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Zweites Kapitel

Florent hatte eben in Paris sein Rechtsstudium begonnen, als seine Mutter starb. Sie wohnte zu Vigon, in der Gard-Gegend. Sie hatte in zweiter Ehe einen aus Yvetot in der Normandie stammenden Mann namens Quenu geheiratet. Diesen Mann hatte ein Unterpräfekt nach dem Süden gebracht und dort vergessen. Er war Beamter in der Unterpräfektur geblieben; denn er fand die Gegend reizend, den Wein gut, die Frauen liebenswürdig. Nach dreijähriger Ehe starb er an den Folgen einer schlechten Verdauung. Als einziges Erbe hatte er seiner Frau einen dicken Jungen zurückgelassen, der ihm ganz ähnlich sah. Es fiel der Mutter schon schwer, die Schulgelder für ihren älteren Sohn Florent, der aus ihrer ersten Ehe stammte, zu bezahlen. Sie hatte große Ursache, mit diesem Sohne zufrieden zu sein; er war von sanfter Gemütsart, arbeitete fleißig und erlangte stets die ersten Preise. Ihm wandte sie ihre ganze Liebe, alle ihre Hoffnungen zu. In der Zärtlichkeit für diesen blassen, schmächtigen Jungen kam vielleicht der Vorzug für ihren ersten Gatten zum Ausdruck, einen Provençalen von liebkosend weichlichem Charakter, der sie zum Sterben lieb gehabt hatte. Quenu, dessen gute Laune sie anfänglich verführt, hatte sich vielleicht zu dick, zu selbstgefällig, zu sehr als Mensch gezeigt, der aus sich selbst die besten Freuden zu schöpfen sicher war. Sie entschied denn, daß ihr Zweitgeborner, der Jüngste, der in den Familien des Südens oft geopfert wird, niemals etwas Rechtes werden solle. Sie begnügte sich, ihn in eine Schule zu schicken, die ihre Nachbarin, ein altes Mädchen hielt, und wo der Junge nichts anderes lernte, als sich herumtreiben. So wuchsen die beiden Brüder fern voneinander als Fremde heran.

Als Florent nach Vigon zurückkehrte, war seine Mutter begraben. Sie hatte verlangt, daß man ihm ihre Krankheit bis zum letzten Augenblick verheimliche, um ihn nicht in seinen Studien zu stören. Er fand den kleinen zwölfjährigen Quenu in der Küche an einem Tische sitzen und weinen. Ein benachbarter Möbelhändler schilderte ihm die Krankheit und den Tod der armen Frau. Sie war bei ihren letzten Mitteln angelangt und hatte sich in schwerer Arbeit aufgerieben, damit ihr Sohn sein Rechtsstudium beenden könne. Außer einem kleinen Bandhandel, der wenig einbrachte, mußte sie sich noch mit verschiedenen anderen Arbeiten beschäftigen, die sie bis in die späte Nacht in Anspruch nahmen. Die fixe Idee, ihren Florent als einen angesehenen Advokaten der Stadt zu sehen, machte sie schließlich hartherzig, geizig, erbarmungslos gegen sich selbst und gegen andere. Der kleine Quenu lief mit zerrissenen Höschen umher und hatte Löcher in den Rockärmeln. Bei Tische durfte er sich nichts nehmen und mußte warten, bis seine Mutter ihm sein Teil Brot gab; allerdings schnitt sie für sich selbst ebenso dünne Scheiben wie für ihn. Bei dieser Lebensweise war sie zugrunde gegangen mit dem unsäglichen Schmerze, ihre Aufgabe nicht beendet zu sehen.

Diese Mitteilung machte auf den weichen Charakter Florents einen schrecklichen Eindruck. Die Tränen erstickten ihn schier. Er nahm den kleinen Bruder in seine Arme, schloß ihn an seine Brust und küßte ihn, wie um ihm alle die Liebe zu vergelten, deren er ihn beraubt hatte. Er betrachtete seine zerrissenen Schuhe, seine löcherigen Rockärmel, seine schmutzigen Hände, dieses ganze Elend eines verlassenen Kindes. Er wiederholte ihm, daß er ihn mitnehmen wolle und daß er bei ihm glücklich sein solle. Als er am nächsten Tage die Lage prüfte, fürchtete er, es werde ihm nicht soviel bleiben, um nach Paris zurückzukehren. Um keinen Preis wollte er in Vigon bleiben. Es gelang ihm glücklicherweise, einen Abnehmer für den Bandkramladen zu finden; dadurch ward es ihm möglich, die Schulden zu bezahlen, die seine Mutter, in Geldsachen sonst sehr streng, nach und nach zu machen genötigt gewesen. Da ihm nichts übrig blieb, bot ihm sein Nachbar, der Möbelhändler, fünfhundert Franken für die Einrichtung und die Wäsche der Verstorbenen. Der Möbelhändler machte dabei ein gutes Geschäft. Der junge Mann dankte ihm mit Tränen in den Augen. Er kleidete seinen Bruder ganz neu und nahm ihn noch am selben Abend mit sich.

In Paris konnte nicht mehr die Rede davon sein, das Rechtsstudium fortzusetzen. Florent gab jeden Ehrgeiz für später auf. Er fand einige Unterrichtsstunden und mietete sich mit dem kleinen Quenu in der Royer-Collard-Straße, an der Ecke der Jakobstraße, in einer großen Stube ein, die er mit zwei eisernen Betten, einem Schrank, einem Tische und vier Stühlen ausstattete. Von da ab hatte er ein Kind. Seine Vaterschaft entzückte ihn. In der ersten Zeit versuchte er, wenn er abends nach Hause kam, dem Kleinen Unterricht zu geben. Doch dieser hörte nicht zu; er hatte einen harten Schädel und wollte nichts lernen; schluchzend sehnte er die Zeit zurück, da seine Mutter ihm erlaubte, in den Straßen herumzulaufen. Florent war darob in Verzweiflung, brach den Unterricht ab, tröstete den Jungen und versprach ihm endlose Ferien. Um seine Schwäche in seinen Augen zu rechtfertigen, sagte er sich, daß er das liebe Kind nicht mitgenommen habe, um es zu ärgern. Seine Verhaltungsregel war, es in Frohsinn heranwachsen zu sehen. Er liebte den Jungen, war entzückt von seinem hellen Lachen und fand seine selige Wonne daran, ihn gesund und sorglos um sich zu haben. Florent blieb mager in seinen abgenützten schwarzen Röcken, und sein Gesicht begann gelb zu werden bei den bösen Verdrießlichkeiten des Stundengebens. Quenu ward ein rundes, volles Bürschchen, etwas einfältig, der kaum schreiben und lesen konnte, aber von einer unwandelbaren guten Laune war und die große Stube stets mit seiner Heiterkeit erfüllte.

Indes gingen Jahre dahin. Florent, der die Aufopferungsfähigkeit seiner Mutter geerbt hatte, behielt Quenu in seiner Wohnung wie ein großes, träges Mädchen. Er ersparte ihm selbst die kleinen Sorgen des Hauswesens. Er selbst kaufte den Mundvorrat ein, besorgte Stube und Küche. Das verscheuchte ihm die schlimmen Gedanken, sagte er. Gewöhnlich war er in düsterer Stimmung und hielt sich für schlecht. Wenn er des Abends mit Schmutz bespritzt und von Haß gegen die Kinder der anderen erfüllt heimkehrte, war er gerührt von der Umarmung dieses großen, dicken Jungen, den er auf den Fliesen der Stube mit seinem Brummkreisel spielen fand. Quenu lachte über seine Ungeschicklichkeit in der Zubereitung der Eierkuchen und über den Ernst, mit dem er den Fleischtopf ans Feuer setzte. Wenn die Lampe ausgelöscht war, lag Florent oft mit traurigen Gedanken in seinem Bette. Er gedachte, seine Rechtsstudien wieder aufzunehmen, und erschöpfte sich in Auskunftsmitteln, um seine Zeit so einzuteilen, daß er die Vorlesungen an der Fakultät hören könne. Es gelang ihm auch, und er war vollkommen glücklich. Allein ein Fieberanfall, der ihn acht Tage lang das Zimmer zu hüten nötigte, legte eine solche Bresche in ihren Geldbestand und beunruhigte ihn in dem Maße, daß er jeden Gedanken an die Beendigung seiner Studien aufgab. Sein Kind wuchs heran. Er trat als Lehrer in eine Pension in der Wippstraße ein mit einem Jahresgehalte von achtzehnhundert Franken. Das war ein Vermögen. Bei einiger Sparsamkeit muß es ihm gelingen, Geld zu erübrigen, um Quenu zu unterstützen, wenn er einmal etwas beginnen werde. Mit achtzehn Jahren behandelte er ihn noch als Mädchen, das ausgestattet werden muß.

Während der kurzen Krankheit seines Bruders hatte auch Quenu sich seine Gedanken gemacht. Eines Morgens erklärte er, er wolle arbeiten und sei groß genug, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Florent war tief gerührt. Gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, wohnte ein Uhrmacher, den das Kind den ganzen Tag sah, wie er im hellen Lichte des Fensters über seinen kleinen Tisch gebeugt kleine, zarte Dingerchen handhabte und geduldig durch die Lupe betrachtete. Es gefiel ihm sehr, und er behauptete, er habe Neigung für die Uhrmacherei. Allein nach zwei Wochen ward er unruhig und weinte wie ein zehnjähriger Junge; er fand, die Sache sei zu verwickelt, und er werde nie alle die kleinen »Dummheiten« kennen lernen, aus denen eine Uhr sich zusammensetzt. Er wolle lieber ein Schlosser werden. Allein, die Schlosserei ermüdete ihn bald. Binnen zwei Jahren versuchte er es mit zehn Handwerken. Florent dachte, er habe recht, und man solle nicht mit Unlust einen Stand wählen. Doch die löbliche Hingebung des Quenu, der seinen Lebensunterhalt verdienen wollte, kam dem Haushalte der beiden jungen Leute sehr teuer zu stehen. Seitdem er durch alle Werkstätten kam, gab es immer neue Ausgaben: für Kleider, für außerhalb des Hauses eingenommene Mahlzeiten, für Einstandstränke, die man den neuen Kameraden zahlen mußte. Die achtzehnhundert Franken Florents genügten nicht mehr. Er hatte zwei Lektionen für den Abend annehmen müssen. Seit acht Jahren trug er denselben Rock.

Die beiden Brüder hatten einen Freund gefunden. Das Haus hatte eine Seite auf die Jakobstraße, und auf dieser Seite war darin eine große Ausbraterei, die ein würdiger Mann namens Gavard hielt, dessen Frau inmitten all des fetttriefenden Geflügels an Auszehrung starb. Wenn Florent zu spät heimkehrte, um noch ein Stück Fleisch zu braten, kaufte er unten ein Stück Truthahn- oder Gänsebraten für zwölf Sous. Das gab dann immer ein leckeres Fest. Gavard interessierte sich schließlich für diesen mageren jungen Mann; er erfuhr seine Geschichte und verlangte auch den Kleinen zu sehen. Bald verließ Quenu nicht mehr die Ausbraterei. Sobald sein Bruder ausgegangen war, ging er hinunter und blieb in dem Laden, entzückt von dem Anblicke der vier großen Spieße, die mit einem gedämpften Geräusche sich vor den hohen, hellen Flammen drehten.

Die breiten Kupfergeschirre am Kamin glänzten, das Geflügel rauchte, das Fett brodelte und zischte in der Untersetzpfanne, die Spieße begannen schließlich eine Unterhaltung untereinander und sagten auch Quenu freundliche Worte, der mit einem langstieligen Löffel bewehrt, die runden, braunen Gänse- und Hühnerbrüste sorgfältig mit Fett begoß. Stundenlang blieb er da, ganz rot von den lodernden Flammen, ein wenig dumm, mit einem stillen Lächeln über die fetten Tiere, die da brieten. Er erwachte erst wieder aus seiner Träumerei, wenn die fertigen Braten von den Spießen genommen wurden. Das Geflügel wurde auf Schüsseln gelegt, die rauchenden Spieße aus den Bäuchen gezogen und dann leerten sich die Bäuche und ließen den Saft durch die Löcher am Hintern und am Halse herausrinnen, und der Laden füllte sich mit einem starken Bratengeruche. Der Junge stand dabei, folgte diesem Tun mit den Blicken, klatschte vergnügt in die Hände, redete zu dem Geflügel, sagte, daß der Braten sehr gut sei, daß man ihn verspeisen werde, und daß die Katzen nur die Knochen haben sollten. Er machte einen Luftsprung, wenn Gavard ihm ein Stück Brot reichte, das er dann eine halbe Stunde im Bratenfett schmoren ließ.

Sicherlich hatte Quenu hier Lust zur Küche bekommen. Nachdem er es mit allen Handwerken versucht hatte, kehrte er – als sei es vom Schicksal bestimmt gewesen – wieder zu dem Geflügel zurück, das am Spieße gebraten wird, und zu dem feinen Safte, nach dem man sich die Finger ablecken muß. Anfänglich fürchtete er, seinen Bruder dadurch zu ärgern, der ein bescheidener Esser war und von den leckeren Bissen mit der Mißachtung eines Menschen sprach, der nicht weiß, was gut ist. Als er später sah, wie Florent aufhorchte, wenn er ihm irgendein zusammengesetztes Gericht erläuterte, gestand er ihm seinen Beruf und trat in den Dienst einer Gastwirtschaft. Seither war das Leben der beiden Brüder geregelt. Sie bewohnten weiter die Stube in der Royer-Collard-Straße, wo sie sich jeden Abend fanden, der eine mt fröhlichem, gerötetem Gesichte von seinen Bratöfen heimkehrend, der andere mit der trübseligen Miene eines armen Lehrers. Florent behielt seinen schwarzen Rock und vertiefte sich in die Aufgabenhefte seiner Schüler, während Quenu, um es sich behaglich zu machen, seine Schürze, seine weiße Weste und seine Küchenjungenmütze anlegte und sich damit die Zeit vertrieb, auf dem Zimmerofen irgendeinen Leckerbissen zuzubereiten. Manchmal lachten sie, wenn sie einander so sahen, der eine ganz weiß, der andere ganz schwarz. Die große Stube schien halb traurig und halb lustig von dieser Düsterheit und diesem Frohsinn. Noch niemals hatten zwei so verschieden geartete Leute sich so gut zusammen vertragen. Mochte der eine, von der Fieberglut des Vaters verzehrt, noch so sehr abmagern, und mochte der andere als würdiger Sohn des Normannen noch so dick werden: sie liebten sich in ihrer gemeinsamen Mutter, in dieser Frau, die nichts als liebevolle Hingebung gewesen.

Sie hatten in Paris einen Verwandten, einen Bruder ihrer Mutter namens Gradelle, der in der Pirouette-Straße, nahe bei den Hallen, einen Wurstladen hielt. Er war ein dicker Filz, ein roher Mensch, der sie als Hungerleider empfing, als sie das erstemal bei ihm vorsprachen. Sie kamen selten in sein Haus. Zu seinem Namensfeste brachte Quenu dem Oheim einen Strauß und erhielt dafür ein Zehnsousstück. Florent, von einem krankhaften Stolze erfüllt, litt sehr, wenn Gradelle seinen abgetragenen Rock musterte mit den argwöhnischen Blicken eines Geizhalses, der die Bitte um ein Mittagessen oder um ein Hundertsousstück wittert. Eines Tages beging er den kindlichen Streich, einen Hundertfrankenschein bei dem Onkel zu wechseln. Er erreichte damit, daß dieser weniger erschrak, wenn »die Kleinen« kamen. Aber weiter ging die Freundschaft nicht.

Diese Jahre waren für Florent ein langer, süßer, trauriger Traum. Alle bitteren Freuden der Selbstaufopferung hatte er durchzukosten. Zu Hause in der gemeinsamen Stube war er nur Liebe. Draußen unter den Demütigungen seines Lehrerberufes, auf den Fußwegen von der Menge gestoßen, fühlte er, wie er schlecht wurde. Sein längst erstorbener Ehrgeiz verbitterte ihn. Es währte Monate, bis er sich ergab und sich in das Leidensgeschick eines häßlichen, mittelmäßigen und armen Menschen fügte. Um den Versuchungen der Schlechtigkeit zu entrinnen, stürzte er sich kopfüber in eine ideale Güte, schuf sich einen Zufluchtsort aus eitel Gerechtigkeit und Wahrheit. Zu jener Zeit wurde er Republikaner; er trat in die Republik ein, wie die verzweifelten Mädchen in das Kloster eintreten. Weil er keine Republik fand, die weich und warm genug gewesen wäre, um seine Leiden einzuschläfern, schuf er sich eine solche. An den Büchern fand er kein Gefallen; alles geschwärzte Papier, unter dem er lebte, erinnerte ihn an die mißduftige Schulklasse, an die von den Schuljungen zerkauten Papierkugeln, an die Marter der langen, unfruchtbaren Stunden. Auch redeten die Bücher nur von Aufruhr, drängten ihn zum Stolze; er aber fühlte ein gebieterisches Bedürfnis nach Frieden und Vergessen. Sich wiegen, einschlummern und träumen, daß er vollkommen glücklich sei, daß auch die Welt es werden sollte, die republikanische Stadt erbauen, wo er hätte leben wollen: dies war seine Erholung, das immer wieder von neuem begonnene Werk seiner freien Stunden. Er las nicht mehr, nur was sein Lehrberuf erforderte; er ging die Jakobstraße hinauf bis zu den äußeren Alleen, machte zuweilen einen weiten Weg und kam durch das italienische Tor zurück; auf dem ganzen Wege hatte er das Mouffetard-Stadtviertel zu seinen Füßen; er ersann sittliche Maßnahmen, menschenfreundliche Gesetzentwürfe, die diese Stadt der Leiden in eine Stadt der Glückseligkeit umwandeln sollten. Als die Tage der Februarrevolution Paris in ein Blutbad tauchten, war er tief bekümmert; er lief in die Klubs und forderte den Loskauf dieses Blutes »durch den Bruderkuß aller Republikaner der Welt«. Er ward einer jener erleuchteten Redner, die die Revolution als eine neue Religion der Milde und Erlösung predigten. Erst die Dezembertage rissen ihn aus dieser Weltallsliebe. Er war entwaffnet. Er ließ sich abfangen wie ein Hammel und wurde behandelt wie ein Wolf. Als er aus seiner Predigt über die Brüderlichkeit erwachte, starb er schier Hungers auf den kalten Fliesen einer Kasematte zu Bicêtre.

Quenu, damals 22 Jahre alt, ward von tödlicher Angst ergriffen, als er seinen Bruder nicht zurückkehren sah. Am anderen Tage ging er nach dem Montmartrefriedhofe, um ihn da unter den Toten der Straße zu suchen, die man reihenweise auf Stroh gebettet hatte. Die unbedeckten Häupter der Leichen waren scheußlich anzusehen. Ihm fehlte der Mut, die Tränen blendeten ihn; zweimal mußte er die Reihen abschreiten. Endlich erfuhr er nach einer Woche auf der Polizeiwache, daß sein Bruder in Haft sei. Er durfte ihn nicht sehen. Als er zudringlich wurde, drohte man, auch ihn zu verhaften. Da lief er zum Onkel Gradelle, der in seinen Augen eine Persönlichkeit war und den er zu bestimmen hoffte, Florent zu retten. Allein, der Onkel Gradelle wurde zornig und sagte, es sei ganz recht so; der lange Tölpel habe nicht nötig gehabt, sich unter die republikanischen Hundsfötter zu mengen; er fügte hinzu, es sei Florent ins Gesicht geschrieben, daß es mit ihm ein böses Ende nehmen werde. Quenu schluchzte bitterlich und war ganz trostlos. Der Onkel schämte sich ein wenig; er fühlte, daß er für den armen Jungen etwas tun müsse, und bot ihm an, ihn zu sich zu nehmen. Er wußte, daß er ein guter Koch sei, und brauchte eben einen Gehilfen. Quenu hatte eine solche Angst davor, allein nach der Stube in der Royer-Collard-Straße zurückzukehren; daß er den Antrag annahm. Er schlief schon am nämlichen Abend bei seinem Oheim in einem finstern Loch unter dem Dache, wo er sich kaum ausstrecken konnte. Er weinte da doch weniger, als er angesichts des leeren Bettes seines Bruders geweint haben würde.

