die Dinge über dieses Kapitel zu weit trieb und sagte, man müsse die Pfaffen hinauswerfen und ihre Buden schließen, zuckte sie mit den Achseln und erwiderte:

Wo kämen Sie da hin? ... Nach einem Monate würde man sich in den Straßen morden und man wäre genötigt, einen anderen Herrgott zu erfinden. Im Jahre 93 war es geradeso ... Ich stecke nicht bei den Pfaffen, das wissen Sie ja; aber ich sage, sie müssen sein, weil sie sein müssen.

Lisa zeigte sich denn auch andächtig, wenn sie in eine Kirche ging. Um an Hochzeiten und Leichenbegängnissen teilzunehmen, hatte sie ein schönes Gebetbuch gekauft, das sie niemals öffnete. Sie wußte zur richtigen Zeit aufzustehen und niederzuknien und hatte überhaupt die sittsame Haltung, die man in der Kirche haben soll. Es war für sie eine Art offizieller Haltung, die die ehrbaren Leute, Geschäfts- und Hauseigentümer, angesichts der Religion bewahren sollen.

Als an jenem Tage die schöne Wursthändlerin die Kirche zu Sankt-Eustach betrat, ließ sie die von vielen frommen Händen abgegriffene Doppeltüre von verblaßtem grünem Tuch sachte zurückfallen. Sie tauchte die Finger in den Weihkessel und bekreuzigte sich in gebührlicher Weise. Dann ging sie mit leisen Schritten bis zur Kapelle der heiligen Agnes, wo zwei Frauen kniend, das Antlitz in den Händen geborgen, warteten, während das blaue Kleid einer Dritten aus dem Beichtstuhle herausfiel. Lisa schien verdrossen und indem sie sich an einen Kirchendiener wandte, der mit seinem schwarzen Käppchen in der Hand vorüberschlich, fragte sie :

Ist denn heute der Beichttag des Herrn Abbé Roustan?

Der Küster erwiderte, der Abbé habe nur mehr zwei Büßerinnen die Beichte abzunehmen; es werde nicht lange dauern; sie möge eine kurze Weile Platz nehmen, sie werde gewiß bald an die Reihe kommen. Sie dankte, ohne zu sagen, daß sie nicht gekommen sei zu beichten. Sie beschloß zu warten, ging mit kleinen Schritten auf den Fliesen auf und ab bis zur großen Eingangstüre, von wo sie mit dem Blicke das hohe, strenge, kahle Schiff musterte, das sich zwischen den mit lebhaften Farben bemalten Seitenwänden ausdehnte; sie erhob ein wenig das Kinn, fand den Hauptaltar zu einfach, hatte keinen rechten Geschmack für die kalte Größe des Steines und zog die Vergoldungen und bunten Farben der Seitenkapellen vor. Auf der Seite der Tagesstraße waren diese Kapellen grau, durch staubige Fenster erhellt, während auf der Seite der Hallen die untergehende Sonne die bemalten Fensterscheiben aufflammen ließ, die mit ihrem zarten Grün und Gelb so durchsichtig waren, daß Lisa an die Likörflaschen des Herrn Lebigre dachte. Sie kam wieder nach dieser Seite, die von dem lodernden Lichte gleichsam erwärmt wurde, interessierte sich einen Augenblick für die Dinge, für die Altardecken, für die Gemälde, die sie in dem Widerschein des Prismas sah. Die Kirche war leer; eine bebende Stille lag unter ihren Gewölben. Die Kleider einiger Frauen bildeten dunkle Flecke in den in gelbliches Zwielicht getauchten Sesselreihen; aus den Beichtstühlen drang Geflüster hervor. Bei der Kapelle der heiligen Agnes vorüberkommend sah Lisa, daß das blaue Kleid noch immer zu den Füßen des Abbé Roustan lag,

Ich wäre in zehn Sekunden fertig, wenn ich beichten wollte, dachte sie mit dem Stolze einer ehrbaren Frau.

Sie begab sich jetzt in den Hintergrund der Kirche. Hinter dem Hauptaltar, hinter der Doppelreihe von Pfeilern, liegt in feuchter Stille und Dunkelheit die Kapelle der Muttergottes. Die sehr dunklen, bemalten Fenster lassen nichts erkennen als die Kleider der Heiligen mit breiten, roten und violetten Feldern, lodernd wie Flammen einer mystischen Liebe in dieser andächtigen Stille, die stumme Anbetung heiligen Dunkels. Es ist ein geheimnisvoller Dämmerwinkel des Paradieses, wo die Sterne zweier Wachskerzen funkeln, wo vier Kronleuchter von Metall, die von der Decke herabhängen und kaum sichtbar sind, an die großen goldenen Räucherfässer erinnern, die die Engel am Lager der Jungfrau Maria schwingen. Zwischen den Pfeilern liegen noch immer auf umgestürzten Sesseln fromme Frauen hingestreckt, in dieses wollüstige Dunkel versunken.

Lisa stand da und betrachtete alles mit ruhigen Blicken. Sie war nicht nervös und fand, daß man unrecht tue, die Lichter nicht anzuzünden, daß alles in heller Beleuchtung viel heiterer sei. Es lag sogar eine Unzüchtigkeit in diesem Dunkel; es war das Licht und der Hauch eines Schlafzimmers und schien ihr wenig schicklich. Neben ihr auf einem Schutzgitter brannten Kerzen, deren Wärme sie im Gesichte fühlte; eine alte Frau war damit beschäftigt, mit einem großen Messer das in breiten Tropfen niederträufelnde Wachs wegzukratzen. Und mitten in dem andächtigen Leben der Kapelle, in dieser stummen Liebesverzückung hörte sie hinter den roten und violetten Heiligen der bemalten Fenster deutlich das Rollen der Droschken, die aus der Montmartre- Straße herkamen.

Als sie sich anschickte, die Kapelle zu verlassen, sah sie die jüngere Méhudin, Klara, die Süßwasserfischhändlerin eintreten. Sie ließ eine Wachskerze anzünden. Dann kniete sie hinter einem Pfeiler nieder mit den Knien auf den harten, kalten Fliesen, so blaß in ihren blonden, schlecht befestigten Haaren, daß sie eine Tote schien. Hier sich allein wähnend vergoß sie heiße Tränen in einer Inbrunst der Gebete, die sie beugte wie ein gewaltiger Wind, und mit der Verzückung eines Weibes, das sich hingibt. Die schöne Wursthändlerin war sehr überrascht, denn die Méhudin waren keineswegs fromm; Claire besonders sprach gewöhnlich von der Religion und den Priestern in einer Weise, daß einem die Haare zu Berge standen.

Was ficht sie denn an? fragte sie sich, abermals zur Kapelle der heiligen Agnes zurückkehrend. Die Dirne muß irgendeinen Mann vergiftet haben.

Der Abbé Roustan verließ endlich seinen Beichtstuhl. Er war ein schöner Mann von beiläufig vierzig Jahren mit einem gütigen, lächelnden Antlitz. Als er Frau Quenu erkannte, drückte er ihr die Hände, nannte sie »liebe Dame«, führte sie in die Sakristei, wo er seinen Überwurf ablegte, indem er sagte, daß er ihr sogleich zur Verfügung stehe. Dann kehrten sie in die Kirche zurück, er in der Sutane und barköpfig, sie in ihren Schal gehüllt; so wandelten sie auf der nach der Tagesstraße gelegenen Seite vor den Kapellen auf und ab. Sie sprachen mit leiser Stimme. Die untergehende Sonne sandte ihre letzten Strahlen durch die hohen Kirchenfenster herein; das Gotteshaus wurde dunkel; die letzten Andächtigen verließen es mit leisen Schritten.

Lisa teilte dem Abbé Roustan ihre Bedenken mit. Von Religion war zwischen ihnen niemals die Rede. Sie beichtete nicht; sie zog ihn einfach in schwierigen Fällen zu Rate als einen verschwiegenen und klugen Mann, den sie – wie sie zuweilen sagte – allen verdächtigen Geschäftsleuten vorzog, die nach dem Zuchthause rochen. Er war von einer unerschöpflichen Dienstfertigkeit; er schlug ihr zuliebe im Gesetzbuche nach; riet ihr gute Geldanlagen an, empfahl ihr Lieferanten, hatte auf alle ihre Fragen, so verschiedenartig und verwickelt sie auch waren, stets eine Antwort bereit und alles so natürlich, ohne den lieben Gott hineinzumengen, ohne irgendeinen Vorteil für sich oder für die Religion daraus erlangen zu wollen. Ein Dank, ein Lächeln genügte ihm. Er schien erfreut, diese schöne Frau Quenu zu verpflichten, von der seine Haushälterin ihm oft achtungsvoll sprach, wie von einer im Stadtviertel sehr geachteten Person. An dem genannten Tage war die Besprechung eine ganz besonders schwierige. Es handelte sich darum zu erfahren, welches Betragen ihr die Rechtschaffenheit ihrem Schwager gegenüber gebot; ob sie das Recht habe, ihn zu überwachen, ihn daran zu hindern, daß er ihre Familie – sie, ihren Mann und ihre Tochter – kompromittiere, und wie weit sie bei drohender Gefahr gehen dürfe. Sie fragte alle diese Dinge nicht in schroffem Ton; sie stellte ihre Fragen mit einer so rücksichtsvollen Schonung, daß der Abbé all dies erörtern konnte, ohne persönliche Verhältnisse zu berühren. Er wußte sehr viele Gründe für und wider vorzubringen; alles in allem war er der Meinung, daß eine so ehrliche Seele das Recht, ja die Pflicht habe, das Böse zu verhindern, die nötigen Mittel anzuwenden, um das Gute zum Siege zu führen.

Dies ist meine Meinung, teure Frau, schloß er. Die Frage der Mittel ist immer eine ernste. Die Mittel sind die große Falle, in der die Alltagstugenden sich verfangen ... Aber ich kenne Ihr lauteres Gewissen. Erwägen Sie jede Ihrer Handlungen, und wenn keine Stimme in Ihnen Verwahrung erhebt, gehen Sie mutig vorwärts ... Den rechtschaffenen Naturen ist die Wundergabe verliehen, in alles, was sie berühren, Rechtschaffenheit zu legen.

Dann schlug er einen anderen Ton an und fuhr fort:

Überbringen Sie Herrn Quenu meinen Gruß. Wenn ich vorüberkomme, will ich einen Augenblick eintreten, um mein gutes Paulinchen zu küssen ... Auf Wiedersehen, teure Frau; ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.

Er kehrte nach der Sakristei zurück. Lisa hatte, während sie die Kirche verließ, die Neugierde zu schauen, ob Claire noch immer betete. Doch Claire war zu ihren Karpfen und Aalen zurückgekehrt. Vor der Kapelle der heiligen Jungfrau, wo es inzwischen ganz finster geworden, stand nur mehr ein regelloser Haufe von Sesseln, die von den andächtigen Frauen umgelegt worden.

Als die schöne Wursthändlerin wieder über den Platz schritt, erkannte die nach ihr ausspähende Normännin sie – trotz des Dunkels – an ihren runden Röcken.

Schönen Dank! rief sie; über eine Stunde ist sie geblieben. Wenn die Pfaffen ihr die Sünden abnehmen, haben die Chorknaben alle Hände voll zu tun, um den Unflat fortzuschaffen.

Am anderen Morgen ging Lisa zur Kammer Florents hinauf. Sie machte sich es da ganz bequem, weil sie sicher war, nicht gestört zu werden. Wenn Florent dennoch unvermutet zurückkäme, würde sie lügen und vorgeben, sie habe nach seiner Leibwäsche sehen wollen. Sie hatte ihn unten, in der Fischeabteilung, stark beschäftigt gesehen. Sie ließ sich vor dem kleinen Tische nieder, zog das Schubfach heraus, legte es auf ihre Knie und räumte es behutsam aus, darauf achtend, die Papierbündel in derselben Ordnung zurückzulegen. Sie fand zunächst die ersten Kapitel des Werkes über Cayenne, dann Entwürfe, Pläne jeder Art, die Umwandlung der Zölle in Taxen auf die Geschäftsabschlüsse, die Reform des Verwaltungssystems der Hallen, und andere mehr. Diese mit einer feinen Schrift bedeckten Blätter, die sie zu lesen sich bemühte, langweilten sie sehr; sie schickte sich an, das Schubfach wieder an seinen Ort zu bringen, überzeugt, daß Florent den Beweis seiner bösen Absichten anderswo verberge, und dachte schon daran, seine Matratzen zu untersuchen, als sie plötzlich in einem Briefumschlag das Bild der Normännin entdeckte. Die Photographie war schon etwas schwarz. Die Normännin stand aufrecht, die Rechte auf eine abgebrochene Säule gestützt. Sie trug ihr ganzes Geschmeide, ein neues Seidenkleid, das ihre vollen Formen zeigte, und lächelte unverschämt. Lisa vergaß ihres Schwagers, ihrer Beängstigungen und vergaß auch, weshalb sie an diesen Ort gekommen. Sie versenkte sich in die Betrachtung einer Frau, die eine andere Frau mustert, behaglich und ohne Furcht, gesehen zu werden. Noch niemals hatte sie die Muße gehabt, ihre Nebenbuhlerin so in der Nähe zu betrachten. Sie prüfte die Haare, die Nase, den Mund, hielt die Photographie bald weitab, bald näher zu den Augen. Dann las sie mit gespitzten Lippen die folgenden, in groben, häßlichen Zügen auf den Rücken der Photographie geschriebenen Worte: »Louise ihrem Freunde Florent«. Darüber war Lisa entrüstet; es war ein Geständnis. Sie fühlte sich versucht, diese Photographie an sich zu nehmen und als eine Waffe gegen ihre Feindin zu behalten. Doch schob sie das Bild wieder in den Umschlag; sie dachte, es sei schlecht gehandelt, und sie werde es doch immer da wiederfinden.

Dann durchblätterte sie von neuem die fliegenden Blätter, ordnete sie eines auf das andere und kam auf den Gedanken, am Boden des Schubfaches zu suchen, wo Florent den Zwirn und die Nadeln Augustines hingeworfen hatte. Hier entdeckte sie endlich zwischen dem Gebetbuch und dem Traumdeuter, was sie suchte: sehr kompromittierende Notizen, einfach in einem Umschlag von grauem Papier verwahrt. Der Gedanke einer Erhebung, des Umsturzes des Kaiserreiches durch einen Gewaltstreich, die Logre eines Abends in der Weinstube des Herrn Lebigre angeregt hatte, war in dem glühenden Kopfe Florents langsam gereift. Er erblickte darin bald eine Pflicht, einen Beruf. Da war der endlich gefundene Zweck seiner Flucht aus Cayenne und seiner Rückkehr nach Paris. In dem Wahne, daß er seine Magerkeit an dieser Stadt zu rächen habe, die sich mästet, während die Verteidiger des Rechtes in der Verbannung verderben, machte er sich zum Richter und träumte davon, sich in den Hallen selbst zu erheben, um diese Herrschaft der Fresser und Säufer zu vernichten. Die fixe Idee bemächtigte sich unschwer dieses sanften Gemütes. Alles vergrößerte sich vor seinen Augen ins Ungeheuerliche, die seltsamsten Geschichten bauten sich auf; er bildete sich ein, die Hallen hätten bei seiner Ankunft sich seiner bemächtigt, um mit ihren Gerüchen ihn zu verweichlichen, zu vergiften. Dann wieder war es Lisa, die ihn verdummen wollte; zwei, drei Tage lang ging er ihr aus dem Wege, als fürchte er, daß in ihrer Nähe sein Wille in die Brüche gehen könne. Diese Zeiten kindischen Schreckens, diese Begeisterung eines empörten Mannes: sie endigten stets in einer Anwandlung großer Milde, in dem Bedürfnisse zu lieben, das er mit der Scham eines Kindes verbarg. Besonders am Abend wirbelten böse Dünste im Gehirn Florents. Unglücklich über seinen verlorenen Tag, mit gespannten Nerven, den Schlaf zurückweisend aus dumpfer Furcht vor diesem Nichts, verweilte er länger bei Herrn Lebigre oder bei den Méhudin; und wenn er heimkam, ging er noch nicht zu Bette, sondern schrieb, bereitete die famose Erhebung vor. Allmählich ersann er einen vollständigen Organisationsplan. Er teilte Paris in zwanzig Bezirke, ganz nach der politischen Einteilung der Stadt; jeder Bezirk hatte ein Oberhaupt, eine Art General, dem zwanzig Leutnants unterstanden, die zwanzig Kompagnien Verbündeter befehligten. Jede Woche sollte eine Beratung der Häupter stattfinden, jedesmal in einem anderen Lokal; zur größeren Sicherheit sollten die Verbündeten nur den Leutnant kennen, der seinerseits bloß mit dem Haupt seines Bezirkes verkehren sollte; es sei auch von Nutzen, wenn jede Kompagnie sich mit irgendeiner eingebildeten Aufgabe betraut wähne; es werde vollends die Polizei auf eine falsche Spur lenken. Was die Art und Weise betraf, diese Kräfte in Tätigkeit zu setzen, so war sie sehr einfach. Man wollte die vollständige Formierung der Kompagnien abwarten und dann die erste politische Bewegung benützen. Da man ohne Zweifel nur über einige Jagdgewehre verfüge, müsse man die Posten überrumpeln, die Feuerwehrleute, Pariser Garden, Linientruppen entwaffnen, dabei jedes Blutvergießen vermeiden und alle diese Leute auffordern, mit dem Volke gemeinsame Sache zu machen. Hernach werde man geradeswegs nach dem Palast des gesetzgebenden Körpers und von da nach dem Rathause marschieren. Dieser Plan, zu dem Florent jeden Abend zurückkehrte, wie zu der Szenerie eines Dramas, das seine nervöse Überreiztheit milderte, war erst auf Zetteln geschrieben, vielfach durchgestrichen, das Tasten und Suchen des Verfassers verratend, so daß man allen Zeitpunkten dieses ebenso kindischen wie methodischen Entwurfes folgen konnte. Als Lisa diese Notizen gelesen hatte, ohne sie sämtlich zu verstehen, saß sie zitternd da, wagte nicht mehr, an diese Papiere zu rühren aus Furcht, sie zwischen ihren Händen losgehen zu sehen wie eine geladene Waffe.

Eine letzte Notiz erschreckte sie noch mehr als die anderen. Es war ein halbes Blatt Papier, auf dem Florent die Form der Abzeichen gezeichnet hatte, die die Häupter und die Offiziere unterscheiden sollten; daneben fanden sich auch die Fähnchen der Abteilungen, und mit Bleistift waren die Farben der Fähnchen der einzelnen Abteilungen verzeichnet. Die Abzeichen der Leiter waren rote Schärpen, die der Leutnants rote Armbinden. Lisa erblickte darin die unmittelbar bevorstehende Verwirklichung der Empörung; sie sah alle diese Männer mit roten Schärpen und Armbinden vor ihrem Wurstladen erscheinen, Kugeln nach ihren Spiegeln und Marmortischen senden, die Würste aus dem Schaufenster stehlen. Die niederträchtigen Entwürfe ihres Schwagers waren ein Attentat gegen sie selbst, gegen ihre Wohlfahrt. Sie schloß das Schubfach und blickte in der Stube umher, wobei sie sich sagte, daß sie diesem Manne Unterkunft gebe, daß er auf ihren Bettüchern schlafe, ihre Möbel abnütze. Und sie war ganz besonders erbittert durch den Gedanken, daß er die scheußliche Höllenmaschine hier in diesem kleinen Tische von weichem Holze verbarg, der ehemals ihr selbst gedient hatte, als sie noch vor ihrer Heirat bei dem Onkel Gradelle war, einem harmlosen Tisch, der völlig aus den Fugen ging.

Sie stand aufrecht und fragte sich, was sie nun beginnen solle. Vor allem war es unnötig, Quenu von allen diesen Dingen zu unterrichten. Sie hatte einen Augenblick den Einfall, sich mit Florent auseinanderzusetzen; allein sie fürchtete, daß er anderswo sein Verbrechen begehen und aus Bosheit sie kompromittieren werde. Sie beruhigte sich ein wenig und zog es vor, ihn zu überwachen. Bei der ersten Gefahr werde sie sehen, was zu tun sei. Alles in allem hatte sie jetzt die Mittel in Händen, ihn wieder auf die Galeeren zu schicken.

Als sie nach dem Laden zurückkehrte, fand sie Augustine in großer Aufregung. Die kleine Pauline war seit einer halben Stunde verschwunden. Auf die besorgten Fragen Lisas konnte sie nur antworten:

Ich weiß nicht, Madame ... Vorhin stand sie da, auf dem Fußsteig, mit einem kleinen Jungen ... Ich sah sie; dann kam ein Herr, für den ich einen Schinken anschneiden mußte, und nachher waren sie verschwunden.

Ich wette, es ist Feinchen! rief die Wursthändlerin. Oh, der Schlingel!

Es war in der Tat Feinchen. Pauline, die an diesem Tage ein neues Kleid mit blauen Streifen bekommen hatte, wollte es zeigen. Sie stand kerzengerade vor dem Laden, verhielt sich sehr artig und machte ein Mäulchen mit der ernsten Miene einer Dame von sechs Jahren, die sich zu beschmutzen fürchtet. Ihre Röcke, sehr kurz und sehr gesteift, blähten sich wie die Röcke einer Tänzerin, ließen ihre straff sitzenden weißen Strümpfe, ihre himmelblauen Lackstiefelchen sehen, während ihre große Schürze, die ihren Hals frei ließ, an den Schultern ein schmales, gesticktes Band hatte, unter dem ihre reizenden Kinderarme nackt und rosig hervortraten. In den Ohren trug sie Türkisenbommeln, am Halse ein Goldkreuzchen, im sorgfältig gekämmten Haar ein blaues Band; dazu das volle und doch zarte Gesicht der Mutter, die pariserische Anmut einer neuen Puppe.

Feinchen hatte sie von den Hallen aus bemerkt. Er warf kleine tote Fische in die Gosse, die das Wasser davon trug und denen er längs des Fußweges folgte, wobei er sagte, daß sie schwimmen. Doch als er Pauline sah, so schön und so sauber, kam er über die Straße, ohne Mütze, mit zerfetzter Bluse, herabfallender Hose, daß man das Hemd sah, mit der ganzen Zerlumptheit eines Straßenjungen von sieben Jahren. Seine Mutter hatte ihm zwar verboten, mit diesem dicken »Vieh von einem Kinde zu spielen, das die Eltern fütterten, daß es schier barst«. Er ging eine Weile um sie herum, dann trat er näher und wollte das blau gestreifte Kleid berühren. Pauline, anfangs geschmeichelt, machte ein Mäulchen, und wich scheu zurück, indem sie In verdrossenem Tone sagte:

Laß mich, Mama will es nicht.

Darüber lachte der kleine Kerl, der sehr aufgeweckt und unternehmend war.

Du bist aber recht albern, sagte er. Das tut ja nichts, daß deine Mama es nicht will ... Wir wollen Hin- und Herstoßen spielen. Willst du?

Er hatte offenbar die böse Absicht, Paulines Kleidchen zu beschmutzen. Als diese sah, daß er sich anschickte, ihr einen Stoß in den Rücken zu versetzten, wich sie noch weiter zurück und schickte sich an, in den Laden zurückzukehren. Jetzt tat er sehr sanft, zog seine herabfallenden Beinkleider hinauf und sagte:

Du bist dumm. Es ist doch nur zum Scherz. Du bist so hübsch; gehört das Kreuzchen deiner Mama?

Sie erwiderte stolz, das Kreuzchen gehöre ihr. Er führte sie jetzt sachte bis zur Ecke der Pirouette-Straße; er berührte ihre Röcke und fand, daß sie stark gesteift seien, was der Kleinen viele Freude machte. Seitdem sie auf dem Fußwege schön tat, war sie sehr verdrossen zu sehen, daß niemand sie beachtete. Allein trotz Feinchens Lobsprüchen wollte sie den Fußweg nicht verlassen.

Dumme Gans! rief er und wurde grob. Ich werde dich gleich auf deinen Hintern setzen, Fräulein Hochnas!

Sie erschrak. Er hatte ihre Hand ergriffen und seinen Fehler einsehend, begann er ihr wieder zu schmeicheln, suchte in seiner Tasche und sagte:

Ich habe einen Sou.

Der Anblick des Sou beruhigte Pauline. Er hielt den Sou mit den Fingerspitzen vor sie hin und lockte sie so auf den Fahrweg hinab. Der kleine Kerl ging augenscheinlich auf Abenteuer aus.

Was magst du gern? fragte er.

Sie antwortete nicht sogleich; sie wußte nicht, denn sie liebte gar zu viele Sachen. Er zählte ihr eine Menge Leckereien auf: Süßholz, Zuckersirup, Zuckerplätzchen, Zuckermehl. Über das Zuckermehl sann die Kleine lange nach; man tunkt den Finger hinein und saugt daran; das ist sehr gut. Sie blieb eine Weile sehr ernst und sagte, endlich sich entschließend:

Nein, ich will Zuckertütchen.

Nun faßte er sie am Arme und führte sie widerstandslos hinweg.

Sie gingen durch die Rambuteau-Straße auf dem breiten Fußweg der Hallen zu einem Gewürzkrämer in der Cossonnerie -Straße, dessen Zuckertütchen berühmt waren. Es sind dies kleine Papiertüten, in die die Gewürzkrämer die Abfälle ihrer Auslage tun, die zerfallenen Zuckerkörner, überzuckerte Kastanien, den verdächtigen Bodensatz der Bonbonbüchsen. Feinchen machte seine Sache galant; er ließ Pauline die Tüte auswählen, eine Tüte von blauem Papier, zahlte seinen Sou und ließ ihr die Tüte. Als sie wieder auf dem Fußweg waren, leerte sie die Brocken jeder Art in die zwei Taschen ihrer Schürze und diese Taschen waren so klein, daß sie ganz voll wurden. Sie kaute sachte Körnchen um Körnchen, war entzückt, feuchtete ihren Finger an, damit ihr selbst das feinste Stäubchen nicht verloren gehe. Dies hatte zur Folge, daß die Bonbons zerflossen und zwei braune Flecke die Taschen ihrer Schürze beschmutzten. Feinchen lachte verschmitzt. Er hielt sie um den Leib gefaßt, zerdrückte nach seinem Belieben ihre Kleider, führte sie um die Ecke der Pierre-Lescot-Straße in die Richtung des Innocenzplatzes und sagte:

Jetzt willst du wohl spielen, wie? Was du in den Taschen hast, schmeckt gut? Du siehst jetzt, daß ich dir kein Leid zufügen wollte, Trotzkopf!

Und jetzt fuhr er selbst mit den Fingern in ihre Taschen. Sie betraten den Platz. Ohne Zweifel hatte Feinchen seine Eroberung hierher führen wollen. Er empfing sie hier wie auf einem ihm gehörigen Besitztum, wo er ganze Nachmittage sich herumzutollen pflegte. Niemals war Pauline so weit gegangen; sie hätte geschluchzt wie ein entführtes Fräulein, wenn sie nicht Zucker in den Taschen gehabt hätte. In der Mitte des mit Blumenbeeten besetzten Rasenplatzes ließ der Springbrunnen seine Wasser spielen und die von Jean Goujeon modellierten Nymphen, ganz weiß in dem grauen Gestein des Brunnens, hoben, ihre Urnen neigend, ihre nackte Anmut von dem düstern Aussehen des Dionysius- Stadtviertels ab. Die Kinder machten die Runde um den Springbrunnen, betrachteten das aus sechs Becken fließende Wasser und das Schilfwerk des Brunnens; sie gedachten sicherlich über den großen Rasenplatz zu gehen oder sich in dem Dickicht von Stechpalmen und Rhododendren zu verbergen, das sich längs des Gitters hinzieht. Doch der kleine Kerl, dem es gelungen war, das schöne Kleid rückwärts ganz zu zerknittern, sagte jetzt mit einem verschmitzten Lächeln:

Wir wollen »Sandwerfen« spielen, willst du?

Pauline war entzückt. Sie bewarfen sich denn mit Sand, wobei sie die Augen schlossen. Der Sand rann dem Kinde bei dem ausgeschnittenen Leibchen hinein und floß ihren Körper entlang bis in ihre Strümpfe und Stiefelchen. Feinchen war sehr vergnügt, als er sah, wie die weiße Schürze ganz gelb wurde. Doch er fand ohne Zweifel, daß sie noch immer viel zu sauber sei. Wie wär's, wenn wir Bäume pflanzten? sagte er plötzlich; ich kann schöne »Gärten« machen.

Wirklich, Gärten? wiederholte Pauline voll Bewunderung.

Da der Wächter des Platzes eben abwesend war, ließ Feinchen das Kind auf einem Grasplatze Löcher graben. Sie lag bäuchlings auf dem weichen Erdboden und versenkte ihre reizenden Kinderarme bis zu den Ellenbogen in die Löcher. Er suchte inzwischen abgebrochene Zweiglein zusammen. So pflanzte er in den von Pauline ausgehobenen Löchern einen »Garten«. Nur fand er die Löcher nicht tief genug und schalt sie mit rauher Stimme eine schlechte Arbeiterin. Als sie sich wieder erhob, war sie schwarz vom Kopf bis zu den Füßen. Auch ihre Haare waren voll mit Erde; sie war ganz beschmutzt und so drollig mit ihren Kohlenträgerarmen, daß Feinchen freudig in die Hände klatschte und ausrief:

Jetzt werden wir sie begießen, sie würden sonst nicht wachsen.

Dies hatte noch gefehlt. Sie gingen zum Platz hinaus, holten in den hohlen Händen Wasser aus der Gosse, kehrten laufend zurück und begossen die in die Löcher gesteckten Zweige. Pauline, die wegen ihrer Dicke nicht recht laufen konnte, ließ unterwegs immer das ganze Wasser zwischen den Fingern auf ihre Röcke fließen, so daß sie, nachdem sie sechsmal den Weg zurückgelegt hatte, aussah, als habe sie sich in der Gosse gewälzt. Als kein reines Fleckchen mehr an ihr war, fand Feinchen, daß sie sehr nett sei. Er ließ sie neben sich unter einem Rhododendronstrauche Platz nehmen vor dem Garten, den sie gepflanzt hatten, und sagte ihr, daß die Bäume schon wüchsen. Er hatte sie bei der Hand genommen und nannte sie sein Frauchen.

Es tut dir nicht leid, daß du mitgekommen bist, als auf dem Fußweg zu stehen, wo du dich so langweiltest? Du wirst sehen, ich weiß viele Spiele in den Straßen. Du mußt ein andermal wieder herauskommen; aber man braucht das der Mama nicht zu erzählen, man darf nicht so dumm sein. Wenn du zu Hause etwas erzählst, werde ich dich bei den Haaren ziehen, sobald ich wieder vorbeikomme.

Pauline sagte zu allem ja. In einer letzten Anwandlung von Galanterie füllte er die Taschen ihrer Schürze mit Erde. Er setzte ihr jetzt härter zu und suchte als boshafter Straßenjunge, der er war, wie er ihr ein Leid zufügen könne. Doch sie hatte keinen Zucker mehr und spielte nicht mehr und wurde unruhig. Als er sie zu kneipen begann, weinte sie und sagte, sie wolle nach Hause gehen. Dies erheiterte Feinchen sehr, und er drohte ihr, daß er sie nicht nach Hause bringen werde. Völlig erschreckt, stieß die Kleine tiefe Seufzer aus, wie ein Mädchen, das in einer Herberge der Gewalt eines Verführers preisgegeben ist. Er würde sie schließlich geprügelt haben, um sie still zu machen, wenn nicht plötzlich die kreischende Stimme des Fräuleins Saget neben ihnen ausgerufen hätte:

O du mein lieber Gott, das ist ja Pauline! Wirst du sie in Ruhe lassen, nichtsnutziger Wicht!

Das alte Fräulein nahm Pauline bei der Hand und stieß Schreie des Entsetzens aus über den jämmerlichen Zustand der Kleider des Kindes. Doch Feinchen erschrak nicht; er folgte ihnen, lachte heimlich über sein Werk und versicherte wiederholt, Pauline sei freiwillig mitgegangen und zu Boden gefallen. Fräulein Saget war eine regelmäßige Besucherin des Innocenzplatzes. Jeden Nachmittag brachte sie daselbst eine Stunde zu, um über das Getratsche der kleinen Leute auf dem laufenden zu bleiben. Auf beiden Seiten des Platzes steht eine lange Reihe von Bänken; die armen Leute, die in den dumpfen Höhlen der benachbarten Gäßchen schier ersticken, kommen hierher, um sich zu erholen; die alten, dürren, fröstelnden Weiber mit zerknitterter Haube, die jüngeren Weiber in der Jacke mit schlecht befestigten Röcken, bloßem Haupte, vorzeitig erschöpft und verwelkt infolge des Elends; auch einige Männer sind zu sehen, sauber gekleidete Greise, Lastträger in schmierigen Jacken, Herren von verdächtiger Eleganz mit schwarzen Hüten auf dem Kopf. In der Allee wälzt sich die Kinderwelt herum, schleppt räderlose Karren, füllt Sandbutten, prügelt sich und heult, ein abscheuliches, zerfetztes und schmutziges Kindervolk, das in der Sonne wimmelt wie Gewürm. Fräulein Saget war so dünn, daß sie immer Platz fand auf irgendeiner Bank. Sie hörte zu oder knüpfte ein Gespräch an mit einer Nachbarin, irgendeiner bleichen Arbeiterin, die irgendein Wäschestück ausbesserte, Taschentücher, zerrissene Strümpfe aus ihrem schlechten, durch Bindfaden zusammengehaltenen Handkörbchen zog. Sie hatte übrigens Bekannte unter diesen Leuten. Unter dem unerträglichen Geschrei des Kindervolks und dem unaufhörlichen Rollen der Wagen in der Dionysiusstraße erzählte man endlose Geschichten über die Gewürzkrämer, Bäcker, Metzger, eine Zeitung des Stadtviertels, vergällt durch die Kreditverweigerungen und den dumpfen Neid der Armen. Sie erfuhr unter diesen Unglücklichen hauptsächlich die nicht eingestehbaren Dinge, alles was aus den verdächtigen möblierten Zimmern, aus den dunklen Hausmeisterstuben kommt, die unflätigen Lästerungen, mit denen sie, wie mit einem Gewürz, ihre Neugierde aufstachelte. Wenn sie ihr Antlitz nach den Hallen wandte, hatte sie den Platz vor sich, mit seinen drei Häuserreihen, mit ihren Fenstern, durch die sie ihren Blick zu versenken suchte; es war, als erhebe sie sich auf den Fußzehen bis zu den Mansardenfenstern des Daches und gucke durch alle Stockwerke hindurch; sie musterte die Vorhänge und zeigte sich an einem Fenster ein Kopf, so schmiedete sie daraus sogleich ein ganzes Drama; schließlich kannte sie die Geschichte sämtlicher Einwohner dieser Häuser, sie las sie von der Außenseite ab. Das Restaurant Baratte interessierte sie ganz besonders mit seiner Weinstube, seinem vergoldeten Schutzdache, das eine Terrasse mit einigen Blumentöpfen bildete, mit seinen vier schmalen, bunt bemalten und verzierten Stockwerken; sie fand Gefallen an den von einer großen Muschel überragten gelben Säulen auf zartblauem Grunde, die die Eingangspforte zierten, an diesem ganzen Tempelportal aus Kartonpapier, das an die Stirnwand dieses baufälligen Hauses wie hingeschminkt war, das am Dache oben eine Galerie von bemaltem Zink hatte. Sie sah hinter den rotgestreiften Vorhängen die feinen Frühstücke und Abendessen, bei denen es so hoch herging. Und sie log sogar; hierher – sagte sie – kämen Florent und Gavard, um mit den beiden sauberen Töchtern der Frau Méhudin ihre Schmausereien zu halten, und beim Nachtisch geschähen ganz abscheuliche Dinge.

Indes weinte Pauline jetzt stärker, seitdem die Alte sie bei der Hand hielt. Diese lenkte ihre Schritte nach dem Ausgang des Platzes, doch schien sie sich plötzlich eines anderen zu besinnen. Sie setzte sich auf eine Bank und bemühte sich, die Kleine zu beschwichtigen.

Weine nicht, sagte sie, sonst fassen dich die Polizeisoldaten ... Ich bringe dich nach Hause. Du kennst mich doch wohl, ich bin Tante Saget. Nun, laß mal sehen, ob du auch lachen kannst.

Allein die Tränen erstickten das Kind, und sie wollte fort. Da ließ Fräulein Saget sie ruhig schluchzen und wartete, bis sie fertig war. Die arme Kleine fröstelte, denn Röcke und Strümpfe waren ganz durchnäßt und da sie sich mit den Fäusten die Augen trocknete, hatte sie auch das Gesicht bis zu den Ohren voll Schmutz. Als sie endlich ein wenig ruhiger geworden, sagte die Alte in zutraulichem Tone:

Deine Mama ist nicht schlimm, nicht wahr? und sie liebt dich wohl sehr?

Ja, ja, erwiderte das Kind sehr beklommen.

Auch dein Papa ist nicht schlimm; er prügelt dich nicht und zankt nicht mit deiner Mama? Was reden sie denn, wenn sie des Abends zu Bett gehen?

Ich weiß nicht; in meinem Bettchen ist's so warm und ich schlafe bald.

Reden sie von deinem Vetter Florent?

Ich weiß nicht.

Fräulein Saget erhob sich mit strenger Miene und tat, als wolle sie weggehen.

Schau, du bist eine Lügnerin. Du weißt, man darf nicht lügen; wenn du lügst, laß ich dich da und Feinchen zwickt dich wieder in den Arm.

Feinchen, der vor der Bank stand, mengte sich jetzt ins Gespräch und sagte:

Lassen Sie sie, sie ist dumm und weiß nichts. Ich weiß, daß mein Freund Florent gestern abend sehr dumm dreingeschaut hat, als Mama ihm lachend sagte, daß er sie küssen dürfe, wenn es ihm Vergnügen macht.

Als Pauline sich bedroht sah, verlassen zu werden, begann sie von neuem zu weinen.

Schweig, schweig, du schlimmer Balg! sagte die Alte, das Kind stoßend. Ich bleibe schon da und kaufe dir ein Stück Gerstenzucker ... Also, du liebst deinen Vetter Florent nicht?

Nein, Mama sagt, er sei nicht rechtschaffen.

Ach, du siehst wohl, daß deine Mama etwas gesagt hat. Eines Abends, als ich mit meiner Katze in meinem Bettchen lag, sagte Mama zu Papa: »Dein Bruder ist nur aus dem Zuchthause entsprungen, um uns alle dahin zu bringen.«

Fräulein Saget stieß einen leisen Schrei aus. Zitternd hatte sie sich erhoben. Ein helles Licht war ihr plötzlich aufgegangen. Sie faßte Pauline wieder bei der Hand und führte sie nach dem Wurstladen zurück, ohne zu sprechen, die Lippen schadenfroh gekräuselt, die Blicke von einer grausamen Freude gespitzt. Feinchen, der hinter ihnen einherhüpfte und seine Freude daran hatte, die Kleine mit ihren beschmutzten Strümpfen laufen zu sehen, verschwand vorsichtigerweise an der Ecke der Pirouette-Straße. Lisa befand sich in tödlicher Angst; als sie ihre Tochter in ihrem greulichen Zustande erblickte, ward sie dermaßen ergriffen, daß sie die Kleine nach allen Seiten drehte, ohne daran zu denken, sie zu züchtigen. Da sagte die Alte mit ihrer boshaften Stimme:

Feinchen hat's getan ... Ich bringe sie Ihnen nach Hause, Sie begreifen ... Ich habe sie beisammen unter einem Baume des Platzes gefunden. Ich weiß nicht, was sie da taten ... Ich an Ihrer Stelle würde das Kind untersuchen. Dieser Schlingel ist zu allem fähig.

Lisa fand kein Wort zu sagen. Sie wußte nicht, wo sie ihre Tochter anfassen sollte, so sehr ward sie angeekelt durch ihre schmutzigen Schuhe, beschmutzten Strümpfe, zerrissenen Röcke, geschwärzten Hände und Backen. Der blaue Samt, die Ohrgehänge, das Kreuzchen verschwanden schier unter einer Schmutzlage. Doch was sie am meisten erbitterte, das waren die mit Erde gefüllten Taschen der Schürze. Sie neigte sich herab und leerte diese Taschen ohne Rücksicht auf die weißen und roten Steinplatten des Fußbodens. Dann schleppte sie Pauline hinweg, indem sie wütend rief:

Komm, Schmutzfink! Fräulein Saget, die unter ihrem breiten schwarzen Hute von dieser Szene sehr erheitert war, ging mit lebhaften Schritten durch die Rambuteau-Straße. Ihre kleinen Füße berührten kaum das Pflaster, ein Gefühl der Freude führte sie wie auf schnellen Fittichen dahin. Endlich wußte sie! Seit mehr denn einem Jahre brannte sie vor Neugierde; jetzt hatte sie mit einem Schlage diesen Florent ganz in ihrer Gewalt. Es war eine unverhoffte Befriedigung, die sie gleichsam von irgendeiner Krankheit heilte; denn sie fühlte wohl, daß sie nach und nach zugrunde gegangen wäre, wenn dieser Mann noch länger gezögert hätte, ihre glühende Neugierde zu befriedigen. Jetzt gehörte das Hallenviertel völlig ihr; es gab keine Lücke mehr in ihrem Kopfe; sie hätte jede Straße, Laden für Laden, schildern können. Sie stieß Seufzer der Erleichterung aus, während sie den Obstpavillon betrat.

He, Fräulein Saget, was sind Sie denn so aufgeräumt? rief ihr die Sarriette von ihrem Verkaufsstande zu. Haben Sie etwa das große Los gewonnen?

Nein, nein ... Ach, Kleine, wenn Sie wüßten! ...

Die Sarriette war reizend inmitten ihrer Früchte, mit ihren Armen und Nacken, was sie als kokettes, schönes Mädchen sich gestattete. Ihr lockiges Haar fiel gleich Weinranken ihr auf die Stirne herab. Ihre nackten Arme, ihr nackter Hals, alles, was sie Nacktes und Rosiges zeigte, hatte eine Frische von Pfirsichen und Kirschen. In ihrem Übermute hatte sie sich Süßkirschen um die Ohren gehängt, schwarze Süßkirschen, die auf ihren Wangen hüpften, wenn sie sich laut lachend herabneigte. Sie war so lustig weil sie Johannisbeeren aß, so viel und so hastig, daß sie damit beschmiert war bis zum Kinn und bis zur Nase; der Mund war ganz rot und frisch von dem Safte der Johannisbeeren wie mit einer grellen Schminke bemalt und parfümiert. Ein Pflaumengeruch stieg von ihren Röcken auf. Ihr lose befestigtes Busentuch roch nach Erdbeeren.