Endlich gelang es ihm, Florent zu sehen. Doch als er von Bicêtre zurückkam, mußte er sich zu Bett legen; das Fieber hielt ihn fast drei Wochen an sein Lager gefesselt, und er verbrachte diese ganze Zeit in einer Art Schlummer und Bewußtlosigkeit. Es war seine erste und einzige Krankheit. Gradelle wünschte seinen republikanisch gesinnten Neffen zu allen Teufeln. Als er eines Morgens erfuhr, daß Florent nach Cayenne abgeführt worden, schlug er Quenu vergnügt in die Hände, weckte ihn, teilte ihm roh diese Nachricht mit und rief damit einen solchen Umschwung in der Krankheit hervor, daß der junge Mann am folgenden Tage auf den Beinen war. Sein Schmerz löste sich; sein schlaffes Fleisch schien seine letzten Tränen aufzusaugen. Einen Monat später lachte er schon, allerdings verdrossen über dieses Lachen; dann behielt aber die Heiterkeit die Oberhand, und er lachte, ohne es zu wissen.

Er erlernte das Wurstmacherhandwerk. Er fand daran noch mehr Gefallen als an der Küche. Allein der Oheim Gradelle sagte ihm, er möge seine Kochtöpfe und Pfannen nicht zu sehr vernachlässigen; ein Wurstmacher, der zugleich ein guter Koch, sei sehr selten zu finden, und es sei für ihn, Quenu, ein Glück, daß er in einer Gastwirtschaft gewesen, ehe er bei ihm eingetreten. Er nützte übrigens die Fähigkeiten des Jungen aus, ließ ihn Mahlzeiten bereiten, die von Kunden bestellt waren, und betraute ihn im besonderen mit der Zubereitung von Rostbraten und Schweinskoteletten mit kleinen Gurken. Da der junge Mann ihm nützliche Dienste leistete, liebte er ihn nach seiner Art, kneipte ihn in die Arme, wenn er gerade gut gelaunt war. Er hatte die ärmliche Einrichtung der Stube in der Royer- Collard-Straße verkauft und behielt den Erlös, vierzig und einige Franken, bei sich, damit der Teufelsjunge Quenu, wie er sagte, das Geld nicht zum Fenster hinauswerfe. Schließlich gab er ihm aber dennoch sechs Franken monatlich zur Bestreitung seiner kleinen Ausgaben.

Obgleich knapp im Gelde und zuweilen roh behandelt, war Quenu doch vollkommen zufrieden. Er liebte es, daß man ihm sein Leben sozusagen vorkaue. Florent hatte ihn zu sehr nach der Art eines trägen Mädchens erzogen. Überdies hatte er im Hause des Oheims Gradelle eine Freundin gefunden. Als dieser seine Frau verloren, mußte er für den Dienst am Zahlpulte ein Mädchen nehmen. Er wählte hiezu eine gesunde, appetitliche Person, weil er wußte, daß eine solche den Kunden wohlgefällt und den kalten Braten zu raschem Absatz verhilft. Er kannte in der Cuvier-Straße nahe dem Botanischen Garten eine verwitwete Frau, deren Mann Posthalter zu Plassans, einer Unterpräfekturs-Stadt im Süden, gewesen. Diese Dame, die sehr bescheiden von einer kleinen Leibrente lebte, hatte aus der genannten Stadt ein starkes, schönes Mädchen mitgebracht, das sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Lisa pflegte sie mit ruhiger Miene in stets gleichmäßiger, ernster Stimmung und war, wenn sie lächelte, sehr schön. Ihr Hauptreiz lag in der köstlichen Art, wie sie ihr seltenes Lächeln anbrachte. Ihr Blick ward dann zu einer Liebkosung. Ihr gewöhnlicher Ernst verlieh diesem plötzlich angewandten Mittel der Verführung einen unschätzbaren Wert. Die alte Dame pflegte zu sagen, ein Lächeln Lisas könne sie in die Hölle locken. Als das Asthma sie hinwegraffte, hinterließ sie ihrer Ziehtochter Lisa ihre ganzen Ersparnisse, nahezu zehntausend Franken. Lisa blieb acht Tage allein in der Wohnung der Cuvier-Straße; hier suchte Gradelle sie auf. Er kannte sie, weil er sie öfter mit ihrer Herrin gesehen hatte, wenn letztere in der Pirouette-Straße bei ihm einkaufte. Bei dem Leichenbegängnisse der alten Dame fand er Lisa so schön und fest gebaut, daß er bis zum Kirchhofe mitging. Während man den Sarg in das Grab senkte, dachte er, wie prächtig dieses Mädchen in seinen Wurstladen passen werde. Er ging mit sich selbst zu Rate und sagte sich, daß er ihr nebst der Beköstigung und Wohnung gern dreißig Franken monatlich zahlen werde. Als er ihr seine Vorschläge machte, erbat sie sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit. Eines Morgens erschien sie bei ihm mit einem kleinen Päckchen und ihren zehntausend Franken, die sie in ihrem Mieder verborgen trug. Einen Monat später beherrschte sie das ganze Haus, Gradelle, Quenu, alle bis zum letzten Lehrjungen. Quenu besonders würde alle zehn Finger für sie hingegeben haben. Wenn sie lächelte, blieb er stehen, sah sie an und lachte von Herzen mit.

Lisa, die älteste Tochter der Macquart in Plassans, hatte noch ihren Vater. Sie sagte, er sei im Auslande, und schrieb ihm niemals. Zuweilen ließ sie die Bemerkung fallen, daß ihre Mutter zu ihren Lebzeiten eine kräftige Arbeiterin gewesen und daß sie ihr ähnlich sei. Sie erwies sich in der Tat sehr ausdauernd bei der Arbeit. Aber sie sagte, die arme Frau habe sich zu Tode gearbeitet, um die Hauswirtschaft aufrecht zu erhalten. Sie sprach dann von den Pflichten der Hausfrau und von den Pflichten des Gatten in einer sehr klugen, sehr anständigen Weise, die Quenu entzückte. Er versicherte ihr, daß er völlig ihre Ansichten teile. Die Ansichten Lisas waren aber die, daß jeder arbeiten müsse, wenn er essen wolle, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, daß man Böses tue, wenn man die Trägheit ermutige, und endlich, daß es den Faulenzern ganz recht geschehe, wenn es ihnen schlimm gehe. Dies war eine sehr deutliche Verurteilung der Säuferei und des Müßigganges des alten Macquart. Ohne daß sie es wußte, sprach Macquart ganz laut in ihr; sie war nichts als eine ordnungsliebende, vernünftige, logische Macquart mit ihren Bedürfnissen eines behaglichen Lebens, weil sie begriff, daß man am besten schlafe, wenn man sich selbst warm gebettet habe. Diesem warmen, weichen Bette galt ihre ganze Zeit und galten alle ihre Gedanken. Schon mit sechs Jahren blieb sie gern den ganzen Tag ruhig auf ihrem Stühlchen sitzen unter der Bedingung, daß sie am Abend mit einem Stück Kuchen belohnt werde.

Bei dem Wurstmacher Gradelle führte Lisa ihr ruhiges, regelmäßiges, durch ihr schönes Lächeln erhelltes Leben fort. Sie hatte das Anerbieten des guten Mannes nicht aufs Geratewohl angenommen; sie wußte sich einen Beschützer aus ihm zu machen; sie ahnte vielleicht mit dem Spürsinn der Leute, die Glück haben, in diesem dunkeln Laden der Pirouette-Straße die fest begründete Zukunft, von der sie träumte, ein Leben voll gesunder Freuden, eine Arbeit ohne Mühe, für die jede Stunde ihren Lohn darbieten solle. An ihrem Zahlpulte versah sie den Dienst mit derselben ruhigen Sorgfalt, die sie der Witwe des Posthalters gewidmet hatte. Die Sauberkeit der Schürzen Lisas wurde bald sprichwörtlich im Stadtviertel. Der Onkel Gradelle war dermaßen zufrieden mit diesem schönen Mädchen, daß er manchmal, wenn er seine Würste band, zu Quenu sagte:

Wenn ich nicht sechzig Jahre alt wäre, bei meiner Ehre, ich könnte die Torheit begehen, sie zu heiraten! ... Eine solche Frau im Geschäft ist gediegen Gold, mein Junge.

Quenu überbot ihn noch in den Lobsprüchen. Doch lachte er hellauf, als eines Tages ein Nachbar ihn damit neckte, er sei in Lisa verliebt. Die Liebe plagte ihn nicht. Sie waren sehr gute Freunde. Am Abend gingen sie zusammen hinauf, um sich zu Bette zu begeben. Neben dem dunkeln Loche, wo Quenu schlief, bewohnte Lisa ein Kämmerchen, das sie ganz hell zu machen wußte, indem sie es überall mit Mousselinevorhängen schmückte. Sie verweilten einen Augenblick mit dem Leuchter in der Hand auf dem Flur und plauderten, während sie ihre Türen aufsperrten. Dann schlossen sie die Türe mit dem Gruße:

Gute Nacht, Fräulein Lisa!

Gute Nacht, Herr Quenu!

Während Quenu zu Bett ging, hörte er Lisa in ihrem Kämmerchen herumwirtschaften. Die Bretterwand war so dünn, daß er jeder ihrer Bewegungen folgen konnte. Er dachte sich: »Schau, schau! Sie zieht ihre Fenstervorhänge zu; was mag sie nur vor ihrer Kommode machen? Jetzt setzt sie sich nieder, um ihre Stiefelchen auszuziehen. Nun hat sie ihre Kerze ausgelöscht. Gute Nacht, schlafen wir!« Und wenn er das Bett krachen hörte, murmelte er lachend: »Ja, sie ist nicht leicht, das Fräulein Lisa.« Dieser Gedanke erheiterte ihn. Er schlief endlich ein mit dem Gedanken an die Schinken und Würste, die am nächsten Tage bereitet werden sollten.

Dies währte ein Jahr, ohne daß Lisa auch nur einmal errötet, oder Quenu in Verlegenheit gekommen wäre. Am Morgen bei der Arbeit, wenn Lisa in die Küche kam, begegneten sich wohl ihre mit dem Hackfleisch beschäftigten Hände. Sie half ihm zuweilen; sie hielt mit ihren fetten Fingern die Därme, während er sie mit gehacktem Fleisch und Speck füllte. Oder sie kosteten zusammen das rohe Wurstfleisch, um zu sehen, ob es auch genügend gewürzt sei. Sie war eine gute Beraterin; sie kannte die im Süden gebräuchliche Art der Zubereitung, und er versuchte diese Art mit Erfolg. Oft merkte er, daß sie so dicht hinter ihm stehe und in die Töpfe gucke, daß er ihren starken Busen an seinem Rücken fühlte. Sie reichte ihm, wenn nötig, einen Löffel oder eine Schüssel. Das große Feuer erhitzte sie, daß sie ganz rot wurden. Er würde um nichts in der Welt in dem Umrühren des Breies innegehalten haben, der sich am Feuer verdickte, während sie sehr ernst von dem Grade sprach, bis zu welchem das Kochen fortgesetzt werden müsse. Wenn nachmittags der Laden leer war, plauderten sie ruhig stundenlang. Sie saß ein wenig zurückgelehnt vor ihrem Zahlpulte und strickte mit regelmäßigen Bewegungen ihrer Hände. Er saß auf einem Block und schlug mit den Stiefelabsätzen an das Holz. Sie verständigten sich vortrefflich; sie sprachen von allem, zumeist von der Küche, dann vom Oheim Gradelle und von den Leuten des Stadtviertels. Sie erzählte ihm Geschichten wie einem Kinde; sie wußte sehr hübsche, Wundermärchen voll Lämmerchen und kleiner Engel, die sie mit flötender Stimme und mit ihrer ernsten Miene vortrug. Wenn ein Kunde kam, bat sie den jungen Mann, um sich nicht selber bemühen zu müssen, der Käuferin das Töpfchen Schweineschmalz oder die Büchse Schnecken zu reichen. Um elf Uhr gingen sie dann hinauf schlafen ganz so wie am vorhergegangenen Abend; während sie ihre Türe schlossen, grüßten sie mit ihrer ruhigen Stimme:

Gute Nacht, Fräulein Lisa!

Gute Nacht, Herr Quenu!

Eines Morgens ward der Onkel Gradelle, während er mit der Zubereitung einer Sülze beschäftigt war, vom Schlage gerührt. Er fiel mit der Nase auf den Tisch und war tot. Lisa verlor ihre Kaltblütigkeit nicht. Sie sagte, man dürfe den Toten nicht in der Küche lassen, und ließ ihn nach der Hinterstube schaffen, wo der Onkel zu schlafen pflegte. Dann vereinbarte sie mit dem Gehilfen eine ganze Geschichte; es mußte heißen, der Onkel sei in seinem Bette gestorben, wenn man nicht wolle, daß die Kundschaft einen Ekel bekomme und ausbleibe. Quenu half den Toten hineintragen und war ganz erstaunt darüber, daß ihm um den toten Oheim keine Träne kam. Später weinten er und Lisa zusammen. Er war nebst seinem Bruder Florent der einzige Erbe. Die Klatschbasen der benachbarten Straßen behaupteten, der alte Gradelle müsse ein ansehnliches Vermögen haben. In Wahrheit fand man nicht einen Taler. Lisa war unruhig. Quenu sah sie nachdenklich; vom Morgen bis zum Abend blickte sie umher, als ob sie etwas verloren habe. Endlich beschloß sie eine große Säuberung im Hause; man klatsche in der Nachbarschaft, sagte sie; die wahre Geschichte von dem Tode des Alten sei ruchbar geworden, und man müsse einen Beweis großer Reinlichkeit liefern. Als sie eines Nachmittags zwei Stunden im Keller gewesen, wo sie selbst die Pökelfässer ausgescheuert hatte, erschien sie plötzlich wieder und hielt etwas in der Schürze. Quenu hackte Schweinsleber. Sie wartete, bis er fertig war, und plauderte inzwischen ganz ruhig mit ihm. Nur ihre Augen schimmerten ganz ungewöhnlich, und sie hatte ihr schönstes Lächeln, als sie sagte, daß sie mit ihm sprechen wolle. Sie stieg mühsam die Treppe hinan, durch die Sache, die sie trug und die ihre Schürze zum Reißen spannte, am Gehen behindert. Im dritten Stockwerk angelangt, mußte sie sich einen Augenblick an das Geländer lehnen, um auszuschnaufen. Quenu folgte ihr erstaunt und ohne ein Wort zu sagen, in ihre Kammer. Es war das erstemal, das sie ihn einlud, daselbst einzutreten. Sie verschloß die Türe, ließ die Zipfel ihrer Schürze, die ihre starren Finger kaum mehr zu halten vermochten, los und schüttete einen Regen von Gold- und Silbermünzen auf ihr Bett hin. Auf dem Boden eines Pökelfasses hatte sie den Schatz des Onkels Gradelle gefunden. Der Haufe machte eine tiefe Grube in dem weichen Bett des jungen Mädchens.

Die Freude Lisas und Quenus war eine innige, geräuschlose. Sie setzten sich auf den Bettrand, Lisa zu Häupten, Quenu zu Füßen, zu beiden Seiten des Geldhaufens; und sie zählten das Geld auf der Bettdecke, um kein Geräusch zu verursachen.

Es waren vierzigtausend Franken in Gold, dreitausend Franken in Silber und – in einer Blechbüchse – zweiundvierzigtausend Franken in Banknoten. Es währte zwei Stunden, bis sie alles Geld zusammengezählt hatten. Quenus Hände zitterten ein wenig; Lisa mußte beim Zählen das Hauptwerk tun. Sie richteten die Goldstöße auf dem Polster auf und ließen das Silber in der Grube der Bettdecke. Als sie die für sie ungeheure Ziffer von fünfundachtzigtausend Franken festgestellt hatten, begannen sie zu plaudern. Natürlich sprachen sie von der Zukunft, von ihrer Ehe, ohne daß jemals zwischen ihnen von Liebe die Rede gewesen wäre. Dieses Geld schien ihnen die Zunge zu lösen. Sie hatten sich es auf dem Bette noch bequemer gemacht, hatten sich unter den weißen Mousselinevorhängen an die Mauer gelehnt, die Beine über das Bett gestreckt. Da während ihres Geplauders ihre Hände in dem Gelde wühlten, begegneten sie sich da und vergaßen sich ineinander inmitten der Hundertsousstücke. So überraschte sie die Abenddämmerung. Jetzt erst errötete Lisa darüber, daß sie sich an der Seite dieses jungen Mannes sah. Sie hatten das Bett völlig in Unordnung gebracht, daß die Bettücher überall herunterhingen; auf dem Polster, der sie trennte, bildeten die Goldstöße kleine Vertiefungen, als ob liebeglühende Köpfe sich da gewälzt hätten.

Sie erhoben sich verlegen mit der verwirrten Miene von Liebenden, die soeben ihren ersten Fehltritt begangen. Dieses zerwühlte Bett mit dem Geld klagte sie einer verbotenen Freude an, die sie hinter verschlossener Tür genossen. So war ihr Sündenfall beschaffen. Lisa, die ihre Kleider ordnete, als ob sie Schlimmes verübt hätte, holte jetzt ihre zehntausend Franken herbei. Quenu verlangte, daß sie sie zu den fünfundachtzigtausend Franken des Oheims lege. Er mengte lachend die zwei Summen durcheinander, indem er sagte, auch das Geld müsse sich verloben. Sie kamen überein, daß Lisa den Schatz in ihrem Kasten verwahren solle. Als sie das Geld verschlossen und das Bett wieder in Ordnung gebracht hatte, gingen sie hinab. Sie waren so gut wie Mann und Frau.

Die Hochzeit fand im nächsten Monate statt. Das Stadtviertel fand diese Ehe natürlich, durchaus schicklich. Man wußte beiläufig die Geschichte von dem Schatze, und die Rechtschaffenheit Lisas war der Gegenstand endloser Lobeserhebungen; sie hätte ja schließlich dem Quenu die Sache verheimlichen und die Taler für sich behalten können; wenn sie dennoch gesprochen, so geschah es aus purer Ehrbarkeit, da ja niemand sie gesehen hatte. Sie verdiente es sehr wohl, daß Quenu sie zur Frau nahm. Dieser Quenu hatte Glück; er war nicht schön und fand eine schöne Frau, die ihm einen Schatz ausgrub. Die Bewunderung ging so weit, daß man schließlich ganz leise sagte, »Lisa sei wirklich dumm, getan zu haben, was sie getan.« Lisa lächelte, wenn man ihr in halb verhüllten Worten von diesen Dingen sprach. Sie und ihr Mann lebten wie früher in guter Freundschaft und glücklichem Frieden. Sie half ihm bei der Arbeit, begegnete seinen Händen in dem Hackfleisch, neigte sich über seine Schulter, um einen Blick in die Töpfe zu werfen. Es war nicht immer das große Herdfeuer allein, was ihnen heiß machte.

Lisa war eine kluge Frau, die sehr bald einsah, wie dumm es wäre, ihre fünfundneunzigtausend Franken in dem Schubfach der Kommode schlummern zu lassen. Quenu würde sie gern wieder in das Pökelfaß zurückgelegt haben, bis er noch mehr dazu erworben habe, sie würden sich dann nach Suresnes zurückgezogen haben, einem Vorort von Paris, der ihnen sehr gefiel. Allein sie hatte einen andern Ehrgeiz. Die Pirouette-Straße stimmte nicht zu ihren Gedanken von Sauberkeit, zu ihrem Bedürfnisse nach Licht, Luft und Gesundheit. Der Laden, wo der Onkel Gradelle Sou für Sou seinen Schatz gesammelt hatte, war eine Art dunkler Schlauch, einer jener fragwürdigen Wurstläden der alten Stadtviertel, deren Fliesen trotz des Scheuerns den starken Geruch des Fleisches behalten. Die junge Frau aber träumte von einem jener hellen, modernen Läden, die prächtig eingerichtet sind wie ein Salon und den Schimmer ihrer Spiegelscheiben auf den Fußweg einer breiten Straße werfen. Es war dies bei ihr keineswegs die kleinliche Begierde, hinter einem eleganten Zahlpulte die Dame zu spielen, sondern sie war sich der prunkvollen Anforderungen des modernen Handels vollkommen bewußt. Quenu war anfänglich erschrocken, als sie ihm davon sprach, umzusiedeln und einen Teil ihres Geldes auf die Ausschmückung eines neuen Ladens zu verwenden. Doch sie zuckte lächelnd die Achseln.

Als es eines Abends schon dunkel und der Laden noch nicht beleuchtet war, hörten die Ehegatten eine Frau, die vor der Ladentür zu einer anderen sagte:

O nein! ich kaufe da nicht mehr ein; ich möchte von da nicht ein Endchen Wurst nehmen, meine Liebe ... Sie hatten einen Toten in ihrer Küche!

Quenu weinte vor Schmerz, als er dies hörte. Die Geschichte von dem Toten in der Küche machte die Runde. Er errötete schließlich vor den Kunden, wenn er sah, wie sie an der Wurst rochen. Darum war er es, der den Gedanken der Umsiedelung vor seiner Frau zuerst wieder erwähnte. Sie hatte sich inzwischen, ohne etwas zu sagen, mit dem neuen Laden beschäftigt; in unmittelbarer Nähe in der Rambuteau-Straße, wundervoll gelegen, hatte sie einen solchen gefunden. Die Zentralmarkthallen, die gegenüber eröffnet wurden, mußten die Kundschaft verdreifachen, dem Hause in ganz Paris einen Ruf verschaffen. Quenu ließ sich zu unsinnigen Ausgaben hinreißen; er verwendete über dreißigtausend Franken auf Marmor, Vergoldungen und Spiegel. Lisa verbrachte Stunden bei den Arbeitern und gab ihre Ansicht über die geringsten Einzelheiten an. Als sie endlich vor ihrem Zahlpulte Platz nehmen konnte, kamen die Leute scharenweise zu ihnen einkaufen, bloß um den neuen Laden zu sehen. Die Mauern waren völlig mit weißem Marmor bekleidet; an der Decke befand sich ein riesiger, viereckiger Spiegel in einer breiten, reich geschnitzten Goldeinfassung; in der Mitte hing ein vierarmiger Kronleuchter; hinter dem Zahlpulte war ebenfalls ein das ganze Wandfeld ausfüllender Spiegel, links noch einer und im Hintergrunde des Ladens noch mehrere Spiegel, die zwischen Marmortafeln ganze Ströme von Licht ausgössen und den Laden mit seinen leckeren Warenvorräten ins Unendliche zu vervielfältigen schienen. Rechts von der Türe stand das große Zahlpult, das die Kunden ganz besonders schön gearbeitet fanden; in die einzelnen Felder waren runde Flächen von rosafarbenem Marmor eingelassen; der Fußboden war mit weißen und rosa Marmorquadern ausgelegt, die ein Saum von dunkelrotem Marmor einrahmte. Das Stadtviertel war stolz auf seinen Wurstladen; niemand dachte mehr an die Küche in der Pirouette-Straße, wo ein Toter gelegen. Einen Monat hindurch blieben die Nachbarinnen auf dem Fußweg stehen, um durch die Servelatwürste und die Spitzenvorhänge des Schaufensters Lisa zu betrachten. Man bewunderte ihr weißes und rosiges Fleisch ebenso wie den Marmorzierat des Ladens. Sie erschien wie die Seele, das lebendige Licht, die kräftige starke Göttin dieses Ladens. Man nannte sie nur die schöne Lisa.

Rechts vom Laden lag das Speisezimmer, ein sehr sauber gehaltenes Gemach mit einem Speiseschrank, einem Tische und Sesseln, alles in hellem Eichenholz. Die Matte, die den Fußboden bedeckte, die zartrosafarbens Papiertapete, die Tischdecke von Wachsleinwand, die das Eichenholz nachahmte, – alles verlieh dem Gemach einen etwas kühlen Anstrich, der nur erhellt ward durch den Glanz der von der Zimmerdecke herabhängenden Kupferlampe, deren breite Kugel von durchsichtigem Porzellan den Tisch beherrschte. Von dem Speisezimmer gelangte man in die geräumige Küche; jenseits dieser lag ein kleiner, gepflasterter Hof, wo die Töpfe, Fässer, außer Gebrauch stehenden Gerätschaften aufbewahrt wurden; links von dem Brunnen beendeten die welken Blumen der Auslage ihr Dasein, neben der Ausgußrinne, wohin die Schmutzwässer geschüttet wurden.

Das Geschäft ging vortrefflich. Quenu, den anfänglich die großen Auslagen erschreckt hatten, empfand eine gewisse Achtung vor seiner Frau, die – wie er versicherte – »ein gescheiter Kopf« war. Nach Verlauf von fünf Jahren hatten sie nahe an achtzigtausend Franken in guten Renten angelegt. Lisa erklärte, sie seien nicht ehrgeizig und wollten nicht allzuschnell Reichtümer sammeln; ihr Mann könne Tausende und Abertausende gewinnen, wenn sie ihn in den Großhandel mit Schweinen drängen werde; sie seien noch jung und hätten noch Zeit; auch liebten sie nicht die schmutzige Arbeit; sie wollten nach ihrem Gutdünken arbeiten, ohne sich Sorgen aufzuladen, wie vernünftige Leute, die gut leben wollen.

Sehen Sie, pflegte Lisa, wenn sie gerade redseliger gestimmt war, hinzuzufügen, ich habe in Paris einen Vetter. ... Ich sehe ihn nur selten, denn die zwei Familien sind entzweit. Er hat den Namen Saccard angenommen, um gewisse Dinge in Vergessenheit geraten zu lassen ... Nun, dieser Vetter gewinnt Millionen, wie mir gesagt wurde. Er lebt gar nicht, er schindet sich zu Tode, treibt sich fortwährend in allerlei Teufelsgeschäften herum. Der kann doch unmöglich des Abends seine Mahlzeit in Ruhe verzehren. Wir wissen wenigstens, was wir essen; wir kennen die Plackereien nicht. Unsereins liebt das Geld nur, weil man es braucht, um zu leben. Man lebt gern behaglich, das ist nur natürlich. Wenn ich erwerben sollte, bloß um zu erwerben; wenn ich mich mehr abrackern sollte, als ich nachher Freude am Erworbenen haben könnte: meiner Treu, da möchte ich lieber die Hände in den Schoß legen ... Dann möchte ich die Millionen meines Vetters erst noch sehen. Ich glaube nicht so leichthin an die Millionen. Ich habe ihn neulich in seinem Wagen gesehen; er war ganz gelb und hat recht grämlich dreingeblickt. Ein Mann, der Geld gewinnt, sieht nicht so aus. Übrigens ist dies seine Sache ... Wir wollen immer lieber nur fünf Franken erwerben, aber die sollen auch unser sein.

Ihr Haus gedieh denn auch in der Tat. Sie hatten gleich im ersten Jahre ihrer Ehe eine Tochter bekommen. Die drei Leute waren eine Freude zum Anschauen. Das Haus kam in erfreulicher Weise empor ohne allzu viele Mühe, ganz wie Lisa es wollte. Sie hatte alle möglichen Ursachen des Verdrusses aus dem Wege geräumt und ließ die Tage in dieser Luft des Behagens und der Wohlhabenheit dahinfließen. Es war ein Winkel vernünftigen Glückes, eine bequeme Krippe, an der Vater, Mutter und Tochter sich mästeten. Nur Quenu war zuweilen betrübt, wenn er an seinen armen Florent dachte. Bis zum Jahre 1856 empfing er von Zeit zu Zeit Briefe von ihm. Dann blieben die Briefe aus; er erfuhr durch eine Zeitung, daß drei Deportierte von der Teufelsinsel hatten entfliehen wollen und ertrunken seien, ehe sie die Küste erreichten. Auf der Polizeipräfektur konnte man ihm keine genauen Nachrichten geben; sein Bruder mußte tot sein. Indes bewahrte er noch einige Hoffnung; allein, die Monate gingen dahin. Florent, der im holländischen Guyana sich herumtrieb, hütete sich zu schreiben, weil er immer hoffte, nach Frankreich zurückkehren zu können. Quenu beweinte ihn schließlich wie einen Toten, der ohne Lebewohl von hinnen geschieden war. Lisa kannte Florent nicht. Sie fand Worte des Trostes, wenn ihr Mann sich der Betrübnis hingab; sie ließ ihn zum hundertsten Male die Jugendgeschichten erzählen, von der großen Stube in der Royer-Collard-Straße, von den zahllosen Handwerken, die er gelernt, von den Leckerbissen, die er auf dem Zimmerofen zubereitet, ganz weiß gekleidet, während Florent völlig schwarz gekleidet war. Ruhig und mit unendlicher Geduld hörte sie ihn an.

Inmitten dieses klug eingerichteten, zufriedenen Lebens tauchte Florent an einem Septembermorgen plötzlich auf in der Stunde, da Lisa ihr Lichtbad in der Frühsonne nahm und Quenu, noch halb verschlafen, nachlässig seine Finger in das geronnene Fett von gestern steckte. Der ganze Laden kam in Aufruhr. Gavard riet, daß man den »Geächteten«, wie er ihn nannte, verstecke. Lisa, noch bleicher und ernster als sonst, ließ ihn schließlich in das fünfte Stockwerk hinaufsteigen, wo sie ihm die Kammer ihres Ladenmädchens einräumte. Quenu hatte ihm Brot und Schinken abgeschnitten; allein Florent konnte kaum essen; er ward von Schwindel und Übelkeiten befallen. Er legte sich ins Bett und blieb fünf Tage ohne Bewußtsein, von einem Kopffieber bedroht, das glücklicherweise energisch bekämpft wurde. Als er das Bewußtsein wieder erlangte, sah er Lisa zu Häupten seines Bettes, wie sie geräuschlos mit einem Löffel in einer Tasse rührte. Als er ihr danken wollte, sagte sie ihm, er solle sich ruhig verhalten, man werde später reden. Nach weiteren drei Tagen war der Kranke auf den Beinen. Eines Morgens holte ihn Quenu und sagte ihm, Lisa erwarte sie in ihrem Zimmer.

Sie hatten im ersten Stockwerk eine Wohnung inne, die aus drei Zimmern und einem Kabinett bestand. Man mußte ein kahles Zimmer durchschreiten, wo nur Stühle standen, dann einen kleinen Salon, dessen Möbel, mit weißen Hüllen überzogen, in dem Halblicht der stets zugezogenen Vorhänge schlummerten, damit nicht das allzu helle Licht die zartblaue Farbe des Ripsstoffes verderbe. Schließlich gelangte man in das Schlafzimmer, das einzige bewohnte Gemach, das mit Mahagonimöbeln sehr anständig eingerichtet war. Das Bett war besonders auffallend mit seinen vier Matratzen, seinen vier Kopfkissen, seinen schweren Bettdecken, seinem Eiderdaunenpolster und seiner behaglichen Stille in diesem warmen Alkoven. Es war ein Bett, so recht zum Schlafen gemacht. Der Spiegelschrein, der Toilettekasten, das mit einer Häkelspitze bedeckte runde Tischchen, die mit gestickten Schutztüchern bekleideten Sessel zeugten von einem sauberen und soliden bürgerlichen Luxus. An der linksseitigen Wand zu beiden Seiten des Kamins, den bemalte Vasen und eine Stutzuhr zierten, letztere einen in Gedanken versunkenen, den Finger auf ein Buch stützenden Gutenberg in Goldbronze darstellend, hingen die in Öl gemalten Bilder Quenus und Lisas in ovalen, reich verzierten Rahmen. Quenu lächelte auf dem Bilde, Lisa blickte sehr schicklich drein; beide waren schwarz gekleidet, das Gesicht sehr sauber, wie in einem flüssigen Rosa verdünnt, sehr schmeichelhaft gezeichnet. Ein Teppich, auf dem Rosetten mit Sternen abwechselten, bedeckte die Dielen. Vor dem Bette lag ein Moosteppich aus Krauswolle, den die schöne Wursthändlerin mit großer Geduld an ihrem Zahlpulte verfertigt hatte. Was inmitten all dieser neuen Dinge auffiel, war ein an die rechte Wand gelehnter, großer, viereckiger, niedriger Schreibtisch, den man hatte frisch anstreichen lassen, ohne die Risse in der Marmorplatte, noch die Schrammen in dem vor Alter geschwärzten Holz ausbessern lassen zu können. Lisa hatte durchaus dieses Möbelstück behalten wollen, das dem Onkel Gradelle vierzig Jahre lang gedient hatte; sie sagte, es werde ihnen Glück bringen. In Wahrheit hatte der Tisch furchtbare Eisenbeschläge, ein Vexierschloß und war so schwer, daß man ihn nicht von der Stelle rücken konnte.

Als Quenu und Florent eintraten, saß Lisa vor dem aufgeklappten Pulte des Tisches und schrieb, reihte Ziffer an Ziffer in ihrer runden, großen, sehr leserlichen Schrift. Die beiden Männer nahmen Platz. Florent betrachtete überrascht das Zimmer, die beiden Bilder, die Uhr, das Bett.

Also, hören Sie, sprach Lisa, nachdem sie eine ganze Seite voll Ziffern noch einmal ruhig nachgerechnet hatte. Wir haben Ihnen Rechnung zu legen, mein lieber Florent.

Es war das erstemal, daß sie ihn so nannte. Sie nahm das mit Ziffern beschriebene Blatt und fuhr fort:

Ihr Oheim Gradelle ist ohne Testament gestorben; Sie und Ihr Bruder sind die zwei einzigen Erben ... Wir müssen Ihnen jetzt Ihren Anteil herausgeben.

Ich verlange nichts! ... rief Florent. Ich will nichts.

Quenu schien die Absichten seiner Frau nicht zu kennen. Er war ein wenig blaß geworden und betrachtete sie mit verdrossener Miene. Fürwahr, er liebte seinen Bruder sehr; aber es war unnötig, ihm so das Erbe nach dem Onkel an den Kopf zu werfen. Man konnte ja später sehen.

Ich weiß wohl, mein lieber Florent, hub jetzt Lisa wieder an, daß Sie nicht zurückgekommen sind, um zu fordern, was Ihnen gebührt. Allein, Geschäft ist Geschäft; es ist besser, sogleich damit fertig zu werden ... Die Ersparnisse Ihres Oheims machten fünfundachtzigtausend Franken aus. Ich habe denn zweiundvierzigtausendfünfhundert Franken auf Ihre Rechnung geschrieben. Da, sehen Sie.

Sie zeigte ihm die Ziffer auf dem Blatt Papier.

Weniger leicht ist es, den Laden mit den Vorräten, mit der Einrichtung und der Kundschaft abzuschätzen. Ich habe nur annäherungsweise Summen annehmen können; aber ich glaube alles reichlich gerechnet zu haben. So habe ich eine Summe von fünfzehntausenddreihundertundzehn Franken herausgebracht, was für Ihren Teil siebentausendsechshundertfünfundfünfzig Franken ausmacht. Rechnen Sie nach!

Sie hatte diese Ziffern mit klarer Stimme herabgelesen und reichte ihm jetzt das Blatt Papier.

Aber, rief Quenu, der Laden des Alten war nimmermehr fünfzehntausend Franken wert; ich hätte nicht zehntausend dafür gegeben.

Seine Frau ärgerte ihn schließlich. Man braucht die Rechtschaffenheit nicht so weit zu treiben. Hatte denn Florent vom Laden ein Wort erwähnt? Er verlangte überhaupt nichts ... er hatte es ja gesagt.

Der Laden war fünfzehntausenddreihundertundzehn Franken wert, wiederholte Lisa ruhig ... Sie begreifen, mein lieber Florent, es ist unnötig, einen Notar in diese Sache einzuweihen. Da Sie wieder zum Leben erwacht sind, müssen wir teilen. Als Sie ankamen, dachte ich sogleich an die Sache und während Sie oben im Fieber lagen, habe ich dieses Inventar aufgenommen, so gut ich eben konnte ... Sie sehen, es ist darin alles einzeln angeführt; ich habe in unseren alten Büchern nachgeschlagen und habe mein Gedächtnis zu Hilfe genommen. Lesen Sie laut, ich werde Ihnen alle Aufklärungen geben, die Sie wünschen können.

Florent lächelte schließlich; er war gerührt von dieser behaglichen, gleichsam natürlichen Rechtschaffenheit. Er legte das Blatt mit den Rechnungen auf die Knie Lisas, nahm ihre Hand und sagte:

Meine liebe Lisa, ich bin glücklich zu sehen, daß ihr gute Geschäfte machet; aber ich will euer Geld nicht. Die Erbschaft gehört meinem Bruder und Ihnen, die Sie den Onkel bis zu seinem Ende gepflegt haben ... Ich brauche nichts und will euch in eurem Handel nicht stören.

Sie blieb aber beharrlich, ereiferte sich sogar, während Quenu, sich Gewalt antuend, an den Fingernägeln kaute.

Ei, sagte Florent lachend, wenn der Onkel Gradelle Sie hörte, wäre er imstande, sein Geld zurückzunehmen, denn er liebte mich nicht sehr, der Onkel Gradelle.

Nein, wahrhaftig, er liebte dich nicht, brummte Quenu, der nicht länger an sich halten konnte.

Doch Lisa ließ nicht locker. Sie sagte, sie wolle kein Geld in ihrem Kasten haben, das nicht ihr gehöre; es würde sie bekümmern und sie könnte mit diesem Gedanken nicht mehr ruhig leben. Da machte Florent immer im Tone des Scherzes ihr den Vorschlag, sein Geld in ihrem Wursthandel anzulegen. Übrigens wolle er ihre Dienste nicht zurückweisen; er werde sicherlich nicht sogleich Arbeit finden; auch könne er sich den Leuten gar nicht vorstellen; er müsse einen ganz neuen Anzug haben.

Aber gewiß! rief Quenu; du schläfst und ißt bei uns und wir kaufen dir alles Nötige. Abgemacht. Du weißt wohl, daß wir dich nicht auf der Straße lassen werden. Alle Wetter! ...

Er war völlig gerührt. Er schämte sich sogar einigermaßen, daß er einen Augenblick davor zurückgeschreckt sei, eine allzu große Summe mit einemmal herzugeben. Er machte allerlei Scherze und sagte seinem Bruder, daß er es übernehme, ihn fett zu machen. Dieser schüttelte sachte den Kopf. Inzwischen faltete Lisa das Blatt mit den Rechnungen zusammen; sie legte es in ein Schubfach des Schreibtisches.

Sie haben unrecht, sagte sie gleichsam zum Schluß. Ich habe getan, was ich tun mußte. Nunmehr soll es sein, wie Sie wollen ... Ich hätte nicht in Ruhe leben können, ohne es zu tun. Die schlechten Gedanken rauben mir meinen Seelenfrieden.

Sie sprachen von anderen Dingen. Es galt nunmehr, die Anwesenheit Florents zu erklären, ohne die Aufmerksamkeit der Polizei auf ihn zu lenken. Er erzählte ihnen, daß er nach Frankreich mit Hilfe der Papiere eines armen Teufels zurückgekehrt sei, der zu Surinam in seinen Armen am gelben Fieber gestorben. Vermöge eines sonderbaren Zufalls hieß jener Mann ebenfalls Florent, aber mit dem Vornamen. Florent Laguerrière hatte in Paris nur eine Base zurückgelassen, deren Ableben man ihm nach Amerika gemeldet hatte. Unter solchen Umständen war es sehr leicht, seine Rolle zu spielen. Lisa machte sich erbötig, die Base zu sein. Man vereinbarte eine Geschichte von einem Vetter, der nach allerlei fehlgeschlagenen Unternehmungen aus dem Auslande zurückgekehrt und von der Familie Quenu-Gradelle – so nannte man sie in dem Stadtviertel – aufgenommen sei, bis er eine Stellung gefunden habe. Als so alles geordnet war, bestand Quenu darauf, daß sein Bruder die Wohung besichtige; nicht den letzten Sessel ersparte er ihm. In dem kahlen Zimmer, wo nur Stühle standen, öffnete Lisa die Tür eines Kabinetts und sagte ihm, das Ladenmädchen werde hier schlafen, während er selbst die Schlafkammer des Mädchens im fünften Stockwerke bekommen solle.

Am Abend war Florent vom Kopfe bis zu den Füßen neu gekleidet. Er hatte es sich wieder in den Kopf gesetzt, einen schwarzen Rock und ein schwarzes Beinkleid zu wählen, trotz der Abmahnungen Quenus, den diese Farbe düster stimmte. Man hielt ihn nicht mehr versteckt; Lisa erzählte jedem, wer sie hören wollte, die Geschichte von dem Vetter. Er lebte fortan in dem Wurstladen, saß stundenlang in Gedanken vertieft auf einem Sessel in der Küche und kam dann wieder in den Laden, um sich da an eine Marmorwand zu lehnen. Bei Tische fütterte ihn Quenu, regte sich auf, weil Florent ein schwacher Esser war und die Hälfte der Fleischspeisen, die man ihm vorlegte, auf dem Teller liegen ließ. Lisa hatte ihr bedächtiges und behagliches Benehmen wieder angenommen; sie duldete ihn selbst am Vormittag, wenn er bei der Bedienung der Kunden im Wege war; sie vergaß seiner; wenn sie ihn ganz schwarz vor sich sah, fuhr sie wohl ein wenig zusammen, fand aber dennoch ein Lächeln, um ihn nicht zu kränken. Die Uneigennützigkeit dieses mageren Mannes hatte sie überrascht. Sie empfand vor ihm eine gewisse Achtung, gemischt mit einer unbestimmten Furcht. Florent sah sich von großer Liebe umgeben.