In dem engen Stande, rings um sie her, lagen die Früchte zuhauf. Hinter ihr, auf den Brettergestellen, lagen ganze Reihen von Melonen, Beulenmelonen voll Warzen, Gartenmelonen mit grauer Rinde, rotrindige mit glatten Höckern. Das schöne Obst, in den Körben zierlich geordnet, zeigte Rundungen, gleich Wangen, die sich verbergen, hübsche Kindergesichter, die man hinter einem Vorhang von Blättern nur zur Hälfte sah; besonders die roten Montreuilpfirsiche hatten eine feine, helle Haut wie die Töchter des Nordens; die Pfirsiche aus dem Süden hingegen waren gelb und braun, hatten die warme dunkle Farbe der Töchter der Provence. Die Aprikosen nahmen – auf Moos ausgelegt – den Ton des Ambra an, jene Glut der untergehenden Sonne, die den Nacken erwärmt, da wo die Härchen sich kräuseln. Die Kirschen, eng aneinander gereiht, glichen den allzu schmalen Lippen von lächelnden Chinesinnen; die Montmorencykirschen waren die wulstigen Lippen einer dicken Frau, die englischen Kirschen länglich und dunkler, die Süßkirschen hatten gewöhnliches, schwarzes, von Küssen platt gedrücktes Fleisch; die rot und weiß geneckten Herzkirschen lachten einem einladend zu. Die Äpfel und Birnen lagen in regelmäßig aufgebauten Pyramiden da, zeigten die Röte junger Busen, goldschimmernde Schultern und Hüften, eine ganze verschämte Nacktheit in ihrer Umgebung von Farnkraut; sie waren von sehr verschiedener Haut, die schön gewölbten Franzäpfel, die dicken, saueren Ramburgäpfel; die Kalvilläpfel in weißer Schale, die blutroten Kanadaäpfel, die rotgefleckten Kastanienäpfel, die blonden, rotgetüpfelten Reinetten; dann die verschiedenen Gattungen von Birnen, die Zuckerbirnen, die Engländer, die Butterbirnen, die Ducheßbirnen, kurze, lange, mit Schwanenhälsen und kurzen Schultern, mit gelben und grünen Bäuchen gehoben durch einen rötlichen Schimmer. Daneben zeigten durchsichtige Pflaumen die Blässe von blutarmen Jungfrauen, die Reineclauden, die Prinzenpflaumen, gebleicht von dem Hauch, der sie überzog; die Mirabellen glichen den Goldperlen eines Rosenkranzes, die man mit Vanillenstäbchen in einer Büchse vergessen hat. Auch die Erdbeeren hauchten einen frischen Duft, einen Duft der Jugend aus, besonders die kleinen, die im Walde gepflückt werden, noch mehr als die großen Gartenerdbeeren, die nach der Gießkanne riechen. Die Himbeeren mengten in diesen zarten Duft ihren schärferen Geruch. Die roten und schwarzen Johannisbeeren, die Haselnüsse brachten eine heitere Abwechslung in die Menge, während die Weinbeeren in schweren, saftigen Trauben in den Körben lagen, von der heißen Sonne mit rötlichen Flecken gesprenkelt.

Die Sarriette lebte da wie in einem Obstgarten, in einem ewigen Rausch von Gerüchen. Die wohlfeileren Früchte, die Kirschen, Pflaumen, Erdbeeren, in flachen Körben vor ihr aufgehäuft, mit Papier zugedeckt, zerdrückten sich allmählich und beschmutzten die Bretter mit einem stark riechenden Safte, der in der Hitze dampfte. Sie fühlte ihren Kopf schwindeln an heißen Julinachmittagen, wenn die Melonen sie mit einem mächtigen Muskatellerdampfe umgaben. Berauscht wie sie war, ließ sie noch mehr Fleisch sehen unter ihrem Busentuche, kaum noch reif, jung wie der Lenz, sie war dann eine Versuchung für den Mund und erweckte eine heiße Beutegier. Sie verlieh mit ihren Armen und ihrem Nacken diesen Früchten das verliebte Leben, die samtweiche Wärme. Neben ihr hatte eine alte, abscheuliche Säuferin nichts als runzelige Äpfel feil und Birnen, die so schlapp waren wie leere Busen, und faule Aprikosen, gelb und welk wie eine Hexe. Unter den Händen der Sarriette hingegen wurde die Auslage zu einer einzigen großen, wollüstigen Nacktheit. Es war, als habe sie die Kirschen, Stück für Stück, mit ihren Lippen hierhergelegt, wie ebensoviele rote Küsse; die seidenglatten Pfirsiche schienen aus ihrem Mieder gefallen zu sein; den Pflaumen lieh sie ihre zarteste Haut, die Haut der Schläfen, des Kinns, der Mundwinkel; ein weniges von ihrem roten Blute floß in den Adern der Johannisbeeren. Ihre Glut eines schönen, jungen Mädchens versetzte diese Früchte des Bodens in Brunst, deren Gekose hier auf einem weichen Moosbette in den kleinen Körben sich vollzog. Neben dem warmen Geruch des Lebens, der von ihren Körben und von ihren Röcken aufstieg, war der Duft der Blumenallee, die hinter ihrem Stande sich hinzog, ein widerwärtiger.

Die Sarriette war an jenem Tage durch das Eintreffen einer großen Ladung von Mirabellen in Anspruch genommen. Sie merkte jedoch, daß Fräulein Saget eine große Neuigkeit zu melden hatte und wollte sie zum Plaudern bringen. Doch die Alte trippelte ungeduldig hin und her und sagte:

Nein, nein, ich habe keine Zeit. Ich muß schleunigst Frau Lecoeur aufsuchen. Oh, ich weiß schöne Sachen ... Kommen Sie mit, wenn Sie wollen.

In Wahrheit war sie nur durch den Früchtepavillon gekommen, um die Sarriette für ihren Tratsch anzuwerben. Diese vermochte der Versuchung nicht zu widerstehen. Herr Jules, rasiert und frisch wie ein Cherub, war da und schaukelte sich auf einem umgestürzten Sessel.

Hüte einen Augenblick den Stand, sagte ihm die Sarriette. Ich komme sogleich wieder.

Doch er erhob sich und rief ihr nach:

Ja, Schnecken! Ich gehe; ich habe keine Lust, eine Stunde da zu warten wie neulich auch. Deine Pflaumen verursachen mir Kopfschmerz.

Und er ging ruhig von dannen, die Hände in den Taschen. Der Stand blieb allein. Fräulein Saget ging so rasch, daß die Sarriette laufen mußte, um ihr zu folgen. Im Butterpavillon erfuhren sie, daß Frau Lecoeur im Keller sei. Die Sarriette stieg hinab, um sie zu holen, während die Alte sich mitten unter den Käsen niederließ.

Im Keller unten war's sehr dunkel. Um Feuersbrünsten vorzubeugen, werden die Zellen einfach aus engmaschigen Drahtnetzen hergestellt. Die wenigen Gasflammen werfen gelbe, strahlenlose Flecke in den ekelerregenden Dunst, der unter den niedrigen Gewölben lagerte. Frau Lecoeur bereitete Butter auf einem der Tische, die längs der Hirtenstraße aufgestellt sind. Zu den Luftlöchern fällt ein fahles Licht herein. Die fortwährend reichlich bespülten Tische sind so weiß, als seien sie neu. Dem Brunnen den Rücken zukehrend, knetete Frau Lecoeur die Butter in einer eichenholzenen Mulde. Sie nahm Muster von verschiedenen Buttergattungen, die neben ihr standen, mengte sie durcheinander, verbesserte die eine durch die andere, ganz wie man es beim Verschneiden der Weine macht. Gebeugt, die spitzigen Schultern in die Höhe gestreckt, die mageren, knotigen Arme bis zu den Schultern entblößt, versenkte sie die Fäuste heftig in diesem fetten Teige, der ein weißliches, kreidiges Aussehen annahm. Sie schwitzte und stieß bei jeder Anstrengung einen Seufzer aus.

Fräulein Saget wünscht mit Ihnen zu sprechen, Tante, sagte die Sarriette.

Frau Lecoeur hielt in der Arbeit inne und rückte mit ihren Fingern, die voll mit Butter waren, ihre Haube zurecht, ohne Furcht vor Fettflecken.

Ich bin fertig; sie soll einen Augenblick warten, antwortete sie.

Sie hat Ihnen etwas sehr Interessantes mitzuteilen.

In einer Minute bin ich oben, mein liebes Kind.

Sie versenkte die Arme von neuem, und die Butter reichte ihr bis zu den Ellenbogen. Vorher in lauem Wasser geweicht, salbte die Butter ihre pergamentartige Haut und ließ die großen violetten Venen hervortreten, die wie ein Netz geplatzter Adern ihre Arme überzogen. Die Sarriette war ganz angeekelt durch diese häßlichen Arme, die die weiche, schmelzende Masse bearbeiteten. Doch sie gedachte des Handwerkes; ehemals hatte auch sie ihre reizenden kleinen Hände ganze Nachmittage hindurch in der Butter stecken; die Butter war ihre Mandelpasta, eine Salbe, die ihr die Haut weiß, die Nägel rot erhielt und deren Geschmeidigkeit ihre Finger behalten zu haben schienen.

Tante, Ihre Mischung wird heute nicht sehr gut sein, sagte die Sarriette ... Sie haben zu starke Buttergattungen genommen.

Ich weiß es wohl, sagte Frau Lecoeur seufzend. Aber was willst du tun? Man muß alles verkaufen ... Es gibt Leute, die wohlfeil kaufen wollen, so verkauft man ihnen denn wohlfeil ... Es ist noch immer zu gut für die Kunden.

Die Sarriette dachte sich, daß sie nicht gern von der Butter essen würde, die ihre Tante bearbeitet hatte. Sie blickte in ein Töpfchen, das mit einer roten Flüssigkeit gefüllt war.

Ihr Orleansaft ist zu hell, sagte sie.

Der Orleansaft dient dazu, der Buttermischung eine schöne gelbe Farbe zu geben. Die Butterhändlerinnen hüten eifersüchtig das Geheimnis dieser Farbe, die ganz einfach aus den Rocoukörnern bereitet wird. Allerdings bereiten sie diesen Saft auch aus roten Rüben und Goldblumen.

Wollen Sie kommen? rief die Sarriette ungeduldig, weil sie an den abscheulichen Kellergeruch nicht gewöhnt war. Fräulein Saget ist vielleicht schon fort ... Sie scheint sehr ernste Dinge über meinen Onkel Gavard zu wissen.

Frau Lecoeur brach ihre Arbeit augenblicklich ab, ließ Butter und Orleansaft stehen und wischte sich nicht einmal die Arme ab. Mit einem leichten Ruck schob sie ihre Haube wieder zurecht und folgte mit raschen Schritten ihrer die Treppe hinaneilenden Nichte, wobei sie besorgt fragte:

Du glaubst, sie hat nicht gewartet?

Doch sie beruhigte sich, als sie Fräulein Saget unter den Käsen sitzen sah. Sie hatte sich wohl gehütet fortzugehen. Die drei Weiber setzten sich im Hintergrunde des engen Standes nieder. Sie saßen da so dicht beisammen, daß sich schier ihre Nasen berührten. Fräulein Saget schwieg einige Minuten. Als sie die zwei anderen vor Neugierde brennen sah, sagte sie mit spitziger Stimme:

Dieser Florent ... Sie wissen ja? ... Ich kann Ihnen schon sagen, woher er kommt.

Abermals mußten sie einige Augenblicke an ihrem Munde hängen. Endlich sagte sie mit furchtbar dumpfer Stimme:

Er kommt aus dem Zuchthause.

Die Käse ringsumher stanken. Auf den zwei Brettergestellen des Standes lagen riesige Ziegel Butter; bretonische Butter, die Körbe bis an den Rand füllend; normandische Butter, in Linnen gehüllt, aus Tonerde modellierten Bäuchen gleichend, über die der Bildhauer feuchte Tücher gebreitet hat; andere, bereits angeschnittene Stücke, durch das breite Messer schier zu Kegeln zugespitzt, voll Täler und Schluchten abgestürzten Gletschern gleichend, über die die Herbstsonne ihren Goldglanz breitet. Unter dem Auslagetische von rotem, grau geädertem Marmor standen Eierkörbe, weiß wie Kreide; in Kisten auf kleinen Strohhürden lagen spundförmige Käse, mit den Spitzen aneinandergereiht; Gournaykäse, platt geordnet wie Medaillen, bildeten dunklere Felder mit grünlichen Flecken. Hauptsächlich aber auf dem Tische lagen die Käse zuhauf. Neben Butterziegeln, die in Weinlaub gehüllt zum Verkauf nach dem Pfunde bestimmt waren, lag ein riesiger Cantalkäse, wie mit der Hacke gespalten; dann kamen: ein goldgelber Chesterkäse, ein Schweizerkäse, groß wie ein Wagenrad, holländische Käse, rund wie abgeschnittene Köpfe, die das getrocknete Blut besudelt, so hart wie leere Schädel, weshalb man sie auch Totenköpfe nennt. Inmitten dieser stark riechenden Käse verspürte man den angenehmen Geruch eines Parmesankäses. Drei Weichkäse, auf runden Brettern liegend, blickten trübselig drein wie erloschene Monde; zwei sehr trockene waren noch ganz, der dritte, bis zum zweiten Viertel angeschnitten, ließ eine weiße Sahne hervorfließen, die sich wie ein kleiner Teich ausbreitete, den man mit Brettchen vergebens einzudämmen suchte; Porte-Salut-Käse, von der Form der altertümlichen Diskusscheiben, mit dem in Kreisform aufgepinselten Namen des Fabrikanten. Ein Romantourkäse in seinem Umschlag von Silberpapier erinnerte an ein Stück Mandelkuchen, an einen gezuckerten Käse, der sich unter diese scharf gärenden Laibe verirrt hat. Die Roquefortkäse unter den Glasstürzen machten sich vornehm breit, zeigten ihre marmorierten, fetten, blau und gelb geäderten Vorderseiten, gleichsam von einer häßlichen Krankheit ergriffen, wie sie bei reichen Leuten vorkommt, die zu viel Trüffeln gegessen haben; in einer Schüssel nebenan lagen Ziegenkäse so groß wie eine Kinderfaust, hart und grau, an die Kiesel erinnernd, die die ihre Herde führenden Böcke an den Krümmungen der steinigen Pfade ins Rollen bringen. Dann kamen die übelduftenden Käse, der hellgelbe Mont d'or, der einen süßlichen Geruch ausströmt; der sehr dichte Troyeskäse, der an den Rändern eingedrückt ist und einen schärferen Geruch, einen wahren Kellergestank verbreitet; dann der Camembert, dessen Geruch an allzu reifes Wildbret erinnert; die viereckigen Neufchatel-, Limburger, Marolles und Pont l'Evêque- Käse, deren jeder seine scharfe Eigenart zu der bis zum Ekel widerwärtigen Mischung von Gerüchen lieferte; die rotgefärbten Livarotkäse, die die Gurgel packen, wie ein Schwefeldampf; und endlich der schlimmste von allen, der Olivetkäse, der in Nußblätter gehüllt ist, gleichwie die Bauern die am Straßenrande liegenden, in der Sonnenhitze dampfenden Aase mit Zweigen zudecken. Der heiße Nachmittag hatte die Käse aufgeweicht; der Schimmel der Rinden zerfloß, nahm einen rötlichen oder grüngrauen Schimmer von Kupfer an, glich schlecht verharschten Wunden; ein durch die Halle wehender Lufthauch hob die Rinde des Olivetkäse, die sich bewegte, wie die Brust eines kräftigen Menschen im Schlafe. Hinter den Wagen stand in einer dünnen Schachtel ein mit Anis gewürzter Géromé-Käse, der die Luft dermaßen verpestete, daß in seiner Nähe die Fliegen tot auf den Tisch niederfielen.

Fräulein Saget hatte diesen Géromé fast unter der Nase. Sie wich zurück und lehnte den Kopf an die gelben und weißen Papierblätter, die im Hintergrunde des Standes an einem an der Wand befestigten Nagel hingen.

Ja, wiederholte sie mit einer Grimasse des Ekels, er kommt aus dem Zuchthause ... Die Quenu-Gradelle haben keine Ursache, stolz zu tun, nicht wahr?

Frau Lecoeur und die Sarriette stießen Rufe des Erstaunens aus. Unmöglich! Was hatte er denn verbrochen, um ins Zuchthaus geschickt zu werden? Wer hätte jemals gedacht, daß diese Frau Quenu, diese Tugend, die der Stolz des Stadtviertels war, ihren Liebhaber sich aus dem Zuchthause holt?

Nein, das ist es nicht! rief die Alte ungeduldig ... Hören Sie mir nur genau zu ... Ich wußte wohl, daß ich diesen langen Grapser schon irgendwo gesehen hatte.

Sie erzählte ihnen die Geschichte Florents. Sie erinnerte sich jetzt eines dumpfen Gerüchtes, das seinerzeit in Umlauf war, nach dem ein Neffe des alten Gradelle nach Cayenne in die Verbannung geschickt worden war, weil er sechs Gendarmen auf einer Barrikade getötet hatte. Sie hatte den Mann sogar einmal in der Pirouette-Straße gesehen. Es war der falsche Vetter. Und dabei jammerte sie über ihr schwindendes Gedächtnis und daß es aus sei mit ihr und daß sie bald gar nichts mehr wisse. Sie weinte über das Erlöschen ihres Gedächtnisses, wie ein Gelehrter weint, der mit ansehen muß, wie ein Windstoß ihm die Notizen entführt, die er sein Leben lang mühselig gesammelt hatte.

Sechs Gendarmen, murmelte die Sarriette voll Bewunderung; der Mensch muß eine starke Faust haben.

Er hat noch ganz andere Dinge getan, fügte Fräulein Saget hinzu. Ich rate Ihnen nicht, ihm um Mitternacht zu begegnen.

Welch ein Halunke, stammelte Frau Lecoeur entsetzt.

Die Strahlen der Abendsonne fielen schräg zum Pavillon herein. Die Käse rochen stärker. In diesem Augenblicke beherrschte der Marolles-Käse alle anderen; er mengte gewaltige Dünste, den Geruch einer alten Bettstatt in den faden Buttergeruch. Dann schien die Luftströmung sich zu wenden, denn jetzt kamen die Ausdünstungen des Limburgers den drei Frauen zu, scharf und bitter, wie aus dem Rachen von Sterbenden kommend.

Aber wenn er der Schwager der dicken Lisa ist, hat er doch bei ihr nicht geschlafen ... bemerkte Frau Lecoeur.

Betroffen von dieser neuen Seite der Verhältnisse Florents blickten die drei Weiber einander an. Es ärgerte sie, die erste Lesart fallen lassen zu müssen. Das alte Mädchen zuckte mit den Achseln und wagte die Bemerkung:

Das wäre ja kein Hindernis ... allerdings starker Tabak ... Nun, mein Gott, ich möchte meine Hand nicht dafür ins Feuer legen.

Übrigens wäre die Sache alt, bemerkte die Sarriette; er würde ohnehin nicht mehr bei ihr schlafen, da Sie ihn mit den beiden Schwestern Méhudin gesehen haben.

Gewiß, wie ich Sie sehe, meine Schöne, rief Fräulein Saget, einigermaßen verletzt, weil sie glaubte, man zweifle an ihren Worten. Er steckt jeden Abend hinter den Röcken der Schwestern Méhudin ... Übrigens ist es gleichgültig, er mag geschlafen haben, bei wem er will, nicht wahr? Wir sind ehrbare Frauen ... Das ist ein nicht gewöhnlicher Gauner!

Ja, gewiß, ein vollendeter Bösewicht, stimmten die anderen zu.

Alles in allem nahm die Geschichte eine tragische Wendung. Dafür, daß sie die schöne Lisa schonen mußten, trösteten sie sich damit, daß sie auf eine durch Florent herbeigeführte furchtbare Katastrophe rechneten. Der Mensch hatte augenscheinlich böse Absichten; solche Leute entspringen aus dem Kerker nur, um alles in Brand zu stecken; ein Mensch dieses Schlages konnte in die Hallen nur eingetreten sein, um einen schlimmen Streich zu spielen. Da tauchten ganz ungeheuerliche Vermutungen und Voraussetzungen auf. Die beiden Händlerinnen erklärten, sie würden an ihren Geflügelzellen noch ein Schloß anbringen; die Sarriette ihrerseits erinnerte sich jetzt, daß man ihr in der verflossenen Woche einen Korb Pfirsiche gestohlen habe. Doch Fräulein Saget erschreckte sie vollends, indem sie erklärte, daß die »Roten« nicht so vorgehen; für einen Korb Pfirsiche rühren sie keinen Finger; sie tun sich ihrer zwei- oder dreihundert zusammen, um alle Welt umzubringen und behaglich plündern zu können. Das sei Politik, sagte sie mit der Überlegenheit einer gebildeten Person. Frau Lecoeur wurde ganz übel von diesen Reden; schon sah sie die Hallen in Flammen aufgehen in einer Nacht, in der Florent und seine Spießgesellen sich in den Kellern versteckt hatten, um sich von da auf Paris zu stürzen.

Ach, da fällt mir die Erbschaft des alten Gradelle ein! rief die Alte plötzlich. Das Ehepaar Quenu hat nichts zu lachen ...

Sie war ganz heiter. Der Tratsch nahm jetzt eine Wendung; man fiel über die Quenu her, nachdem sie die Geschichte von dem Schatz im Räucherfaß erzählt hatte, die ihr bis in die geringsten Einzelheiten geläufig war. Sie wußte sogar die Ziffer von 85.000 Franken anzugeben, ohne daß Lisa oder ihr Gatte sich erinnern konnte, jemals diese Ziffer einer lebenden Seele genannt zu haben. Gleichviel, die Quenu hatten diesem »langen Magern« seinen Teil nicht ausgefolgt; das sah man wohl an seiner schlechten Kleidung. Vielleicht war ihm die ganze Geschichte vom Schatz im Räucherfaß unbekannt. Lauter Diebe, die ganze Sippschaft. Dann steckten die drei Weiber die Köpfe zusammen, dämpften die Stimme und entschieden, daß es vielleicht gefährlich sei, die schöne Lisa anzugreifen, daß man aber dem »Roten heimleuchten« müsse, damit er nicht länger das Geld des armen Herrn Gavard aufzehre.

Rei dem Namen Gavard ward es stille. Die drei Weiber sahen einander mit vorsichtigen Mienen an. Da sie sich ein wenig verschnauften, rochen sie hauptsächlich den Camembert. Der Camembert mit seinem Wildbretgeruch hatte die dumpferen Gerüche des Marolles- und Limburger-Käses besiegt; er verbreitete seine Ausdünstungen und erstickte alle anderen Gerüche mit einer erstaunlichen Reichlichkeit von Mißduft. In diese kräftige Musik warf der Parmesankäse von Zeit zu Zeit den dünnen Ton einer Schalmei ein, während die Weichkäse die milden Töne feuchter Handtrommeln hineinmengten; dann fiel der Livarotkäse mächtig ein, um nachher dem scharfen Ton des mit Anis gewürzten Géromékäse zu weichen.

Ich habe Frau Léonce gesehen, fuhr Fräulein Saget mit einem bedeutungsvollen Blicke fort.