Wenn Schlafenszeit kam, ging er – ganz müde von seinem in Untätigkeit verbrachten Tage – mit den zwei Metzgerburschen hinauf, die die Dachstuben neben ihm bewohnten. Der Lehrling, Léon mit Namen, war erst fünfzehn Jahre alt; er war noch ein Kind, schmächtig, sehr still, und stahl die Abschnitzel von den Schinken und Würsten, die er unter seinem Kopfpolster verbarg und des Nachts ohne Brot verzehrte. Mehrmals glaubte Florent zu vernehmen, daß Leon gegen ein Uhr nachts jemandem ein Nachtessen gebe; verhaltene Stimmen flüsterten, dann kam ein Geräusch wie von kauenden Kinnbacken und zerknittertem Papier und es gab ein, perlendes Lachen, das Lachen eines Kindes, das in der tiefen Stille des schlafenden Hauses einem leisen Flötentriller glich. Der andere Bursche, August Landois, war von Troyes; obgleich erst achtundzwanzig Jahre alt, war er einer gesunden Verfettung verfallen und hatte einen unnatürlich großen, schon kahlen Kopf. Gleich am ersten Abend, während sie hinaufgingen, erzählte er Florent seine Geschichte in sehr weitschweifiger und verworrener Weise. Er sei zuerst nur nach Paris gekommen, um sich in seinem Handwerk zu vervollkommnen und dann in Troyes, wo seine Base namens Augustine Landois seiner harrte, einen Metzger laden zu eröffnen. Sie hatten denselben Paten gehabt und führten denselben Taufnamen. Später habe ihn der Ehrgeiz erfaßt; er träumte davon, sich in Paris selbständig zu machen. Die Mittel dazu werde ihm sein mütterliches Erbe bieten, das er, bevor er die Champagne verlassen, bei einem Notar hinterlegt hatte. Im fünften Stockwerk hielt August Florent noch eine Weile zurück, um ihm viel Gutes von Frau Quenu zu sagen. Sie hatte Auguste Landois kommen lassen und sie zur Ladenmamsell genommen statt der früheren, die sich einem schlechten Lebenswandel ergeben. Er kannte jetzt sein Handwerk, während sie sich in der Geschäftsführung vervollkommnete. In einem Jahre oder anderthalb Jahren wollten sie heiraten und in irgendeiner volkreichen Vorstadt von Paris einen Metzgerladen auftun. Sie haben sich nicht beeilt mit dem Heiraten, weil dieses Jahr der Speck nicht gut geraten war. Er erzählte weiter, daß sie bei einem Kirchweihfeste in Saint-Quen sich zusammen haben photographieren lassen. Dann trat er in das Mansardenstübchen ein, weil er neugierig war, die Photographie wiederzusehen, die sie auf dem Kaminsims gelassen, damit der Vetter Quenus ein schönes Zimmer habe. Er verweilte da in Gedanken eine kurze Zeit, ganz fahl im gelben Lichte seiner Kerze, sah sich im Zimmer um, das noch des Mädchens ganz voll war, näherte sich dem Bette und fragte Florent, ob er gut schlafe. Augustine schlafe jetzt unten; sie sei dort besser untergebracht, denn die Dachstuben seien im Winter sehr kalt. Endlich ging er, Florent mit dem Bett und der Photographie allein lassend ... August war ein bleicher Quenu, Augustine eine unreife Lisa.

Florent, mit den Metzgerburschen befreundet, von seinem Bruder verhätschelt, von Lisa gut aufgenommen, langweilte sich am Ende furchtbar. Er hatte Unterrichtsstunden gesucht, aber keine gefunden. Er vermied es übrigens, in das Schulenviertel zu gehen, wo er erkannt zu werden fürchtete. Lisa bemerkte ihm ruhig, er tue gut, sich an die Handlungshäuser zu wenden, er könne die Bücher und die Korrespondenz führen. Sie kam immer wieder auf diesen Gedanken zurück und machte sich schließlich erbötig, einen Platz zu finden. Es verdroß sie allmählich, ihn immer wieder müßig und unbeholfen auf ihrem Wege zu finden. Anfänglich war es nur der begründete Haß gegen Leute, die die Hände in den Schoß legen und essen; sie dachte noch nicht daran, ihm vorzuwerfen, daß er bei ihr esse. Sie sagte ihm:

Ich könnte nicht so den Tag verträumen. Sie können am Abend keinen rechten Hunger haben ... Man muß etwas tun, sich abmühen ...

Auch Gavard suchte einen Platz für Florent; aber er suchte in einer ganz absonderlichen, durchaus geheimen Weise. Er suchte ein Amt von dramatischer Bedeutung, oder ein Amt, in dem ein »bitterer Hohn« lag, wie es sich für einen »Geächteten« paßt. Gavard war ein Oppositionsmann. Er hatte die Fünfzig überschritten und rühmte sich, schon vier Regierungen seine Meinung gesagt zu haben. Karl X., die Priester, die Adeligen, dieses ganze Gesindel, das er an die Luft gesetzt, tat er mit einem Achselzucken ab. Ludwig Philipp mit seinen Spießern war ein Tölpel, und er erzählte die Geschichte von den wollenen Strümpfen, in denen der Bürgerkönig seine Taler versteckt hielt. Die Republik vom Jahre 1848 war eine Komödie; die Arbeiter hatten sie betrogen; aber er gestand nicht mehr, daß er dem 2. Dezember Beifall geklatscht, denn er betrachtete jetzt Napoleon III. als seinen persönlichen Feind, als einen Hundsfott, der sich mit Morny und den anderen einschließt, um zu schmausen. Mit diesem Kapitel konnte er gar nie fertig werden; er dämpfte ein wenig die Stimme und versicherte, daß jeden Abend geschlossene Wagen Frauen nach den Tuilerien bringen und daß er – er, der da mit dir spricht – eines Nachts vom Karussellplatz den Lärm der Gelage gehört habe. Gavards Glaubensbekenntnis lautete: der Regierung so unangenehm wie möglich zu werden. Er spielte ihr grausame Streiche, über die er Monatelang im geheimen lachte. Vor allem stimmte er für den Abgeordneten, der im gesetzgebenden Körper den Ministern das Leben sauer machen sollte. Wenn er den Fiskus bestehlen, die Polizei irreführen, irgendeinen Krawall hervorrufen konnte, trachtete er das »Abenteuer« so aufrührerisch wie möglich zu machen. Er log übrigens, spielte sich auf den gefährlichen Mann auf und redete so, als ob »dieser Troß in den Tuilerien« ihn gekannt und vor ihm gezittert habe; er sagte, die Hälfte dieser Halunken müsse geköpft, die andere Hälfte »mit dem nächsten Schinderkarren« verbrannt werden. So war seine ganze geschwätzige und heftige Politik voll Großsprechereien, fabelhaften Geschichten in dem Bedürfnis nach Lärm und Spaß, das den Pariser kleinen Geschäftsmann dazu treibt, bei Straßenkämpfen den Fensterflügel zu öffnen, um die Toten zu sehen. Als Florent von Cayenne zurückkam, witterte unser Gavard einen Hauptspaß und sann darüber nach, wie er in einer ganz besonders findigen Weise sich über den Kaiser, das Ministerium und die Beamten, bis hinab zum letzten Polizisten, lustig machen könnte.

Das Betragen Gavards Florent gegenüber war das eines Mannes, der verbotene Freuden genießt. Er betrachtete ihn mit geheimnisvoll zwinkernden Augen, sprach im Flüstertone, um ihm die einfachsten Dinge von der Welt zu sagen und legte in seine Händedrücke eine freimauererische Heimlichkeit. Endlich hatte er ein Abenteuer gefunden, endlich hatte er einen wirklich bloßgestellten Kameraden und konnte, ohne allzustark zu lügen, von den Gefahren reden, die er lief. Er fühlte ohne Zweifel eine uneingestandene Furcht angesichts dieses Menschen, der aus dem Sklavenhause zurückkam und dessen Magerkeit seine langen Leiden kündete; aber diese köstliche Furcht hob ihn in den eigenen Augen und brachte ihm die Überzeugung bei, daß er etwas sehr Erstaunliches tue, wenn er diesen sehr gefährlichen Menschen als Freund aufnehme. Florent ward ihm heilig; er schwor nur mehr bei Florent und er nannte Florent, wenn ihm die Gründe ausgingen und er die Regierung ein für allemal vernichten wollte.

Gavard hatte in der Jakobstraße einige Monate nach dem Staatsstreiche seine Frau verloren. Er behielt die Ausbraterei bis zum Jahre 1856. Zu jener Zeit erzählte man sich, er habe ansehnliche Summen gewonnen, indem er in Gemeinschaft mit einem Gewürzkrämer trockene Gemüse für die Orientarmee lieferte. Die Wahrheit war, daß er die Ausbraterei verkauft und ein Jahr lang von seinen Renten gelebt hatte. Aber er sprach nicht gern von dem Ursprung seines Vermögens; dies hinderte ihn, rundheraus seine Meinung über den Krimkrieg zu sagen, den er »ein abenteuerliches Unternehmen« nannte, »nur in Szene gesetzt, um den Thron zu festigen und gewissen Leuten die Taschen zu füllen«. Nach Verlauf eines Jahres langweilte er sich tödlich in seiner Junggesellenwohnung. Da er dem Ehepaar Quenu-Gradelle fast täglich seinen Besuch machte, zog er näher zu ihnen in die Cossonnerie-Straße. Da verlockten ihn die Markthallen mit ihrem Lärm und ihrem riesigen Getratsche. Er entschloß sich, einen Verkaufsplatz in der Geflügelabteilung zu mieten, bloß um sich zu zerstreuen, um seine müßigen Tage mit dem Marktgetriebe auszufüllen. Nun lebte er in endlosem Klatsch auf dem laufenden über die geringsten Skandale des Stadtviertels, ihm summte der Kopf von dem ewigen Stimmengewirre, das ihn umgab. Er genoß da vergnügt tausend selige Freuden, denn er hatte sein Element gefunden und versenkte sich darin mit der Wollust eines Karpfens, der im Sonnenschein dahin schwimmt. Florent erschien manchmal in seinem Stande, um ihm guten Tag zu sagen. Die Nachmittage waren noch sehr warm. Die Weiber saßen in den schmalen Gängen und rupften Geflügel. Zwischen den zurückgeschlagenen Zeltdächern fielen einzelne Sonnenstrahlen hernieder; die Federn flogen unter den rupfenden Fingern gleich einem flatternden Schnee in der heißen Luft, in dem Goldstaub der Sonnenstrahlen. Zurufe, ein ganzer Zug von Angeboten und Schmeichelworten folgten Florent auf seinem Wege. »Eine schöne Ente, mein Herr ... Kommen Sie hierher ... Ich habe schöne, fette Hühner ... Mein Herr, kaufen Sie dieses Paar Tauben ...« Belästigt, betäubt trachtete er loszukommen. Die Weiber fuhren fort zu pflücken und zu streiten; ein Flaumenregen ging auf ihn nieder und erstickte ihn schier gleich einem Rauch, gleichsam erhitzt und verdichtet durch den starken Geruch des Geflügels. Endlich fand er in der Mitte des Ganges nahe bei den Brunnen Gavard in Hemdärmeln, die Arme über den Brustlatz seiner blauen Schürze gekreuzt, vor seinem Stande in eifrigem Reden begriffen. Hier herrschte Gavard mit der Miene eines gütigen Herrn inmitten einer Gruppe von zehn oder zwölf Weibern. Er war der einzige Mann auf dem Markte. Er war ein solcher Schwätzer, daß er, nachdem er mit vier oder fünf Mädchen, die er nacheinander zur Führung seines Standes genommen, sich überworfen hatte, sich entschloß, seine Ware selber zu verkaufen, indem er einfach erklärte, daß diese dummen Gänse den ganzen langen, lieben Tag verträtschen und daß er mit ihnen nicht auskommen könne. Da aber jemand seinen Standplatz hüten mußte, wenn er sich entfernte, hatte er Marjolin zu sich genommen, der sich auf dem Straßenpflaster herumtrieb, nachdem er mit allerlei kleinen Verrichtungen in den Hallen sein Glück versucht hatte. Florent blieb oft eine Stunde bei Gavard, erstaunt über sein unerschöpfliches Klatschen und über sein Behagen inmitten all dieser Weiber, der einen das Wort abschneidend, mit der anderen in einer Entfernung von zehn Ständen sich zankend, einer dritten einen Käufer wegnehmend, für sich allein mehr Lärm machend, als die hundert und etlichen Nachbarinnen, deren Geschrei die gußeisernen Platten erzittern ließ, daß sie tönten wie ein Tamtam.

Die Familie des Geflügelhändlers bestand aus einer Schwägerin und einer Nichte. Als seine Frau starb, ward sie von der älteren Schwester derselben, der seit einem Jahre verwitweten Frau Lecoeur, in einer geradezu übertriebenen Weise beweint; fast jeden Abend erschien sie, um dem unglücklichen Gatten Worte des Trostes zu spenden. Sie mochte damals die Hoffnung nähren, ihm zu gefallen und den noch warmen Platz der Verstorbenen einzunehmen. Allein Gavard verabscheute die mageren Weiber; er sagte, es verursache ihm Schmerz, die Knochen unter der Haut zu fühlen; mit Katzen und Hunden spielte er nur, wenn sie sehr fett waren; er fand ein ganz besonderes Vergnügen an den runden, wohlgenährten Hälsen. Frau Lecoeur war dadurch verletzt, wütend darüber, daß die Hundertsousstücke des Ausbraters ihr entgingen, faßte sie tödliche Rachsucht gegen ihn. Ihr Schwager war der Feind, mit dem sie ihre ganze Zeit ausfüllte. Als sie sah, daß er in den Hallen sich niederließ, zwei Schritte von dem Pavillon, wo sie Butter, Käse und Eier verkaufte, beschuldigte sie ihn, er habe dies nur ersonnen, »um sie zu necken und um ihr Unglück zu bringen«. Seit jener Zeit hörte sie nicht auf zu jammern, wurde noch gelber vor Neid und Ärger und gebärdete sich so toll, daß sie schließlich in der Tat ihre Kundschaft verlor und schlechte Geschäfte machte. Sie hatte lange Zeit die Tochter einer Schwester bei sich behalten, einer Bäuerin, die ihr die Kleine sandte, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Die Kleine wuchs inmitten der Hallen heran. Ihr Familienname war Sarriet, darum nannte man sie kurzweg die Sarriette. Mit sechzehn Jahren war die Sarriette eine so ausgelassene Dirne, daß feine Herren bei ihr Käse kaufen kamen, bloß um sie zu sehen. Aber sie wollte von den feinen Herren nichts wissen; sie war ein Kind des Volkes mit ihrem braunen Gesichte und ihren gleich glühenden Kohlen funkelnden Augen. Sie wählte einen Träger, einen Burschen aus Ménilmontant, der die Aufträge ihrer Tante besorgte. Als sie mit zwanzig Jahren einen Obsthandel eröffnete, – was sie mit Hilfe einiger Geldmittel tat, deren Quelle ein Geheimnis blieb – begann ihr Liebhaber. Jules mit Namen, seine Hände besser zu pflegen, trug reinlichere Blusen und eine Samtmütze, und kam nur des Nachmittags in die Hallen, mit Pantoffeln und nicht mit Stiefeln an den Füßen. Sie wohnten zusammen in der Vauvilliers-Straße, im dritten Stock eines großen Hauses, in dessen Erdgeschoß ein verdächtig aussehendes Kaffeehaus war. Der Undank der Sarriette verbitterte Frau Lecoeur vollends; sie behandelte das Mädchen mit einer Wut, die sich in unflätigen Worten Luft machte. Sie kamen in Groll gegeneinander; die Tante war verbittert, die Nichte erfand allerlei Geschichten, die Herr Jules im Butterpavillon in Umlauf setzte. Gavard fand die Sarriette drollig; er zeigte sich nachsichtig gegen sie, streichelte ihr die Wangen, wenn er sie traf; sie war fett und lieblich geformt.

Als eines Nachmittags Florent im Wurstladen saß, ganz müde von den vergeblichen Wegen, die er vormittags auf der Suche nach einer Anstellung gemacht hatte, trat Marjolin ein. Der große Bursche mit seiner vlämischen Schwerfälligkeit und Ruhe war ein Schützling Lisas. Sie sagte, er sei nicht bösartig, ein wenig einfältig, stark wie ein Pferd und übrigens sehr interessant, da man weder seinen Vater, noch seine Mutter kannte. Sie hatte ihn bei Gavard untergebracht.

Lisa saß am Zahlpulte, verdrossen über die schmutzigen Stiefel Florents, die die blanken Fliesen beschmutzten. Zweimal schon hatte sie sich erhoben, um Sägestaub in den Laden aufzustreuen. Sie empfing den eintretenden Marjolin mit einem freundlichen Lächeln.

Herr Gavard – sagte der Bursche – sendet mich, um Sie zu fragen ...

Er hielt inne, blickte um sich und fuhr dann mit gedämpfter Stimme fort:

Er hat mir empfohlen zu warten, bis niemand da sei und Ihnen dann erst folgende Worte zu sagen, die ich auswendig lernen mußte: »Frage sie, ob keine Gefahr drohe, und ob ich kommen kann, um mit ihnen von der bewußten Sache zu sprechen.«

Sage Herrn Gavard, daß wir ihn erwarten, antwortete Lisa, die an die geheimnisvolle Art des Geflügelhändlers schon gewöhnt war.

Aber Marjolin ging noch nicht; entzückt mit einer Miene schmeichelnder Unterwürfigkeit blieb er vor der schönen Metzgersfrau stehen. Gleichsam gerührt von dieser stummen Bewunderung, fuhr Lisa fort:

Gefällt es dir bei Herrn Gavard? Er ist ein guter Mann; du mußt trachten, ihn zufrieden zu stellen.

Ja, Frau Lisa.

Du bist aber nicht recht gescheit; ich habe dich gestern wieder auf den Dächern der Markthallen herumklettern sehen, auch treibst du dich mit allerlei Lumpen und Dirnen herum. Du bist jetzt ein Mann und mußt an die Zukunft denken.

Ja, Frau Lisa.

Sie mußte jetzt einer Dame antworten, die ein Pfund Koteletten mit Gurken verlangte. Sie verließ ihren Sitz am Zahlpulte und begab sich zu dem Block im Hintergrunde des Ladens. Hier löste sie mit einem dünnen Messer drei Koteletten von einem Schweinsvorderviertel ab, erhob ein Hackmesser und führte mit ihrem nackten und kräftigen Arme drei dumpfe Schläge. Bei jedem Schlage hob sich rückwärts ein wenig ihr Kleid von schwarzem Merino, während die Fischbeine ihres Mieders unter dem straffen Zeug ihres Leibchens sich scharf abzeichneten. Mit ernster Miene, gespitzten Lippen und hellen Blicken nahm sie die Koteletten zusammen und wog sie langsam.

Als die Dame fort war und Lisa Marjolin bemerkte, der ihre mit dem Hackmesser so genau und kräftig geführten drei Schläge entzückten Auges mitangesehen hatte, rief sie:

Wie? Du bist noch immer da?

Als er den Laden verlassen wollte, hielt sie ihn noch einen Augenblick zurück.

Höre, sagte sie, wenn ich dich noch einmal mit dem kleinen Schmutzfink Cadine sehe! ... Leugne nicht! Heute morgen waret ihr wieder zusammen in der Kaldaunenabteilung, um Hammelsköpfe spalten zu sehen. Ich begreife nicht, wie ein hübscher Mensch deines Schlages an dieser Dirne Gefallen finden kann. Vorwärts, sage Herrn Gavard, er soll sofort kommen, so lange niemand da ist.

Marjolin ging verwirrt, mit verzweifelter Miene davon, ohne zu antworten.

Lisa blieb an ihrem Pulte stehen, den Kopf ein wenig nach der Seite der Hallen gewendet; Florent betrachtete sie stumm, erstaunt, sie so schön zu finden. Er hatte sie bisher schlecht gesehen; er hatte nicht den richtigen Blick für die Frauen. Sie erschien ihm jetzt über den auf dem Pulte aufgestellten Fleischschüsseln. Vor ihr standen in Schüsseln von weißem Porzellan angeschnittene Arleser und Lyoner Würste, Zungen und Pökelfleisch, Schweinskopf in Sülze, ein offener Napf mit kleinen Gurken, eine Büchse Sardinen, deren aufgeschnittener Blechdeckel das gelbe Öl sehen ließ, in dem die Fischchen lagen; dann rechts und links auf Brettern Lebersülze, Schweinssülze, ein gewöhnlicher Schinken von zartroter Farbe, ein blutroter Yorker Schinken mit breiter Fettschicht. Es waren noch andere runde und ovale Schüsseln da mit Räucherzungen, getrüffelter Gelatine, Schweinskopf mit Pistazien; näher bei ihr, besser zur Hand standen gespicktes Kälbernes, Gänseleberpastete, Hasenpastete in gelben Näpfen verwahrt. Da Gavard noch nicht kam, ordnete sie die Speckschnitten auf dem Marmortischchen, das neben dem Zahlpulte stand; sie stellte die mit Schweinefett und Bratenfett gefüllten Töpfe hübsch nebeneinander auf, reinigte die Schalen der beiden Wagen, betastete den Schmorofen, dessen Feuer auszugehen drohte; dann drehte sie den Kopf wieder und blickte nach den Hallen hinüber. Der Geruch aller Fleischspeisen stieg empor; sie war wie eingehüllt in diesen stillen Frieden, in den Duft der Trüffeln. An jenem Tage war sie herrlich frisch; die Weiße ihrer Schürze und ihrer Ärmel war gleichsam eine Fortsetzung der Weiße der Schüsseln bis zu ihrem fetten Halse, bis zu den rosigen Wangen, wo die zarten Farben der Schinken und die durchsichtige Weiße der Fette sich wiederholten. Immer schüchterner, je länger er sie ansah, beunruhigt durch diese ebenmäßig geformte Schulterbreite, begann Florent schließlich, sie verstohlen in den Spiegeln rings in dem Laden zu betrachten. Man sah sie darin vom Rücken, von vorne, von der Seite; selbst an der Decke fand er sie wieder, mit dem Kopfe nach unten, mit ihrem knapp geschürzten Haarknoten, ihrem glatt gescheitelten, über die Schläfen gestrichenen Haar. Es war eine Menge von Lisen da, die die Breite der Schultern, den mächtigen Ansatz der Arme, die runde Brust zeigten, die so ruhig und so gespannt war, daß sie keinen lüsternen Gedanken wachrief und einem Bauche glich. Seine Blicke hielten inne; er fand besonders Gefallen an einem ihrer Profile, das er in einem Spiegel neben sich zwischen zwei Schweinsseiten sah. Längs der Marmortafeln und der Spiegel hingen an gekrümmten Nägeln große Stücke Schweinefleisch und Speckschnitten; und das Profil Lisas mit ihrem kräftig gebauten Nacken, ihren runden Linien, ihrem vorspringenden Busen war gleichsam das Bild einer in diesen Fleisch- und Fettmassen verdickten Königin. Dann neigte die schöne Metzgerin sich vor und lächelte den zwei Goldfischen zu, die in dem Aquarium des Schaufensters unaufhörlich herumschwammen.

Jetzt trat Gavard ein. Er holte mit wichtig tuender Miene Quenu aus der Küche. Als er schräg auf einem Marmortischchen Platz genommen hatte, während Florent auf seinem Sessel, Lisa an ihrem Zahlpulte saß und Quenu an eine Schweinshälfte gelehnt stehen blieb, kündigte er endlich an, daß er für Florent eine Stelle gefunden habe, daß es einen Hauptspaß geben werde und die Regierung genasführt werden solle.

Doch er hielt inne, als er Fräulein Saget eintreten sah, die die Tür öffnete, nachdem sie von der Straße aus die zahlreiche Gesellschaft gesehen hatte, die im Laden der Quenu-Gradelle sich unterhielt. Die kleine Alte in ihrem abgeschossenen Kleide, mit ihrem unvermeidlichen schwarzen Handkorbe, mit dem bänderlosen, schwarzen Strohhut auf dem Kopfe, der ihr weißes Gesicht in einen tückischen Schatten hüllte, nickte den Männern einen leisen Gruß zu und hatte für Lisa ein spitzes Lächeln. Sie war eine Bekannte; sie wohnte noch immer in dem Hause der Pirouette-Straße, wo sie seit vierzig Jahren lebte ohne Zweifel von einer kleinen Rente, von der sie niemals sprach. Eines Tages hatte sie Cherbourg als ihren Geburtsort genannt, mehr hatte man darüber nie erfahren. Sie sprach nur von anderen Leuten, schilderte haarklein ihr Leben bis auf die Zahl der Hemden, die sie monatlich waschen ließen, und trieb das Bedürfnis, in die Existenz der Nachbarn einzudringen, so weit, daß sie imstande war, an den Türen zu horchen und Briefe zu entsiegeln. Ihre Zunge war gefürchtet von der Dionysius-Straße bis zur Jean Jacques Rousseau-Straße und von der Honorius-Straße bis zur Mauconseil-Straße. Den ganzen lieben Tag strich sie herum mit ihrem leeren Korbe unter dem Vorwande, ihre Einkäufe zu machen, ohne aber etwas zu kaufen; sie verbreitete die Nachrichten, hielt sich auf dem laufenden über die unbedeutendsten Vorkommnisse. So geschah es, daß sie die vollständige Geschichte aller Häuser, aller Stockwerke, aller Leute des Stadtviertels im Kopfe hatte. Quenu hatte sie stets beschuldigt, daß sie die Nachricht von dem vor dem Hackblock erfolgten Tode des Onkels Gradelle verbreitet hatte; seit jener Zeit grollte er ihr. Sie war übrigens über den Onkel Gradelle und die Eheleute Quenu gut beschlagen; sie zerlegte sie, faßte sie an allen Enden, kannte sie auswendig. Aber seit zwei Wochen war sie durch die Ankunft Florents irre gemacht; das Fieber der Neugierde verzehrte sie schier darob. Sie ward krank, wenn in ihren Kenntnissen eine Lücke entstand; und doch hätte sie schwören mögen, daß sie diesen langen »Grapsen« schon irgendwo gesehen habe.

Sie blieb vor dem Zahlpulte stehen, betrachtete die Schüsseln, eine nach der anderen, und sagte mit ihrer dünnen Stimme:

Man weiß nicht mehr, was man essen soll. Wenn der Abend kommt, zerbreche ich mir den Kopf wegen des Essens ... Und dann habe ich nach gar nichts Verlangen ... Haben Sie noch panierte Koteletten, Frau Quenu?

Ohne die Antwort abzuwarten, hob sie einen der Deckel von dem Schmorofen empor. Es war die Seite der Fleischwürste, Blutwürste und Bratwürste. Die Kohlenpfanne war kalt; es war nur mehr eine Plattwurst da, die man auf dem Roste vergessen hatte.

Sehen Sie auf der anderen Seite nach, Fräulein Saget, sagte die Metzgersfrau. Ich glaube, es ist noch eine Kotelette da.

Nein, ich mag das nicht, brummte die kleine Alte, warf aber dennoch einen Blick unter den andern Deckel. Ich hatte mich so darauf gespitzt, aber die panierten Koteletten sind am Abend doch zu schwer ... Ich will lieber etwas nehmen, was ich nicht erst wärmen muß.

Sie hatte sich nach der Seite gewandt, wo Florent saß, betrachtete diesen und betrachtete Gavard, der mit den Fingern auf der Marmorplatte trommelte, und ermunterte sie mit einem Lächeln, in ihrer Unterredung fortzufahren.

Warum nehmen Sie nicht ein Stück Pökelfleisch?

Ein Stück Pökelfleisch? Ja, das ist's ...

Sie nahm die Gabel, die am Rande der Schüssel lag und stocherte damit in der Schüssel herum, jedes einzelne Stück anstechend und bis zum Knochen eindringend, um die Dicke des Fleisches zu prüfen, wandte die Stücke hin und her und sagte endlich:

Nein, auch das sagt mir nicht zu.

Dann nehmen Sie eine Zunge, ein Stück Schweinskopf, eine Schnitte gespicktes Kalbfleisch, sagte die Metzgersfrau geduldig.

Doch Fräulein Saget schüttelte nur den Kopf. Sie blieb noch einen Augenblick da und betrachtete die Schüsseln mit angewiderter Miene. Als sie sah, daß man hartnäckig schwieg und daß sie nichts erfahren werde, ging sie mit den Worten:

Nein; ich wollte eine panierte Kotelette; die Sie noch haben, ist aber zu fett. Ein andermal ...

Lisa neigte sich vor, um ihr zwischen den Vorhängen des Schaufensters nachzublicken. Sie sah sie quer über die Straße gehen und den Obstpavillon betreten.

Die alte Vettel! brummte Gavard.

Als sie allein waren, erzählte er, welchen Platz er für Florent gefunden habe. Es war eine ganze Geschichte. Einer seiner Freunde, Herr Verlaque, Aufseher in der Abteilung für Seefische, war so sehr leidend, daß er sich gezwungen sah, einen Urlaub zu nehmen. Am Morgen des nämlichen Tages hatte der arme Mann ihm gesagt, wie sehr es ihm erwünscht sei, wenn Gavard einen Stellvertreter für ihn wisse, damit er – Verlaque – nach seiner Wiedergenesung seine Stelle wieder einnehmen könne.

Sie begreifen, sagte Gavard, Verlaque hat kaum sechs Monate mehr zu leben und Florent behält die Stelle. Es ist eine ganz hübsche Anstellung ... Und wir lassen dabei die Polizei »reinfallen«. Die Anstellung hängt nämlich von der Polizeiverwaltung ab. He, das wird ergötzlich sein, wenn Florent das Geld dieser Spitzel einsteckt!

Er lachte vergnügt; er fand es sehr komisch.

Ich mag diesen Platz nicht, erklärte Florent rundheraus. Ich habe geschworen, von dem Kaiserreich nichts anzunehmen. Lieber Hungers sterben, als in die Dienste der Polizei treten. Das ist unmöglich, hören Sie, Gavard?

Gavard hörte es und war ein wenig betroffen. Quenu senkte den Kopf. Lisa aber hatte sich umgewandt und blickte starr auf Florent, dabei schwoll ihr Nacken an und der Busen drohte das Leibchen zu sprengen. Sie wollte eben den Mund öffnen, als die Sarriette eintrat. Es entstand abermals Stillschweigen.

Ich habe vergessen, Speck zu kaufen, rief die Sarriette kichernd. Frau Quenu, schneiden Sie mir doch zwölf dünne Schnitten ab. Ich will Lerchen braten. Jules verlangt Lerchen. Sie befinden sich wohl, Onkel?

Der Laden war voll mit ihren fliegenden Röcken. Sie lächelte allen zu, war weiß wie Milch; der frische Wind der Hallen hatte auf einer Seite ihr Haar zerzaust. Gavard hatte sie bei den Händen gefaßt; sie aber sagte mit ihrer Keckheit:

Ich wette, daß Sie von mir sprachen, als ich eintrat. Was sagten Sie, Onkel?

Lisa rief sie zu sich.

Ist das dünn genug geschnitten? fragte sie.

Auf einem Brettende hatte sie Speck in dünne Schnitten zerlegt. Sie wickelte sie in Papier und fragte:

Wünschen Sie nichts anderes?

Wenn ich schon da bin, sagte die Sarriette, geben Sie mir ein Pfund Schweinefett. Ich liebe gebratene Kartoffeln; für zwei Sous gebratene Kartoffeln und ein Bund Radieschen geben für mich das beste Frühstück ... Ja, ein Pfund Schweinefett, Frau Quenu.

Die Metzgersfrau hatte ein Blatt dickes Papier auf die Wage gelegt. Aus dem auf einem Brett stehenden Topfe nahm sie mittelst eines kleinen Buchsbaumspatens das Fett und häufte es mit geschickter Hand auf dem Papier an, wo es ein wenig zu zerfließen begann. Als die Schale sich senkte, nahm sie das Papier, faltete es zusammen und drückte mit den Fingerspitzen die beiden Enden ein.

Das macht vierundzwanzig Sous und sechs Sous für den Speck macht dreißig Sous ... Wünschen Sie nicht anderes?

Die Sarriette sagte nein. Sie zahlte, immer lachend, ihre Zähne zeigend, den Männern ins Gesicht schauend, mit ihrem grauen Rocke, der sich herumgedreht hatte, ihrem lose geknüpften roten Busentuch, das den weißen Ansatz ihrer Brust sehen ließ. Ehe sie ging, drohte sie noch Gavard:

Sie wollen mir also nicht sagen, was Sie erzählten, als ich eintrat? Ich sah Sie von der Mitte der Straße aus lachen ... Oh, der Duckmäuser! Ich liebe Sie nicht mehr ...

Sie verließ den Laden und lief quer über die Straße. Die schöne Lisa sagte trocken:

Fräulein Saget hat sie uns auf den Hals gesandt.

Dann ward es wieder still. Gavard war betroffen von der Art und Weise, wie Florent seinen Vorschlag aufgenommen hatte. Die Metzgersfrau nahm zuerst mit freundlicher Stimme wieder das Wort:

Sie haben unrecht, Florent, diese Stelle abzulehnen ... Sie wissen, wie schwer es ist, ein Amt zu finden. Sie sind in einer solchen Lage, in der man keine Umstände macht.

Ich habe meine Gründe angegeben, erwiderte er.

Sie zuckte mit den Achseln.

Das ist doch nicht so ernst zu nehmen ... Ich begreife, daß Sie die Regierung nicht lieben. Aber es hindert doch nicht, daß man sein Brot verdiene; es wäre zu dumm ... Und dann, mein Lieber: der Kaiser ist kein schlimmer Mann. Wenn Sie von Ihren Leiden erzählen, lasse ich Sie nur reden und denke mir mein Teil. Wußte er es denn, daß Sie schimmeliges Brot und verdorbenes Fleisch aßen? Er kann nicht überall dabei sein. Sie sehen, er hat uns nicht gehindert, unseren Geschäften obzuliegen ... Sie sind durchaus nicht gerecht.

Gavard geriet immer mehr in Verlegenheit. Er konnte es nicht dulden, daß in seiner Gegenwart der Kaiser gelobt werde.

Nein, nein, Frau Quenu, murmelte er; Sie gehen zu weit. Es ist ein Hundepack ...

Ach, Sie! ... unterbrach ihn die schöne Lisa lebhaft, – Sie ruhen nicht eher, als bis Sie bestohlen und für Ihre Geschichten abgetan werden. Reden wir nicht von Politik, das bringt mich nur in Zorn. Es handelt sich um Florent, nicht wahr? Da meine ich, daß er die Aufseherstelle annehmen soll. Ist dies nicht auch deine Ansicht, Quenu?

Quenu, der bisher geschwiegen, war von dieser plötzlichen Frage seiner Frau sehr unangenehm berührt.

Es ist eine gute Stelle, bemerkte er vorsichtig.

Da abermals ein verlegenes Stillschweigen eintrat, sagte Florent:

Ich bitte euch, lassen wir das. Mein Entschluß ist gefaßt; ich werde warten.

Sie werden warten? rief Lisa ungeduldig aus.

Zwei Flammen röteten ihre Wangen. Wie sie mit ihren breiten Hüften dastand, eingehüllt in ihre weiße Schürze, mußte sie sich Gewalt antun, um nicht ein hartes Wort fallen zu lassen. Jetzt trat eine neue Kundin ein, die ihren Zorn ablenkte. Es war Frau Lecoeur.

Könnten Sie mir ein halbes Pfund Aufschnitt geben, zu fünfzig Sous das Pfund?

Sie tat anfänglich, als sehe sie ihren Schwager nicht; dann grüßte sie ihn mit einem stummen Kopfnicken. Sie betrachtete die drei Männer vom Kopf bis zu den Füßen und hoffte ohne Zweifel an der Art, wie sie auf ihren Abgang warteten, ihr Geheimnis zu erraten. Sie fühlte, daß sie die Gesellschaft störe; das machte sie noch eckiger, noch mürrischer in ihren platt herabfallenden Röcken, mit ihren langen Spinnenarmen, ihren ineinandergeschlungenen Händen, die sie unter der Schürze hielt. Als sie hüstelte, fragte Gavard, den das Stillschweigen in Verlegenheit brachte:

Sind Sie vielleicht erkältet?

Sie antwortete mit einem sehr trockenen Nein. An den Stellen ihres Gesichtes, wo die Knochen hervortraten, war die Haut gespannt und ziegelrot; das unheimlich funkelnde Feuer ihrer Augen verriet ein Leberleiden, das unter ihrer neidvollen Verbitterung schlummerte. Sie wandte sich wieder zu dem Pulte und folgte jeder Bewegung der sie bedienenden Lisa mit dem argwöhnischen Blick einer Käuferin, die überzeugt ist, daß man sie betrügt.

Geben Sie mir keine Servelatwurst, sagte sie; ich mag sie nicht.

Lisa hatte ein dünnes Messer ergriffen und schnitt Wurstscheiben ab. Dann ging sie zum geräucherten Schinken und zum gewöhnlichen Schinken über, löste dünne Schnitten ab, bei diesem Tun etwas vornüber gebeugt, genau auf das Messer achtend. Ihre gepolsterten, lebhaft gefärbten Hände, die mit weicher Zartheit das Fleisch berührten, behielten davon gleichsam eine fette Geschmeidigkeit und Finger mit bauchigen Gliedern. Sie griff jetzt nach einer breiten Schüssel und fragte:

Sie wollen doch gespicktes Kalbfleisch, nicht wahr?

Frau Lecoeur schien lange mit sich zu Rate zu gehen, dann nahm sie an. Die Wursthändlerin schnitt jetzt von dem Inhalte der verschiedenen Schüsseln ab. Sie nahm auf die Spitze einer breiten Messerklinge Scheiben von gespicktem Kalbfleisch und von Hasenpastete und legte jede Scheibe auf das Papier, das auf der Wage lag.

Geben Sie mir nicht Schweinskopf mit Pistazien? fragte Frau Lecoeur mit ihrer unangenehmen Stimme.

Sie mußte auch Schweinskopf mit Pistazien geben. Allein die Butterhändlerin ward immer begehrlicher; sie verlangte jetzt zwei Schnitten Gelatine, sie liebte auch diese. Lisa, die erregt mit dem Messerhefte spielte, sagte ihr vergebens, daß die Gelatine getrüffelt sei und daß sie davon nur in den Aufschnitt zu drei Franken das Pfund geben könne. Die andere fuhr fort, die Schüsseln zu mustern und suchte, was sie noch verlangen könne. Als der Aufschnitt gewogen war, verlangte sie noch Gelée und Gurken dazu. Der Geléeblock, der die Form eines Napfkuchens hatte und auf einer Porzellanplatte ruhte, zitterte unter ihrer zornbebenden Hand, und als sie zwei große Gurken aus dem hinter dem Ofen stehenden Topfe holte, spritzte der Essig hoch auf.

Ich zahle fünfundzwanzig Sous, nicht wahr? fragte Frau Lecoeur, ohne sich zu beeilen.

Sie sah sehr wohl den dumpfen Zorn Lisas. Sie weidete sich daran, holte das Geld sehr langsam hervor, gleichsam verloren unter den Münzen in ihrer Tasche. Sie betrachtete Gavard von der Seite, ergötzte sich an dem verlegenen Schweigen, das ihre Anwesenheit verlängerte und nahm sich vor, nicht zu gehen, da man vor ihr geheim tue. Endlich steckte die Metzgersfrau ihr ein Paket in die Hand, und sie mußte gehen. Sie entfernte sich wortlos nach einem langen Rundblick durch den Laden.

Als sie fort war, brach Lisa los.

Auch die hat uns die Saget gesendet. Hetzt denn die alte Hexe uns die ganze Markthalle auf den Hals, um zu erfahren, was wir sprechen ... Und wie schlau diese Weiber sind! ... Hat man je gehört, daß man um fünf Uhr abends panierte Koteletten oder kalten Aufschnitt kauft? Sie setzen sich einer schlechten Verdauung aus, nur um zu erfahren ... Wenn mir die Saget noch eine sendet, sollt ihr sehen, wie ich sie empfange. Und wäre es meine Schwester, ich würde ihr die Türe weisen.