Die zwei anderen horchten aufmerksam auf. Frau Léonce war die Hausmeisterin von Gavard in der Cossonnerie- Straße. Er bewohnte da ein altes, ziemlich verlassenes Haus, wo im Erdgeschoß ein Zitronen- und Orangenhändler hauste, der die Außenseite des Hauses bis zum zweiten Stockwerk blau hatte tünchen lassen. Frau Léonce führte ihm die Wirtschaft, behütete die Schlüssel der Spinde und holte ihm seinen Brusttee, wenn er verschnupft war. Sie war eine ernste Frau von fünfzig und einigen Jahren, die sehr langsam und sehr langwierig sprach. Sie hatte sich sehr ereifert, als eines Tages Gavard sie kneipte; das hinderte sie aber nicht, ihm nach einem Fall, den er getan, an einem sehr heiklen Orte Blutegel zu setzen.

Fräulein Saget, die jeden Mittwoch abend Kaffee bei ihr trank, schloß mit ihr Freundschaft und dieses Verhältnis wurde noch inniger, als der Geflügelhändler ins Haus zog. Stundenlang sprachen sie von dem würdigen Manne; sie liebten ihn sehr und wollten nur sein Bestes.

Ja, ich habe Frau Léonce gesehen, wiederholte die Alte; wir haben gestern zusammen Kaffee getrunken ... Ich fand sie sehr bekümmert. Es scheint, daß Herr Gavard nicht vor ein Uhr nach Mitternacht heimkehrt. Am Sonntag hat sie ihm eine Kraftbrühe hinaufgetragen, weil sie sein Antlitz ganz verstört sah.

Sie weiß schon, was sie tut, bemerkte Frau Lecoeur, die diese Sorgfalt der Hausmeisterin beunruhigte.

Fräulein Saget glaubte ihre Freundin verteidigen zu sollen.

Durchaus nicht; Sie irren sich ... Frau Léonce ist besser als ihre Stellung; eine sehr anständige Frau ... Wenn sie bei Herrn Gavard sich die Taschen füllen wollte, hätte sie nur zuzugreifen brauchen. Er läßt anscheinend alles herumliegen ... Da will ich mit Ihnen sprechen. Aber Sie müssen reinen Mund halten, ich sage es Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit.

Sie schworen hoch und teuer, daß sie stumm sein würden. Dann streckten sie die Hälse aus. Da sagte die Alte feierlich:

Sie müssen wissen, daß Herr Gavard seit einiger Zeit so ganz eigentümlich ist ... Er hat Waffen gekauft, eine große Pistole, die sich dreht. Frau Léonce sagt, es sei schrecklich; die Pistole liege immer auf dem Tische oder auf dem Kaminsims, und sie wage kaum mehr abzuwischen. Aber das ist noch nichts. Sein Geld ...

Sein Geld? wiederholte Frau Lecoeur, deren Backen glühten.

Er besitzt keine Aktien mehr; er hat alles verkauft; er hat jetzt in einem Spinde einen Haufen Gold ...

Einen Haufen Gold, wiederholte die Sarriette entzückt.

Ja, einen großen Haufen Gold. Ein Brett ist ganz voll damit; es blendet einen ordentlich. Frau Léonce hat mir erzählt, daß er eines Morgens den Spind vor ihr geöffnet hat und daß ihr die Augen davon übergingen, so sehr funkelte das Gold.

Neues Stillschweigen. Die Augenlider der drei Weiber zuckten, als hätten sie den Haufen Gold gesehen. Die Sarriette begann zuerst zu lachen und meinte:

Wenn mein Oheim mir das Gold geben wollte, würde ich mich mit Jules fein unterhalten ... Wir ständen kaum mehr aus dem Bett auf und ließen uns die besten Sachen bringen.

Frau Lecoeur war wie niedergedrückt durch diese Entdeckung, durch dieses Gold, das sie jetzt nicht mehr aus ihrer Erinnerung bannen konnte. Der Neid krampfte ihr den Leib zusammen. Endlich erhob sie ihre mageren Arme, ihre dürren Hände, an deren Fingernägeln geronnene Butter saß und flüsterte im Tone der Angst:

Man darf nicht daran denken; es tut gar zu weh.

Ei, es ist doch Ihr Vermögen, wenn irgendein Zwischenfall eintritt, sagte Fräulein Saget. Ich an Ihrer Stelle würde die Augen aufhalten ... Diese Pistole bedeutet nichts Gutes. Herr Gavard ist schlecht beraten. Es muß ein böses Ende nehmen.

Sie kamen wieder auf Florent zu reden und zerfleischten ihn noch wütender als früher. Dann überlegten sie, wohin diese häßlichen Geschichten ihn und Gavard führen konnten. Sicherlich sehr weit, wenn sie ihre Zunge nicht zu zähmen wußten. Da nahmen sie sich ihrerseits vor, den Mund nicht zu öffnen; nicht als ob dieser Hundsfott Florent die mindeste Schonung verdiente, sondern weil man um jeden Preis vermeiden mußte, daß der würdige Herr Gavard kompromittiert werde. Sie hatten sich erhoben, und da Fräulein Saget sich anschickte zu gehen, fragte die Butterhändlerin:

Glauben Sie, daß man der Frau Léonce vertrauen kann? ... Ich meine, wenn ein Zwischenfall sich ereignet ... Sie hat vielleicht den Schlüssel zu dem Spind.

Sie fragen mich zuviel, erwiderte die Alte. Ich halte sie für eine sehr ehrbare Frau; aber schließlich weiß ich nicht ... Es gibt Umstände ... Ich habe Sie beide benachrichtigt; es ist Ihre Sache.

Sie verabschiedeten sich in dem Schlußakkord der Käse. Jetzt ließen alle zugleich sich vernehmen. Es war ein Mißklang von schlechten Ausdünstungen, angefangen von den schweren Gerüchen der gekochten Käse, der Schweizer- und Holländer-Käse bis zu den prickelnden Alkalien des Olivet. Es brummten der Cantal, der Chester, die Ziegenkäse, gleich einem breiten Gesang der Bässe; davon hoben sich in dünnen Noten die leichteren Dämpfe des Neufchatel, des Troyes, des Mont d'or ab. Dann wurden die Gerüche heftiger, wälzten sich durcheinander, verdichteten sich durch die Qualme des Port-Salut, des Limburgers, des Géromé, des Marolles, des Livarot, des Pont l'évêque, die sich allmählich vermengten und zu einem einzigen Ausbruch von Gerüchen sich steigerten. Es breitete sich aus und erhielt sich inmitten der allgemeinen Ausdünstungen; es waren keine besonderen Gerüche mehr, sondern nur ein anhaltender, ekliger Taumel von einer Gewalt, daß man fürchten mußte, vom Schlage gerührt zu werden. Indes schien es, als verbreiteten die anrüchigen Worte der Frau Lecoeur und des Fräulein Saget den üblen Geruch.

Ich danke Ihnen sehr, sagte die Butterhändlerin. Wenn ich einmal reich werde, sollen Sie belohnt werden.

Aber die Alte ging noch nicht. Sie nahm einen kleinen Spundkäse, wandte ihn hin und her und legte ihn auf den Marmortisch. Dann fragte sie, was er koste.

Für mich, fügte sie lächelnd hinzu.

Für Sie nichts, antwortete Frau Lecoeur. Ich gebe Ihnen den Käse.

Und sie wiederholte:

Ach, wenn ich reich wäre!

Fräulein Saget sagte ihr, es komme schon eines Tages. Der Spundkäse war schon im Handkorbe verschwunden. Die Butterhändlerin ging wieder in den Keller, während das alte Fräulein die Sarriette bis zu ihrem Stande begleitete. Hier plauderten sie einen Augenblick von Herrn Jules. Die Früchte ringsumher hatten den frischen Duft des Frühlings.

Hier riecht es besser, als bei Ihrer Tante, sagte die Alte. Mir war's ganz übel vorhin. Wie kann sie dort nur leben? Hier ist's lieblich, hier ist's gut. Sie sind ganz rosig und frisch davon, meine Liebe.

Die Sarriette lachte; sie liebte die Komplimente. Dann verkaufte sie einer Dame ein Pfund Mirabellen; sie seien süß wie Zucker, versicherte sie.

Ich möchte gern Mirabellen kaufen, flüsterte Fräulein Saget, als die Dame fort war; aber ich brauche so wenig ... Sie begreifen, eine alleinstehende Frau ...

Nehmen Sie eine Handvoll davon, rief das hübsche, braune Mädchen. Das wird mich nicht zugrunde richten ... Schicken Sie mir Jules, wenn Sie ihn sehen. Er wird auf der ersten Bank beim Ausgang des Hauptweges, rechts, seine Zigarre rauchen.

Fräulein Saget hatte die Finger ausgespreizt, um eine Handvoll Mirabellen zu nehmen, die sie zu dem Spundkäse in den Handkorb legte. Sie tat, als wolle sie die Hallen verlassen; aber sie machte einen Umweg durch einen der gedeckten Gänge und dachte sich, während sie langsam dahinschritt, daß ein Spundkäse und Mirabellen ein gar zu kärgliches Mahl geben. Gewöhnlich, wenn es auf ihrem Nachmittagsstreifzug ihr nicht gelungen war, ihren Handkorb zu füllen bei den Händlerinnen, die sie mit Schmeicheleien und Tratsch überhäufte, war sie genötigt, mit Speiseresten sich zu begnügen. Sie schlich heimlich zum Butterpavillon zurück. Hier stehen auf der nach der Hirtenstraße gelegenen Seite hinter den Büros der Austernhändler die Verkaufsbänke für kalte Schüsseln. Kleine, geschlossene Wägelchen in der Form von Kisten, mit Zink ausgeschlagen und mit Luftlöchern versehen, halten jeden Morgen vor den Türen der großen Küchen und holen von da die Überbleibsel aus den Restaurants, Gesandtschaften, Ministerien. Im Keller der Hallen wird das Aussuchen der Speisereste vorgenommen. Von neun Uhr ab sind kalte Schüsseln zu drei Sous und zu fünf Sous zu haben, Fleischstücke, Filets von Wildbret, Fischköpfe und Fischschwänze, Gemüse, Wurstzeug, sogar Nachtisch, kaum angeschnittener Kuchen, fast ganze Bonbons. Die Hungerleider, die kleinen Beamten, die armen Weiber drängen sich hier; manchmal finden sich unter dem Gejohle der Straßenjungen auch bleiche Geizhälse hier ein, die verstohlen ihren Einkauf machen und dabei umherblicken, ob niemand sie sehe. Fräulein Saget schlich zu einem Stande, deren Inhaberin stolz behauptete, nur Überreste aus den Tuilerien zu verkaufen. Eines Tages hatte sie ihr eine Schnitte Hammelfleisch gegeben mit der Versicherung, daß dieses Fleisch von dem Teller des Kaisers komme. Diese Schnitte Hammelfleisch wurde mit einem gewissen Stolz verzehrt und blieb gleichsam ein Trost für die Eitelkeit des alten Fräuleins. Wenn sie sich verbarg, geschah es übrigens nur, um sich den Zutritt zu den Kaufläden des Stadtviertels zu sichern, wo sie sich herumtrieb, ohne jemals etwas zu kaufen. Ihre Taktik war die, sich mit den Lieferanten zu entzweien, sobald sie ihre Geschichte wußte; sie ging dann zu anderen, verließ diese wieder, söhnte sich wieder aus und machte die Runde in den Hallen, so daß sie schließlich in allen Ständen zu Hause war. Man könnte glauben, daß sie ungeheure Vorräte anhäufe, während sie in Wirklichkeit von Geschenken lebte und von den Abfällen, die sie schweren Herzens aus Eigenem bezahlte.

An diesem Abend stand nur ein langer Greis vor dem Stande. Er hatte sich eine Schüssel ausersehen, in der eine Mischung von Fleisch und Fisch ausgelegt war. Fräulein Saget ihrerseits suchte einen Rest kalten Bratens. Der Teller kostete drei Sous; sie begann zu feilschen und erstand ihn schließlich um zwei Sous. Der kalte Braten wanderte in den Handkorb. Jetzt kamen andere Käufer und näherten mit einer gleichmäßigen Bewegung die Nase den Schüsseln. Der Geruch der Auslage war ein widerwärtiger, ein Geruch von fettem Geschirr und schlecht ausgespülten Gußbecken.

Kommen Sie morgen wieder, sagte die Händlerin dem alten Fräulein. Ich will Ihnen etwas Gutes beiseite legen. Es findet heute abend ein großes Essen in den Tuilerien statt.

Fräulein Saget versprach zu kommen. Als sie sich umwandte, bemerkte sie Gavard, der zugehört hatte und sie betrachtete. Sie wurde sehr rot, zog ihre mageren Schultern ein und ging davon, wobei sie tat, als habe sie ihn nicht erkannt. Doch er folgte ihr einen Augenblick, zuckte mit den Achseln und brummte, daß die Niedertracht dieses Lästermaules ihn nicht mehr wundere, da sie sich mit den schmutzigen Abfällen nähre, auf die man in den Tuilerien »gerülpst« hat.

Am nächsten Tage ging ein dumpfes Gerücht durch die Hallen. Frau Lecoeur und die Sarriette hielten ihr Gelöbnis des Stillschweigens. Unter solchen Umständen zeigte sich Fräulein Saget sehr geschickt; sie schwieg und überließ es den beiden anderen, die Geschichte von Florent zu verbreiten. Es war anfänglich eine ganz knappe Mitteilung, bloße Worte, die ganz leise weiter erzählt wurden. Dann flossen die verschiedenen Lesarten durcheinander. Die Einzelheiten dehnten sich aus, es bildete sich eine Legende, in der Florent die Rolle des Schinderhannes spielte. Er hatte zehn Gendarmen auf der Barrikade in der Grénéta-Straße getötet; er war auf einem Piratenfahrzeug zurückgekehrt, und die Piraten hatten unterwegs alles auf dem Schiffe niedergemacht; seit seiner Rückkehr sah man ihn des Nachts in der Gesellschaft verdächtiger Menschen herumstreifen, deren Anführer er sicherlich war. Über diesen Punkt nahm die Einbildungskraft der Händlerinnen einen kühnen Flug, ersann die schauerlichsten Dinge, eine ganze Bande von Schmugglern im Herzen von Paris oder vielmehr einen mächtigen Bund, der alle in den Hallen begangenen Diebstähle und Einbrüche leitete. Man beklagte die Quenu-Gradelle sehr nicht ohne hämische Bemerkungen über die Erbschaft. Über diese Erbschaft ereiferten sich die Leute ganz besonders. Die allgemeine Ansicht ging dahin, daß Florent zurückgekehrt sei, um seinen Anteil an dem Schatze zu fordern. Da man sich aber nicht erklären konnte, warum die Teilung noch nicht vor sich gegangen, einigte man sich dahin, daß er auf eine gute Gelegenheit warte, um das Ganze einzusacken. Eines Tages finde man die Quenu-Gradelle sicherlich ermordet. Man erzählte, daß es an jedem Abende gräßliche Streitigkeiten zwischen den beiden Brüdern und der schönen Lisa gebe. Als diese Geschichten der schönen Normännin zu Ohren kamen, zuckte sie lachend mit den Achseln.

Ach geht, sagte sie, ihr kennt ihn nicht. Der liebe Mann ist sanft wie ein Schaf.

Sie hatte vor kurzem rundweg die Hand des Herrn Lebigre ausgeschlagen, der förmlich um sie geworben hatte. Seit zwei Monaten schickte er jeden Sonntag den Méhudin eine Flasche Likör. Rose brachte die Flasche mit demütiger Miene. Sie hatte jedesmal noch einen schönen Extragruß für die Normännin zu bestellen in schön gedrechselten Worten, die sie getreulich wiederholte, ohne über diesen seltsamen Auftrag im mindesten verwundert zu sein. Als Herr Lebigre seinen Abschied bekam, wollte er zeigen, daß er nicht beleidigt sei und durchaus nicht die Hoffnung aufgebe, und sandte am nächsten Sonntag zwei Flaschen Champagner und einen großen Blumenstrauß. Sie übergab das Ganze der schönen Fischhändlerin und sagte in einem Atem die Botschaft des Gastwirts her:

Herr Lebigre bittet Sie, dies auf seine Gesundheit zu trinken, die sehr erschüttert worden ist – Sie werden schon wissen wodurch. Er hofft, Sie werden eines Tages ihn heilen, indem Sie zu ihm ebenso schön und gut sind, wie diese Blumen.

Die Normännin ergötzte sich an der entzückten Miene der Magd. Sie brachte diese in Verlegenheit, indem sie ihr von ihrem Dienstherrn sprach, der, wie man sagte, sehr anspruchsvoll sei. Sie fragte sie, ob sie ihn sehr liebe, ob er Strupfen trage und ob er nachts schnarche. Dann gab sie ihr den Champagner und den Strauß zurück.

Sagen Sie Herrn Lebigre, er soll Sie nicht mehr hersenden. Sie sind zu gut, meine Liebe. Es ärgert mich, wenn ich Sie so sanft sehe mit Ihren Flaschen unter den Armen. Können Sie ihm denn nicht ins Gesicht fahren, Ihrem Herrn Lebigre?

Mein Gott, er will, daß ich gehe, und ich gehe, erwiderte Rose, indem sie sich zum Fortgehen anschickte. Sie tun unrecht, ihn so zu kränken... Er ist ein recht hübscher Mann.

Florent hatte durch sein ruhiges Wesen die Normännin völlig für sich gewonnen. Sie wohnte noch immer den Unterrichtsstunden Feinchens bei des Abends beim Lampenschein und träumte davon, diesen Mann zu heiraten, der zu den Kindern so gut war. Sie behielt ihren Verkaufstisch in der Abteilung für Seefische; er erlangte eine höhere Stelle in der Verwaltung der Hallen. Allein dieser Traum fand ein Hindernis an der Achtung, die er ihr bekundete; er grüßte sie achtungsvoll und hielt sich fern, während sie mit ihm scherzen und kosen wollte, kurz: lieben, wie sie das Lieben verstand. Gerade dieser geheime Widerstand ließ sie fortwährend an die Möglichkeit einer ehelichen Verbindung mit ihm denken. Ihre Eigenliebe würde in einer solchen Ehe hohe Befriedigung gefunden haben. Doch Florent lebte anderswo, in einer anderen, fernen Gedankenwelt. Er würde vielleicht nachgegeben haben, wenn er sich Feinchen nicht angeschlossen hätte; überdies widerstrebte ihm der Gedanke, eine Geliebte zu haben in diesem Hause neben der Mutter und der Schwester.

Die schöne Normännin erfuhr mit großer Überraschung die Geschichte ihres Geliebten. Niemals hatte er ein Wort von diesen Dingen verlauten lassen. Sie zankte darob mit ihm. Diese außerordentlichen Abenteuer mengten eine neue Würze in ihre Zärtlichkeit für ihn. Ganze Abende hindurch mußte er ihr alles erzählen, was ihm widerfahren. Sie zitterte, daß die Polizei ihn schließlich entdecken könne; doch er beruhigte sie, sagte, daß die Geschichte verjährt sei und die Polizei sich nicht mehr darum kümmere. Eines Abends erzählte er ihr von der Frau am Boulevard Montmartre mit dem rosa Hut, aus deren durchschossener Brust das Blut auf seine Hände rann. Er dachte noch oft an sie; in den hellen Nächten in Guyana hatte diese traurige Erinnerung ihn beschäftigt; er war nach Frankreich zurückgekehrt mit dem unsinnigen Gedanken, sie an einem sonnenhellen Tage auf einem Bürgersteige wiederzufinden, wenngleich er noch immer die Last ihrer Leiche quer auf seinen Beinen zu fühlen glaubte. Vielleicht hatte sie sich doch wieder erhoben. Zuweilen stutzte er auf der Straße, weil er ihr zu begegnen glaubte. Allen Frauen mit rosa Hüten und Schals folgte er bebenden Herzens. Wenn er die Augen schloß, sah er sie gehen, auf ihn zukommen; sie ließ ihren Schal herabgleiten und zeigte ihm die zwei roten Flecke an ihrem Busentuche; sie erschien ihm wachsbleich, mit hohlen Augen, vom Schmerz verzerrten Lippen. Lange litt er sehr darunter, daß er ihren Namen nicht wußte, daß er nur ihren Schatten besaß. Wenn der Gedanke an das Weib in ihm erwachte, richtete sie sich auf und bot sich ihm an als die einzig Gute, einzig Reine. Oft ertappte er sich bei dem Traum, daß sie ihn suche in der Allee, wo sie geblieben, daß sie ihm ein Leben voll Freude geboten hätte, wenn sie ihm einige Sekunden früher begegnet wäre. Er wollte kein anderes Weib mehr, es existierte keines für ihn. Seine Stimme zitterte dermaßen, wenn er von ihr sprach, daß die Normännin mit dem Empfinden der Verliebten endlich begriff und eifersüchtig wurde.

Es ist wirklich besser, Sie sehen sie nicht wieder, sagte sie boshaft; sie mag zu dieser Stunde nicht sehr schön sein.

Florent war ganz bleich; ihn entsetzte das von der Fischhändlerin heraufbeschworene Bild. Seine Liebeserinnerung zerstob vor dem Knochengerüste. Er konnte ihr die grausame Roheit nicht verzeihen, die ihn von jetzt ab unter dem rosa Hut den hohläugigen Schädel eines Skeletts sehen ließ. Wenn die Normännin ihn neckte wegen der Dame, die »an der Ecke der Vivienne-Straße mit ihm geschlafen hatte«, ward er grob und hieß sie schweigen.

Bei allen diesen Enthüllungen überraschte die schöne Normännin am meisten, daß sie sich getäuscht hatte, als sie der schönen Lisa einen Liebhaber abwendig zu machen geglaubt hatte. Dies verkleinert ihren Triumph, so daß sie acht Tage lang Florent weniger liebte. Sie tröstete sich darüber mit der Geschichte von der Erbschaft; die schöne Lisa war keine Spröde mehr, sondern eine Diebin, die das Vermögen ihres Schwagers behielt und mit ihren heuchlerischen Mienen die Welt täuschte. Jeden Abend – während Feinchen die Schriftvorlagen nachschrieb – drehte sich das Gespräch um den Schatz des alten Gradelle.