Die drei Männer schwiegen, als sie Lisas Zorn sahen. Gavard hatte sich mit den Ellenbogen auf das Geländer der mit einer Messingrampe umgebenen Auslage gelehnt und drehte nachdenklich eines der Säulchen von behauenem Kristall, das sich von seinem Messingring losgemacht hatte. Dann sagte er aufblickend:

Ich habe das Ganze für einen guten Spaß gehalten.

Was denn? fragte Lisa noch bebend vor Zorn.

Die Stelle des Aufsehers in der Abteilung für Seefische.

Lisa hob erstaunt die Hände, blickte ein letztes Mal Florent an, setzte sich auf das gepolsterte Bänkchen vor dem Zahlpulte und schwieg. Gavard erklärte nun lang und breit seinen Gedanken: im Grunde sei bei dieser ganzen Sache die Regierung am meisten angeführt, weil sie die Taler hergebe. Er wiederholte in gemütlichem Tone:

Mein Lieber, diese Halunken haben Sie schier Hungers sterben lassen, nicht wahr? Nun denn, jetzt müssen Sie sich von ihnen ernähren lassen ... Das ist sehr gut ... Das hat mich sogleich verlockt ...

Florent lächelte, beharrte aber bei seiner Weigerung. Quenu versuchte es mit einigen guten Ratschlägen, bloß um seiner Frau gefällig zu sein. Doch diese schien nicht mehr zuzuhören. Seit einer Minute schaute sie aufmerksam nach der Seite der Hallen hin. Plötzlich erhob sie sich wieder und rief:

Jetzt schickt man uns gar die Normännin! Um so schlimmer! die Normännin soll's für die anderen entgelten.

Eine große, braune Frauensperson öffnete die Ladentür. Es war die schöne Fischhändlerin Louise Méhudin, genannt die Normännin. Sie war von einer kühnen Schönheit, hatte eine sehr weiße und zarte Haut, war fast so stark wie Lisa, hatte aber einen keckeren Blick, einen lebhafter bewegten Busen. In dreister Haltung trat sie ein mit ihrer goldenen Uhrkette, die auf ihrer Schürze klimperte, ihrem modisch gekämmten bloßen Haar, ihrer Busenschleife, einer Schleife aus Spitzen, die aus ihr eine der koketten Königinnen der Hallen machte. Ein leichter Fischgeruch haftete ihr an und auf einer ihrer Hände, nahe bei dem kleinen Finger, lag eine Heringschuppe, die da einen kleinen Fleck mit Perlmutterschimmer bildete. Die beiden Frauen, die ehemals in demselben Hause der Pirouette-Straße wohnten, waren enge Freundinnen, verbunden durch eine gewisse Nebenbuhlerschaft, die bewirkte, daß sie sich fortwährend miteinander beschäftigten. In dem Stadtviertel sagte man: die schöne Normännin, wie man sagte: die schöne Lisa. Das brachte sie in einen Gegensatz, zu einem Vergleichen und nötigte jede der beiden, ihren Ruf als Schönheit zu wahren. Wenn die Wursthändlerin an ihrem Zahlpulte sich ein wenig vorneigte, sah sie in dem gegenüberliegenden Pavillon die Fischhändlerin inmitten ihrer Lachse und Steinbutten. Sie überwachten einander. Die schöne Lisa schnürte sich enger in ihr Mieder, die schöne Normännin vermehrte die Zahl ihrer Ringe und ihrer Busenschleifen. Wenn sie einander begegneten, waren sie sehr sanft, sehr freundlich und suchten unter den halb geschlossenen Augenlidern nach Fehlern an der anderen. Sie taten, als werde die eine immer nur bei der anderen ihren Einkauf besorgen und als liebten sie sich sehr.

Sie machen wohl morgen abend frische Würste? fragte die Normännin mit ihrem lachenden Gesichte.

Lisa blieb kühl. Der Zorn, sehr selten bei ihr, war beharrlich und unversöhnlich. Sie antwortete trocken: Ja.

Ich liebe die Wurst nur heiß, wenn sie aus dem Kessel kommt. Ich komme, um welche zu holen.

Sie merkte die üble Aufnahme von seiten ihrer Nebenbuhlerin. Sie betrachtete Florent, der sie zu interessieren schien; weil sie nicht gehen wollte, ohne etwas zu sagen, ohne das letzte Wort zu haben, war sie so unvorsichtig hinzuzufügen:

Ich habe erst vorgestern Wurst bei Ihnen gekauft, aber sie war nicht ganz frisch.

Nicht ganz frisch? wiederholte die Wursthändlerin ganz bleich mit zornbebenden Lippen.

Sie hätte vielleicht noch an sich gehalten, damit die Normannin nicht glaube, daß sie sich wegen ihrer Spitzenschleife ärgerte. Aber man begnügte sich nicht mehr, sie zu bespähen, man beschimpfte sie auch; das ging über alle Maßen. Sie stemmte die Fäuste auf das Pult, neigte sich vor und sprach mit rauher Stimme:

Sagen Sie 'mal: als ich vorige Woche Seezungen bei Ihnen kaufte, kam ich da zu Ihnen, um vor aller Welt zu erzählen, daß Ihre Fische faul waren?

Faul? ... meine Seezungen faul? rief die Fischhändlerin purpurrot im Gesicht.

Sie verharrten einen Augenblick stumm und zornig über die Schüsseln gebeugt. Die ganze Freundschaft war dahin; ein Wort hatte genügt, um die scharfen Zähne hinter dem Lächeln zu zeigen.

Sie sind eine grobe Person, sagte die Fischhändlerin. Ich setze keinen Fuß mehr in Ihren Laden.

Gehen Sie nur, gehen Sie! entgegnete Lisa. Man weiß schon, wer Sie sind!

Sie ging hinaus, nicht ohne ein Schimpfwort auszustoßen, das die Metzgerin erzittern machte. Die Szene war so schnell vor sich gegangen, daß die drei Männer ganz verblüfft waren und keine Zeit hatten, sich ins Mittel zu legen. Lisa faßte sich bald. Sie nahm das Gespräch wieder auf ohne die mindeste Anspielung auf das soeben Vorgefallene, als das Ladenmädchen Augustine eilig in den Laden trat. Sie nahm Gavard beiseite und bat ihn, mit der Antwort für Verlaque noch zu zögern; sie übernahm es, ihren Schwager zur Annahme der Stelle zu bestimmen und erbat sich dabei nur eine Frist von zwei Tagen. Quenu kehrte in die Küche zurück; Gavard aber nahm Florent mit. Als sie im Begriffe waren, bei Herrn Lebigre einzutreten, um ein Glas Wermut zu trinken, zeigte Gavard seinem Begleiter drei Weiber, die in dem gedeckten Gang, zwischen dem Pavillon für Seefische und dem Pavillon für Geflügel beisammen standen.

Sie reden davon, sagte Gavard mit neidischer Miene.

Die Hallen leerten sich, und es standen in der Tat Fräulein Saget, Frau Lecoeur und die Sarriette am Rande des Fußweges beisammen. Das alte Mädchen führte das große Wort.

Ich sagt' es Ihnen ja, Madame Lecoeur, daß Ihr Schwager immer in ihrem Laden steckt ... Sie haben ihn gesehen, nicht wahr?

Mit meinen eigenen Augen! Er saß auf einem Tische, als ob er da zu Hause sei.

Ich habe nichts Schlechtes gehört, unterbrach die Sarriette ... Ich weiß nicht, warum Sie sich erhitzen.

Fräulein Saget zuckte mit den Achseln.

Ach, Liebste, Sie sind eine Schlaue! ... Sehen Sie denn nicht, weshalb die Quenus Herrn Gavard an sich locken? Ich wette, daß er alles, was er hat, der kleinen Pauline hinterlassen wird.

Das glauben Sie? rief Frau Lecoeur blaß vor Wut.

Dann fuhr sie mit schmerzlicher Stimme fort, als ob ein schwerer Schlag sie heimgesucht habe.

Ich bin ganz allein, habe niemanden, der mich verteidigt; der Mann tut wahrhaftig, was er will ... Sie haben gehört, seine Nichte hält zu ihm. Sie hat vergessen, was sie mir gekostet hat; sie würde mich mit gefesselten Händen und Füßen ihm ausliefern.

Nein, Tante, sagte die Sarriette; Sie hatten nie ein gutes Wort für mich.

Doch sie versöhnten sich gleich wieder und umarmten sich auf der Stelle. Die Nichte versprach, nicht mehr boshaft zu sein; die Tante schwor bei allen Heiligen, die Sarriette wie ihre eigene Tochter behandeln zu wollen. Nun gab die Saget ihnen Ratschläge, wie sie sich benehmen müßten, um Gavard zu zwingen, daß er sein Vermögen nicht verschleudere. Es wurde ausgemacht, daß die Quenu-Gradelle Taugenichtse seien und daß man sie überwachen müsse.

Ich weiß nicht, was für Machenschaften bei ihnen im Gange sind, sagte das alte Mädchen, aber die Sache ist anrüchig ... Dieser Florent, dieser Vetter von Frau Quenu – was halten Sie von ihm?

Die drei Frauen traten näher und dämpften die Stimme.

Sie müssen wissen, sagte Frau Lecoeur, – wir haben ihn eines Morgens mit löcherigen Stiefeln und bestaubten Kleidern gesehen; er sah aus wie ein Dieb, der soeben einen schlimmen Streich begangen ... Der Bursche flößt mir Furcht ein ...

Nein; er ist mager, aber nicht häßlich, murmelte die Sarriette.

Fräulein Saget hing ganz laut ihren Gedanken nach.

Ich zerbreche mir seit zwei Wochen den Kopf ... Herr Gavard kennt ihn sicher ... Auch ich muß ihm irgendwo begegnet sein, aber ich erinnere mich nicht mehr, wo? ...

Sie forschte noch in ihren Erinnerungen, als die Normännin heranstürmte. Sie kam aus dem Wurstladen.

Ist die aber höflich, diese dicke Quenu! rief sie, froh darüber, sich Luft machen zu können. Hat sie mir nicht soeben gesagt, daß ich faule Fische verkaufe? Ich habe ihr meine Meinung gesagt! ... Eine solche Baracke, die mit ihrem verdorbenen Schweinefleisch die Welt vergiftet!

Was haben Sie ihr denn gesagt? fragte die Alte lebhaft, ganz entzückt zu erfahren, daß die beiden Frauen gezankt hatten.

Ich? nicht das mindeste! Ich war ganz höflich eingetreten, um ihr zu melden, daß ich morgen abend Würste holen wolle, und da überhäufte sie mich mit Beleidigungen. Eine solche Heuchlerin mit ihren biederen Mienen! ... Sie soll das teurer bezahlen, als sie denkt!

Die drei Frauen merkten, daß die Normännin nicht die Wahrheit spreche; nichtsdestoweniger begleiteten sie ihre Klage mit einer Flut von bösen Worten. Sie ergossen ihre Beschimpfungen über die Rambuteau-Straße, erdichteten Geschichten über den Schmutz in der Küche der Quenus und ersannen wunderbare Beschuldigungen. Hätten die Quenus Menschenfleisch verkauft, die Wutausbrüche dieser Weiber hätten nicht drohender sein können. Die Fischhändlerin mußte ihre Erzählung dreimal von vorne beginnen.

Und was hat der Vetter gesagt? fragte die Saget boshaft.

Der Vetter! entgegnete die Normännin mit herber Stimme. Sie glauben an den Vetter? Es wird ein Liebhaber sein, dieser lange Bengel!

Die drei anderen Klatschbasen widersprachen. Auf die Ehrbarkeit Lisas schwor das ganze Stadtviertel.

Laßt nur gut sein! Weiß man jemals, woran man ist mit dieser dicken Scheinheiligen? Ich möchte ihre Tugend ohne Hemd sehen! ... Ihr Mann ist zu albern, als daß sie ihn nicht hörnen sollte.

Fräulein Saget nickte, wie um zu verstehen zu geben, daß sie geneigt sei, diese Ansicht zu teilen. Sie sagte mit sanfter Stimme:

Um so mehr, als man gar nicht weiß, woher dieser Vetter gekommen und als die von den Quenus in Umlauf gesetzte Geschichte sehr verdächtig klingt.

Ei, es ist der Liebhaber der Dicken, versicherte von neuem die Fischhändlerin. Irgendein Taugenichts, irgendein Vagabund, den sie auf der Straße aufgelesen hat. Das sieht man ja.

Magere Menschen rohe Menschen, erklärte die Sarriette im Tone der Überzeugung.

Sie hat ihn ganz neu gekleidet, bemerkte Frau Lecoeur; er muß ihr ein schönes Stück Geld kosten.

Ja, ja, Sie können recht haben, murmelte das alte Mädchen; man muß erfahren müssen ...

Und sie verpflichteten sich, einander auf dem laufenden zu erhalten, was in der Baracke der Quenu-Gradelle vorgehe. Die Butterhändlerin erklärte, sie wolle ihrem Schwager die Augen darüber öffnen, welche Häuser er besuche. Indessen hatte die Normännin sich ein wenig besänftigt; sie ging ihres Weges, und da sie im Grunde nicht schlecht war, fürchtete sie zuviel gesprochen zu haben. Als sie nicht mehr da war, sagte Frau Lecoeur heimtückisch:

Sicher ist die Normännin unverschämt gewesen; das ist so ihre Gewohnheit ... Sie täte besser, von den Vettern zu schweigen, die vom Himmel fallen; hat sie doch in ihrem Fischladen ein Kind gefunden.

Die drei schauten sich an und lachten. Als auch Frau Lecoeur fort war, sprach die Sarriette:

Meine Tante tut unrecht, sich mit diesen Geschichten zu beschäftigen; sie wird mager davon. Sie prügelte mich, wenn die Männer mich anschauten. Die Tante kann lange suchen, sie wird unter ihren Polstern kein Kind finden.

Fräulein Saget lachte wieder. Als sie allein nach der Pirouette-Straße zurückkehrte, dachte sie, daß die drei Megären den Strick des Henkers nicht wert seien, überdies hat man sie vielleicht gesehen und es wäre unklug, es mit den Quenu-Gradelle zu verderben, die reiche und schließlich doch geachtete Leute waren. Sie machte einen Umweg und ging in die Turbigo-Straße, zur Bäckerei Taboureau, der schönsten des Stadtviertels. Frau Taboureau, eine intime Freundin Lisas, übte in allen Dingen eine unbestrittene Autorität aus. Wenn man sagte: »Madame Taboureau hat dies gesagt, Madame Taboureau hat das gesagt« – mußte man sich beugen. Unter dem Vorwande, daß sie erfahren wolle, wann der Ofen geheizt werde, um eine Schüssel Birnen mitbraten zu lassen, erschien sie und sagte viel Gutes von der Wursthändlerin, erging sich in Lobeserhebungen über die Reinlichkeit und Güte ihrer Würste. Zufrieden über dieses moralische Alibi und entzückt, den nahenden Kampf mit entfacht zu haben, kehrte sie dann endgültig heim mit freierem Sinn und das Bild des Vetters der Frau Lisa in ihrer Erinnerung hundertmal hin und her wendend.

Am Abend desselben Tages ging nach dem Essen Florent aus und spazierte eine Zeitlang unter den gedeckten Gängen der Hallen. Ein feiner Nebel stieg auf; eine graue Trübseligkeit lagerte auf den leeren Pavillons, nur unterbrochen von den düsteren, gelben Flammen der Gaslaternen. Zum erstenmal hatte Florent das Gefühl seiner Lästigkeit, das Bewußtsein von der unpassenden Art, in der er, der Hungerleider, mitten in diese wohlgenährte Gesellschaft hineingeschneit gekommen war. Er gestand sich ehrlich, daß er eine Störung sei für das ganze Stadtviertel und eine Verlegenheit ward für die Quenus, ein verdächtiger Vetter von höchst kompromittierendem Aussehen. Diese Erwägungen stimmten ihn sehr traurig. Nicht als ob er bei seinem Bruder oder bei Lisa die mindeste Härte wahrgenommen hätte; er litt sogar durch ihre Güte und machte sich jetzt Vorwürfe darüber, daß er zu wenig Zartheit bekunde, indem er in solcher Weise sich bei ihnen einniste. Zweifel stiegen in ihm auf. Die Erinnerung an das Gespräch, das nachmittags in dem Laden stattgefunden, verursachte ihm ein unbestimmtes Mißbehagen. Er fühlte sich gleichsam eingehüllt von dem Geruch all der Fleischspeisen, die auf dem Ladentisch aufgehäuft standen; ihm war, als werde er zu einer weichlichen, gemästeten Feigheit herabsinken. Er hatte vielleicht unrecht, die ihm angebotene Aufseherstelle zurückzuweisen. Dieser Gedanke entfesselte einen schweren Kampf in ihm; er müßte sich aufrütteln, um die Strenge seines Gewissens wiederzufinden. Doch es hatte sich ein feuchter Wind erhoben, der durch den gedeckten Gang strich. Er hatte einige Ruhe und Fassung wiedergewonnen, als er genötigt war, seinen Rock zuzuknöpfen. Der Wind entführte von seinen Kleidern den fetten Fleischgeruch, von dem er sich niedergehalten fühlte.

Er war im Begriffe heimzukehren, als er Claude Lantier begegnete. Der in seinen grünlichen Überrock gepreßte Maler sprach mit dumpfer, zorniger Stimme. Er lästerte über die Malerei, dieses Hundegewerbe, und schwor, in seinem Leben keinen Pinsel mehr berühren zu wollen. Am Nachmittag hatte er mit einem Fußtritt einen Studienkopf vernichtet, den er nach der Dirne Cadine gemacht hatte. Angesichts der tüchtigen und lebendigen Werke, von denen er träumte, ward er zuweilen von solchen Wutanfällen eines unvermögenden Künstlers erfaßt. Dann existierte nichts für ihn; er strich durch die Straßen, sah alles schwarz und harrte des nächsten Tages wie einer Auferstehung. Gewöhnlich sagte er, daß er am Morgen froh und am Abend furchtbar unglücklich sei. Jeder seiner Tage war eine lange, verzweifelte Anstrengung. Florent erkannte den sorglosen Nachtschwärmer der Hallen kaum wieder. Im Wurstladen hatten sie sich schon wiedergesehen. Claude, der die Geschichte des Verbannten kannte, hatte ihm die Hand gedrückt und ihm gesagt, er sei ein braver Mann. Er kam übrigens sehr selten zu den Quenus.

Sie sind noch immer bei meiner Tante? sagte Claude. Ich weiß nicht, wie Sie es anfangen, in dieser Küche zu bleiben. Es stinkt ja da. Wenn ich da eine Stunde verbringe, ist's mir, als hätte ich für drei Tage genug gegessen. Ich tat unrecht, heute morgen hinzugehen; nur deshalb habe ich meine Studie verdorben.

Nachdem sie wortlos einige Schritte gegangen waren, fuhr er fort:

Die wackeren Leute! Sie dauern mich ordentlich, so wohl befinden sie sich! Ich habe daran gedacht, ihre Bilder zu malen; aber ich habe diese runden Gesichter, in denen es keinen Knochen gibt, niemals malen können ... Meine Tante Lisa würde ihren Kasserollen niemals einen Fußtritt versetzen. Es war doch dumm von mir, den Kopf Cadinens zu vernichten. Wenn ich jetzt daran denke, finde ich, daß er gar nicht so schlecht war.

Und dann sprachen sie von der Tante Lisa. Claude sagte, daß seine Mutter die Wursthändlerin seit langer Zeit nicht mehr sehe. Er gab zu verstehen, daß letztere sich ihrer Schwester etwas schäme, weil sie an einen Arbeiter verheiratet sei; sie liebe übrigens die unglücklichen Leute nicht. Über sich selbst erzählte er, daß ein wackerer Mann, durch die schönen Frauen und Esel gewonnen, die er schon mit acht Jahren zeichnete, ihn zur Schule gesendet habe. Der wackere Mann sei tot und habe ihm eine Rente von tausend Franken hinterlassen, die ihn vor dem Hungertode schütze.

Gleichviel, fuhr er fort, ich wäre doch lieber ein Arbeiter gewesen, beispielsweise ein Schreiner. Die Schreiner sind sehr glücklich. Sie haben einen Tisch zu machen; sie machen ihren Tisch und gehen zur Ruhe, mit ihrem Tagewerk zufrieden. Ich kann des Nachts nicht schlafen. Alle die verdammten Studien, die ich nicht vollenden kann, spuken mir im Kopfe herum. Ich bin nie fertig, nie, nie!

Seine Stimme erstarb fast in einem Schluchzen. Dann versuchte er zu lachen. Er lästerte, suchte nach unflätigen Worten, versenkte sich ordentlich in den Schmutz, mit der kalten Wut eines zarten und feinen Geistes, der an sich selbst zweifelt und sich zu besudeln fürchtet. Schließlich hockte er vor einem der Fenster nieder, die sich auf die Hallenkeller öffneten, wo unablässig das Gaslicht brannte. Dort, in den Tiefen eines Kellers, zeigte er ihm Marjolin und Cadine, die in der Geflügelabteilung auf einem Schlachtsteine saßen und ruhig ihr Abendbrot verzehrten. Diese zwei Straßenpflanzen wußten sich nach Schluß der Gittertore in die Keller zu schleichen, wo sie des Nachts hausten.

Welch ein hübscher Bengel! wiederholte Claude, mit neidischer Bewunderung von Marjolin sprechend. Und dieser Tölpel ist glücklich! ... Wenn sie ihre Äpfel verzehrt haben, gehen sie in einem jener großen Körbe, wo sie ein weiches Lager von Federn finden, zusammen schlafen. Dies ist wenigstens ein Leben! ... Meiner Treu, Sie haben recht, bei den Würsten zu verbleiben; das macht Sie vielleicht fett.

Und plötzlich ging er seiner Wege. Florent stieg zu seinem Dachstübchen hinauf, verwirrt durch diese nervösen Bedenken, die seine eigenen Zweifel wachriefen. Am folgenden Vormittag unterließ er es, im Wurstladen zu erscheinen; er machte einen weiten Spaziergang die Kais entlang. Beim Frühstück jedoch ward er durch die Milde und Freundlichkeit Lisas wieder gewonnen. Sie sprach wieder von der Aufseherstelle in der Abteilung für Seefische, aber ohne eindringlich zu werden, wie von einer Sache, die erwogen zu werden verdiente. Über seinen vollen Teller gebeugt hörte er ihr zu, unwillkürlich gewonnen durch die geradezu verdächtige Sauberkeit des Eßzimmers; weich ruhten seine Füße auf der Matte; der Schimmer der Kupferlampe, das zarte Gelb der Papiertapete und der hellen Eichenmöbel, sie durchdrangen ihn mit einem Gefühl der Rechtschaffenheit und des Wohlbehagens, das seine Vorstellungen von Wahr und Falsch in Verwirrung brachte. Indes hatte er die Kraft, den Vorschlag abermals zurückzuweisen, indem er seine Gründe wiederholte; allerdings hatte er das Bewußtsein von der Geschmacklosigkeit, die darin lag, an diesem Orte mit seinem Eigensinn und seinen Rachegefühlen Staat zu machen. Lisa erzürnte sich nicht; sie lächelte vielmehr mit ihrem schönen Lächeln, das Florent mehr verwirrte als ihr dumpfer Groll von gestern. Bei dem Essen sprach man nur mehr von den großen Einpökelungen für den Winter, die das ganze Personal des Hauses beschäftigen sollten.

Die Abende wurden schon kühl. Nach dem Essen begab man sich in die Küche. Da war's sehr warm. Die Küche war übrigens so geräumig, daß mehrere Personen sich bequem und ohne die Arbeit zu stören, an einem in der Mitte stehenden, viereckigen Tische aufhalten konnten. Die Wände des durch Gas beleuchteten Raumes waren bis zu Manneshöhe mit blauen und weißen Porzellankacheln bekleidet. Links stand der große gußeiserne Ofen mit drei Löchern, in denen drei Kessel mit ihren von der Kohle geschwärzten Böden saßen; am Ende des Raumes stand ein kleiner Kamin, mit Ofen und Rauchröhre versehen; hier wurden Rostbraten zubereitet. Oberhalb des Ofens über den langstieligen Löffeln, Gabeln und Schaumlöffeln war eine Reihe numerierter Fächer zur Aufbewahrung der Därme, Gewürze, geriebenen Semmel zum Panieren, des Salzes und Pfeffers. Rechts, an die Wand gelehnt, stand der Hackstock, ein riesiger, schwerer Eichenblock, ganz zerhackt und in der Mitte ausgehöhlt; mehrere, an dem Block befestigte Werkzeuge wie eine Wurstspritze, eine Vorrichtung zum Antreiben, eine Hackmaschine, die mit ihrem Räderwerk und ihren Kurbeln den unheimlichen Gedanken an eine Hexenküche wachriefen. Endlich lag ringsum längs den Mauern auf Brettern und selbst unter den Tischen eine Menge von Töpfen, Schüsseln, Kübeln, Platten und anderen Geräten aus Weißblech, eine Batterie von tiefen Kasserollen, breiten Trichtern, Messern, Hackmessern, Spicknadeln, eine ganze Welt, die von Fett triefte. Trotz der peinlichen Sauberkeit überquoll alles von Fett, es schwitzte zwischen den Fugen der Mauerziegel hervor, überzog die roten Quadern des Fußbodens, verlieh dem gußeisernen Ofen einen grauen Schimmer, polierte die Ränder des Hackstockes, daß sie glänzten wie gefirnistes Eichenholz. Inmitten dieses Tropfen für Tropfen sich ansammelnden Dunstes; inmitten des Dampfes, der aus den drei Kesseln, wo die Schweine zerflossen, unaufhörlich aufstieg, war vom Fußboden bis zu dem Dachgebälke nicht ein Nagel, der nicht von Fett glänzte.

Die Quenu-Gradelle stellten alles zu Hause her und bezogen von außen nur die Erzeugnisse berühmter Häuser, wie Mixedpickles, Konserven, Sardinen, Käse, Schnecken. Vom Monat September an mußte man dafür sorgen, den während des Sommers geleerten Keller mit neuen Vorräten zu füllen. Wenn abends der Laden geschlossen wurde, arbeitete man noch bis in die späte Nacht hinein. Von August und Leon unterstützt packte Quenu Würste ein, bereitete Schinken und Speckseiten vor, schmelzte Fett. Es herrschte ein betäubender Lärm der Kessel und Hackmesser, und Küchengerüche erfüllten das ganze Haus. All dies geschah unbeschadet dem laufenden Wurstgeschäft, den Leber- und Hasenpasteten, den Gelantinen, großen und kleinen Würsten.

Diesen Abend um elf Uhr mußte sich Quenu, der zwei Kessel Fett schmelzte, mit der Wurstbereitung befassen. August war ihm dabei behilflich. An einem Ende des viereckigen Tisches saßen Lisa und Augustine und waren mit dem Ausbessern von Wäsche beschäftigt; am anderen Ende saß Florent mit dem Gesicht nach dem Ofen und der kleinen Pauline zulächelnd, die er auf seinen Beinen reiten ließ. Hinter ihnen hackte Léon Wurstfleisch auf dem Eichenklotz, wobei er langsame und regelmäßige Hiebe führte.

August holte vor allem zwei Kannen Schweineblut. Das Schlachten im Schlachthause besorgte er. Er nahm das Blut und die Eingeweide der Tiere und überließ den Brühhausburschen die Sorge, nachmittags die fertig ausgearbeiteten Schweine mit ihren Wagen heimzuführen. Quenu behauptete, daß August zu schlachten verstehe wie kein zweiter Metzgerbursche in Paris. Die Wahrheit war, daß August sich vortrefflich auf die Qualität des Blutes verstand. Wenn er sagte: »Die Wurst wird gut sein«, konnte man mit Sicherheit darauf rechnen, daß die Wurst gut sein werde.

Nun, werden wir gute Wurst haben? fragte Lisa.

Er stellte seine zwei Kannen nieder und erwiderte langsam:

Ich glaube, Madame Quenu, ich glaube es ... Ich sehe es vor allem an der Art, wie das Blut fließt. Wenn das Blut langsam fließt, nachdem ich das Messer herausgezogen habe, so ist es kein gutes Zeichen; es beweist, daß es ein schwaches Blut ist ...

Das hängt davon ab, wie das Messer eingeführt wurde, warf Quenu ein.

Das blasse Antlitz Augusts verzog sich zu einem Lächeln.

Nein, nein, sagte August, ich führe das Messer immer vier Finger tief ein; dies ist das Maß. Das beste Zeichen ist, wenn das Blut gut fließt; es muß, wenn ich es in dem Eimer mit der Hand peitsche, recht warm sein und schäumen und darf nicht zu dick sein.

Augustine ließ ihre Nadel ruhen und schaute August an. Ihr rötliches Antlitz unter dem harten, kastanienbraunen Haar nahm einen Ausdruck tiefer Aufmerksamkeit an. Auch Lisa und Pauline hörten mit großem Interesse zu.

Also ich schlage und schlage, fuhr der Bursche fort, wobei er mit der Hand durch die Luft fuhr, als ob er Sahne schlage. Wenn ich die Hand heraus ziehe, muß sie wie mit einem roten Handschuh bekleidet und das Rot muß überall gleich sein. Dann kann man ruhig behaupten: »Die Blutwurst wird gut sein«.

Er blieb einen Augenblick mit der Hand in der Luft, selbstgefällig, in nachlässiger Haltung stehen. Diese Hand, die immer in den Bluteimern lebte, ragte schön rot, mit gesunden, rosigen Nägeln, aus dem weißen Hemdärmel hervor. Quenu bekräftigte mit einem Kopfnicken die Worte seines Gehilfen. Dann trat Stillschweigen ein. Léon hackte noch immer. Pauline, die nachdenklich zugehört hatte, bestieg wieder die Beine Florents und sagte:

Vetterchen, erzähle mir mal die Geschichte des Mannes, der von den wilden Tieren gefressen wurde.

Die Vorstellung von dem Schweineblut hatte in dem Kopfe des Kindes ohne Zweifel »die Geschichte des Mannes, der von den wilden Tieren gefressen wurde« – wachgerufen. Florent begriff nicht sogleich. Lisa kam ihm lachend zu Hilfe.

Sie verlangt die Geschichte, die Sie eines Abends Gavard erzählt haben, sie hat sie mit angehört.

Florent war sehr ernst geworden. Das Kind holte in ihren Armen die große, gelbe Katze herbei und legte sie auf die Knie des Vetters mit den Worten, auch »Mouton« wolle die Geschichte hören. Allein Mouton sprang auf den Tisch und blieb da mit gekrümmtem Rücken sitzen, die Augen auf den langen, mageren Menschen gerichtet, der für sie seit vierzehn Tagen der fortwährende Gegenstand tiefer Betrachtungen war. Indes ward Pauline ungeduldig; sie stampfte mit den Füßen und verlangte die Geschichte. Da sie immer zudringlicher wurde, sagte Lisa:

Erzählen Sie ihr doch die Geschichte, damit sie uns in Ruhe lasse.

Florent schwieg noch einen Augenblick. Er hatte die Blicke zu Boden gesenkt. Dann erhob er langsam den Kopf, heftete die Blicke auf die zwei nähenden Frauen und hernach auf Quenu und August, die den Wurstkessel instandsetzten. Das Gas brannte ruhig; der Ofen verbreitete eine angenehme Wärme; alles Fett der Küche glänzte in dem Wohlbehagen einer gesunden Verdauung. Er setzte die kleine Pauline auf eines seiner Knie und begann mit einem trüben Lächeln zu erzählen:

Es war einmal ein armer Mann. Man schickte ihn weit, weit fort bis übers Meer. Auf dem Schiffe, das ihn hinwegführte, gab es vierhundert Sträflinge; unter diese ward auch er geworfen. Fünf Wochen lebte er unter diesen Banditen; das Ungeziefer fraß ihn schier auf; er war wie sie in Segeltuch gekleidet und aß aus ihrer Blechschale. Fürchterlicher Schweiß lagerte häufig auf ihm und raubte ihm alle Kräfte. Die Küche, die Bäckerei, die Maschine durchhitzten dermaßen das Zwischendeck, daß unterwegs zehn Sträflinge vor Hitze umkamen. Tagsüber ließ man sie zu fünfzig und fünfzig auf das Verdeck kommen, wo sie sich in der Seeluft ergehen durften; und weil man Furcht vor ihnen hatte, waren zwei Kanonen auf jene schmale Stelle des Schiffes gerichtet, wo sie sich ergingen. Der arme Mann war sehr froh, als er an die Reihe kam. Sein Schweiß legte sich ein wenig. Er aß kaum mehr, er war sehr krank. Wenn er des Nachts wieder in Eisen gelegt war und vom Seesturm zwischen seinen zwei Nachbarn hin- und hergeschleudert wurde, fühlte er sich feige und weinte, glücklich darüber, ungesehen weinen zu können.

Pauline hörte mit weit geöffneten Augen und fromm gefalteten Händen zu.

Aber das ist doch nicht die Geschichte des Mannes, der von den wilden Tieren gefressen worden, unterbrach sie ihn. Das ist eine andere Geschichte; nicht wahr, Vetter?

Warte nur, du wirst schon sehen, entgegnete Florent sanft. Ich komme schon zur Geschichte jenes Mannes ... Ich erzähle die ganze Geschichte.

Ja? gut ... sagte das Kind mit glücklicher Miene.

Indes blieb sie nachdenklich, augenscheinlich mit irgendeiner großen Schwierigkeit beschäftigt, die sie nicht lösen konnte. Endlich entschloß sie sich zu fragen:

Was hat denn der arme Mann getan, daß man ihn in ein Schiff tat und so weit fortschickte?

Lisa und Augustine lächelten. Sie waren entzückt von dem Geiste dieses Kindes. Ohne direkt zu antworten, wollte Lisa die Gelegenheit benützen, um dem Kinde eine Lehre zu geben. Pauline war überrascht zu hören, daß man auch die schlimmen Kinder in das Schiff stecke.

Dann hat der arme Mann des Vetters recht gehabt, in der Nacht zu weinen, bemerkte das Kind.

Lisa nahm die Arbeit wieder auf und schwieg. Quenu hatte nichts von allem gehört. Er hatte Zwiebelscheiben in den Kessel geworfen, die auf dem Feuer hell zu zischen begannen wie die Grillen in der Sonnenhitze. Es roch sehr gut. Wenn Quenu mit seinem langen, hölzernen Löffel in den Kessel fuhr, zischte es stärker und füllte sich die Küche mit dem durchdringenden Gerüche der gebratenen Zwiebel.

August hielt in einer Schüssel Speckfett bereit. Das Hackmesser Léons arbeitete jetzt lebhafter, fuhr zuweilen wie ein Rechen über den Hackstock und scharrte das Wurstfleisch zusammen, das sich zu einem Teige zu verdicken begann.

Als das Schiff gelandet, fuhr Florent fort, führte man den Mann auf eine Insel, die man die »Teufelsinsel« nannte. Hier war er mit mehreren anderen Kameraden, die man ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Alle waren sehr unglücklich. Zuerst zwang man sie zu arbeiten wie die Sträflinge. Der Gendarm, der sie bewachte, zählte sie täglich dreimal ab, um sich zu überzeugen, daß niemand fehle. Später ließ man sie tun, was sie wollten; nur des Nachts wurden sie in einer großen, hölzernen Hütte eingesperrt, wo sie in Hängematten schliefen, die zwischen zwei Balken ausgespannt waren. Nach Verlauf eines Jahres gingen sie barfüßig und ihre Kleider hingen ihnen in Fetzen vom Leibe, daß die nackte Haut zu sehen war. Aus Baumstümpfen hatten sie sich Hütten gebaut, um sich gegen die Sonne zu schützen, deren Glühhitze in jenem Lande alles versengt; allein, die Hütten vermochten sie nicht gegen die Mücken zu schützen, die des Nachts sie mit Blasen und Stichen bedeckten. Mehrere starben davon; die anderen wurden so gelb, so dürr, so elend, daß sie mit ihren langen Bärten Mitleid erregten ...

August, geben Sie mir das Fett her! schrie Quenu.

Als er die Schüssel in der Hand hatte, ließ er sachte ein Stück Fett nach dem andern in den Kessel gleiten und zerrieb es mit dem Ende des Kochlöffels. Das Fett schmolz, und ein dichterer Dampf stieg von dem Ofen empor.

Was gab man ihnen zu essen? fragte die Kleine mit tiefem Interesse.

Man gab ihnen Reis, der voll war mit Würmern und übelriechendes Fleisch, erwiderte Florent, dessen Stimme immer dumpfer wurde. Um den Reis zu essen, mußte man die Würmer herausklauben. In stark durchgebratenem Zustande war das Fleisch noch genießbar, gekocht hingegen stank es dermaßen, daß man die Kolik davon bekam.

Ich will lieber trockenes Brot essen, bemerkte die Kleine, nachdem sie mit sich zu Rate gegangen war.

Léon war jetzt mit dem Hacken fertig und brachte das Wurstfleisch in einer Schüssel zu dem viereckigen Tisch. Die Katze Mouton, die noch immer Florent anblickte und von dessen Geschichte außerordentlich überrascht zu sein schien, mußte jetzt ein wenig zurückweichen, was sie augenscheinlich unwillig tat. Brummend hockte sie nieder und schnupperte nach dem Wurstfleisch. Indes schien Lisa ihr Erstaunen und ihren Ekel nicht verbergen zu können. Der wurmige Reis und das stinkende Fleisch schienen ihr sicherlich unglaubliche Unflätigkeiten, entehrend für den, der sie gegessen hatte. In ihrem schönen Gesichte und in dem Anschwellen ihres Halses malte sich ein unbestimmter Schrecken vor diesem Manne, der sich mit solch scheußlichen Dingen genährt hatte.

Nein, es war kein Belustigungsort, nahm Florent seine Geschichte wieder auf, wobei er der kleinen Pauline völlig vergaß und die irrenden Augen auf den rauchenden Kessel richtete. Jeden Tag gab es neue Quälereien, eine ewige Marter, eine Schändung jeder Gerechtigkeit, eine Mißachtung aller menschlichen Barmherzigkeit, die die Gefangenen in Verzweiflung stürzte und von einem Fieber krankhafter Rachsucht langsam verzehren ließ. Man lebte da gleich den Tieren unter der ewig geschwungenen Peitsche. Diese Elenden wollten den Menschen töten ... Man kann es nicht vergessen; nein, es ist nicht möglich. Diese Leiden werden eines Tages nach Rache schreien.

Er hatte die Stimme gedämpft, und die Speckstücke im Kessel deckten sie mit ihrem Zischen und Brodeln. Aber Lisa hörte ihm zu, erschreckt von dem unversöhnlichen Ausdruck, den sein Antlitz plötzlich angenommen hatte. Sie hielt ihn für einen Heuchler mit der sanften Miene, die er anzunehmen wußte.

Die gedämpfte Stimme Florents hatte dem Vergnügen Paulinens die Krone aufgesetzt. Entzückt von der Geschichte rückte sie erregt auf dem Knie des Vetters hin und her.

Und der Mann? Und der Mann? murmelte sie.

Florent schaute die kleine Pauline an, schien sich zu erinnern und fand sein trauriges Lächeln wieder.

Der Mann – fuhr er fort – war auf jener Insel gar nicht glücklich. Er hatte nur einen Gedanken: zu entfliehen, über das Meer zu setzen und die Küste zu erreichen, deren weiße Linie an hellen Tagen am Horizont zu sehen war. Allein, das war nicht leicht. Es galt, ein Floß zu bauen. Da einzelne Gefangene schon entkommen waren, hatte man alle Bäume auf der Insel gefällt, damit die anderen sich kein Holz verschaffen könnten. Die Insel war ganz entblößt, dermaßen kahl und von der glühenden Sonnenhitze ausgetrocknet, daß es den Aufenthalt daselbst nur noch gefährlicher und abscheulicher machte. Da kam der Mann mit zwei seiner Kameraden auf den Gedanken, sich der Baumstümpfe ihrer Hütten zu bedienen. Eines Abends stießen sie ab auf einigen schlechten Balken, die sie mittelst dürrer Zweige zusammengebunden hatten. Der Wind trieb sie der Küste zu. Der Tag brach an, als ihr Floß auf einer Sandbank scheiterte; es geschah mit einer solchen Gewalt, daß die Baumstümpfe sich voneinander trennten und von den Wogen fortgetrieben wurden. Die drei Unglücklichen blieben schier im Sande stecken; sie sanken bis zum Gürtel ein, einer verschwand sogar bis zum Kinn im Sande, und die anderen zwei mußten ihn herausziehen. Endlich erreichten sie einen Felsen, wo sie kaum soviel Platz fanden, um sich niederzusetzen. Als die Sonne aufging, bemerkten sie gegenüber die Küste, einen Strich grauer Felsen, die eine Seite des Gesichtskreises einnahmen. Zwei, die schwimmen konnten, entschlossen sich, die Küste zu gewinnen. Lieber wollten sie sogleich ertrinken, als auf ihrer Klippe langsam Hungers sterben. Sie versprachen ihrem Gefährten, ihn abzuholen, wenn sie das Land erreichten und sich eine Barke verschafften.