Hat man je einen solchen Einfall gehört, wie der Alte ihn hatte! rief die Fischhändlerin lachend. Wollte er denn sein Geld einsalzen, daß er es in ein Pökelfaß tat? ... Fünfundachtzigtausend Franken sind eine hübsche Summe ... und die Quenus haben sicherlich noch gelogen; es war vielleicht das Zweifache oder Dreifache ... Ich würde meinen Teil fordern und sogleich!

Ich brauche nichts, wiederholte Florent immer; ich wüßte auch gar nicht, wo ich mein Geld hintun soll.

Darob geriet sie in Zorn.

Sie sind kein Mann! Es ist ein wahrer Jammer ... Merken Sie denn nicht, daß die Quenus Sie zum besten halten? Die Dicke gibt Ihnen die alte Wäsche und die alten Kleider ihres Mannes. Ich sage es nicht, um Sie zu kränken, aber schließlich merkt es alle Welt. Sie tragen da eine fettriefende Hose, die das ganze Stadtviertel drei Jahre lang am Leibe Ihres Bruders gesehen hat. Ich an Ihrer Stelle würde ihnen diese Lumpen an den Kopf werfen und meine Rechnung machen. Zweiundvierzigtausendfünfhundert Franken, nicht wahr? Ohne meine zweiundvierzigtausendfünfhundert Franken würde ich das Haus nicht verlassen.

Vergebens erklärte ihr Florent, daß seine Schwägerin ihm sein Teil angeboten habe, daß sie das Geld zu seiner Verfügung halte und daß er nichts davon hören wolle. Er ging in die kleinsten Einzelheiten ein, um sie von der Ehrlichkeit der Quenus zu überzeugen.

Ja, wer's glaubt, wird selig! sang sie spöttisch. Ich kenne ihre Ehrlichkeit. Die Dicke legt ihre Ehrlichkeit jeden Morgen fein säuberlich in den Spiegelschrank, um sie nicht zu beschmutzen ... Wirklich, mein armer Freund, Sie dauern mich. Es muß ein wahres Vergnügen sein, Sie zu prellen; Sie sind nicht pfiffiger, als ein fünfjähriges Kind ... Eines Tages legt sie Ihnen das Geld in die Tasche und nimmt es wieder weg. Das ist kein großes Kunststück. Soll ich für Sie fordern, was Ihnen gebührt? Das müßte drollig werden, ich bürge Ihnen dafür. Entweder sie würden mit den Füchsen herausrücken, oder ich würde alles in Stücke hauen, bei meiner Ehre sag' ich's!

Nein, nein, das ist nicht Ihre Sache, beeilte sich Florent zu sagen. Ich will selber versuchen ... Ich brauche vielleicht demnächst Geld.

Sie zuckte zweifelnd mit den Achseln und brummte, daß er gar zu weichlich sei. Sie suchte ihn beständig gegen die Quenu-Gradelle aufzuhetzen, wobei sie alle Mittel anwandte, den Zorn, den Spott, die Zärtlichkeit. Dann wieder heckte sie einen anderen Plan aus. Wenn sie erst Florents Frau wäre, würde sie hingehen, um die schöne Lisa zu ohrfeigen, wenn sie das Geld nicht gutwillig herausgeben wollte. Des Abends lag sie in ihrem Bette wach und träumte davon: sie sah sich bei der Wursthändlerin eintreten, sich mitten im Laden niedersetzen zu einer Zeit, wo die meisten Käufer da wären, und eine scheußliche Szene machen. Sie hegte diesen Plan so liebevoll und ward von ihm dermaßen eingenommen, daß sie einzig deshalb geheiratet hätte, um die zweiundvierzigtausendfünfhundert Franken des alten Gradelle von Lisa zurückfordern zu können.

Erbittert durch den Korb, den Herr Lebigre bekommen, schrie Frau Méhudin überall aus, ihre Tochter sei verrückt, der »lange Magere« müsse ihr irgendeinen giftigen Trank eingegeben haben. Als sie die Geschichte von Cayenne erfuhr, war sie fürchterlich, behandelte ihn als Galeerensträfling, als Mörder und sagte, es sei nicht zu verwundern, wenn er in seiner großen Schurkerei so mager bleibe. Im Stadtviertel verbreitete sie die ungeheuerlichsten Lesarten der Geschichte; im Hause jedoch begnügte sie sich zu brummen und schloß, wenn Florent kam, in auffälliger Weise das Schubfach, wo das Silberzeug verwahrt wurde. Eines Tages rief sie nach einem Zanke mit ihrer älteren Tochter:

Das kann nicht länger so fortgehen! Dieser Hundsfott von einem Manne macht dich mir abwendig. Treibe mich nicht zum Äußersten, sonst zeige ich ihn eines Tages auf der Polizeiverwaltung an, so wahr als es Tag ist!

Ihr würdet ihn anzeigen? wiederholte die Normännin zitternd und mit geballten Fäusten. Dieses Unheil stiftet Ihr nicht an ... Wenn Ihr nicht meine Mutter wäret ...

Claire, die Zeugin dieses Streites war, begann zu lachen. Es war ein nervöses Lachen, das ihr schier die Kehle zerriß. Seit einiger Zeit wurde sie noch düsterer, noch phantastischer; die Augen wurden röter, das Gesicht ganz bleich.

Was wäre? fragte sie. Würdest du sie etwa prügeln? Und würdest du etwa mich auch prügeln, deine Schwester? Es kommt ohnehin dazu. Ich will das Haus von ihm befreien. Ich selbst gehe zur Polizeiverwaltung, um der Mutter den Weg zu ersparen.

Als die Normännin schier vor Wut erstickte und allerlei Drohungen stammelte, fügte sie hinzu:

Du brauchst mich nicht zu prügeln. Auf dem Rückwege von der Polizei stürze ich mich ins Wasser.

Schwere Tränen rannen über ihre Backen. Sie floh auf ihre Stube und schlug alle Türen heftig zu. Die Mutter Méhudin sprach nicht mehr davon, Florent anzuzeigen. Dagegen wußte Feinchen häufig seiner Mutter zu erzählen, daß er die Alte bald da, bald dort in eifrigem Gespräch mit Herrn Lebigre gesehen habe.

Der Wettstreit zwischen der schönen Normännin und der schönen Lisa nahm zu jener Zeit einen noch schärferen, noch beunruhigenderen Charakter an. Des Nachmittags, wenn das Vordach des Wurstladens aus grauem Zwilch mit roten Streifen herabgelassen war, schrie die Fischhändlerin, daß die Dicke Furcht habe, sich verstecke. Auch der Vorhang des Schaufensters erbitterte sie, wenn er herabgelassen war. Auf diesem Vorhang war eine Jagdgesellschaft abgebildet, die inmitten einer Waldlichtung ihr Frühstück nimmt. Da gab es Herren im Frack und dekolletierte Damen, die auf dem gelben Grase eine große, rote Pastete aßen. Die schöne Lisa hatte gewiß keine Furcht. Sobald die Sonne weg war, zog sie den Vorhang wieder in die Höhe und betrachtete ruhig, an ihrem Pulte sitzend und strickend, das mit Platanen bepflanzte Pflaster vor den Hallen, wo eine Menge Taugenichtse unter dem Schutzgitter, das die Bäume umgab, die Erde durchsuchten. Auf den Bänken saßen Lastträger und rauchten ihre Pfeife; an beiden Enden des Fußweges standen zwei Anschlagsäulen, ganz buntscheckig von den blauen, roten, gelben und grünen Theaterzetteln. Während sie tat, als interessiere sie sich für die vorüberfahrenden Wagen, beobachtete sie die schöne Normännin sehr genau. Zuweilen tat sie, als neige sie sich vor und folge bis zur Eustachkirche dem Omnibus, der von der Bastille bis zum Wagramplatze verkehrt; es geschah, um die Fischhändlerin besser sehen zu können, die sich für den Vorhang des Schaufensters dadurch rächte, daß sie breite Blätter grauen Papiers über ihr Haupt und ihre Waren breitete unter dem Vorwande, sich gegen die Abendsonne zu schützen. Allein der Vorteil blieb auf der Seite Lisas. Sie zeigte sich sehr ruhig bei dem Herannahen des entscheidenden Augenblicks, während die andere trotz ihrer Anstrengungen, ihre würdige Miene zu bewahren, sich schließlich immer zu irgendeiner Torheit hinreißen ließ, die sie hinterher bereute. Der Ehrgeiz der Normännin war: vornehm zu scheinen. Nichts ging ihr so nahe, als wenn sie das feine Benehmen ihrer Gegnerin rühmen hörte. Die Mutter Méhudin hatte diese schwache Seite bemerkt und faßte ihre Tochter nur dabei.

Ich habe Frau Quenu vor ihrer Türe gesehen, sagte sie zuweilen des Abends. Es ist erstaunlich, wie die Frau sich hält. Dabei ist sie sehr sauber und hat das Aussehen einer wirklichen Dame. Siehst du, das kommt vom Pulte. Das Sitzen vor dem Pulte erhält eine Frau und macht sie vornehm.

Hierin lag zugleich eine versteckte Anspielung auf die Anträge des Herrn Lebigre. Die schöne Normännin schwieg und blieb einen Augenblick nachdenklich. Sie sah sich im Geiste in der anderen Ecke der Pirouette-Straße vor dem Zahlpulte in der Weinstube des Herrn Lebigre sitzen, gleichsam als Gegenstück zur schönen Lisa. Das erschütterte zuerst ihre zärtliche Zuneigung für Florent.

Es ward ihr in der Tat sehr schwer, Florent zu verteidigen. Das ganze Stadtviertel fiel über ihn her. Es war, als habe jeder einzelne ein unmittelbares Interesse daran, ihn auszurotten. In den Hallen schworen die einen, er habe sich der Polizei verkauft, während die anderen versicherten, man habe ihn im Butterkeller bei dem Versuche betreten, brennende Zündhölzchen durch die Drahtnetze der Zellen zu werfen. Es war ein Anwachsen von Verleumdungen, eine Sturmflut von Schmähungen, deren Quelle immer größer geworden, ohne daß man genau wußte, wo sie entsprang. Der Pavillon der Seefische war der letzte, der sich dem Aufruhr anschloß. Die Fischhändlerinnen liebten Florent wegen seiner Sanftmut; sie verteidigten ihn eine Zeitlang; als sie aber von den Händlerinnen aus dem Butterpavillon und aus dem Früchtepavillon bearbeitet wurden, gaben sie nach. Jetzt begann von neuem der Krieg der riesigen Bäuche und Brüste gegen diesen mageren Mann. Abermals verlor er sich zwischen den Frauenröcken und den zum Platzen vollen Frauenleibchen, die sich wütend um seine mageren Schultern tummelten. Er aber sah nichts und ging schnurgerade seiner fixen Idee nach.

Inmitten dieses entfesselten Sturmes konnte man jetzt zu jeder Stunde und in allen Winkeln den schwarzen Hut des Fräuleins Saget auftauchen sehen. Ihr blasses, breites Gesicht schien sich zu vervielfachen. Sie hatte der Gesellschaft, die sich bei Herrn Lebigre in dem Glasverschlag versammelte, furchtbare Rache geschworen. Sie beschuldigte diese Herren, die Geschichte von den Speiseabfällen verbreitet zu haben. Die Wahrheit war, daß Gavard eines Abends erzählte, die alte Vettel, die sie bespähte, nähre sich von dem Unflat, den die bonapartistische Sippschaft stehen gelassen. Clémence hatte eine Anwandlung von Übelkeit. Robine trank schnell ein Schlückchen Bier, um sich den Schlund auszuspülen. Der Geflügelhändler aber wiederholte sein Wörtchen:

Die Tuilerien haben darauf gerülpst.

Er sagte es mit einer abscheulichen Grimasse. Diese vom Teller des Kaisers kommenden Fleischreste waren für ihn ein namenloser Unflat, ein politischer Auswurf, ein faulender Rest aller Schweinereien des herrschenden Systems. Von nun ab ward Fräulein Saget in der Weinstube des Herrn Lebigre nur mehr mit der Zange angefaßt; sie ward ein lebender Düngerhaufen; ein unsauberes Tier, das sich von Abfällen nährte, die selbst die Hunde verschmäht haben würden. Clémence und Gavard verbreiteten die Geschichte in den Hallen, so daß das alte Fräulein in ihren Beziehungen zu den Händlerinnen die üblen Folgen zu fühlen bekam. Wenn sie mäkelte und schwatzte, ohne etwas zu kaufen, schickte man sie auf den Markt der Speisereste. Dies verstopfte die Quelle ihrer Erkundigungen. An manchen Tagen wußte sie nicht, was vorging. Darob weinte sie vor Wut. Bei einer solchen Gelegenheit sagte sie zu Frau Lecoeur und der Sarriette rundheraus:

Ihr braucht mich nicht zu drängen, meine Lieben; ich will Eurem Gavard schon eine Suppe einbrocken.

Die zwei anderen waren ein wenig betroffen, sagten aber nichts. Am nächsten Tage war Fräulein Saget wieder ruhiger und sprach mit mehr Wohlwollen von Herrn Gavard, der so schlecht beraten sei und entschieden in sein Verderben renne.

Gavard kompromittierte sich in der Tat sehr. Seitdem die Verschwörung reifte, trug er überall den Revolver mit sich, der seine Hausmeisterin, Frau Léonce, so sehr erschreckt hatte. Es war ein großer Revolver, den er mit geheimnisvoller Miene bei dem besten Waffenhändler von Paris gekauft hatte. Am nächsten Tage zeigte er ihn allen Weibern des Geflügelpavillons wie ein Schüler einen verbotenen Roman, den er in seinem Pulte verborgen hält, seinen Mitschülern zeigt. Er ließ den Lauf der Waffe aus seiner Tasche hervorlugen und deutete augenblinzelnd auf ihn; dann machte er Andeutungen, halbe Bekenntnisse, die ganze Komödie eines Menschen, dem es eine Freude macht, große Angst zu zeigen. Diese Pistole verlieh ihm eine ungeheure Bedeutung; er zählte von nun ab entschieden zu den gefährlichen Leuten. Zuweilen ließ er sich im Hintergrunde seines Standes herbei, ihn ganz aus seiner Tasche zu ziehen und zwei oder drei Frauen zu zeigen. Er verlangte, daß bei solchen Gelegenheiten die Frauen sich vor ihn hinstellen und ihn mit ihren Röcken verdecken sollten. Dann lud er die Waffe, zeigte ihre Handhabung und zielte nach einer toten Gans oder Ente. Der Schreck der Weiber entzückte ihn; schließlich beruhigte er sie, indem er sagte, die Waffe sei nicht geladen. Er hatte auch Patronen bei sich in einer Schachtel, die er mit unendlicher Vorsicht öffnete. Die Weiber wogen die Patronen in der Hand; dann endlich entschloß er sich, sein Arsenal wieder einzustecken. Aber mit verschränkten Armen redete er noch stundenlang.

Ein Mann ist schließlich ein Mann! rief er prahlerisch aus. Jetzt pfeife ich auf die Häscher. Am Sonntag war ich mit einem Freunde in der Ebene von St.-Denis, um die Pistole zu probieren. Sie begreifen, man erzählt nicht aller Welt, daß man ein solches Spielzeug besitzt. Leutchen, wir schossen nach einem Baum, und bei jedem Schusse paff! war der Baum getroffen. Ihr hört von Anatole bald mehr. Seinen Revolver nannte er Anatole. Bald kannte der ganze Pavillon die Pistole und die Patronen. Seine Kameradschaft mit Florent fand man übrigens verdächtig. Er war zu reich und zu dick, als daß man ihn für fällig gehalten hätte, in all dem gehässigen Treiben mitzutun. Aber er verlor die Wertschätzung der klugen Leute, und es gelang ihm sogar, die Furchtsamen zu erschrecken. Das entzückte ihn vollends.

Es ist unklug, Waffen bei sich zu tragen, sagte Fräulein Saget. Es kann ihm damit eines Tages noch übel ergehen.

Bei Herrn Lebigre triumphierte Gavard. Seitdem Florent nicht mehr bei den Quenus speiste, lebte er in dem Glaskabinett. Er nahm hier sein Frühstück, seine Abendmahlzeit, war zu jeder Stunde hier zu finden. Der Glasverschlag war gleichsam seine Stube geworden, ein Büro, wo er alte Röcke, Tücher, Papiere herumliegen ließ. Herr Lebigre duldete diese Besitznahme. Er hatte sogar einen der beiden Tische hinausschaffen und durch eine gepolsterte Bank ersetzen lassen, auf der Florent gelegentlich auch hätte schlafen können. Wenn dieser einige Bedenken äußerte, bat ihn der Weinhändler, sich keinen Zwang anzutun und stellte ihm sein Haus ganz zur Verfügung. Auch Logre bekundete ihm große Freundschaft. Er war sein Gehilfe geworden. Zu jeder Stunde unterhielt er ihn von dem »Unternehmen«, um ihm von seinen Schritten Rechenschaft abzulegen und ihm die Namen der neu angeworbenen Verschworenen mitzuteilen. Er hatte bei diesem Geschäfte die Rolle eines Organisators angenommen. Er sollte die Leute überreden, die Abteilungen einrichten, jede Masche des ungeheuren Netzes vorbereiten, in das Paris auf ein gegebenes Zeichen geraten mußte. Florent blieb das Oberhaupt, die Seele der Verschwörung. Übrigens schien der Bucklige Blut zu schwitzen, ohne zu nennenswerten Erfolgen zu gelangen; obgleich er geschworen hatte, in jedem Stadtviertel zwei oder drei Gruppen verläßlicher Männer zu kennen, jener Gruppe gleichend, die sich bei Herrn Lebigre versammelte, hatte er bisher noch keine bestimmten Nachrichten geliefert, warf mit Namen um sich, erzählte von endlosen Gängen, umjubelt von dem begeisterten Volke. Was er von Bestimmtem mitbrachte, das waren Händedrücke; der und der, den er duzte, hatte ihm die Hand gedrückt und gesagt: Ich tue mit. In der Kneipe »Großer Kiesel« habe er die Bekanntschaft eines langen Teufelsjungen gemacht, der einen prächtigen Abteilungsführer abgeben werde, und der ihm mit seinen Händedrücken schier den Arm ausgerenkt habe. In der Popincourt-Straße habe eine ganze Gruppe von Arbeitern ihn umarmt. Wenn man ihn hörte, konnte man von heut auf morgen hunderttausend Mann zusammenbringen. Wenn er zurückkam und erschöpft auf das gepolsterte Bänkchen hinsank und immer neue Geschichten erzählte, machte Florent Notizen und rechnete auf die Erfüllung seiner Versprechungen. Bald lebte das ganze Komplott in der Tasche Florents; die Notizen wurden zu Wirklichkeiten, zu unanfechtbaren Daten, auf denen der ganze Plan sich aufbaute. Man brauchte nur mehr eine gute Gelegenheit abzuwarten. Logre sagte mit seinen leidenschaftlichen Gebärden, daß alles wie am Schnürchen gehe.

Zu jener Zeit war Florent vollkommen glücklich. Er wandelte nicht mehr auf Erden; ihn erhob der Gedanke, der Rächer der Leiden zu werden, die er hatte erdulden sehen. Er hatte die Leichtgläubigkeit eines Kindes und das Vertrauen eines Helden. Logre hätte ihm erzählen können, der Geist der Julisäule werde herabsteigen, um sich auf ihrem Haupte niederzulassen: Florent wäre davon gar nicht überrascht gewesen. Des Abends bei Herrn Lebigre ward er redselig; er sprach von dem nächsten Kampfe wie von einem Feste, zu dem alle ehrlichen Leute geladen seien. Doch wenn Gavard mit seinem Revolver spielte, so wurde hingegen Charvet sehr bitter und zuckte häufig spöttisch mit den Achseln. Die Haltung eines Hauptes der Verschworenen, die sein Nebenbuhler angenommen hatte, brachte ihn außer sich; ihn ekelte die Politik jetzt an. Als er eines Abends früher denn sonst gekommen war und sich mit Logre und Herrn Lebigre allein befand, erleichterte er sein Herz.

Ein Mensch, rief er, der in der Politik nicht zwei Gedanken hat, der besser getan hätte, Schreiblehrer in einem Mädchenpensionate zu werden! ... Es wäre ein Unglück, wenn er Erfolg hätte; mit seinen sozialen Träumereien würde er uns die vertrackten Arbeiter auf den Hals hetzen. Dadurch geht das Spiel verloren. Wir brauchen diese tränenfeuchten Menschlichkeitsschwärmer nicht, die nach jeder Keilerei einander um den Hals fallen ... Aber er wird keinen Erfolg haben. Er läßt sich ins Loch stecken und damit basta!

Logre und der Weinhändler schwiegen und ließen Charvet weiter reden.

Er säße längst im Käfig, fuhr er fort, wenn er so gefährlich wäre, wie er glauben machen möchte. Aber mit seinem Aussehen eines ehemaligen Sträflings erweckt er nur Mitleid. Die Polizei hat vom ersten Tage an gewußt, daß er wieder in Paris ist; doch hat sie ihn ungeschoren gelassen, weil er ihr gleichgültig ist.

Logre fuhr leicht zusammen.

Mir spüren sie seit fünfzehn Jahren nach, rief der Hébertist stolz aus. Aber ich schreie es nicht auf allen Dächern aus .... Nur tue ich bei seinem Handel nicht mit. Ich habe keine Lust, mich wie ein Gimpel abfangen zu lassen ... Vielleicht ist ein halbes Dutzend Spitzel hinter ihm her, die ihn eines Tages, wenn die Polizei ihn braucht, am Kragen faßt ...

O nein, welch Gedanke! meinte Herr Lebigre, der sonst niemals sprach.

Er war etwas blaß und sah Logre an, der seinen Höcker an die Glaswand lehnte.

Das sind so Vermutungen, brummte der Bucklige.

Vermutungen, wenn Sie wollen, erwiderte der Lehrer. Ich weiß, wie diese Dinge gehen ... In allen Fällen werden die Spitzel mich diesmal noch nicht haben. Tun Sie, was Sie wollen, meine Herren; aber wenn Sie meinen Rat hören wollen, – besonders Sie, Herr Lebigre – setzen Sie Ihr Geschäft nicht aufs Spiel! Man sperrt es Ihnen sicher zu.

Logre konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Charvet sprach öfter in diesem Sinne zu ihm; er schien den Plan zu hegen, die beiden Männer zu erschrecken und so von Florent zu entfernen. Doch sie zeigten jedesmal eine Ruhe und Vertrauensseligkeit, die ihn sehr überraschten. Indes kam er ziemlich regelmäßig des Abends mit Clémence. Das große, braune Mädchen war nicht mehr Rechnungsführerin in der Fischeabteilung. Herr Manoury hatte sie entlassen.

Diese Makler sind lauter Halunken, brummte Logre.

Clémence, die an die Wand gelehnt saß und mit ihren langen, dünnen Fingern eine Zigarette drehte, antwortete mit ihrer klaren Stimme:

Es war nur recht und billig. Wir hatten nicht die nämlichen politischen Ansichten. Dieser Manoury, der ein schweres Stück Geld verdient, würde dem Kaiser die Stiefel ablecken. Wenn ich ein Büro hätte, würde ich ihn nicht vierundzwanzig Stunden in meinen Diensten behalten.

Die Wahrheit war, daß Clémence sich zuweilen sehr kecke Späße erlaubte. Eines Tages hatte sie sich darin gefallen, in die Verkaufstabellen neben die Rochen, Spieringe, Sandaale und Makrelen die Namen der bekanntesten Damen und Herren vom Hofe hinzuschreiben. Diese Fischnamen, die sie hohen Würdenträgern beilegte, diese zu dreißig Sous per Stück verkauften Gräfinnen und Baroninnen hatten Herrn Manoury sehr erschreckt. Gavard lachte jetzt noch über die Geschichte.

Sie sind ein Mann! rief er, Clémence auf den Arm schlagend.

Clémence hatte eine neue Art erfunden, den Grog zuzubereiten. Sie füllte zuerst das Glas mit heißem Wasser, dann tat sie Zucker dazu und goß auf die Zitronenschnitte, die auf der Flüssigkeit schwamm, den Rum Tropfen für Tropfen, um ihn nicht mit dem Wasser zu vermengen; dann zündete sie ihn an und sah mit ernster Miene zu, wie er brannte; dabei rauchte sie langsam ihre Zigarette, das Gesicht grün gefärbt von der Flamme des Alkohols. Doch es war ein teurer Trunk, den sie sich nicht vergönnen konnte, als sie ihre Stelle verloren hatte. Charvet gab ihr mit einem süßsauren Lächeln zu verstehen, daß sie jetzt nicht mehr reich sei. Sie lebte von einer französischen Unterrichtsstunde, die sie in der Miromesnil-Straße in früher Morgenstunde einer jungen Person gab, die ihre Bildung vervollständigen wollte und dies selbst vor ihrer Kammerfrau geheim hielt. Clémence trank also des Abends nur ein Glas Bier, das sie mit philosophischem Gleichmute leerte.

Die Abende in dem Glaskabinett waren nicht mehr so geräuschvoll. Charvet brach plötzlich ab und erbleichte vor Wut, wenn man seinem Nebenbuhler Gehör schenkte. Der Gedanke, daß er vor der Ankunft des anderen hier als Despot geherrscht habe, erfüllte sein Herz mit der Bitterkeit eines entthronten Königs. Wenn er noch hierher kam, so geschah es nur, weil er sich nach diesem engen Winkel sehnte, wo es ehemals für ihn so liebliche Stunden der Tyrannei über Gavard und Robine gegeben; auch der Höcker Logres hatte damals ihm gehört ebenso wie die starken Arme Alexanders und das düstere Antlitz Lacailles; mit einem Worte beugte er sie, zwang er ihnen seine Meinung auf, zerbrach er sein Zepter auf ihrem Rücken. Heute aber litt er sehr; er blieb ganz stumm, krümmte den Rücken und pfiff mit geringschätziger Miene leise vor sich hin, ohne alle die Dummheiten, die da vor ihm ausgekramt wurden, auch nur einer Gegenbemerkung zu würdigen. Was ihn hauptsächlich erbitterte, war die Tatsache, daß er allmählich, kaum daß er es merkte, aus seiner Stellung verdrängt wurde. Er konnte sich die Überlegenheit Florents nicht erklären. Wenn er ihn stundenlang mit seiner sanften, etwas traurigen Stimme hatte reden hören, pflegte er zu sagen:

Dieser Mensch ist ein Pfaff, es fehlt ihm nichts als das Käppchen.

Die anderen hingegen schienen die Worte Florents zu trinken. Charvet, der auf allen Nägeln Kleidungsstücken des Hallenaufsehers begegnete, tat, als wisse er nicht mehr, wohin er seinen Hut hängen solle, ohne ihn zu beschmutzen. Er schob die Papiere weg, die überall herumlagen und sagte, man sei hier nicht mehr zu Hause, seitdem »dieser Herr« alle seine Geschäfte im Kabinett besorge. Er beklagte sich sogar bei dem Weinhändler und fragte diesen, ob das Kabinett einem Gaste allein oder der ganzen Gesellschaft gehöre. Dieser Einbruch in sein Reich gab ihm den Gnadenstoß. Fortan waren die Menschen für ihn wilde Tiere. Er verachtete die ganze Menschheit, als er sah, wie Logre und Herr Lebigre den Worten Florents gierig lauschten. Gavard erbitterte ihn mit seinem Revolver. Robine, der still hinter seinem Bierglase saß, schien ihm entschieden der bedeutendste Mann der Gesellschaft; dieser beurteilte die Menschen sicherlich nach ihrem Werte und ließ sich nicht mit Worten abspeisen. Lacaille und Alexander bestärkten ihn nur in seiner Meinung, daß das Volk wahrhaftig zu dumm sei, und daß es einer zehnjährigen revolutionären Diktatur bedürfe, um zu lernen, wie es sich verhalten solle.

Mittlerweile versicherte Logre, daß die Abteilungen nunmehr bald organisiert seien. Florent begann die Rollen auszuteilen. Eines Abends, nach einer langen Besprechung, in der er unterlegen war, erhob sich Charvet, nahm seinen Hut und sagte:

Gute Nacht denn allerseits; laßt Euch die Köpfe einschlagen, wenn es Euch Vergnügen macht ... Ich mag nicht mit dabei sein. Ich habe niemals für den Ehrgeiz anderer gearbeitet.

Clémence hüllte sich in ihren Schal und fügte hinzu:

Der Plan ist blöd.

Da Robine sie mit sanften Blicken ansah, fragte ihn Charvet, ob er nicht mit ihnen gehen wolle. Robine hatte aber noch ein Restchen Bier in seinem Glase und begnügte sich, die Hand zum Abschiede zu reichen. Das Pärchen kam nicht wieder. Lacaille erzählte eines Tages der Gesellschaft, Charvet und Clémence besuchten jetzt eine Kneipe in der Schlangengasse; er habe sie durch das Fenster gesehen, wie sie, umgeben von einer Gruppe sehr junger Leute, heftig gestikulierend sprachen.

Es wollte Florent nicht gelingen, Claude anzuwerben. Einen Augenblick hatte er daran gedacht, ihm seine politischen Gedanken mitzuteilen, aus ihm einen Jünger zu machen, der ihn bei der Ausführung seines revolutionären Strebens unterstützen solle. Um ihn einzuführen, brachte er ihn eines Abends zu Herrn Lebigre mit. Allein Claude brachte den Abend damit zu, eine Skizze von Robine zu entwerfen mit seinem Hut und seinem kastanienbraunen Paletot, den Bart auf den Knopf des Stockes gestützt. Als er mit Florent die Weinstube verließ, sagte er:

Nein, es interessiert mich nicht, was Sie da drinnen geredet haben. Es mag sehr gescheit sein, aber ich verstehe es nicht ... Aber ein Herr in der Gesellschaft gibt eine prächtige Figur ab, dieser vertrackte Robine. Der Mann ist tief wie ein Brunnen ... Ich werde wiederkommen, aber nicht wegen der Politik. Ich werde eine Skizze von Logre und von Gavard entwerfen, um sie mit Robine zusammen in ein herrliches Gemälde zu bringen, an das ich dachte, während Sie Ihre »Frage« erörterten ... was war's nur? ... die Frage der zwei Kammern. Denken Sie sich nur: Gavard, Logre und Robine hinter ihren Bierschoppen über Politik redend. Es wäre der größte Erfolg des Salons, ein noch nicht dagewesener Erfolg, ein wahrhaft modernes Gemälde.

Florent war betrübt wegen der politischen Zweifelsucht des Malers. Er nahm ihn mit in seine Dachstube und stand mit ihm bis zwei Uhr morgens auf der schmalen Terrasse gegenüber der bläulich dunkelnden Masse der Hallen. Er redete ihm ins Gewissen, sagte ihm, er sei kein Mann, wenn er für das Volkswohl so wenig Teilnahme bekunde. Der Maler antwortete kopfschüttelnd:

Sie haben vielleicht recht. Ich bin selbstsüchtig. Ich kann nicht einmal sagen, daß ich für mein Vaterland male, weil meine Skizzen alle Welt erschrecken, und weil ich, wenn ich male, einzig und allein an mein persönliches Vergnügen denke. Es ist, als ob ich mich selber kitzele, wenn ich male; ich lache darüber aus Leibeskräften ... Ich bin nun einmal so und kann mich doch deswegen nicht ins Wasser stürzen. Und dann: Frankreich bedarf meiner nicht, wie meine Tante Lisa sagt ... Und darf ich es Ihnen offen sagen? Ich mag Sie gut leiden, weil mir scheint, daß Sie Politik treiben, wie ich Malerei treibe. Sie kitzeln sich, mein Lieber.

Da der andere widersprechen wollte, fuhr er fort: Lassen Sie es gut sein, Sie sind ein Künstler in Ihrem Fache; Sie träumen Politik. Ich wette, Sie verbringen hier ganze Nächte in Betrachtung der Sterne, die Sie für Stimmzettel des unendlichen Weltalls ansehen ... Kurz: Sie kitzeln sich mit Ihren Gedanken von Gerechtigkeit und Wahrheit. Es ist wahr: Ihre Gedanken jagen gerade so wie meine Skizzen den Spießbürgern einen heillosen Schreck ein. Glauben Sie, daß es mir ein Vergnügen wäre, Ihr Freund zu sein, wenn Sie Robine wären? Oh, Sie großer Schwärmer! Dann scherzte er und sagte, die Politik sei ihm nicht lästig; er habe sich in den Kneipen und in den Ateliers daran gewöhnt. Weil er dabei war, sprach er von einem Kaffeehause in der Vauvilliers-Straße; es befand sich in dem Erdgeschoß jenes Hauses, wo die Sarriette wohnte. Dieser rauchgeschwärzte Saal mit den abgenützten Polsterbänken und den von Kaffeeflecken ganz gelb gewordenen Marmortischchen war der gewöhnliche Sammelplatz der Jugend der Hallen. Hier herrschte Herr Jules über eine Schar von Lastträger und Ladenburschen, lauter Herren in weißer Bluse und Samtkappe. Er selbst trug sogenannte Sechsundsechziger d. i. beim Ansatz des Backenbärtchens zwei Haarringe gedreht und mit Pomade an die Schläfen festgeklebt. Bei einem Bartscherer in der Zweitalerstraße, wo er auf den Monat abonniert war, ließ er sich jeden Sonnabend das Haar schneiden und den Nacken ausrasieren, um einen weißen Hals zu haben. Er gab denn auch den Ton an in dieser Gesellschaft, wenn er mit wohlberechneter Anmut Billard spielte, seine Hüften entwickeln, den Armen und Beinen schöne Rundungen gebend, sich halb auf das Brett hinlegend, in einer vornüber gebeugten Stellung, die seine Lenden voll zur Geltung brachte. Wenn die Partie zu Ende war, plauderte man. Die Gesellschaft war sehr reaktionär, sehr vornehm. Herr Jules las die beliebten Zeitungen. Er kannte das Personal der kleinen: Theater, duzte die Berühmtheiten vom Tage, kannte den Erfolg oder Mißerfolg der neuesten Stücke. Eine ganz besondere Schwäche hatte er für Politik. Sein Ideal war Morny, wie er ihn kurzweg nannte. Er las die Sitzungsberichte aus dem gesetzgebenden Körper und lachte herzlich über die geringste Bemerkung Mornys. Morny hielt diese lumpigen Republikaner zum besten. Von da ausgehend sagte er, der Pöbel allein hasse den Kaiser, weil der Kaiser wolle, daß alle anständigen Leute vergnügt leben.

Ich bin zuweilen in dieses Kaffeehaus gegangen, sagte Claude zu Florent. Auch diese Leute sind drollig mit ihren Tabakspfeifen, wenn sie von den Hofbällen reden, als ob sie eingeladen seien. Der Junge, der mit der Sarriette lebt, hat sich neulich über Gavard nicht übel lustig gemacht. Er nennt ihn Oheim ... Als die Sarriette herunterkam, um ihn zu holen, mußte sie zahlen; und die Rechnung betrug nicht weniger als sechs Franken; denn er hatte im Billardspiel unterschiedliche Kaffees und Schnäpse verloren ... Ein hübsches Mädel, die Sarriette, nicht wahr?

Sie führen doch ein schönes Leben, murmelte Florent lächelnd. Cadine, die Sarriette und alle anderen, wie?

Doch der Maler zuckte mit den Achseln.

Oh, da irren Sie sich, antwortete er. Ich mag keine Weiber; mir würde es zu viel Schererei machen. Ich weiß gar nicht, wozu ein Weib gut ist. Ich bin immer vor dem Versuch zurückgeschreckt ... Gute Nacht, schlafen Sie wohl! Wenn Sie eines Tages Minister werden, will ich Ihnen Gedanken zur Verschönerung von Paris liefern.

Florent mußte darauf verzichten, einen gelehrigen Schüler aus ihm zu machen. Es betrübte ihn; denn, obgleich in seinem Fanatismus verblendet, fühlte er doch die Feindseligseit um sich her von Stunde zu Stunde wachsen. Selbst bei den Méhudin ward er jetzt kühler empfangen; die Alte lachte ihm ins Gesicht, Feinchen gehorchte nicht, die schöne Normännin warf ihm ungeduldige Blicke zu, wenn sie ihren Sessel näher zu dem seinen rückte, ohne ihn aus seiner kühlen Zurückhaltung herauszubringen. Sie sagte ihm einmal, er sehe aus, als habe er einen Ekel vor ihr, und er fand als Antwort nur ein verlegenes Lächeln, während sie sich ungestüm auf die andere Seite des Tisches setzte. Auch die Freundschaft Augusts hatte er eingebüßt. Der Wurstmachergehilfe kam nicht mehr in sein Zimmer, wenn er schlafen ging. Er war sehr erschreckt durch die über diesen Mann in Umlauf befindlichen Gerüchte, mit dem er früher oft bis Mitternacht beisammen gewesen. Augustine hatte ihn schwören lassen, daß er eine solche Unklugheit nicht wieder begehe. Lisa hatte die beiden vollends erzürnt, indem sie sie bat, ihre Heirat aufzuschieben, bis der Vetter die Dachkammer verlassen habe: denn sie wollte dem neuen Ladenmädchen das Kabinett im ersten Stock nicht einräumen. Seitdem hatte August nur den einen Wunsch, daß man den Galeerensträfling so bald wie möglich »einstecken« möge. Er hatte den ersehnten Wurstladen gefunden, nicht in Plaisance, sondern in Montrouge; auch war der Speck heuer ganz besonders gut geraten. Augustine sagte, sie sei bereit und ließ dabei ihr helles Lachen eines kindischen, dicken Mädchens vernehmen. Bei dem geringsten Geräusch, das in der Nacht zu hören war, empfand August eine tolle Freude, weil er glaubte, die Polizei sei gekommen, um Florent am Kragen zu fassen.

Bei den Quenu-Gradelle wurde von diesen Dingen nicht gesprochen. Das Personal des Wurstladens hatte gleichsam eine stumme Vereinbarung getroffen, im Beisein Quenus Stillschweigen zu beobachten. Dieser war ein wenig verdrossen über die Entzweiung zwischen seinem Bruder und seiner Frau; doch tröstete er sich bei seinen Würsten und Speckstreifen. Manchmal trat er auf die Schwelle seines Ladens, um seinen roten Hals zu zeigen, der aus der weißen Schürze hervorlachte, die sich über seinen Bauch spannte. Er ahnte nicht, daß sein Erscheinen vor der Tür die Lästerzungen der Halle nur noch mehr entfesselte. Man beklagte ihn und fand ihn weniger dick, obgleich er ungeheuer war; andere hingegen beschuldigten ihn, daß er nicht mager genug werde ob der Schande, einen solchen Bruder zu haben. Den betrogenen Ehemännern gleichend, die zu allerletzt ihr Unglück erfahren, zeigte Quenu eine rührende Unwissenheit und Heiterkeit, wenn er eine Nachbarin auf dem Fußwege anhielt, um sie zu fragen, wie der Parmesankäse oder der gesülzte Schweinskopf ihr geschmeckt habe. Die Nachbarin nahm eine mitleidsvolle Miene an und schien ihm ihre Teilnahme auszusprechen, als ob alle Schweine des Wursthändlers die Gelbsucht hätten.

Was haben sie denn alle, daß sie mich mit einer wahren Leichenbittermiene betrachten? fragte er seine Frau eines Tages. Sehe ich denn schlecht aus?

Sie beruhigte ihn und sagte, er sei frisch wie eine Rose. Denn er hatte eine heillose Angst vor Krankheiten, ächzte und stöhnte, brachte das ganze Haus in Aufruhr, wenn das geringste Unwohlsein ihn heimsuchte. Doch die Wahrheit war, daß es in dem großen Wurstladen der Quenu-Gradelle ziemlich düster ward; die Spiegel wurden matt, die Marmorplatten zeigten eine eisige Blässe, die kalten Braten auf dem Pulte schlummerten in gelb gewordenem Fette, in trüber Sülze. Claude trat eines Tages ein, um seiner Tante zu sagen, daß ihre Auslage »ganz dumm« aussehe. Und das war auch so. Die Straßburger gefüllten Zungen lagen auf ihrem Bett von blauen Papierschnitzeln ganz bleich da, wie kranke Zungen, während der grüne Aufputz der gelben Schinken ganz trübselig dreinschaute. Wenn jetzt die Kunden kamen, um ein Stück Wurst, für zehn Sous Speck, ein halbes Pfund Schmalz zu kaufen, dämpften sie ihre Stimme bekümmert wie in dem Zimmer eines Sterbenden. Es standen immer zwei, drei rührselige Weiber vor dem kalten Schmorofen. Die schöne Lisa aber trug die Trauer ihres Hauses mit stummer Würde. Tadelloser als je fiel ihre weiße Schürze auf ihr schwarzes Kleid herab. Ihre reinen Hände, an den Handknöcheln von den großen Manschetten umschlossen; ihr Gesicht, von einer anstandsvollen Traurigkeit noch verschönt, kündeten dem ganzen Stadtviertel, allen Neugierigen, die vom Morgen bis zum Abend vorbeikamen, daß das Haus ein unverschuldetes Unglück zu tragen habe, daß sie seine Ursache kenne und es zu überwinden wisse. Manchmal neigte sie sich zu den zwei Goldfischchen herab, die unruhig in ihrem Aquarium schwammen und verhieß ihnen mit dem Blick bessere Tage.

Die schöne Lisa gestattete sich nur mehr ein Vergnügen: ohne Furcht konnte sie jetzt das glatte Kinn Marjolins streicheln. Er hatte mit geheiltem Schädel das Krankenhaus verlassen, war jetzt gerade so dick und heiter wie früher, aber dumm, noch viel dümmer, völlig blöd. Der Spalt im Schädel schien bis ans Gehirn gegangen zu sein. Er war ein Tier; die Harmlosigkeit eines fünfjährigen Knaben in dem Körper eines Riesen. Er lachte, stammelte, konnte die Worte nicht mehr aussprechen, gehorchte mit der Sanftmut eines Schafes. Cadine nahm ihn völlig wieder in ihren Besitz, anfänglich erstaunt, später sehr froh über dieses prächtige Tier, mit dem sie anfangen konnte, was sie wollte; sie legte ihn in die Federkörbe, nahm ihn mit auf ihren Streifzügen, bediente sich seiner nach ihrem Belieben, behandelte ihn als Hund, als Puppe, als Liebhaber. Er gehörte ihr wie ein Leckerbissen, wie ein fetter Winkel der Hallen, wie ein blonder Körper, von dem sie mit der Lüsternheit einer verderbten Person Gebrauch machte. Allein trotzdem die Kleine alles von ihm erlangte und ihn, den unterwürfigen Riesen, mit Fußtritten behandelte, konnte sie ihn doch nicht hindern, zur Frau Quenu zurückzukehren. Sie hatte ihn mit ihren nervigen Fäusten geprügelt, ohne daß er es zu spüren schien. Sowie sie ihren Korb umgehängt hatte, um in der Turbigo-Straße oder Pont-Neuf-Straße ihre Veilchen auszubieten, ging er zu dem Wurstladen und trieb sich da herum.

So komm doch herein! rief ihm Lisa zu.

Sie gab ihm zumeist kleine Gurken. Er aß sie für sein Leben gern und verzehrte sie unter harmlosem Gelächter, vor dem Pulte stehend. Der Anblick der schönen Wursthändlerin entzückte ihn dermaßen, daß er freudig in die Hände klatschte. Dann hüpfte und jauchzte er wie ein kleiner Junge, dem man etwas Schönes zeigt. Die ersten Tage hatte sie Furcht, daß er sich eines gewissen Vorfalls erinnern könne.

Schmerzt dich der Kopf noch immer? fragte sie ihn.

Er antwortete nein, wobei er seinen ganzen Körper bewegte und ein noch helleres Lachen vernehmen ließ.

Du bist also gefallen? fragte sie ihn weiter.

Ja, gefallen, gefallen, gefallen, sagte er in singendem, zufriedenem Tone, wobei er sich auf den Schädel schlug.