Ach, ich weiß schon! rief die kleine Pauline, freudig in die Hände klatschend. Das ist die Geschichte von dem Manne, den die wilden Tiere gefressen haben.

Endlich konnten sie die Küste erreichen, fuhr Florent fort; allein sie war völlig verödet, und sie konnten erst nach vier Tagen eine Barke finden. Als sie zu dem einsamen Felsen zurückkehrten, sahen sie ihren Gefährten auf dem Rücken ausgestreckt liegen, die Hände und die Füße abgefressen, das Gesicht zernagt, der Bauch voll mit Krabben, die die Haut der Lenden bewegten, als ob ein verzweifeltes Röcheln diesen zur Hälfte aufgefressenen und noch warmen Leichnam durchziehe.

Lisa und Augustine ließen ein Murmeln des Abscheus vernehmen. Léon, der Schweinsdärme für die Würste vorbereitete, verzog das Gesicht. Quenu hielt in der Arbeit inne und sah August an, den der Ekel ergriffen hatte. Pauline allein lachte. Dieser Bauch, voll mit Krabben, schien sich seltsamerweise in dieser Küche auszubreiten und verdächtige Gerüche in den Speck- und Zwiebelduft zu mengen.

Das Blut her! schrie Quenu, der übrigens dem Verlauf der Geschichte nicht gefolgt war.

August brachte die zwei Kannen herbei; langsam, in dünnen, roten Fäden goß er das Blut in den Kessel, während Quenu die sich verdickende Masse hastig umrührte. Als die Kannen leer waren, zog Quenu die Fächer heraus, eines nach dem andern und entnahm ihnen die Gewürze; insbesondere pfefferte er sehr stark.

Sie ließen ihn dort liegen und kehrten ohne weitere Fährlichkeiten zurück, nicht wahr? fragte Lisa.

Als sie zurückkehren wollten, fuhr Florent fort, schlug der Wind um und sie wurden in die offene See hinausgetrieben. Eine Woge entriß ihnen eines ihrer Ruder und das Wasser drang so reichlich in das Boot ein, daß sie es unablässig mit ihren Händen ausschöpfen mußten. So trieben sie angesichts der Küste umher, durch einen Windstoß entführt, durch die Flut wieder zurückgetrieben, mit ihren Mundvorräten zu Ende, ohne einen Bissen Brot. Das währte drei Tage.

Drei Tage! rief die Metzgerin verdutzt. Drei Tage ohne zu essen!

Jawohl, drei Tage ohne zu essen. Als der Westwind sie endlich ans Land trieb, war der eine von ihnen dermaßen schwach, daß er einen ganzen Vormittag regungslos auf dem Sande liegen blieb. Am Abend starb er. Sein Gefährte hatte vergebens versucht, ihn Baumblätter kauen zu lassen.

Bei dieser Stelle der Erzählung kicherte Augustine; dann war sie aber verlegen wegen dieses Gelächters. Weil sie nicht wollte, daß man sie für herzlos halte, stammelte sie:

Nein, nicht deshalb lache ich, sondern wegen der Katze. Schauen Sie nur Mouton an, Madame.

Auch Lisa war jetzt froher gestimmt. Die Katze Mouton, die noch immer die Schüssel voll Wurstfleisch vor der Nase hatte, war augenscheinlich belästigt und angewidert durch all das Fleisch. Sie hatte sich erhoben und kratzte den Tisch, wie um die Schüssel zu bedecken, mit der Hast der Katzen, die ihren Unrat vergraben wollen. Dann kehrte sie der Schüssel den Rücken, legte sich auf die Seite und reckte sich mit halbgeschlossenen Augen, den Kopf behaglich hin und her wälzend. Alle lobten die Katze; man versicherte, daß sie niemals stehle, daß man das Fleisch ruhig vor ihr stehen lassen könne. Pauline erzählte in verworrener Weise, daß sie ihr nach dem Essen Finger und Backen ablecke, ohne sie zu beißen.

Doch Lisa kehrte zu ihrer Frage zurück, ob man drei Tage ohne Nahrung bleiben könne. Sie hielt es für unmöglich.

Nein, ich glaube es nicht, sagte sie. Das hat noch niemand zuwege gebracht. Wenn man sagt: »Der und der stirbt Hungers« – so ist es nur eine Redensart. Mehr oder weniger ißt man immer ... Es müßten gänzlich verlassene, verirrte Menschen sein ...

Sie wollte ohne Zweifel »Vagabunden« sagen, aber sie hielt das Wort zurück, indem sie Florent ansah. Ihre verächtlich gespitzten Lippen, ihr klarer Blick gestanden offen, daß die Halunken allein in so furchtbarer Weise hungerten. Ein Mensch, der imstande war, drei Tage ohne Nahrung zu bleiben, war für sie ein durchaus gefährliches Wesen. Anständige Menschen kommen niemals in eine solche Lage.

Florent drohte jetzt zu ersticken. Der Ofen, in den Léon mehrere Schaufeln Kohlen geworfen hatte, schnarchte wie ein in der Sonnenhitze schlafender Kirchensänger. Die Hitze ward sehr groß. August überwachte in Schweiß gebadet den Kessel, in dem das Schweinefett schmolz, während Quenu, mit dem Hemdärmel sich die Stirne trocknend, wartete, bis das Blut gut zertrieben war. Die Luft war stark mit Speisegerüchen geschwängert.

Als der Mann, fuhr Florent langsam fort, seinen Kameraden in dem Sande eingescharrt hatte, ging er allein weiter, geradeaus vor sich hin. Das holländische Guyana, wo er sich befand, war ein waldiges Land, mit zahlreichen Flüssen und Sümpfen. Der Mann wanderte acht Tage fort, ohne eine menschliche Behausung zu finden. Rings um sich her spürte er den Tod, der seiner harrte. Obgleich der Hunger ihm den Magen zusammenpreßte, wagte er es oft nicht, in die glänzenden Früchte zu beißen, die von den Bäumen hingen; er fürchtete diese metallisch schimmernden Beeren, deren knotige Buckel Gift absonderten. Tagelang ging er unter dichten Laubgewölben dahin, ohne ein Stückchen Himmel zu sehen, inmitten grünlicher, Schrecken erregender Schatten. Große Vögel flogen über seinem Haupte auf mit furchtbarem Flügelschlag und plötzlich ausgestoßenen Schreien, die einem Todesröcheln glichen; er sah im Dickicht Affen springen, Tiere laufen, die die Stengel der Pflanzen beugten und einen Blätterregen niedergehen ließen, als ob ein Windstoß durch den Wald fahre. Besonders erschreckten ihn die Schlangen, wenn er den Fuß auf die bewegliche Masse dürren Laubes setzte und schmale Köpfe zwischen dem ungeheuerlichen Geschlinge der Wurzeln verschwinden sah. In gewissen feuchten, dunkeln Winkeln sah er ein Gewühl von schwarzen, gelben, violett gefleckten, scheckigen, getigerten Reptilen, die dürrem Laub glichen und plötzlich aufgeschreckt sich davonmachten. Dann blieb er stehen und suchte einen Stein, auf den er den Fuß setzen konnte, um von diesem weichen Boden, in den er versank, weiter zu kommen. Stundenlang blieb er da in dem Entsetzen vor irgendeiner Boa, die er in der Tiefe einer Lichtung sah, mit eingerolltem Schweife, gerade aufgerichtetem Kopfe, sich wiegend wie ein goldgefleckter Baumstumpf. Des Nachts schlief er auf den Bäumen, geängstigt durch das leiseste Geräusch, und glaubte im Finstern ein endloses Rascheln von Schuppen zu vernehmen. Er erstickte schier unter diesem endlosen Laubwerk; der Schatten nahm daselbst eine dumpfe Ofenhitze, eine Feuchtigkeit an, war von übelriechendem Schweiß, von den scharfen Gerüchen duftender Bäume und übelriechender Pflanzen gesättigt. Als er endlich nach viertelstündigem Marsche den Himmel wiedersah, befand er sich vor breiten Flüssen, die ihm den Weg versperrten. Er ging längs des Ufers weiter, achtete auf die grauen Rücken der Kaimauer, suchte mit den Blicken Fußspuren im Grase und schwamm hinüber, als er zu einer Stelle kam, wo ihm das Wasser sicher schien. Am jenseitigen Ufer standen abermals Wälder. Weiterhin kam er zu langgestreckten fetten Ebenen, die mit einem üppigen Pflanzenwuchs bedeckt waren, und wo stellenweise der klare Spiegel eines kleinen Sees blaute. Da machte der Mann einen weiten Umweg, schritt nur mehr nach vorsichtiger Prüfung des Bodens vorwärts, entging nur mit knapper Not dem Tode, der Gefahr, unter einer dieser lachenden Wiesen begraben zu werden, deren Boden er unter jedem seiner Schritte krachen hörte. Das von dem angeschwemmten Humus genährte riesige Gras bedeckte giftige Sümpfe, bodenlose Tiefen von flüssigem Schlamm. In jenen Ebenen, die in meergrüner Unermeßlichkeit sich ausdehnen, gibt es nur schmale Streifen festen Bodens, die man kennen muß, wenn man nicht spurlos verschwinden will. Eines Abends sank der Mann bis zum Gürtel ein. Bei jedem Ruck, den er versuchte, um sich freizumachen, drohte der Sumpf ihm bis an den Mund zu reichen. Nahezu zwei Stunden verhielt er sich ganz ruhig. Als der Mond aufging, konnte er glücklicherweise einen Baumzweig erhaschen, der über seinem Kopfe hing. An dem Tage, da er eine menschliche Wohnung erreichte, bluteten seine Hände und Füße, zerrissen und angeschwollen infolge der Stiche giftiger Insekten. Er war dermaßen elend, dermaßen herabgekommen, daß man Furcht vor ihm hatte. Man warf ihm auf fünfzig Schritte Nahrung zu, während der Besitzer des Hauses mit der Flinte in der Hand seine Tür bewachte.

Florent schwieg; die Stimme versagte ihm und die Blicke schienen in die Ferne zu schweifen. Er schien nur mehr für sich selbst zu reden. Die kleine Pauline ließ, vom Schlafe übermannt, das Köpfchen sinken und strengte sich an, die erstaunten Augen offen zu halten. Quenu aber geriet jetzt in Zorn.

Dummer Kerl! schrie er Léon an, kannst du einen Darm nicht mehr halten? ... Nicht auf mich mußt du schauen, sondern auf den Darm. So! Nicht rühren, jetzt! ...

Léon hielt mit der Rechten ein langes Stück leeren Darm, in dem ein sehr breiter Trichter saß. Mit der linken Hand rollte er die Wurst um ein rundes Becken von Weißblech, je nachdem der Wurstmacher große Löffel voll aus dem Inhalte des Kessels in den Trichter goß. Schwarz und dampfend floß die Suppe hindurch und blähte allmählich den Darm, der gefüllt, in weichen Krümmungen hinabfiel. Nachdem Quenu den Kessel vom Feuer abgehoben hatte, erschienen sie beide – der Bursche Léon mit seinem schmalen Profil und er mit seinem breiten Gesichte – in der flammenden Helle des Ofens, die ihre blanken Gesichter und ihre weißen Gewänder mit einer lebhaften Röte überzog.

Lisa und Augustine interessierten sich für diese Beschäftigung, besonders Lisa, die jetzt ihrerseits Léon ausschalt, weil er mit den Fingern zu stark den Darm einkniff, wodurch Knoten entstünden, wie sie sagte. Als die Wurst zugebunden war, ließ er sie langsam in einen Kessel voll siedenden Wassers gleiten. Er atmete jetzt froh auf; er hatte jetzt nichts mehr zu tun, als die Wurst ruhig kochen zu lassen.

Und der Mann, der Mann? murmelte die kleine Pauline, die schläfrigen Augen öffnend und erstaunt, den Vetter nicht mehr sprechen zu hören.

Florent wiegte sie auf seinem Knie, verlangsamte noch seine Erzählung, flüsterte sie wie ein Ammenlied.

Der Mann, sagte er, kam in eine große Stadt. Man hielt ihn anfänglich für einen flüchtigen Sträfling; er wurde mehrere Monate im Gefängnis behalten ... Dann ließ man ihn wieder frei. Er warf sich nun auf verschiedene Beschäftigungen, auf die Buchführung, auf den Unterricht von Kindern; eines Tages verdang er sich sogar als Tagelöhner bei Erdarbeiten ... Der Mann träumte immer davon, in sein Vaterland zurückzukehren. Er hatte das hiezu nötige Geld erspart, als er das gelbe Fieber bekam. Man hielt ihn für tot und teilte sich in seine Kleidungsstücke; als er endlich genas, fand er nicht ein Hemd mehr. Es galt von vorne zu beginnen. Der Mann war sehr krank. Er fürchtete, in fremden Landen zugrunde zu gehen. Endlich konnte er fort; der Mann kam zurück.

Die Stimme hatte sich immer mehr gedämpft und erstarb schließlich in einem letzten Zittern der Lippen. Die kleine Pauline schlief, durch den Schluß der Geschichte eingeschläfert, das Köpfchen auf die Schulter des Vetters geneigt. Er stützte sie mit dem Arme und wiegte sie sanft, kaum wahrnehmbar mit dem Knie. Und da man nicht weiter auf ihn achtete, blieb er regungslos mit dem schlafenden Kinde.

Jetzt kam der Meisterschuß, wie Quenu sich ausdrückte. Er zog die Wurst aus dem Kessel. Um die einzelnen Stücke nicht zu verwickeln und nicht platzen zu lassen, faßte er sie mit einem Stabe an, rollte sie auf, trug sie in den Hof hinaus, wo sie rasch trocknen mußten. Léon half ihm dabei, hielt die allzu langen Stücke. Diese Wurstkränze, die dampfend durch die Küche zogen, ließen starken Rauchqualm zurück, der die Luft vollends verdichtete. August warf einen letzten Blick auf das schmelzende Fett; er hatte die Deckel von den zwei Kesseln abgehoben, in denen das Schmalz brodelte und aus jeder platzenden Blase einen scharf riechenden Dampf entsandte. Seit dem Beginn der Abendarbeit war der fette Dampf emporgestiegen; jetzt hüllte er das Gas ein, erfüllte den Raum, drang überall ein, tauchte die rötlich weißen Gestalten Quenus und der zwei Gehilfen in einen Nebel. Lisa und Augustine hatten sich erhoben. Alle schnauften, als ob sie zuviel gegessen hätten.

Augustine trug auf ihren Armen die schlafende Pauline hinauf. Quenu, der am liebsten selbst die Küche sperrte, schickte August und Léon schlafen, indem er ihnen sagte, er werde allein die Wurst hereinschaffen. Der Lehrling war sehr rot, als er hinaufging; er hatte ein Stück Wurst, das fast einen Meter lang war, unter dem Hemde verborgen, und die heiße Wurst röstete ihm schier die Haut. Das Ehepaar Quenu und Florent, die jetzt allein waren, beobachteten Stillschweigen. Lisa stand aufrecht und aß ein Endchen heißer Wurst; sie machte ganz kleine Bissen und zog die Lippen weg, um sie nicht zu verbrennen; so verschwand das schwarze Stückchen Wurst allmählich in ihrem roten Munde.

Jetzt klopfte man draußen an die Haustüre und Gavard trat ein. Jeden Abend blieb er bis Mitternacht bei Herrn Lebigre. Er kam, um wegen der Aufseherstelle eine endgültige Antwort zu bekommen.

Sie begreifen, erklärte er, Herr Verlaque kann nicht länger warten, er ist wahrhaftig zu krank ... Florent muß sich entscheiden. Ich habe versprochen, morgen eine Antwort zu bringen.

Florent nimmt an, erwiderte Lisa ruhig, indem sie neuerlich in die Wurst biß.

Florent, der in seltsamer Niedergeschlagenheit auf seinem Sessel sitzen geblieben war, versuchte vergebens aufzustehen und Einsprache zu erheben.

Nein, nein, sagte die Metzgerin, die Sache ist abgemacht. Sie haben genug gelitten, mein lieber Florent. Was Sie soeben erzählten, ist entsetzlich. Es ist an der Zeit, daß Sie in ordentliche Verhältnisse kommen. Sie gehören einer ehrenwerten Familie an, Sie haben eine Erziehung genossen, und es schickt sich wahrhaftig nicht, als Bettler sich auf den Landstraßen herumzutreiben ... In Ihrem Alter sind Kindereien nicht mehr erlaubt ... Sie haben Torheiten begangen ... man vergißt und verzeiht sie Ihnen. Sie kehren in Ihre Gesellschaftsklasse, in die Klasse der anständigen Leute zurück und führen endlich eine Lebensweise, wie alle Welt sie führt.

Florent hörte ihr erstaunt zu und wußte kein Wort zu sagen. Sie hatte ohne Zweifel recht. Sie war so gesund, so ruhig, daß sie unmöglich das Schlechte wollen konnte. Er, der Magere mit dem schwarzen, verdächtigen Gesichte, mußte der Schlechte sein und an Dinge denken, die er nicht eingestehen konnte. Er begriff nicht, weshalb er bisher Widerstand geleistet hatte.

Doch sie fuhr mit einem reichlichen Aufwande von Worten fort, schalt ihn aus wie einen schlimmen Jungen, der einen bösen Streich gemacht hat und dem man mit den Gendarmen droht. Dabei schlug sie einen sehr mütterlichen Ton an und fand sehr überzeugende Gründe. Zum Schlusse sagte sie:

Tun Sie es unserthalben, Florent. Wir haben im Stadtviertel eine gewisse Stellung, die uns zu vielen Rücksichten nötigt. Unter uns: ich fürchte, es kann allerlei Gerede geben. Dieses Amt wird alles gutmachen; Sie werden jemand sein; ja, Sie werden uns sogar Ehre machen.

Sie ward einschmeichelnd. Florent fühlte sich von einer gewissen Fülle überwältigt; er war gleichsam durchdrungen von jenem Küchengeruch, der ihn nährte mit all der Nahrung, von der die Luft hier gesättigt war; er glitt zur behaglichen Feigheit des unablässigen Verdauens, der satten Umgebung herab, in der er seit zwei Wochen lebte. Er fühlte auf der Haut ordentlich das Prickeln des beginnenden Fetts, eine allmähliche Besitznahme seines ganzen Wesens, ein weichliches, krämerhaftes Behagen. Zu dieser vorgerückten Nachtstunde, in der Hitze der Küche, zerfloß alle seine Herbheit, schmolz sein ganzer Wille dahin; er fühlte sich dermaßen ermattet von diesem ruhigen, friedlichen Abend, von den Gerüchen der Würste und des Fetts, von der dicken Pauline, die auf seinen Knien schlief, daß er sich bei dem Wunsche ertappte, noch mehr solche Abende, zahllose solche Abende zu erleben, die ihn fett machen würden. Doch die Katze Mouton hauptsächlich bestimmte ihn zu einer Entscheidung. Sie lag jetzt in tiefem Schlafe, mit dem Bauche nach oben gekehrt, ein Pfötchen unter der Nase, der Schweif zwischen den Seiten eingerollt, wie um dem Tiere als Polster zu dienen und sie schlief mit einem solchen Katzenbehagen, daß Florent, sie betrachtend, flüsterte:

Nein, es ist wirklich zu dumm ... Ich nehme an ... Gavard, sagen Sie, daß ich annehme.

Lisa aß jetzt das letzte Restchen der Wurst und trocknete sich dann die Finger an einem Zipfel ihrer Schürze. Sie wollte die Kerze für ihren Schwager anzünden, während Gavard und Quenu ihn zu seinem Entschlusse beglückwünschten. Es mußte schließlich ein Ende gemacht werden; von den Wagnissen der Politik kann man nicht leben. Lisa stand mit der angezündeten Kerze dabei und betrachtete Florent mit zufriedener Miene.

 


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