Dann wiederholte er, sie entzückt betrachtend, ebenfalls in singendem Tone, aber langsamer, die Worte: Schön, schön, schön. Dies rührte Lisa sehr. Sie hatte von Gavard gefordert, daß er den Jungen behalte. Wenn er ihr seine untertänige Zärtlichkeitsweise vorgesungen, streichelte sie ihn am Kinn und sagte ihm, er sei ein wackerer Junge. Ihre Hand vergaß sich da, warm von einer geheimen Freude; diese Liebkosung war für sie ein erlaubtes Vergnügen geworden, ein Zeichen der Freundschaft, das der Koloß mit kindlicher Harmlosigkeit entgegennahm. Er blähte ein wenig den Hals und schloß die Augen vor Vergnügen wie ein Tier, dem man schmeichelt. Um sich in ihren Augen wegen des ehrbaren Vergnügens, das sie an ihm fand, zu entschuldigen, sagte sich die schöne Wursthändlerin, daß sie ihm so den Faustschlag vergelte, mit dem sie ihn im Geflügelkeller zu Boden gestreckt habe.

Mittlerweile blieb es trübselig im Wurstladen. Florent kam noch hie und da, um seinem Bruder die Hand zu drücken, während Lisa im frostigen Gleichmute dabei stand. Er kam sogar zuweilen am Sonntag zum Mittagessen. Quenu zwang sich dann zu großer Heiterkeit, ohne aber eine rechte Stimmung in die Tischgesellschaft zu bringen. Er aß mit Unlust und war schließlich verdrossen. Als es eines Abends wieder einmal im Familienkreise so frostig hergegangen, sagte er seiner Frau fast weinend:

Aber was fehlt mir denn eigentlich? Bin ich wirklich nicht krank? Findest du mich nicht verändert? Mir ist, als laste irgendwo ein Gewicht auf mir. Und dazu bin ich traurig: ich weiß nicht weshalb, wirklich nicht! Weißt du es nicht?

Eine üble Laune, sonst nichts.

Nein, nein, es dauert schon zu lange ... Es erstickt mich schier ... Und doch gehen unsere Geschäfte nicht schlecht; ich habe keinen besonderen Kummer und lebe wie gewöhnlich ... Auch du, Liebste, bist nicht ganz wohl; du scheinst so traurig ... Wenn das noch lange dauert, werde ich den Arzt holen lassen.

Lisa betrachtete ihn ernst.

Wir brauchen keinen Arzt, sagte sie. Es geht vorüber ... Es weht derzeit ein böser Wind. Alle Leute im Stadtviertel sind krank.

Gleichzeitig in einer Anwandlung mütterlicher Zärtlichkeit fügte sie hinzu:

Ängstige dich nicht, mein Dicker ... Du darfst nicht krank werden. Das fehlte noch.

Nach solchen Gesprächen schickte sie ihn gewöhnlich in seine Küche, weil sie wußte, daß das Geräusch der Hackmesser, das Brodeln der Fette, der Lärm der Töpfe ihn aufheiterte. So schützte sie sich auch vor der Geschwätzigkeit des Fräulein Saget, die jetzt den ganzen Vormittag im Wurstladen verbrachte. Die Alte hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Lisa zu erschrecken, sie zu irgendeinem äußersten Entschlusse zu drängen. Vor allem bekam sie ihre Geständnisse zu hören.

Ach, was gibt es doch für schlechte Menschen! sagte sie; Menschen, die besser täten, sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu befassen ... Wenn Sie wüßten, meine liebe Frau Quenu ... Nein, niemals würde ich es wagen, es Ihnen zu wiederholen.

Als die Wursthändlerin ihr versicherte, daß die Sache sie nicht berühren könne, daß sie über Lästerzungen erhaben sei, neigte sie sich über das Pult, über die kalten Schüsseln, und flüsterte ihr zu:

Nun denn, man sagt, Herr Florent sei nicht Ihr Vetter ...

Allmählich verriet sie, daß sie alles wisse. Es war ein Mittel, Lisa in ihre Gewalt zu bekommen. Als diese die Wahrheit gestand; – was sie ebenfalls aus Taktik tat, um eine Person zur Hand zu haben, die sie über den Klatsch des Stadtviertels auf dem laufenden erhielt – schwor das alte Fräulein, sie werde stumm sein wie ein Fisch, und daß sie selbst unter dem Henkerbeil leugnen werde. Sie freute sich über das Verhängnis aus tiefster Seele; sie vergrößerte von Tag zu Tag die beunruhigenden Nachrichten.

Sie sollten Ihre Vorsichtsmaßregeln treffen, sagte sie. Heute habe ich in der Kaldaunenabteilung wieder zwei Weiber von der bewußten Sache reden hören. Ich kann doch den Leuten nicht sagen, daß sie lügen. Ich würde mich lächerlich machen ... Aber es greift immer weiter um sich und ist nicht mehr aufzuhalten. Die Bombe muß platzen.

Einige Tage später unternahm sie endlich den Sturmlauf. Sie kam ganz verstört, wartete mit Gebärden der Ungeduld, bis niemand mehr im Laden war und sagte dann mit ihrer pfeifenden Stimme:

Wissen Sie, was man erzählt? Die Männer, die sich bei Herrn Lebigre versammeln, haben sämtlich Gewehre und warten nur auf die Gelegenheit, um wieder anzufangen wie im Jahre 1848. Es ist ein wahres Unglück, sehen zu müssen, wie Herr Gavard, ein würdiger, reicher, angesehener Mann, sich unter diese Halunken mengt ... Ich wollte Sie warnen wegen Ihres Schwagers.

Das sind Dummheiten und nicht ernst zu nehmen, sagte Lisa, um sie anzuspornen.

Nicht ernst? Dank' schön! Wenn man des Abends durch die Pirouette-Straße geht, hört man ihr abscheuliches Geschrei. Sie tun sich gar keinen Zwang an. Sie erinnern sich wohl, daß sie versucht haben, auch Ihren Mann zu verderben. Und die Kartuschen, die ich sie von meinem Fenster aus herstellen sehe – sind die auch Dummheiten? ... Schließlich sage ich Ihnen ja alles in Ihrem Interesse.

Gewiß; ich danke Ihnen. Aber man erdichtet so vieles ...

0 nein; es ist unglücklicherweise nicht erfunden. Das ganze Stadtviertel spricht übrigens davon. Man sagt, daß viele kompromittiert sind, wenn die Polizei sie faßt. Herr Gavard zum Beispiel ...

Doch die Wursthändlerin zuckte mit den Achseln, als wolle sie sagen, daß Herr Gavard ein alter Narr sei, dem ganz recht geschehe.

Ich rede von Herrn Gavard, wie ich von den anderen reden würde, beispielsweise von Ihrem Schwager, fuhr die Alte in ihrer tückischen Weise fort. Ihr Schwager scheint das Oberhaupt zu sein. Es ist sehr unangenehm für Sie. Ich bedauere Sie sehr; denn wenn die Polizei einmal kommt, könnte es leicht geschehen, daß sie auch Herrn Quenu mitnimmt. Zwei Brüder – die sind wie zwei Finger an einer Hand.

Die schöne Lisa widersprach; nichtsdestoweniger war sie ganz blaß geworden. Fräulein Saget hatte sie bei ihren tiefsten Besorgnissen gefaßt. Seit jenem Tage erzählte die Alte nur Geschichten von Leuten, die ins Gefängnis geschleppt werden, weil sie Bösewichte beherbergt hatten. Wenn sie des Abends zum Weinhändler ging, um ihren Wacholderbranntwein zu holen, machte sie sich eine kleine Sammlung für den folgenden Tag zurecht. Und doch war Rosa keineswegs schwatzhaft. Die Alte zählte aber auf ihre Ohren und ihre Augen. Sie hatte sehr wohl bemerkt, welche Zuvorkommenheit Herr Lebigre für Florent bekundete; wie er sich bemühte, ihn bei sich festzuhalten; wie er eine Dienstwilligkeit an den Tag legte, die in den mageren Ausgaben Florents in der Weinstube wenig Entgelt fand. Dies überraschte sie um so mehr, als das Verhältnis der beiden Männer zur schönen Normännin ihr nicht unbekannt war.

Es ist rein, als nähre er ihn mit seinem Herzblute ... sagte sie sich. Wem will er ihn denn verkaufen?

Als sie eines Abends eben wieder in der Weinstube war, sah sie, wie Logre sich auf die Sitzbank des Glasverschlages hinwarf und stöhnend von seinen endlosen Gängen durch die Vorstädte erzählte, die ihn todmüde gemacht hätten.

Sie betrachtete seine Füße: auf den Schuhen lag nicht ein Körnchen Staub. Da lächelte sie fein und ging mit ihrem Schnaps von dannen.

An ihrem Fenster vervollständigte sie dann ihre Sammlung von Tagesklatsch. Dieses Fenster, sehr hoch gelegen und die benachbarten Häuser beherrschend, verschaffte ihr endlose Genüsse. Da saß sie zu jeder Stunde des Tages, wie an einem Beobachtungsposten, von dem aus sie das ganze Stadtviertel bespähte. Alle Zimmer gegenüber, rechts und links, waren ihr bekannt bis zu den geringsten Möbelstücken; sie hätte, ohne die kleinste Einzelheit zu übergehen, die Gewohnheiten der Bewohner schildern können, ob sie ein gutes oder schlechtes Eheleben führten, wie sie sich wuschen, was sie zu Mittag aßen; sie kannte sogar die Besuche. Ferner hatte sie einen Ausblick auf die Hallen, so daß keine Frau aus dem Stadtviertel die Rambuteau-Straße durchschreiten konnte, ohne daß sie sie sah. Sie wußte untrüglich anzugeben, woher die Frau kam, wohin sie ging, was sie in ihrem Korbe trug, ihre Geschichte, ihren Gatten, ihre Toiletten, ihre Kinder und ihr Vermögen. Das ist Frau Loret; sie läßt ihrem Sohne eine sehr schöne Erziehung geben; die andere ist Frau Hutin, eine arme Person, die von ihrem Manne vernachlässigt wird. Dies ist Fräulein Cécile, die Tochter des Fleischers; sie ist schwer zu verheiraten, weil sie feuchte Hände hat. So hätte sie eine Woche lang fort erzählen können, einen nichtssagenden Satz an den andern reihend, sich an den unbedeutendsten Kleinigkeiten ergötzend. Von acht Uhr ab jedoch hatte sie nur mehr Augen für das Fenster mit den matten Scheiben, wo die dunkeln Schatten des Glaskabinetts sich abzeichneten. Sie stellte so den Abfall von Charvet und Clémence fest, weil sie ihre Schattenrisse nicht mehr an den Milchscheiben wiederfand. Kein Ereignis spielte sich da ab, ohne daß sie an plötzlichen Bewegungen der Arme und Köpfe es erriet. Sie erlangte dabei eine große Findigkeit, wußte das Vorstrecken der Nasen, das Ausspreizen der Finger, das Aufreißen des Mundes, das verächtliche Zucken der Achseln zu erklären. So verfolgte sie die Verschwörung Schritt für Schritt, so daß sie jeden Tag hätte angeben können, wie weit die Dinge gediehen waren. Eines Tages sah sie das gewaltsame Ende auftauchen. Sie sah den Schatten der Pistole Gavards, das ungeheure Schattenbild eines Revolvers, ganz schwarz hinter den blassen Scheiben, mit drohend vorgestrecktem Lauf. Die Pistole ging auf und nieder, schien zu wachsen. Das waren die Waffen, von denen sie der Frau Quenu erzählte. Eines Abends kannte sie sich nicht mehr aus; sie glaubte, man stelle Kartuschen her, als sie endlose Stoffstreifen aufrollen sah. Am folgenden Tage ging sie um elf Uhr zu Rose hinab unter dem Vorwande, eine Kerze von ihr auszuleihen. Sie schielte ins Kabinett hinein und sah dort auf dem Tische einen Haufen roten Zeuges liegen, der ihr furchtbar schien. Ihre Geschichten am folgenden Tage waren von entscheidendem Ernste.

Ich möchte Sie nicht erschrecken, Frau Quenu, sagte sie, aber die Sache wird furchtbar ... Ich habe wirklich Angst! Um keinen Preis der Welt dürfen Sie wiedererzählen, was ich Ihnen anvertraue. Die Menschen würden mir den Hals abschneiden, wenn sie wüßten, daß ich ...

Nachdem Lisa ihr zugesichert hatte, sie nicht zu verraten, erzählte sie ihr von den roten Bändern.

Ich weiß nicht, was das sein mag. Es war ein ganzer, großer Haufen da. Er sah aus, wie blutgetränkte Fetzen. Logre, der Bucklige, hatte sich so ein Stück rotes Zeug um die Schultern gelegt. Er sah aus wie der Henker. Das hat sicherlich wieder nichts Gutes zu bedeuten.

Lisa antwortete nicht; sie schien nachzudenken, senkte die Augen, spielte mit einer Gabel, machte sich mit den Schüsseln zu schaffen. Fräulein Saget fuhr in sanftem Tone fort:

Ich an Ihrer Stelle könnte nicht ruhig sein; ich müßte wissen ... Warum gehen Sie nicht in das Zimmer Ihres Schwagers hinauf, um nachzusehen?

Da fuhr Lisa zusammen. Sie ließ die Gabel fahren und betrachtete die Alte mit unruhigen Blicken in dem Glauben, daß diese ihre Absichten durchschaue. Doch Fräulein Saget fuhr fort:

Das ist ja schließlich erlaubt ... Ihr Schwager würde es zu weit treiben, wenn Sie ihn gewähren ließen ... Gestern war bei Frau Taboureau von Ihnen die Rede. Sie besitzen in ihr eine sehr ergebene Freundin. Frau Taboureau sagte, Sie seien zu gut und sie würde an Ihrer Stelle längst Ordnung geschafft haben.

Frau Taboureau hat das gesagt? murmelte Lisa nachdenklich.

Gewiß; und Frau Taboureau ist eine Person, deren Rat man hören muß. Trachten Sie zu erfahren, was es mit den roten Binden auf sich hat. Sie werden mir es hernach sagen, nicht wahr?

Doch Lisa hörte sie nicht mehr. Sie betrachtete sinnend die kleinen Gervais-Käse und die Schnecken in der Auslage. Sie schien in einem inneren Kampfe versunken, der zwei Falten in ihr stummes Antlitz zog. Inzwischen steckte das alte Mädchen seine Nase in die auf dem Pulte stehenden Schüsseln. Sie brummte, als spreche sie mit sich selbst:

Schau, aufgeschnittene Wurst ist da! ... Die wird ja trocken ... Und da ist gar eine geplatzte Blutwurst; man ist sicher mit der Gabel hineingefahren. Sie müßten das entfernen; es verdirbt nur die Schüssel.

Lisa, noch ganz zerstreut, gab ihr die Blutwurst und die Wurstschnitten mit den Worten: Das ist für Sie, wenn es Ihnen Vergnügen macht.

Das Ganze verschwand in dem Handkorbe. Fräulein Saget war so sehr an die Geschenke gewöhnt, daß sie nicht mehr dankte. Jeden Morgen trug sie die Abschnitzel aus dem Wurstladen nach Hause. Sie ging fort mit der Absicht, sich den Nachtisch bei der Sarriette und bei Frau Lecoeur zu holen, denen sie von Herrn Gavard erzählen wollte.

Als Lisa allein war, setzte sie sich auf das Bänkchen vor dem Pulte, wie um besser nachdenken zu können. Seit acht Tagen war sie sehr unruhig. Eines Abends hatte Florent fünfhundert Franken von Quenu verlangt in einfacher, natürlicher Weise wie einer, der ein offenes Konto hat. Quenu schickte ihn zu seiner Frau. Das verdroß ihn, und er zitterte ein wenig, als er sich an Lisa wandte. Doch diese sagte kein Wort, verlangte nicht die Bestimmung der Summe zu wissen, ging in ihr Zimmer und holte die fünfhundert Franken. Sie sagte ihm bloß, daß sie diesen Betrag auf die Rechnung seiner Erbschaft gesetzt habe. Drei Tage später entnahm er tausend Franken.

Da war es doch nicht der Mühe wert, den Uneigennützigen zu spielen, sagte Lisa zu Quenu, als sie am Abend zu Bett gingen. Du siehst jetzt, daß ich recht hatte, die Rechnung aufzubewahren. Halt, ich habe die tausend Franken von heute nicht eingeschrieben.

Sie nahm am Schreibpulte Platz, überlas das Blatt mit den Rechnungen und fügte hinzu:

Ich hatte auch recht, Raum auf dem Papier zu lassen. Jetzt kann ich die Abschlagszahlungen an den Rand hinschreiben. Er wird das Ganze in kleinen Beträgen verschleudern ... Ich war seit langer Zeit darauf gefaßt.

Quenu sagte nichts und ging in sehr übler Laune zu Bett. Jedesmal wenn seine Frau den Schreibtisch öffnete, ließ das Pult ein trauriges Kreischen vernehmen, das ihm durch die Seele ging. Er faßte den Vorsatz, seinem Bruder Vorstellungen zu machen, ihn zu verhindern, sich mit den Méhudin zugrunde zu richten; aber er hatte nicht den Mut dazu. Zwei Tage später verlangte Florent weitere fünfzehnhundert Franken. Logre hatte eines Abends gesagt, daß die Dinge rascher vonstatten gingen, wenn man Geld habe. Am nächsten Tage sah er zu seinem Entzücken, daß dieses hingeworfene Wort ihm eine kleine Rolle Goldes eintrug, die er grinsend einsteckte. Sein Höcker hüpfte vor Freude. Jetzt fanden sich fortwährend neue Bedürfnisse; diese Abteilung wollte ein Lokal mieten, jene mußte unglückliche Vaterlandsfreunde unterstützen; dann wieder mußten Waffen und Schießbedarf gekauft, Leute angeworben, die Polizei bestochen werden. Florent war bereit gewesen, alles herzugeben. Er erinnerte sich der Erbschaft und der Ratschläge der Normännin. Er schöpfte aus dem Schreibpulte Lisas, nur durch die geheime Angst zurückgehalten, die ihr strenges Gesicht ihm einflößte. Er meinte, er könne sein Geld niemals für eine heiligere Sache ausgeben. Logre war begeistert, trug erstaunliche rote Halsbinden und lackierte Schuhe, deren Anblick Lacaille tief verstimmte.

Das macht dreitausend Franken in acht Tagen, sagte Lisa zu Quenu. Was sagst du dazu? Das ist hübsch, nicht wahr? Wenn er's so weiter treibt, werden die fünfzigtausend Franken in vier Monaten weg sein ... Der alte Gradelle hat vierzig Jahre gebraucht, um sein Vermögen zu sammeln.

Um so schlimmer für dich! rief Quenu. Du brauchtest ihm nicht von der Erbschaft zu sagen.

Doch sie sah ihn streng an und erwiderte:

Es ist sein Eigentum, er kann das Ganze nehmen. Daß ich ihm das Geld geben muß, ärgert mich nicht, sondern der unsinige Gebrauch, den er davon macht. Ich sagte es dir schon lange genug: Es muß ein Ende nehmen.

Handle nach deinem Gutdünken, ich werde dich daran nicht hindern, sagte der Wursthändler, den der Geiz folterte.

Er liebte seinen Bruder, aber der Gedanke, daß die fünfzigtausend Franken in vier Monaten vergeudet sein sollten, war ihm unerträglich. Nach dem Geschwätz des Fräuleins Saget vermutete Lisa, was aus dem Gelde geworden. Nachdem die Alte sich die Anspielung auf die Erbschaft erlaubt hatte, benutzte Lisa diese Gelegenheit, um dem Stadtviertel bekanntzugeben, daß Florent seinen Teil in Empfang nahm und nach seinem Gutdünken verwendete. Die Geschichte mit den roten Binden brachte sie endlich zu einem Entschlusse. Sie kämpfte noch eine Weile mit sich selbst und blickte mit bekümmerter Miene im Laden umher; die Schinken sahen so trübselig aus. Die Katze Mouton saß mit gesträubtem Haar neben einem Topf Schweineschmalz verdrossen wie ein Tier, das man nicht ruhig verdauen läßt. Endlich rief sie Augustine herbei, ließ den Laden unter ihrer Aufsicht und stieg zu dem Zimmer Florents hinauf.

Sie war betroffen, als sie das Zimmer betrat. Die kindliche Keuschheit des Bettes war befleckt von einem Bündel roter Schärpen, die bis zur Erde herabhingen. Auf dem Kaminsims lagen zwischen Schachteln von Goldpapier und alten Pomadetöpfen rote Armbinden und ganze Bündel Kokarden, die aussahen wie breite Blutstropfen. Alle Nägel an der Wand waren behängt mit viereckigen Wimpeln in gelber, blauer, grüner, schwarzer Farbe; in diesen Wimpeln erkannte die Wursthändlerin die Abzeichen der zwanzig Abteilungen. Das kindlicheinfache Aussehen des Zimmers schien ganz erschreckt von dieser revolutionären Ausschmückung. Die treuherzige Einfalt, die das Ladenmädchen hier zurückgelassen, die Unschuld der Vorhänge und der Möbel: alles hatte gleichsam den Widerschein einer Feuersbrunst; die Photographie von August und Augustine schien ganz bleich vor Entsetzen. Lisa machte die Runde im Zimmer, betrachtete die Abzeichen, Armbinden und Schärpen, ohne etwas zu berühren, als fürchte sie, diese abscheulichen Fetzen könnten ihr die Hand verbrennen. Sie sagte sich, daß sie sich nicht getäuscht habe und daß das Geld für diese Dinge ausgegeben werde. Sie konnte es kaum glauben und es empörte sie tief. Ihr Geld, dieses rechtschaffen erworbene Geld diente dazu, den Aufruhr zu organisieren. Sie stand aufrecht da, betrachtete die erschlossenen Blüten des Granatenbaumes auf der Terrasse, die ebenfalls blutroten Kokarden glichen, und lauschte dem Gesang des Finken wie einem fernen Echo von Schüssen. Da kam ihr der Gedanke, daß der Aufruhr schon am nächsten Tage, vielleicht noch am selben Abend ausbrechen müsse. Sie sah die Wimpel flattern, die Schärpen vorüberziehen; plötzlicher Trommelwirbel schlug an ihr Ohr. Sie verließ eilig das Zimmer, ohne auch nur die Papiere zu lesen, die auf dem Tische ausgebreitet waren. Im ersten Stock ging sie in ihr Gemach und kleidete sich an.

In dieser ernsten Stunde machte die schöne Lisa sorgfältig und mit ruhiger Hand ihren Kopfputz zurecht. Sie war jetzt fest entschlossen, kannte kein Zögern mehr, ein Ausdruck großer Strenge lag in ihren Blicken. Während sie ihr schwarzes Seidenkleid zunestelte, den Stoff mit der Vollkraft ihrer starken Handknöchel anspannend, erinnerte sie sich der Worte des Abbé Roustan. Sie ging mit sich selbst zu Rate, und ihr Gewissen sagte ihr, daß sie im Begriffe stehe, eine Pflicht zu erfüllen. Als sie ihren Schal um ihre Schultern legte, hatte sie das Gefühl, daß sie eine Handlung von hoher Rechtschaffenheit vollziehe. Sie legte dunkle Handschuhe an und befestigte an ihrem Hute einen dichten Schleier. Ehe sie ging, verschloß sie ihren Schreibtisch sorgfältig und mit hoffnungsvoller Miene, als wolle sie ihm sagen, daß er endlich ruhig schlafen könne.

Quenu bot auf der Schwelle des Ladens seinen breiten, weißen Bauch zur Schau. Er war sehr überrascht, als er seine Frau um zehn Uhr morgens in großer Toilette ausgehen sah.

Schau! wo gehst du denn hin? fragte er.

Sie ersann einen Gang, den sie mit Frau Taboureau zu machen habe. Sie fügte hinzu, daß sie bei dem Lustspieltheater vorbeigehe, um Karten zu nehmen. Quenu rief sie zurück und empfahl ihr, die Karten der Bühne gegenüber zu wählen, weil man da besser sehe. Dann ging er in den Laden zurück. Sie aber begab sich nach dem Droschkenstandplatze bei der Eustach-Kirche, stieg in eine Droschke, ließ die Vorhänge herab und befahl den Kuntscher, sie zum Lustspieltheater zu fahren. Sie fürchtete, man könne ihr folgen. Als sie ihre Karten hatte, ließ sie sich nach dem Justizpalaste bringen. Hier entließ sie vor dem Tore den Wagen. Dann begab sie sich durch verschiedene Säle und Gänge zur Polizeiverwaltung.

Da sie in einem Gewühl von Schutzleuten und Herren mit langen Röcken sich zu verlieren drohte, gab sie einem Manne zehn Sous, damit er sie zu dem Kabinett des Präfekten geleite. Allein um zu dem Präfekten zu gelangen, mußte man einen Audienzbrief haben. Man führte sie also in ein schmales Zimmer, das mit dem einfachen Luxus eines möblierten Zimmers eingerichtet war. Ein dicker, kahler, ganz schwarz gekleideter Herr empfing sie mit verdrossener Kühle. Sie könne sprechen, sagte er. Da schlug sie ihren Schleier zurück, nannte ihren Namen und erzählte alles rundheraus in einem Zuge. Der kahlköpfige Herr hörte mit seiner müden Miene zu, ohne sie zu unterbrechen. Als sie zu Ende war, fragte er:

Sie sind die Schwägerin dieses Mannes?

Ja, sagte Lisa entschlossen. Wir sind rechtschaffene Menschen ... Ich will nicht, daß mein Mann kompromittiert werde.

Er zuckte mit den Achseln, als wolle er sagen, daß alles sehr langweilig sei. Dann sagte er ungeduldig:

Ja, sehen Sie, man quält uns seit mehr denn einem Jahre mit dieser Geschichte. Ich bekomme eine Anzeige nach der anderen; man treibt mich und drängt mich. Wenn ich noch nichts getan habe, will ich eben noch zuwarten, – Sie begreifen. Wir haben unsere Gründe ... Da haben Sie das Aktenbündel; ich kann es Ihnen zeigen.

Er legte ihr ein riesiges Bündel Papiere vor, die in einen blauen Umschlag gehüllt waren. Sie blätterte in den Papieren; es waren gleichsam die einzelnen Kapitel der Geschichte, die sie soeben erzählt hatte. Die Polizeiverwaltungen von Havre, Rouen, Vernon kündigten die Ankunft Florents an. Dann kam ein Bericht, der meldete, daß Florent bei den Quenu-Gradelle Unterkunft gefunden habe. Dann kam sein Eintritt in die Hallenverwaltung, seine Lebensführung, seine Abende bei Herrn Lebigre; kein Umstand war übergangen. Lisa war verblüfft; sie bemerkte, daß die Berichte doppelt waren, aus zwei verschiedenen Quellen fließen mußten. Endlich fand sie einen Haufen Briefe; namenlose Briefe von jeder Form und den verschiedensten Händen. Dies war die Höhe. Sie erkannte eine feine Schrift; es war die des Fräuleins Saget, die die Gesellschaft des Glaskabinetts anzeigte. Sie erkannte ein großes Blatt fettiges Papier, bedeckt mit den groben Schriftzügen der Frau Lecoeur und ein glattes, mit einem Vergißmeinnicht geziertes Briefchen, das das Gekritzel der Sarriette und des Herrn Jules enthielt; die Briefe der Frau Lecoeur und der Sarriette ermahnten die Regierung, auf Herrn Gavard achtzuhaben. Sie erkannte ferner auch den gemeinen Stil der Mutter Mehudin, die auf kaum leserlichen vier Seiten die ungeheuerlichen Geschichten wiederholte, die über Florent in den Hallen in Umlauf waren. Am meisten erstaunt aber war sie über ein Rechnungsformular ihres Wurstladens, das an der Spitze die Worte » Fleischerei Quenu-Gradelle« trug, und auf deren Rückseite August den Mann verriet, den er als ein Hindernis seiner Ehe betrachtete.

Der Polizei-Agent verfolgte einen geheimen Gedanken, indem er ihr das ganze Aktenbündel vorlegte.

Erkennen Sie keine dieser Schriften? fragte er.

Sie stammelte nein. Sie war aufgestanden; was sie gesehen, raubte ihr die Sprache. Sie schlug den Schleier herab, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Ihr Seidenkleid rauschte; ihre dunklen Handschuhe verschwanden unter dem großen Schal. Der kahle Mann lächelte und sprach:

Sie sehen, Madame, daß Ihre Mitteilungen etwas spät kommen ... Allein, Ihr Schritt soll Ihnen trotzdem angerechnet werden; ich verspreche es Ihnen. Empfehlen Sie ganz besonders Ihrem Gatten, sich nicht zu rühren ... Es könnten Umstände eintreten ...

Er vollendete den Satz nicht, sondern grüßte nur, indem er sich zur Hälfte von seinem Lehnsessel erhob. Damit war sie verabschiedet und ging. Im Vorzimmer sah sie Logre und Herrn Lebigre, die sich rasch umdrehten. Doch sie war mehr verlegen, als jene. Sie durchschritt die Säle und Gänge, wie gefangen unter den vielen Polizisten, von denen sie jetzt überzeugt war, daß sie alles wüßten. Endlich ging sie zu dem Tore hinaus, das sich auf den Dauphineplatz öffnete. Auf dem Uhrendamme schritt sie langsam dahin, erfrischt von dem kühlen Luftstrich, der von der Seine herkam.

Daß ihr Schritt bei der Polizei unnütz gewesen, dessen war sie sich jetzt deutlich bewußt. Ihr Mann lief keine Gefahr.

Darob empfand sie eine Erleichterung und zugleich einen inneren Vorwurf. Sie zürnte diesem August und diesen Weibern, die sie in eine lächerliche Lage gebracht hatten. Sie verlangsamte ihre Schritte noch mehr und betrachtete den Fluß. Schwarz wie Kohle, schwammen die grünen Fluten hinab, während am Ufer einzelne Fischer ihre Angelruten auswarfen. Alles in allem genommen war nicht sie es, die Florent verraten hatte. Dieser plötzlich auftauchende Gedanke setzte sie in Erstaunen. Hätte sie denn eine schlimme Handlung begangen, wenn sie ihn der Polizei überliefert hätte? Sie war ganz verwirrt und überrascht davon, daß sie von ihrem Gewissen hätte getäuscht werden können. Die namenlosen Briefe schienen ihr eine häßliche Sache. Sie ging offen vor, nannte ihren Namen und rettete alle. Da sie sich plötzlich der Erbschaft von dem alten Gradelle erinnerte, ging sie mit ihrem Gewissen zu Rate und fand sich bereit, dieses Geld, wenn nötig, in den Fluß zu werfen, um ihr Haus von diesem Alpdruck zu befreien. Nein, sie war nicht geizig; nicht das Geld hatte sie getrieben. Als sie über die Changebrücke ging, war sie schon ganz beruhigt, hatte sie ihre Gemütsruhe wiedergefunden. Es war doch besser, daß die anderen ihr auf der Polizeiverwaltung zuvorgekommen waren; so braucht sie Quenu nicht zu täuschen und kann besser schlafen.

Hast du die Billette? fragte Quenu, als sie heimkehrte.

Er verlangte die Billette zu sehen und ließ sich erklären, an welcher Stelle des Balkons die Plätze lägen. Lisa hatte geglaubt, die Polizei würde auf ihre Anzeige sogleich herbeieilen, und ihr Vorsatz, ins Theater zu gehen, war nur eine geschickte Art, ihren Gatten zu entfernen, während man Florent verhaftete. Sie gedachte nachmittags ihn zu einem Spaziergange zu bewegen, zu einem jener Ausflüge, die sie sich zuweilen gestatteten; sie fuhren gewöhnlich in der Droschke nach dem Gehölz, aßen im Restaurant und verweilten schließlich noch in einem Vergnügungslokal. Allein sie fand es an diesem Tage doch unnötig auszugehen; sie verbrachte den Tag wie gewöhnlich an ihrem Pulte mit rosiger, heiterer und freundlicher Miene wie nach einer überstandenen Krankheit.

Ich sage dir ja immer, die frische Luft tut dir gut! wiederholte Quenu. Du siehst, wie der Gang vom Vormittag dich erfrischt hat.

Nein, nein, sagte sie schließlich und nahm ihre ernste Miene wieder an. Die Straßen von Paris sind der Gesundheit nicht zuträglich.

Am Abend sahen sie im Lustspieltheater die » Gnade Gottes« aufführen. Quenu trug einen Leibrock und graue Handschuhe und war sorgfältig gekämmt. Er suchte immerfort im Theaterzettel die Namen der mitwirkenden Schauspieler. Lisa sah prächtig aus in ihrem ausgeschnittenen Leibchen, wie sie ihre mit knappen weißen Handschuhen bekleideten Hände auf den roten Samt der Balkonbrüstung stützte. Beide waren sehr gerührt von dem Unglück Maries; der Kommandeur war wahrhaftig ein abscheulicher Mann; über den Hanswurst aber mußten sie lachen, sooft er die Bühne betrat. Die Wursthändlerin vergoß Tränen. Der Aufbruch des Kindes, das Gebet in dem jungfräulichen Zimmer, die Rückkehr der armen Irrsinnigen erpreßten ihren schönen Augen stille Tränen, die sie mit ihrem Taschentuche rasch trocknete. Doch der Abend sollte ein wahrer Triumph für sie werden. Als sie die Blicke erhob, sah sie die Normännin und deren Mutter auf der zweiten Galerie. Da spreizte sie sich noch mehr, ließ sich durch Quenu eine Tüte Bonbons holen und spielte mit ihrem reich vergoldeten Elfenbeinfächer. Die Fischhändlerin war besiegt; sie senkte den Kopf und hörte ihrer Mutter zu, die leise zu ihr sprach. Nach der Vorstellung begegneten Lisa und die Normännin einander im Vorraum; ein Lächeln umspielte die Lippen beider.

An jenem Tage hatte Florent frühzeitig bei Herrn Lebigre gegessen. Er erwartete Logre, der ihm einen ehemaligen Schutzmann zuführen sollte, einen geschickten Mann, mit dem man den Plan eines Angriffes auf den Palast Bourbon und auf das Rathaus besprechen wollte. Die Nacht brach herein; ein feiner Regen, der schon des Nachmittags begonnen, hüllte die großen Hallen in einen Schleier. Sie hoben sich schwarz ab von den roten Dünsten des Himmels, während schmutzige Wolken fast über den Dächern dahinschwebten, gleichsam von den Blitzableitern festgehalten und zerrissen. Florent war verstimmt wegen des schmutzigen Pflasters, dieser Flut gelben Wassers, das die Dämmerung im Morast zu ertränken drohte. Er sah, wie die Leute auf die Fußsteige der gedeckten Gänge flüchteten, er sah die eilenden Regenschirme, die gegen den Platzregen schützen sollten, die Droschken, die in der Mitte der leeren Straße dahin jagten. Jetzt entstand am Himmel eine lichte Stelle. Eine helle Röte überzog den Abendhimmel. Sogleich erschien ein Heer von Straßenkehrern am Eingange der Montmartre -Straße und fegte mit ihren breiten Bürsten einen See schmutzigen, schäumenden Wassers vor sich her.

Logre brachte den Schutzmann nicht mit. Gavard war bei Freunden in Batignolles zur Abendtafel geladen. Florent war genötigt, mit Robine den Abend zu verbringen. Er sprach immerfort und ward schließlich recht traurig; der andere nickte nur mit dem Barte und streckte jede Viertelstunde die Hand aus, um einen Schluck Bier zu trinken. Florent war gelangweilt und ging hinauf schlafen. Robine blieb allein und betrachtete, unter dem breiten Hute die Stirn in Falten legend, tiefsinnig seinen Schoppen. Rose und der Kellner, die heute früher zu schließen hofften, weil die Gesellschaft des Glaskabinetts nicht versammelt war, warteten über eine halbe Stunde auf den Aufbruch Robines.

Florent war jetzt in seinem Zimmer, hatte aber Furcht, zu Bette zu gehen. Er war von einem jener nervösen Anfälle ergriffen, die ihn zuweilen ganze Nächte durch endlose böse Träume zerrten. Tags zuvor war er in Clamart gewesen und hatte Herrn Verlaque zu Grabe geleitet, der nach einem schrecklichen Todeskampfe gestorben war. Er war noch völlig betrübt in der Erinnerung an den schmalen Sarg, der in die Grube gesenkt worden war. Besonders das Bild der Frau Verlaque mit ihrer jammernden Stimme und ihren tränenlosen Augen konnte er nicht aus seinen Gedanken bannen; sie folgte ihm auf Schritt und Tritt und erzählte ihm, daß sie den Sarg und das Leichenbegängnis nicht bezahlen könne; sie habe keinen Sou im Hause; der Apotheker habe gestern, als er das Ableben des Kranken erfuhr, die Bezahlung seiner ganzen Rechnung gefordert. Florent mußte das Geld für den Sarg und das Leichenbegängnis vorstrecken; sogar das Trinkgeld für die Bahrträger mußte er hergeben. Als er zur Heimkehr sich anschickte, sah ihn Frau Verlaque mit so jammervoller Miene an, daß er ihr zwanzig Franken zurückließ.

Dieser Todesfall kam ihm zu ungelegener Zeit, weil dadurch die Frage seiner Inspektorstelle in den Vordergrund gerückt wurde. Man wird ihn aus seiner Ruhe und Vergessenheit aufstören und zum wirklichen Inspektor ernennen wollen. Das waren ärgerliche Verwicklungen, die leicht der Polizei die Augen öffnen konnten. Er hätte gewünscht, daß die Revolution schon am nächsten Tage ausbreche, um seine Dienstmütze auf die Straße schleudern zu können. Den Kopf voller Besorgnisse ging er auf die Terrasse hinaus; seine Stirn glühte und verlangte nach einem erfrischenden Lufthauch in der heißen Nacht. Der Platzregen hatte den Wind verscheucht. Eine dumpfe Gewitterschwüle lagerte noch unter dem wolkenlosen, tiefdunklen Firmament. Zu seinen Füßen dehnten die jetzt wieder trockenen Hallen ihre ungeheuere Masse aus, die die Farbe des Himmels hatte, wie dieser mit gelben Sternen besät von den hellen Flammen der Gaslaternen.

An das Eisengeländer der Terrasse gelehnt, sagte sich Florent im stillen, daß er früher oder später dafür bestraft werde, diese Inspektorstelle angenommen zu haben. Diese Stelle war gleichsam ein Fleck in seinem Leben. Er fand sich im Ausgabebuch der Polizeiverwaltung, wurde eidbrüchig, diente dem Kaiserreich trotz der Schwüre, die er in der Verbannung sooft geleistet. Der Wunsch, Lisa zufrieden zu stellen, die mildtätige Verwendung der empfangenen Bezüge, die rechtschaffene Art, mit der er sich bemüht hatte, seine dienstlichen Verrichtungen zu erfüllen: sie schienen ihm nicht mehr genügend stichhaltige Gründe, um ihn für seine Feigheit zu entschuldigen. Wenn er in dieser fetten, gemästeten Umgebung litt, so verdiente er dieses Leiden. Er hielt Rückschau über dieses böse Jahr, das er hinter sich hatte, über die Verfolgung durch die Fischweiber, die widerwärtigen, feuchten Tage, die fortwährenden Übelkeiten seines an Entbehrungen gewöhnten Magens, die geheime Feindschaft, die er um sich her wachsen fühlte. Alle diese Dinge ließ er als Buße über sich ergehen. Dieses dumpfe Grollen einer Vergeltung, deren Ursache ihm entging, kündigte irgendeine Katastrophe an, vor der er im voraus zusammenknickte, gebeugt von der Schmach eines Vergehens, das Sühne heischte. Dann zürnte er sich selbst bei dem Gedanken an die volkstümliche Bewegung, die er vorbereitete; er sagte sich, daß er nicht mehr rein genug sei, um den Erfolg zu erringen.

Welche Träume hatte er hier oben geträumt, wenn er die Blicke über die breiten Dächer der Pavillons schweifen ließ. Zumeist erschienen sie seinen Augen wie graue Meere, die ihm von fernen Ländern erzählten. In den mondlosen Nächten verdunkelten sie sich, wurden zu toten Seen, zu schwarzen, faulen, verpesteten Gewässern. Die hellen Nächte verwandelten sie in Lichtbrunnen; die Strahlen flossen auf die beiden Stockwerke der Dächer hernieder, und ergossen sich über die breiten Zinkplatten und den Rand der ungeheuren, übereinander geschobenen Behälter. Die winterlichen Fröste ließen sie erstarren wie die Buchten Norwegens, wo Schlittschuhläufer dahingleiten; die schwülen Juninächte hingegen versenkten sie in einen dumpfen Schlaf. Als er an einem Dezemberabende sein Fenster öffnete, fand er die Hallendächer ganz weiß vom Schnee, von einer jungfräulichen Weiße, die den rostfarbigen Himmel erhellte; sie dehnten sich dahin, ohne durch einen menschlichen Tritt befleckt zu sein, gleich den endlosen, einsamen Ebenen des Nordens, die unberührt bleiben von den Schlitten ihrer Bewohner; sie lagen so still da, sanft wie ein harmloser Riese. Bei jedem neuen Anblick dieses wechselnden Horizontes überließ sich Florent zärtlichen oder grausamen Gedanken; der Schnee beruhigte ihn; das unendliche weiße Laken schien ihm eine Reinlichkeitshülle über dem Unflat der Hallen; die hellen Nächte, die Lichtwellen des Mondes entführten ihn in das Feenreich der Sagen. Er litt nur in den dunklen Nächten, in den schwülen Juninächten, die den ekelerregenden Sumpf, das träge Wasser eines verdammten Meeres ausbreiteten. Immer kehrte derselbe böse Traum wieder.

Unaufhörlich hatte er sie vor sich. Er konnte das Fenster nicht öffnen, sich nicht an das Geländer lehnen, ohne sie zu seinen Füßen zu haben, wie sie den ganzen Horizont ausfüllten. Er verließ des Abends die Pavillons nur, um beim Schlafengehen die endlosen Dächer wiederzufinden. Sie verrammelten ihm Paris, drängten mit ihrer Ungeheuerlichkeit sich ihm auf, beschäftigten jede Stunde seines Lebens. Diese Nacht tauchte sein böser Traum wieder auf, noch gesteigert durch die dumpfe Unruhe, die ihn bewegte. Der Regen am Nachmittag hatte die Hallen mit einer schmutzigen Feuchtigkeit erfüllt. Sie sandten ihm alle ihre üblen Gerüche zu, die sich mitten in der Stadt dahinwälzten, wie ein Säufer sich nach der letzten Flasche unter dem Tische wälzt. Es schien ihm, als steige aus jedem Pavillon ein dichter Qualm auf. In der Ferne dampften die Metzgerei und die Kaldaunenabteilung und hauchten einen widerwärtigen Blutgeruch aus. Die Gemüse- und Obstmärkte entsandten scharfe Gerüche von Kohl, faulen Äpfeln und Grünkramabfällen, die für den Düngerhaufen bestimmt sind. Die Butter- und Käseabteilung verpestete alles ringsumher, der Fischmarkt verbreitete eine scharf gewürzte Frische. Der Geflügelpavillon zu seinen Füßen strömte durch das Türmchen des Ventilators eine heiße Luft aus, einen Gestank, der sich wie der rußgeschwängerte Qualm einer Fabrik fortwälzte. Der Dunst all dieser Ausströmungen sammelte sich über den Dächern, drang bis zu den benachbarten Häusern und verbreitete sich in einer dichten Wolke über ganz Paris. Das waren die Hallen, die ihr allzu enges Gehäuse von Gußeisen sprengten und mit ihrem Übermaß den Schlaf der vollgefressenen Stadt erhitzten.

Er vernahm jetzt unten auf dem Bürgersteige das Geräusch von Stimmen, das Lachen froher Menschen. Die Haustüre wurde geräuschvoll geschlossen. Quenu und Lisa kehrten vom Theater heim. Betäubt, berauscht von der Luft, die er einatmete, verließ Florent die Terrasse mit der nervösen Angst vor dem Ungewitter, das er über seinem Haupte sich zusammenziehen fühlte. Sein Unglück war da in diesen tagsüber durchhitzten Hallen. Er warf heftig das Fenster zu und ließ sie im Dunkeln der nächtlichen Schatten liegen, ganz nackt, noch in Schweiß gebadet, die Brüste entblößt, den geblähten Bauch zeigend und unter dem sternenhellen Himmel sich erleichternd.


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